Volksentscheide in Europa: Ein neues Nachschlagewerk - S. 4 Tag für die Demokratie: Aerial Art und Bürgergutachten - Mehr Demokratie eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ausgabe 1.2020 | www.mehr-demokratie.de Volksentscheide in Europa: Ein neues Nachschlagewerk S. 4 Tag für die Demokratie: Aerial Art und Bürgergutachten S. 18 Ankündigung der Bundes mitgliederversammlung S. 40
INHALT Aerial Art vor dem Reichstag Wir haben es tatsächlich geschafft! Ein lebendiges Demokratie-Kunst- werk auf der Reichstagswiese. ab Seite 18 REZENSION 4 VOLKSENTSCHEIDE IN EUROPA GRUNDLAGEN 6 MEHR DEMOKRATIE IN DER KLIMAKRISE 8 SCHEINRIESEN – VON BÜRGERN UND POLITIKERN EUROPA & INTERNATIONAL 10 DIE KONKORDANZDEMOKRATIE DER SCHWEIZ 14 KUBAS NEUE VERFASSUNG: PER VOLKSABSTIMMUNG EINGEFÜHRT BUNDESLÄNDER 17 TRANSPARENZGESETZ BERLIN: UNTERSCHRIFTEN ÜBERREICHT TITELBILD CLEMENS WRONSKI, LINKS OBEN CLEMENS WRONSKI, LINKS MITTE VERLAG BARBARA BUDRICH, LINKS UNTEN JAN HAGELSTEIN TAG FÜR DIE DEMOKRATIE 18 AERIAL ART UND BÜRGERRAT: ZWEI MAMMUT-PROJEKTE AN EINEM TAG 20 DIE AERIAL-AKTION IN BILDERN 24 DIE ÜBERGABE DES BÜRGERGUTACHTENS IN BILDERN 26 DIE EMPFEHLUNGEN DES BÜRGERRATS IM ÜBERBLICK 28 ZITATE VON TEILNEHMENDEN, POLITIK UND MEDIEN Volksentscheide in Europa: Ein neues Standardwerk Unsere Mitarbeiter Frank Rehmet und BUNDESLÄNDER Tim Weber haben zusammen mit unserer 30 MIKRO-BÜRGERINNENGUTACHTEN SYRGENSTEIN ehemaligen Mitarbeiterin Neelke Wagner 32 DAS JAHR DER BIENEN: VOLKSINITIATIVE IN ein neues Buch vorgelegt. BADEN-WÜRTTEMBERG 34 NEUES AUS DEN LANDESVERBÄNDEN ab Seite 4 REZENSION 36 DAS VOLK REGIERT SICH SELBST – EINE GESCHICHTE DER DEMOKRATIE Die Übergabe der Empfehlung des Bürgerrats Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und die im Bundestag vertretenen Parteien haben das MD INTERN erste deutschlandweite Bürgergutachten 39 DIE VERGANGENE BMV IM RÜCKBLICK entgegengenommen - Was steht drin? Und wie 40 ANKÜNDIGUNG DER BUNDESMITGLIEDERVERSAMMLUNG kam es zu Stande? ab Seite 22 3 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
EDITORIAL Liebe Lesende, am 7. November hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier für ein Top-Thema des Tages gesorgt. Die Landtagswahl in Thüringen hätte ihm eingeschärft, dass es eine Parlaments- reform geben müsse. Der Bundestag solle schrittweise verkleinert und die Wahlperiode auf fünf Jahre ausgedehnt werden. Auch sei die Bürgerbeteiligung auszubauen. Am Tag zuvor hatte die Bundesregierung ihre Halbzeitbilanz vorgelegt. Darin der Satz: „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge zur Stärkung der parlamen- tarisch-repräsentativen Demokratie erarbeiten soll.“ Seit März 2018 warten wir auf diese Kommission, die Vorschläge für mehr Bürgerbeteiligung und die Einführung der direk- ten Demokratie auf Bundesebene diskutieren soll. Zwischenzeitlich sind wir mit dem Bürgerrat Demokratie schon einmal in Vorleistung gegangen. Die Ergebnisse finden Sie in diesem Heft. Ganz oben an steht die Einführung des bundesweiten Volksentscheids sowie die Verzahnung von Bürgerbeteiligung mit der direkten und der parlamentari- Ralf-Uwe Beck, schen Demokratie. Und nur so wird auch ein Schuh draus, mit dem wir uns auf den Weg Bundesvorstandssprecher machen, die Kluft zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Politik endlich überwinden von Mehr Demokratie. können. Hier finden sich auch die Antworten auf Altmaiers Vorschläge: Verlängerung der Wahlperiode nur, wenn dies mit der direkten Demokratie auf Bