Acht Tage Istanbul Tagebuch - Studienreise des Paritätischen Jugendwerks vom 4. -11. Oktober 2010
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A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite US1 Acht Tage Istanbul Tagebuch Studienreise des Paritätischen Jugendwerks vom 4. –11. Oktober 2010
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 1 Reisen bildet! om 04.-11.10.2010 flogen der Vorstand dertengerechten Umbau des Hauses und orga- V und vier Hauptamtliche des Paritätischen NRW nach Istanbul, um im Gespräch mit Fach- nisiert nationalen Jugendaustausch mit Hilfe der Stiftung TOG. kolleginnen/Fachkollegen und beim Besuch von Einrichtungen neue Erfahrungen für die Ein ehemaliges Straßenkind, heute Journalis- eigene Arbeit zu gewinnen. Der Aufenthalt tikstudent, organisiert ehrenamtlich den Ver- wurde vom Jugendministerium NRW mitfinan- ein „Hoffnungskinder“. 1992 gegründet, bietet ziert und ermöglichte einen Blick über den natio- der Verein für Straßenkinder, i.d.R. Jungen, eine nalen Tellerrand. Istanbul ist die größte Stadt Anlaufstelle und Notunterkunft an. Der Verhal- Europas und wächst mit geschätzten 15 Mill. tenskodex der Straße prägt die Jungen und ihre Einwohner/-innen nicht zuletzt durch die Bin- eigene Lebensdefinition ist „ausgegrenzt“, trotz- nenmigration täglich. dem gelingt dem Verein in manchen Fällen die Rückführung in ein „normales“ Leben. Die Türkei ist ein junger Staat, ein Drittel der Bevölkerung ist zwischen 15 und 25 Jahren alt. Das Engagement der Fachkräfte und Ehren- 22% der Frauen sind berufstätig. Istanbul ver- amtlichen, ihr Einsatz für Bildung und Aufklärung mittelt mit seiner Verkehrsdichte und seinem und der Wille „unser Land nach vorne zu brin- Lärm auf der einen Seite sowie seiner Geschich- gen“ sind beeindruckend. te von Byzanz und Konstantinopel mit zahlrei- chen historischen Hinterlassenschaften auf der In dem vorliegenden Reisetagebuch haben wir anderen Seite den Eindruck von Alptraumstadt versucht, unsere Eindrücke chronologisch wie- und Sehnsuchtsort. derzugeben. Wir danken dem Chronisten Rainer Kascha, die Teilnehmer/-innen haben seinen Das umfangreiche Fachprogramm bestand u. a. Entwurf um ihre Eindrücke ergänzt und bebil- aus dem Besuch von acht sozialen Einrichtun- dert. Dörte Schlottmann hat einen Audio Beitrag gen und aus vier Seminareinheiten zu Wis- mit Live-Interviews erstellt, der ebenso wie die- senswertem über das Sozialsystem und die se Broschüre auf der Homepage des Paritäti- Geschichte des Landes. In der Regel waren es schen Jugendwerk NRW (pjw-nrw.de) abzuru- kompetente türkische Frauen, die referierten fen ist. Ihnen allen gilt unser Dank ebenso wie und Einrichtungen leiteten. Viele hatten in Ercüment Toker, der in großen Teilen die Reise Deutschland und anderen Ländern studiert und kompetent vorbereitet hat. sind zurückgegangen, um ihr Wissen für ihr Land einzusetzen. Auffällig und eine wichtige Anre- Es hat uns allen große Freude gemacht, es war gung ist die ausgeprägte Bedeutung der ope- aber auch anstrengend ob der Fülle der Ein- rativen Stiftungen in der Türkei. Die TOCEV Stif- drücke. Aber eins ist klar: es ist im Zeitalter der tung arbeitet z. B. im Bereich der frühkindlichen Globalisierung unbedingt notwendig, dass die Bildung, sucht Patenfamilien, stattet die Kinder Fachkräfte über den deutschen Tellerrand mit Schulsachen aus, begleitet sie individuell hinaus schauen. Wir haben viel gelernt am Tor und vergibt Stipendien. In der „Akademie der zum Orient und sind sicher, dass der eine oder Träume“ werden Behinderte vier Monate kos- andere Kontakt bleibt, wieder belebt oder zu tenlos in den Bereichen Film, Tanz, Theater, Foto- einem Gegenbesuch führen wird. grafie, Musik unterrichtet, um den Weg in die Gesellschaft und neues Selbstbewusstsein zu Wuppertal, im Dezember 2010 finden. Das Jugendzentrum Pembe e. V. bietet Dr. Volker Bandelow Ulrike Werthmanns-Reppekus Freizeitmöglichkeiten, kämpft für den behin- Vorsitzender PJW NRW Geschäftsführerin PJW NRW 1
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 2 --- Montag, 4. Oktober ---------------- 12.15 Uhr Abflug – Flugdauer: 2,5 Stunden 15.00 Uhr Landung in Istanbul. Ortszeit ist eine Stunde plus 18.00 Uhr Ankunft im Hotel, direkt an einer abschüssigen Nebenstraße vom Taksim-Platz gelegen. Adresse: Taksim Metropark Hotel, Osmanli Sokak 4, Taksim/Istanbul 18.30 Uhr Treffen im Hotel mit Frau Cigdem Akkaya von der Agentur Link Turkey, die alle Besuchs- und Referentin- nenkontakte hergestellt hat F rau Akkaya erläutert detailliert das Wochenprogramm. Von den acht Besuchen sind zwei in Beyoglu und zwei auf der asiatischen Seite der Stadt vorgesehen. Die rest- lichen vier Besuche werden in verschiedenen Stadtteilen der europäischen Seite statt- finden. Frau Akkaya ist mit 17 Jahren nach Deutschland gekommen. Sie hat dort studiert und gearbeitet. Vor Jahren ist sie wieder in die Türkei zurückgegangen und hat sich dort selbstständig gemacht. In Istanbul hat sie einen Stammtisch „Remigration“ ins Leben gerufen, der schon ca. 1 000 Mitglieder hat. Danach geht die Gruppe ins Restaurant Haci Baba. Vorher wird in der Wechselstube bzw. am Geldautomaten einheimische Währung besorgt (1 Euro = 1,96 türk. Lira). Haci Baba befindet sich auf der Istiklal Caddesi. Sofort wird man von dieser Straße in ihren Bann gezogen. Obwohl es ein Montagabend ist, bewegen sich Menschenmassen laut und lebhaft über die Straße. In der Hotellobby Im Seminarraum Cigdem Akkaya 2 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 3 Auffällig viele junge und modisch gekleidete Menschen beleben auch die Nebenstraßen und genießen den Abend in den vielen Restaurants und Cafes. Das lässt nicht erahnen, welche Tragödie sich am 6./7. September 1955 in dieser Straße ereignete. Der Schriftsteller Orhan Pamuk schildert: „Am Morgen nach jener Nacht, in der jeder Nichtmuslim Gefahr lief, gelyncht zu werden, war die Istiklal-Straße in Beyoglu übersät mit den Überresten von Dingen, die die Plün- derer aus den zerstörten Läden nicht hatten mitschleppen können, aber dennoch genüßlich ruiniert hatten. ... Dadurch, dass nach der Gründung der Nationalstaaten der türkische und der griechische Staat ihre jeweiligen Minderheiten wie Geiseln behandelten, haben in den letzten fünf- zig Jahren mehr Griechen Istanbul verlassen als in den fünfzig Jahren nach 1453.“ (Pamuk 2010: Istanbul, S. 202) --- Abends im Restaurant Haci Baba In der Hotellobby Restaurant Haci Baba 3 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 4 --- Dienstag, 5. Oktober ---------------- 9.30 Uhr Simone Puchta beginnt im Konferenz- raum des Hotels mit ihrem dialogisch gehaltenen Vortrag zum Thema Sozial- wesen und im speziellen, Jugendhilfe- formen und –strukturen der Türkei 9.30 Uhr Simone Puchta (IB Türkei): Sozialwesen und Sozialarbeit in der Türkei. *) 12.00 Uhr Serap Girgin Baykal: Das Bildungswesen der Türkei 14.00 Uhr Busfahrt vom Taksim in den südlichen Randbezirk Bakirköy 15.00 Uhr Ferhat Sahin, stellv. Vereinsvorsitzender von Umut Cocuklari Dernegi D ie Türkei sei eine kollektivistische Gesellschaft (im Unterschied zur eher individua- listischen Gesellschaft Deutschlands). Zuallererst komme die Familie und die Tradi- tionen (vor allem religiöse), erst danach der Staat. 70 % der Bevölkerung sind unter 30 Jahren. Ca. 1 Mio Euro werden für Jugendzentren landesweit ausgegeben. Simone Puchta, die auf deutsch referiert, gliedert ihren Vortrag wie folgt: A. Geschichte Vorislamische Zeit Familie first! Islamische Zeit Nächstenliebe, Armenfürsorge, Sakkat = Armensteuer. Osmanische Zeit Professionell und institutionell über viele private Stiftungen. Große Verwestlichungsbestrebungen. Atatürk ab 1923 Sozial- und Jugendbehörden. n § 58 der türkischen Verfassung zur Förderung der Jugend (von 1980) Häufig handeln Stiftungen und Staat gemeinsam (es gibt mehr Stiftungen/Vakfi als Ver- eine/Dernek in der Türkei). Bekannte Stiftungen: Koc-Stiftung, Sabanci-Stiftung, Darul acize Vakfi n Existenzgründerinnen („die arme Frau im Osten“) für (ökologischen) Landbau ist ein gegenwärtiges Trendthema n persönliche Vorsprache versus Antragstellung Simone Puchta 4 *) liegt auch als ppt vor -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 5 B. Reformen im Sozialbereich (in einem zentralistischen System) Regelungen zur Sozialhilfe und zur Altersversorgung bestehen. Ein neuer Sozialversicherungsträger (Rententräger) wurde gegründet, in den die getrennten Träger für Arbeiter und Beamte zusammengelegt wurden. Krankenversicherung (bis zum 18. Jahr gibt es eine kostenlose Gesundheitsversorgung). Dreistufiger Gesundheitsbereich: Gesundheitszentren/Hausarzt > ambulante Pflege > stationäre Pflege. Neuer Trend ist, dass die Kommunen (gegenüber dem Zentralstaat) mehr Gestaltungs- macht im Sozialbereich ausüben. Trotz aller Reformen steht auch heute noch die (Groß)familie an erster Stelle, wenn es um die soziale Versorgung geht. Soziale Leistungen des Staates werden nicht als Recht sondern häufig noch als „Geschenk“ wahrgenommen (Mentalitätsproblem). C. Kommunale Doppelspitze: Staatsdirektor und gewählter Bürgermeister Istanbul hat 50 Bezirke. Von Ankara werden über 81 Generaldirektoren in 81 Provinzen entsandt, um die staatlichen Entscheidungen zu treffen. Z. B. ist die „Außerschulische Bil- dung“ im Ministerium für nationale Erziehung. D. Generaldirektorat für Jugend und Sport Mehr und mehr Sport, deswegen gibt es Bemühungen, ein „Generaldirektorat für Jugend“ einzurichten. Als Jugendlicher gilt man bis 24 Jahre. Es fehlt eine klare Definition zwischen Kindheit und Jugend. Es gibt kein Kinder- und Jugendhilfegesetz und damit keine ein- klagbaren Rechte. Generaldirektorat für Sozialdienst und Kinderschutz macht hauptsächlich Heimerziehung. Es gibt 15 Euro/pro Tag für eine absolvierte Bil- dungsmaßnahme (um das Kinderbetteln einzudämmen) und drastische Strafen für die Eltern. 5 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 6 --- Dienstag, 5. Oktober ----------------- Frau Puchta merkt an, das es immer noch Misstrauen zwischen Bürgern und Staat gibt. Zwischen den einzelnen Institutionen, auch zwischen verschiedenen Beratungsstellen oder Stiftungen herrscht häufig Konkurrenzdruck statt Zusammenarbeit. Informelle Beziehungen nutzen oft mehr als das „Antragswesen“. Populäre Themen haben gute Chancen gefördert zu werden. Beratung wird auf dem europäischen Markt eingekauft, um so ein Gütesiegel zu erhalten. Trotzdem bleibt die Qualität der sozialen Arbeit oft auf der Strecke – es reicht eine Basisversorgung. Nach dem Regierungswechsel zur AKP habe sich einiges verbessert – die Regierung redet nicht nur, sondern handelt auch. Damit einhergehend ist allerdings auch ein stärkerer Konservatismus zu spüren, die Religion gewinnt an Bedeutung. (Zur Zeit unseres Besuchs wurde in den Medien die bevorste- hende Gesetzesänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten intensiv diskutiert.) - einer Pause führt Frau Serap Girgin Baykal (Journalistin) die Informationen zum -Nach - Thema „Das Bildungswesen in der Türkei“ fort: Acht Jahre Schulzeit mit Schulpflicht soll sein. Der „Bologna-Prozess“ schiebt auch in der Türkei die Entwicklung an. Eine Durchsetzung der Schulpflicht ist schwierig, auf- grund von Tradition, aber auch Wegstrecken oder Wetterbedingungen. Die Türkei ist ein junges Land mit 67,8 Mio. Einwohnern. Die durchschnittliche Geburtenrate (Ferti- litätsrate) beträgt 2,4 Kinder/pro Frau. Sie geht auf die Stadt – Land – Relation ein: – Die Mehrheit der Deutschen lebe in Groß-, Klein- und Mittelstädten. – Die Landflucht sorge in der Türkei hingegen für rasch anwachsende Städte. Leider könne man aufgrund der hohen Abhängigkeit der Bildung von der wechselnden Politik kaum von einem Bildungssystem sprechen. Auf gezielte Nachfragen gibt sie uns folgende Zahlen: Das Einschulungsalter ist sechs Jahre. Es beginne mit einer Vorschule. Mit 15 Jahren hat man, nach neun Jahren Gemeinschaftsschule, den allgemeinen Schul- abschluss. Nach dem siebten Jahr Gemeinschaftsschule könne man auf ein Gymnasium (drei Jahre). Eine Aufnahmeprüfung zur Universität erfolge über Dersane (eine private Institution!). Eine Studienreife liege ab 18./19. Lebensjahr vor. Allgemeine Ganztags- schulen?: Nein! Aber die zahlreichen Privatschulen sind ganztägig geöffnet: 8.30–12.30 Uhr und 13.30–18.30 Uhr. Eine optimale Nutzung der staatlichen Schulgebäude erfolge durch Unterrichts-Schicht- dienst. Mindestens 20% der Kinder gehen aber in eine Privatschule (Kosten 5000 bis 6000 Türkische Lira pro Jahr). Die Verletzung der Schulpflicht wird nicht sanktioniert, sondern pädagogisiert d.h. die Eltern werden aufgesucht und ermutigt (manchmal ermahnt), dafür zu sorgen, dass ihr Kind die Schule besucht. 6 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 7 Verein Hoffnungskinder 2. von links: Ferhat Sahin - dem Mittagessen im Hotel fahren wir gegen 14 Uhr mit unserem Bus vom Taksim -Nach - in den südlichen Randbezirk Bakirköy, wo im Schatten der landesweit bekannten Psy- chiatrie die Einrichtung des Vereins„Hoffnungskinder/Umut Cocuklari Dernegi“ liegt. Des- sen stellv. Vereinsvorsitzer Ferhat Sahin ist 30 Jahre alt und frisch vermählt. Seine eige- ne Straßenkinderkarriere lässt er eindrucksvoll an seinen vernarbten Oberarmen erken- nen. Er unterscheidet drei Gruppen bei ihrer aufsuchenden Straßensozialarbeit: 1. Kinder, die zum Familieneinkommen mitarbeiten und auf der Straße verkaufen (müssen). 2. Kinder, die von der Familie abgehauen sind und in den Straßencliquen und Jugend- gangs überleben. 3. Obdachlose junge Menschen. Das Leben vieler Kinder und Jugendlicher auf der Straße ist von Stoffabhängigkeit geprägt (Alkohol, Patex, Capdagon, Lösungsmittel, Heroin etc.). Das Kind bzw. der Jugendliche muss sich, um Mitglied sein zu dürfen, dem Suchtmittel seiner Clique unterwerfen. Cliquen mit unterschiedlichen Suchtmitteln gehen sich aus dem Weg. In den Cliquen herrscht eine brutale Hierarchie. Der Alltag ist durch die Suchtmittelbe- 7 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 8 --- Dienstag, 5. Oktober ----------------- schaffung geprägt. Ein prostituierendes Mädchen zum Beispiel kritisiert die anderen Prostituierten, da sie es machen müsse, um ihre Sucht zu befriedigen. Die anderen hät- ten aber gar keine Sucht und müssten es folglich nicht tun. Auf sozialarbeiterische Interventionen reagieren die Cliquen mitunter äußerst aggres- siv und mit Waffengewalt, da sie ihre Existenz dadurch grundlegend bedroht sehen. Trau- riges Beispiel ist eine Lehrerin, die im Verein mitwirkte, die vergewaltigt und ermordet wurde. Herr Sahin sagt, dass sich die Vereinsmitglieder im Cliquenmilieu sehr gut aus- kennen würden und auch, aufgrund ihres eigenen früheren Cliquenstatus, keine Furcht hätten. Sie bieten den auf der Straße lebenden, über 18jährigen Männern Unterkunft, Beschäftigung und Ausbildung. Den unter 18jährigen wird Beratung und Weiterleitung an generell staatliche Unterstützungen angeboten. Die private Unterbringung von unter 18jährigen ist strafbewehrt, d.h. strenge Gesetze bestrafen jeden, der Minderjährige bei sich aufnimmt. In der Männerunterkunft des Vereins sind im Sommer ca. 15, im Winter ca. 80 Personen, die dort versorgt werden. Der Verein leistet seine Arbeit ohne staatli- che Transfers, nur durch Spenden. Neben Herrn Sahin halten sich noch ca. fünf bis sechs Männer auf dem Gelände der Ein- richtung auf. Dort befinden sich viele Katzen und Hunde, da Frau Sahin sich um den Tierschutz kümmere und dementsprechend die schutzbedürftigen Haustiere auf der Straße aufsammle. Ein Raum ist als Näherei eingerichtet, in dem die Männer im Nähen ausgebildet und auch Aufträge abgewickelt werden. Obwohl alles sehr einfach hergerichtet ist, wirken die Unterkünfte für die Obdachlosen erstaunlich aufgeräumt und sauber. Eine Küche, die offensichtlich für viele Mahlzeiten ausgestattet ist, und ein Gemeinschaftsraum komplettieren das Angebot. Wir bekommen Tee und eine Ausgabe der Zeitschrift Sokak („Die Katze“), deren Heraus- geber Herr Sahin ist. --- Impressionen beim Verein Hoffnungskinder 8 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 9 --- Mittwoch, 6. Oktober ---------------- 11.30 Uhr Ilke, Vorstellung des Vereins Mor Cati (Lila Dach) 14.30 Uhr Karin Ronge (Women for Womens’s Human Rights – New Ways) zur Lage der Frauen in der Türkei 16.15 Uhr Yasemin Özbek (Interkulturelle Trainerin und Buchautorin) über Werte der türkischen Gesellschaft N ach einem guten Frühstück gehen wir die Istiklal Caddesi hinunter und biegen links ein in eine Seitenstraße, vorbei an der Vereinskneipe von Galata Serail (Fußballclub) bis wir „Mor Cati“ („Lila Dach“) im vierten Stock eines alten Hinterhofhauses finden. Dank Stiftungsmitteln konnte der Verein die Etage in dem ehemals (großbürgerlichen) Haus ankaufen – die Mieten in Istanbul sind mittlerweile horrende hoch und wären vom Ver- ein gar nicht aufzubringen. Adresse: Katip Mustafa Celebi Mahallesi Anadolu Sokak Nr. 23/7, Beyoglu. Ilke, die über ihr Ehrenamt in ein Beschäftigungsverhältnis wechseln konnte, stellt in deut- scher Sprache den Verein Mor Cati, der 1990 gegründet wurde, und seine Tätigkeit vor. Er ist ein autonomes, feministisches Kollektiv von ca. 30 Frauen, die gegen häusliche Gewalt arbeiten. Dazu unterhält das Kollektiv eine Beratungsstelle und ein Frauenhaus, macht Prozessbeobachtungen und -begleitungen. Die Arbeit wird durch Projektmittel (EU), der Heinrich-Böll-Stiftung und Spenden finanziert – es gibt keine öffentliche Zuwendung. Durch eine Stiftungskonstruktion gehören dem Verein das Frauenhaus und die aus zwei zusammengelegten Wohnungen bestehende Beratungsstelle, die wir besuchen. Die Arbeit findet in der Zivilgesellschaft große Unterstützung z. B. leisten Juristinnen, Rechts- anwältinnen, Psychologinnen immer wieder ehrenamtliche Arbeit. Staatlicherseits gibt es in Istanbul neun Frauenhäuser, die aber eher Notunterkünfte für Frauen sind und kei- ne Möglichkeiten bieten, die eigenen Kinder mitzubringen. Vor dem Frauenbuchladen links: Ilke vom Verein Mor Cati 9 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 10 --- Mittwoch, 6. Oktober ----------------- Auf die Frage, ob auch Männer gegen die häusliche Gewalt vorgehen und nach Alterna- tiven für die herrschende Männlichkeitskonstruktion suchen, berichtet Ilke von einer Gruppe von Männern in Istanbul namens „Wir sind keine Männer“. Ebenso wurde auf die Aktion der großen Tageszeitung „Hürriyet“ hingewiesen, die in 2007 eine Kampagne gegen Gewalt gestartet hat. Sie haben eine Hotline, Beratungsangebote, Werbespots und gute Statistiken. In der Türkei gibt es ein Familienschutzgesetz, das es ermöglicht, dass der gewalttätige Mann die Wohnung räumen muss. Mor-Cati organisiert auch feministische Stadttouren und ist über die Heinrich-Böll-Stif- tung gut mit den Grünen in Deutschland vernetzt. In der Diskussion wurde deutlich, wel- che zivilgesellschaftliche Kraft von der feministischen Frauenbewegung in der Türkei aus- geht. Dies wurde nach dem gemeinsamen Mittagessen im Hotel durch den Vortrag von Karin Ronge noch weiter vertieft. 4. von links: Ilke vom Verein „Mor Cati“ 10 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 11 In der Mitte: Karin Ronge - Ronge (Women for Womens’s Human Rights – New Ways) -Karin - Zur Lage der Frauen in der Türkei Frau Ronge ist Münchnerin und arbeitet seit 15 Jahren für die Organisation, die 1993 gegrün- det worden ist. Die türkische Gesellschaft hat sich in den letzten 15 Jahren erstaunlich schnell gewandelt und positiv verändert. Dem hinken die politischen Eliten generell hinterher. Es gibt keinen wirklichen Willen (und damit auch kein Geld) für soziale Refor- men bzw. Reformen mit den und für die Frauen. Gegenwärtig herrschen neoliberale bzw. re-religiöse Tendenzen vor. Durch Wegfall der internationalen Geldgeber (z. B. Heinrich-Böll-Stiftung) verloren die auto- nomen Frauenhäuser ihre Existenz und nur Mor Cati konnte in den letzten Jahren durch eine einigermaßen stabile Spendenlandschaft ihr Frauenhaus stabilisieren. Ende der 1990er Jahre kam es zu einem Boom der Frauenorganisationen in der Türkei. Seit 1995 wird das Programm „Menschenrechtserziehung für Frauen“ in 43 Provinzen durchgeführt. Sie erläutert die Schritte und Ergebnisse des Programms: – 63 % der Frauen können aus eigener Kraft die häusliche Gewalt stoppen – Frauen fangen an, eine Erwerbsarbeit nachzugehen – Frauen erziehen sich, ihre Töchter und ihre Söhne anders, und gewaltfreier Frauen wissen, ihrer Meinung nach, sehr wenig über ihre Rechte, sind aber sehr an Infor- mationen und Aufklärung interessiert. Deshalb sei das Programm auch erfolgreich. Es habe im Wohnzimmer begonnen und ist nun ein offizielles Programm. Ein Verein führt das Pro- gramm in Zusammenarbeit mit dem Generaldirektorat Sozialdienst und Kinderschutz aus. So wird die Arbeit über die Gemeindezentren (Toplum Merkezere) verbreitet. Über 7 000 Frauen durchliefen bisher das Programm. Bereits 1998 hatte die Türkei ein Gewalt- schutzgesetz (erst 2002 in Deutschland). In alevitischen Gebieten gäbe es keine Ehrenmorde und kaum häusliche Gewalt. Aber die Stigmatisierung dieser Religionsgemeinschaft sei nach wie vor hoch, antwortet Frau Ronge auf Nachfrage. 11 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:26 Seite 12 --- Mittwoch, 6. Oktober ----------------- - folgende Vortrag von Yasemin Özbek, die, aufgrund ihrer langen Zeit in Deutschland, -Der - hervorragend deutsch spricht, beschäftigt sich mit vier zentralen Werten der türkischen Gesellschaft und ihre Auslegungen. Yasemin Özbek( Interkulturelle Trainerin und Buchautorin): Werte der türkischen Gesellschaft Frau Özbek ist in Deutschland geboren, mit drei Jahren in die Türkei gekommen und 1980 wieder nach Deutschland zurückgegangen. Nach ihrem Studium war sie bei der AWO beschäftigt. Seit 2000 wieder zurück in der Türkei mit dem Arbeitsschwerpunkt: Inter- kulturelle Trainings (www.tuerkeifokus.de). Die türkische Gesellschaft sei geprägt durch: Männergesellschaft, Machos, aufgetakelte Mädchen, Islam, Warmherzigkeit, viele Kinder, Familie, Kopftuch (nach Aussagen deutscher Wirtschaftsleute in der Türkei, die in Istanbul auch als „Bosporus-Germanen“ bezeichnet werden). Zentrale Werte sind: Namus (Ehre), Seref (Ehre, Ansehen, Würde), Sevgi (Zunei- gung), Saygi (Respekt, Achtung). Diese Werte wurden uns an vielen Beispielen erläutert. In den letzten fünf Jahren seien 1 000 Frauen ermordet worden („Ehrenmorde“). Dies sei ein rein kurdisches Phänomen. Die türkische Öffentlichkeit toleriere es überhaupt nicht. Im Südosten der Türkei wurden 1.300 männliche Personen befragt, was Namus (Ehre) für sie bedeute: Für 33 % war es „das Wichtigste im Leben“. Darunter wurde vor allem die sexuelle Integrität, der Schutz der Tradition und der gesellschaftlichen Regeln verstan- den. Namus ist Teil des traditionellen Rechtsverständnisses – die Männer haben die Ehre der Frauen zu schützen. --- Yasemin Özbek 12 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 13 --- Donnerstag, 7. Oktober ------------------- 9.15 Uhr Abfahrt nach Levent 10.15 Uhr Stiftung TOCEV, Gespräch mit Ebru Uygun 14.00 Uhr Verein AYDER, Ercan Tutal schildert die Arbeit des Vereins für alternati- ves Leben und informiert über das Projekt Düsler Akademisi 16.00 Uhr Bezirk Beyoglu, Treffen mit der Bil- dungsbeauftragten Deniz Dogan N ach einem kurzen Frühstück werden wir von unserem Bus abgeholt und fahren in nördlicher Richtung in das wohlhabendere Levent, zum Büro der Stiftung TOCEV. Die Stiftung TOCEV hat 29 Beschäftigte und fünf Ehrenamtliche. Die Stifterin Ebru Uygun, die uns zum Gespräch in türkischer Sprache empfängt, aber bald in fließendes Deutsch wechselte, entstammt einer Istanbuler Textil-Dynastie und gründete mit 22 Jahren im Jahr 1994 ihre Stiftung. Ihr Bildungsprivileg, das Studium in anderen Ländern war Frau Uygun sehr bewusst, und sie will weniger priviligierte Kinder an Bildung heranführen. Im Jahr 2000 war sie Präsidentin der Kinderrechte-Koalition in der Türkei. 200 Schulen wurden mittels einer Kampagne in Kooperation mit einem TV-Channel renoviert. 3 Mio. Kinder würden unterstützt. Sie arbeite u.a. mit„United Way“ (eine US-amerikanische Stiftung) zusam- men. Frau Uygun promotete generell das Stiftungsthema. Drei Bücher hat sie verfasst: Das erste Buch über ihre persönliche Krankheit, das zweite Buch über ihre Erfahrungen mit Kindern und das dritte Buch über Stiftungen in der Türkei. Ebru Uygun 13 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 14 --- Donnerstag, 7. Oktober ------------------- Die Stiftung vergibt hauptsächlich Stipendien für Schulbau, da es zu wenig Schulen gebe. Wie komme ich als Kind zu einem Stipendium, lautet eine Nachfrage. Das Kind, das ein Stipendium erhält, wird dafür vom Lehrer ausgesucht. Die Stiftung ent- scheidet immer individuell nach einem Fragebogen, den Frau Uygun mit pädagogischer Beratung entwickelt hat. Wer die entsprechende Punktzahl erreiche, erhalte eine Förde- rung. Wenn der Lernerfolg bei den Kindern ausbleibt, findet ein Jahr lang eine Über- prüfung der Situation des Kindes statt. Wenn sich nichts verbessert, können Stipendien auch wieder entzogen werden. 75% der geförderten Kinder schaffen die universitäre Aufnahmeprüfung lt. Frau Uygun. Mädchen und Jungen sind für die Stifterin „gleich“. Sie werden nicht unterschiedlich gefördert. Alle sollen zur Schule gehen. Die Stiftung ist in folgende Bereiche gegliedert: Pädagogik, Projekte/Management, Marketing, Ver- kauf/Promotion. Bei der Stiftung TOCEV 14 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 15 Ercan Tutal -N-ach dem Besuch bei TOCEV werden wir an das Ufer des Bosporus gefahren, wo die - Moschee in Ortaköy mit der Bosporus-Brücke eine kontrastreiche Mischung aus Osma- nenzeit und wuchtiger Moderne eingeht. Die Weiterfahrt führt über die Fatih-Sultan-Meh- met-Brücke, die Brücke über den Bosporus auf die asiatische Seite nach Atasehir in die „Düsler Akademisi (Traumakademie)“, wo wir Ercan Tutal treffen. Ercan Tutal, eine Mischung aus Künstler, Traumtänzer, Boheme und Scharlatan und nach eigener Aussage Ashoka, schildert die „Philosophie“ seines Vereins AYDER (Verein für Alternatives Leben) und des- sen bisherige Arbeit in großen Camps (mit Behinderten und Nicht-Behinderten, ca. 8 000 Menschen). Er ist Vorsitzender des Vereins, berichtet über das neue Projekt Düsler Akademisi und führt uns durch das neue Gebäude der „Dream Academie“, das von den Rotariern erbaut und vom Bezirksamt Besiktas überlassen wurde – miet- und ener- giefrei. Er betont, dass er kein Geld erhält und gibt uns allen Rätsel auf, von was er und von was der Verein lebt, da vermeintlich nirgendwo – weder bei den Camps noch bei den Kursen für behinderte und nichtbehinderte Jugendliche – Geld fließe. Aber u. a. Vodafo- ne Türkiye gehört zu den Sponsoren des Vereins. Die Idee, Behinderte durch die Vermittlung unterschiedlicher Kulturtechniken (malen, filmen, fotografieren, musizieren, tanzen, usw.) teilhaben zu lassen, stellt er mit viel Herzblut vor. Wir sehen einige Produkte und neu eingerichtete Ateliers und Proberäume. In der Türkei gelte Behinderung als „pity“ (Pech). Der Verein will nicht helfen, sondern den Behinderten ihr Recht auf Teilhabe (s. UN- Charta) ermöglichen. Traumakademie 15 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 16 --- Donnerstag, 7. Oktober ------------------- Danach geht es zurück auf die europäische Seite der Stadt. Einer der üblichen Staus auf der Bosporusbrücke sorgt dafür, dass wir unser Treffen mit der Bildungsbeauftragten des Bezirks Beyoglu für 16.00 Uhr nicht einhalten können. Verspätet beginnt die Besichtigung von relativ neuen Nachbarschaftseinrichtungen des Bezirks, der von der Regierungs- partei AKP verwaltet wird. - Dogan, Bildungsbeauftragte des Bezirks, zeigt uns zwei Einrichtungen (Semt Kona- -Deniz - klari). Der Besuch der dritten Einrichtung entfällt, da Frau Dogan um 20.00 Uhr einen ande- ren Termin wahrnehmen muss. In den Einrichtungen erhalten hunderte von Bedürftigen eine warme Mahlzeit – per Chipkarte. Das entsprechende Lesegerät und die kopftuch- tragenden Leiterinnen sind ein weiteres Bild von Tradition und Moderne – ein Motiv, das uns in vielen Szenen der Stadt auffällt. Im Weiteren sehen wir Kleiderkammern, (der gan- ze Stolz ist der Brautkleidverleih), öffentliche Küchen, Waschgelegenheiten, „Sozialkauf- häuser“ sowie einen Kindergarten in diesen Zentren. Im ersten Zentrum (ein top reno- viertes altes Stadthaus aus Holz) gibt es einen sehr gut ausgestatteten PC-Raum mit mindestens 12 Arbeitsplätzen und weitere Seminarräume. Alles wirkt neu und steril. In jedem Raum hängt ein Bild des Ministerpräsidenten oder des kommunalen Bürger- meisters der AKP. Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich eine Kindertagesstätte. Unsere Gruppe platzt etwas ungünstig in die Abholsituation. Die Eltern warten in strö- mendem Regen vor der Einrichtung. Die Räume sind nett gemacht, aber das Platzan- gebot für 120 Kinder ist sehr begrenzt. Dafür tragen die Erzieherinnen und Erzieher weiße Kittel. Die Kinder sind trotzdem unbeeindruckt (von uns). --- 16 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 17 Kleiderkammern als Stadtteileinrichtungen von links: Frau Dogan und Mitarbeiterin Kindergarten im Stadtteil 17 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 18 --- Freitag, 8. Oktober --------------- 9.45 Uhr Über die Bosporus-Brücken nach Kavacik 11.30 Uhr Jugendzentrum Pembe Ev Treffen mit Volkan Pirinci, Stiftung TOG 14.00 Uhr Im Stadtteil Mecediyeköy Treffen mit Hilal Gencay von der Stiftung „Anne Cocuk Egitim Vakfi (ACEV) 16.00 Uhr Rückfahrt über den Taksim-Platz zum Hotel und zu dem gemeinsamen Fußballabend, EM-Qualifikationsspiel Deutschland: Türkei M it unserem Bus fahren wir früh gegen 9.45 Uhr wieder auf die asiatische Seite über eine der Bosporus-Brücken in den Stadtteil Kavacik. Die verzögerte Ankunft um 11.30 Uhr ist den Staus (noch verschärft durch den strömenden Regen) vor und hinter der Bospo- rusbrücke geschuldet. Das hiesige Jugendzentrum Pembe Ev wird von der Stiftung TOG getragen. Volkan Pirinci, hauptamtlicher Mitarbeiter von TOG und Leiter des Jugendzentrums berichtet in Englisch und Türkisch, die Stiftung habe zwei Jugendzentren. Die TOG ist in 48 Städten der Türkei vertreten. Das Netz wird von Istanbul ebenso wie von Ankara, Izmir und Diyarbakir aus koordiniert. Angeboten werden Trainings in Projektmanagement etc. in ca. 90 Camps an den Universitäten. Türkeiweit gäbe es ca. 20 000 Freiwillige (Studentin- nen/Studenten). Sozialer Unternehmergeist, Rechenschaftskompetenz, Teamarbeit und Respekt to Differences sind die Ziele der Stiftung. Integration erfolge über soziales Engagement. Trainingsprogramme gibt es z.B. zum Thema Demokratie und unsere Rechte. Nachfrage: Gibt es keine Grenzen? Doch: Gewaltfreiheit! Die Trainings sind auf- bauend und haben verschiedene Levels (Farben): Jugendzentrum Pembe der Stiftung TOG 18 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 19 Volkan Pirinci 1. Orientierung zur Freiwilligenarbeit im Team (yellow) 2. Über Freiwilligenarbeit (blue) 3. Projektmanagement (red) 4. Teamwork und Teambuilding (green) 5. Praktikum für drei Monate (white) Eine Trainingseinheit umfasst fünf Tage. Die Bilanz bei den Trainings zeige, dass unter den Teilnehmenden weniger religiöse Teil- nehmer seien, obwohl sie für alle offen sind. „Lebenslanges Lernen“ sei ein weiteres Credo. Erfolgreich ist die Stiftung auch im Bereich der Jugendmobilität (Nationales Austauschprogramm unter Studenten). TOG/attac-Akti- onstage kommen auch vor. Ein Aktionstag ist geplant, damit das Jugendhaus behinder- tengerecht ausgebaut wird. Hauptsponsor ist die Garanti Bank und eine Ölgesellschaft (PO). Dazu kommt lokaler Support. Ein Zwischenfazit (O-Ton): Sozialwerden konnte bei vielen erreicht werden – durch TOG. 42 Hauptamtliche arbeiten in der Stiftung. Ibrahim Betik ist der Stifter (ehem. Banker der Garantie Bank), der TOG im Jahre 2002 gründete. Eine fehlende Jugendbeteiligung im Parlament ist der Stiftungsanlass. Die Studenten- ausschüsse funktionierten leider nur wie die Jugendabteilungen der politischen Partei- en. TOG versuche, die alten Hierarchien abzuschaffen und horizontale Strukturen zu installieren. Das Wahlalter ist zwar ab dem 18. Lebensjahr, aber trotz des großen Jugend- anteils der Türkei gibt es kaum Jugendvertreterinnen und -vertreter. Es herrschen nach wie vor alte Männer! Im Vorstand der TOG sind die Hälfte der Mitglieder junge Menschen quotiert. Große Hoffnungen sind mit einem zukünftigen eigenständigen Jugendminis- terium verbunden. 99 % des bisherigen Sport- und Jugendministeriumsetat werden leider für Sport ausgegeben. Das sei ein Skandal. Die Regierung ist bereit, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen.s 19 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 20 --- Freitag, 8. Oktober --------------- Es gebe ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis mit überwiegend männlichen Orga- nisatoren. Koordinatoren sind überwiegend weiblich. Der Vorstand hat 16 Mitglieder. Bei der letzten Wahl gab es bei 20 Kandidaturen allerdings lediglich vier Frauen. Deswegen wurde eine interne Kampagne gefahren mit dem Namen „Think lila“! Zur Arbeit des Jugendzentrums„Pembe“ (eines der beiden TOG Jugendzentren): Die Ein- richtung will eine modellhafte Praxis vor Ort entwickeln, damit sich Jugendliche frei ent- falten können. Traditionelle Jugendeinrichtungen würden von einem alten Mann gelei- tet, der anweise, dieses nicht anzufassen und jenes zu tun. Hip Hop ist eine wichtige jugend- kulturelle Basis für die Arbeit. Mehrsprachige Musik-Festivals mit griechischen, armeni- schen, kurdischen und Roma-Beiträgen haben stattgefunden zur Unterstützung der Viel- falt. Herr Pirinci hat den Abschluss in Amerikanischer Literatur gemacht. Das Haus wird überwiegend am Wochenende frequentiert (Sa: 50 Personen, So: 50 Per- sonen), ansonsten vereinzelt und in Projekten (z.B. für homosexuelle Jugendliche). In Istanbul gibt es sechs ministerielle und sechs städtische Jugendzentren und ein privates Jugendhaus Pembe. Das Haus ist seit 15 Jahren geöffnet und gehört TOG. Es ist eine Gabe von Frau Betik, der Frau des Stifters. Dadurch, dass die Arbeit mit Kindern seit 15 Jahren läuft, hat das JZ ein gutes Standing. Ansonsten sind JZ ähnlich schlecht angesehen wie in Deutschland. Mit Nachbarn gibt es Probleme, aber skurrile und keine wegen des Lärms. Ein alter Nachbar, der schwerhörig ist und deswegen sich nicht durch Lärm gestört fühlt, schnitt eines Tages im Garten des JZ die Äste am Baum ab. Zur Rede gestellt, begründete er sein Tun damit, dass er keinen richtigen Einblick habe, ob im Garten Jugendliche rauchen würden. Deswegen müsse er doch die Äste des JZ-Baumes wegschneiden … Herr Pirinci plant einen Gegenbesuch in Deutschland, um Jugendzentren vor Ort ken- nenzulernen. Für seinen Aufenthalt am 15./16.12.2010 in Berlin konnte Frau Schlott- mann aus dem PJW-Vorstand bereits einige Kontakte vermitteln. 20 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 21 Der Rückweg dauert gerade mal 30 Minuten! Kein Stau! Gegen 14.00 Uhr erreichen wir die Stiftung „Anne Cocuk Egitim Vakfi (ACEV)“ auf der europäischen Seite im Stadtteil Mecediyeköy. Gegensätzlicher können die Locations nicht sein: Während Pembe ein typisch karg ausgestattetes Jugendzentrum ist, befindet sich die ACEV auf einer groß- zügigen Büroetage eines eleganten Geschäftshauses. - Hilal Gencay studierte in Bochum und wohnte in Essen. Sie führt auf deutsch in die -Frau - Arbeit ein, nachdem sie sich vorgestellt und die Gruppe eine Vorstellungsrunde absol- viert hatte. ACEV ist eine Mutter-Kind-Bildungsstiftung www.acev.org (auch in Englisch). Auf Nachfragen informiert Frau Gencay: 30 Hauptamtliche und ca. 70 „Feldarbeiter“ in der Türkei arbeiten für ACEV. Im Weiteren nennt sie die Namen der Mitglieder des wis- senschaftlichen Beirates. ACEV ist eine operative Stiftung, die von Spenden lebt und kei- nen großen Kapitalstock hat. Die Stifterin ist Frau Özim. Der Dachverband heißt EVG. Da werden die Bildungsinitiativen koordiniert. ACEV ist dabei, TOCEV nicht, da hier frühkindliche Bildung und Alphabetisierung der Schwer- punkt ist. Das Programm wird mit ca. 6 500, von der Stiftung fortgebildete Lehrer, darun- ter Freiwillige, umgesetzt. Je nach Programm gibt es Unterschiede im Alter und Geschlecht. 610 000 Mütter und Väter in 10 verschiedenen Ländern (EU und Naher Osten) hätte das Programm erreicht. Das Bildungsministerium hat das Mutter-Kind-Bildungsprogramm über- nommen. Eine typische Kampagne der Stiftung ist „7 ist zu spät“. Angeblich wurden 30 Millionen Menschen mit dieser Medienkampagne erreicht, die die Implementation des Pflichtvorschuljahres als Testphase in 32 Provinzen der Türkei thematisiert. Im Kernteam der Stiftungszentrale sind 30 Frauen und zwei Männer (und die in der Finanzabteilung!). 16 Uhr Ende! Mit unserem Kleinbus geht es zurück zum Taksim-Platz. Wegen der typi- schen Rushhour steigen wir vorher aus, queren den Platz und erreichen fußläufig das Hotel. Hier wird noch mal ein gemeinsamer Fußballabend thematisiert: Das EM-Quali- fikationsspiel Deutschland gegen die Türkei beginnt im Berliner Olympiastadion um 21.45 Uhr. Die Übertragung mit der Stunde Zeitverzögerung beginnt also in Istanbul um 22.45Uhr. Das Spiel endete 3:0 für Deutschland. --- Hilal Gencay 21 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 22 --- Samstag, 9. Oktober ---------------- 10.15 Uhr Fahrt zur anderen Seite des Gol- denen Horns/Halic nach Balat an der alten byzantinischen Stadtmauer, 11.30 Uhr Treffen mit Yasemin Özes und Fügen Akkemik, Vertreterinnen eines Instan- buler Soroptimistenclubs. M it unserem Bus geht es heute Morgen vom Taksim auf die andere Seite des Gol- denen Horns/Halic in den Stadtteil Balat. Hier steht auch das Griechische Gym- nasium. In einem sehr schön sanierten alten Doppelhaus treffen wir die beiden Ver- treterinnen eines der Istanbuler Soroptimistenclubs. Frau Yasemin Özes, in Istanbul geboren, Österreichische Mädchenschule, Ökonomin u. a. in der METRO-Gruppe für Textil, spricht auf Deutsch über das Haus. Es ist ein Doppel- haus (Zwillingshaus), das völlig verfallen von der Regierung in 1999 für 29 Jahre gemie- tet wurde. Nach einer zehnjährigen Renovierungsphase aus eigener Kraft und Kreati- vität wird das Haus im Oktober 2010 seine Arbeit aufnehmen. Eine PJW-Vorstellungsrunde schließt sich an. Frau Fügen Akkemik gibt generelle Informationen über die Soroptimisten (Vereinigung erwerbstätiger Frauen) weltweit. Ihr Club pflege den Austausch u.a. auch mit deutschen Gruppen. Deutschland habe weltweit die größte Anzahl von Clubs. „Wir geben nicht den Fisch zum Essen – Wir zeigen, wie man fischt!“, lautet das Motto des Clubs. Seit 1948 gibt es die Soroptimisten in der Türkei. 10 Clubs allein in Istanbul. 37 Clubs in der gesamten Türkei. Die Arbeitsschwerpunkte ihres Clubs seien: Gesund- heit, Erziehung, Umwelt, Frauenrechte, internationale Beziehungen und ökonomische Entwicklung. Stipendien werden vergeben an Schülerinnen und Studentinnen. Balat Kulturhaus links: Yasemin Özes und Fügen Akkemik 22 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 23 Griechisches Gymnasium Auf dem Dach des Balat Kulturhauses „Wasser“ ist ein großes aktuelles Projekt. 20 Studentinnen wurden trainiert. Sponsoren sind u. a. Trinkwasserfirmen. In einer 3monatigen Projektphase wurden 100 000 Schüler/- innen erreicht. 100 Fotografien wurden von renommierten Fotografen/-innen gesammelt, davon wurden 63 Exponate in einer Ausstellung an mehren Orten Istanbuls gezeigt. Eine weitere Aktivität sei das Teppichprojekt: 1988 wurden in Erzurum (Ostanatolien) 15 Webstühle aufgestellt. Neun- bis dreizehnjährige Mädchen knüpften dort Teppiche, die z. B. über die Soroptimisten in San Diego/USA verkauft wurden. Jetzt seien die Webstühle in Mardin in einem neuen Projekt. Wir haben angeregt über Kinderarbeit diskutiert, die man von zwei Seiten aus betrachten kann. Da keine Schulen vor Ort sind, war es dort die einzig mögliche „Qualifizierungsinitiative“. Balat Kulturhaus: Die eine Hälfte ist der Verwaltungsbereich für Versammlungen und ein Lokal. Die andere Hälfte ist für ein Cafe und Kunstausstellungen. Deswegen gibt es auch eine Küche, in denen Frauen aus der Umgebung kochen können. Starköche sollen Kurse geben in Kunst im Balat Kulturhauses 23 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 24 --- Samstag, 9. Oktober ---------------- Stadtteil Balat dieser „Kochschule“. Für Ausstellungen sollen die Räume vermietet werden. Z. B. für eine Skulpturenausstellung bezahle ich für die Räume nichts, aber auf alle Verkäufe wird ein Prozentsatz abgeführt und die Verköstigung bei der Eröffnungsfeier muss vom Cafe bezogen werden. Kostenlose Seminare sind geplant über Philosophie, Rhetorik,„schöne Aussprache“. Auf Nachfrage: Die Mädchen für die Kochschule werden über den Bezirksvorsteher benannt. Es gibt acht Plätze, die über Schichtbetrieb verdoppelt oder verdreifacht wer- den sollen. Ausbildungsdauer: 1 Monat, 2-mal pro Woche (mit Zertifikat). Erstes Ziel ist, Köche für das eigene Restaurant zu gewinnen. Jüdische, arabische und armenische Koch- traditionen sollen unterrichtet werden durch Freiwillige aus verschiedenen Gastrono- miebetrieben. Von der Qualität der Küche können wir uns beim Mittagessen im Restaurant, das, wie alle Räume des Hauses mit viel Liebe und Stilgefühl gestaltet ist, überzeugen. --- Zu Gast bei den Soroptimisten 24 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 25 --- Sonntag, 7. Oktober ---------------- 10.15 Uhr Stadtführung. Hagia Sophia, Blaue Moschee, Hippo- drom und Große Zisterne. G egen 10.15 Uhr gesellt sich unser Stadtführer in die Hotellobby, der der deutschen Sprache mit österreichischem Akzent mächtig ist. Mit diesem Bär von einem Mann fahren wir in unserem Bus zu den alten Stätten aus byzantinischer und osmanischer Zeit: Hagia Sophia, Blaue Moschee, Hippodrom und Große Zisterne. Alles wird zügig besich- tigt, da unser Führer über beste Kontakte verfügt und uns an den meisten Schlangen vor- beilotsen kann. Die Tour wird lediglich unterbrochen durch eine überraschende und kur- ze Begegnung mit Anne Broden von IDA-NRW und durch ein gemeinsames Mittagessen in einem Köfte-Laden. Der Versuch, das Essen des Stadtführers hier mit zu bezahlen, schlug fehl. Er hatte in diesem Lokal wohl immer frei essen (da er genug Kundschaft mit- brachte). Das Abschiedsabendessen wird in einem Restaurant im Goethe-Institut zelebriert, hoch oben über den Dächern von Istanbul mit atemberaubendem Blick auf Halic, Bosporus und Marmara. Dankesreden und Geschenke lassen den letzten Abend ausklingen. --- Sicht vom Schiff auf den Bosporus Galata Turm 25 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:27 Seite 26 --- Sonntag, 7. Oktober ---------------- Große Zisterne Basar in Instanbul Deutscher Brunnen in Gedenken an den Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II 26 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 27 Hagia Sophia Große Zisterne Abschiedsessen 27 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 28 --- Montag, 11. Oktober ---------------- 11.00 Uhr Bus zum Flughafen 14.15 Uhr Abflug 16.30 Uhr Ankunft Flughafen Düsseldorf U m 11 Uhr verlassen wir das Hotel und fahren zum letzten Mal mit unserem Bus zum Flughafen. Dabei können wir noch einmal den Blick über die Marmarabucht schweifen lassen, die jetzt natürlich wieder im schönsten Sonnenlicht glänzt. Abflug gegen 14.15 Uhr Ortszeit. Ankunft gegen 16.30 Uhr Düsseldorfer Ortszeit, d. h. reine Flugzeit über drei Stunden. Erschöpft, aber um viele Erkenntnisse reicher und froh über den guten Gruppen- zusammenhalt verabschieden wir uns und verabreden den „Auswertungsabend“. von links nach rechts: Ulrike Werthmanns-Reppelus, Cornelia Kavermann, Ercüment Toker, Filiz Arslan, Dr. Ulrike Graff, Dörte Schlottmann, Dr. Volker Bandelow, Barbara Hagin, Rainer Kascha, Emine Yilmez , Brigitte Thyen 28 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 29 --- Bleibende Eindrücke ----------------- „ Das hohe Engagement von Menschen in den verschiedenen Projekten hat mich beeindruckt und mir deutlich gemacht, dass es besonders in einem Land wie der Türkei, noch eine größere Bedeutung hat, da es wenige staatliche Hilfen gibt. „ Filiz Arslan --- „Bildungsreise in eine Metropole Geschichtsträchtige, dynamische Stadtlandschaft – viele, junge Men- schen – kaltes, nasses Wetter – bunte, harmonische Gruppe – vielfäl- tiges, dichtes Programm – spannende, widersprüchliche Gesellschaft und wir mitten drin - beobachtend, erfühlend, hörend, lernend, - das Instrumentarium der operativen Stiftungen, - den Mittelweg zwischen Europa und Nordamerika, - die Entwicklung einer Jugendpolitik, wo vorher keine war, - die Rückkehrdynamik der in Deutschland oder im anderen Europa Aus- und Gebildeten, - die Struktur und Planung in einer Metropole, die eine solche sucht, - die wachsende Bedeutung von Frauen in der Jugend- und Bildungs- politik einer frauenbeschränkenden Gesellschaft , - die tolerante Gleichzeitigkeit der Jugendkulturen innerhalb einer peer-group, - die Identifikation der jungen Aktiven mit ihrer Gesellschaft, mit ihrem Staat, - die Angst vor einem national-klerikalen Staat, der eine gute Sozial- politik machen könnte, - die Zerbrechlichkeit der Hagia Sophia und die erhabene Schönheit der Blauen Moschee. „ Dr. Volker Bandelow --- 29 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 30 „Am schönsten war für mich die Klarheit der Mitarbeiterin Ilke bei Mor çati (Autonomes Frauenhaus Istanbul) – ihre feministische Frauenbe- zogenheit, jenseits tagespolitischer Wechsel. Am interessantesten war für mich die Erfahrung vor der Blauen Moschee, großen Widerstand gegen die Vorschriften der Verschleierung zu spü- ren und meine Erleichterung, als ich gesehen habe, dass die Mehrzahl der Frauen dem nicht gefolgt sind. Bleibend ist für mich ein Gefühl der Verbindung zu: der wundervollen Cigdem, zum Bosporus, zu dem leckeren Gebäck beim Frühstück, zur Lebendigkeit unserer Gruppe, zur Isticcla, die ich bestimmt 20 x rauf und runter gelaufen bin. „ Dr. Ulrike Graff --- „Istanbul im Oktober 2010 Istanbul eine Stadt auf zwei Kontinenten, Asien und Europa, verbun- den durch die Brücken über den Bosporus. Istanbul, einer Stadt der Widersprüche: Armut direkt neben unerhörtem Reichtum, bezaubernde Schönheit neben Zerstörtheit, Bildung neben Analphabetentum, Tradi- tion neben Moderne, Gelassenheit neben Hektik – in keiner Stadt habe ich die Widersprüche so dicht nebeneinander erlebt, als würden die Brü- cken vom einen zum anderen unsichtbar und auf geheimnisvolle aber den- noch sehr lebendige Weise bevölkert - wie die Brücken über den Bos- porus. Eine wunderbare Anregung auch hier im fernen Europa die Brücken vom einen zum anderen zu begehen. „ Barbara Hagin --- „In meiner Schulzeit lernte ich den „Kranken Mann am Bosporus“ ken- nen, der dann in den 1980er Jahren zur großen Stadt mit den „Über- Nacht-gebauten“ Vierteln mutierte und 2010 eine kraft strotzende und energiegeladene Megapolis ist, die zwei Kontinente zusammenschweißt „ und mutig in die Zukunft blickt. Rainer Kascha --- 30 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 31 „Vom Standing und der Präsentation sozialer Projekte in der Türkei und besonders von den selbstbewussten Frauen, die wir in Istanbul getroffen haben, können wir bei uns noch einiges lernen... „ Cornelia Kavermann --- „Das will ich für mein Land tun“ ist ein Satz , den ich oft während des Fachkräfteaustauschs gehört habe und der mich beeindruckte. Wer wür- de den hier sagen und sich so sozial, integrativ und häufig ehrenamt- lich engagieren? „ Dörte Schlottmann --- „Beeindruckt hat mich die Kompetenz der Frauen, die ich kennenlern- te, allen voran Cigdem. Die Stadt mit ihren alten und modernen Bau- ten, direkt am Meer, mit dem Geruch wie auf Mittelmeer Inseln fand ich sehr spannend. Die Hagia Sophia hat mich am meisten beeindruckt. „ Brigitte Thyen --- „Istanbul hatte ich in den letzten 30 Jahren mehr oder weniger (bis auf wenige kurzzeitige Aufenthalte) über die Medien verfolgt. In einer Woche habe ich ganz andere Gesichter von Istanbul kennengelernt. Es war eine volle Woche. Das Ausmaß des Zivilen Engagements hat mich am meisten beeindruckt. Vieler Orts begegneten uns Rückkehrer aus Deutschland in unterschiedlichen Funktionen. Auch das war eine inte- ressante Erfahrung. Obwohl vor einem Jahr bei meiner Vorbereitungstour verschiedene Leu- te mich auf die Unvermeidbarkeit der Improvisation eingeschworen hat- ten, klappte alles reibungslos. Sogar der Verkehr spielte mit. Begreifen wird man diese Stadt trotzdem nie! „ Ercüment Toker --- 31 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite 32 „ Istanbul: Alptraumstadt und Sehnsuchtsort! Irrsinniger Verkehr, Ver- fall und Schönheit liegen nahe beieinander. Beeindruckt war ich von dem ausgeprägten Stiftungswesen in Istanbul, von den Frauen in Leitungspositionen, die z .T. in Deutschland stu- diert haben, und den sozialen Errungenschaften der politischen Partei AKP, die zwiespältig von den dort Agierenden beurteilt wurden. Der Zusammenhalt und die Lebendigkeit unserer Gruppe hat mich sehr gefreut. „ Ulrike Werthmanns-Reppekus --- „ Ichkenne nur Menschen, die von Istanbul schwärmen, dem kann ich mich nur anschließen, die Eindrücke, die ich durch die Bildungsreise über die soziale Arbeit vor Ort gewonnen habe, sind unbeschreiblich mit Tiefen und Höhen. „ Emine Yilmaz --- 32 -
A-4-Tagebuch-Istanbul_Inhalt 16.02.2011 11:28 Seite US3 Impressum Herausgeber Paritätisches Jugendwerk NRW Loher Straße 7 42283 Wuppertal www.pjw-nrw.de Fotos Rainer Kascha Cornelia Kavermann Dörte Schlottmann Ulrike Werthmanns-Reppekus Emine Yilmaz Layout Der Paritätische Landesverband NRW Öffentlichkeitsarbeit gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen Dezember 2010
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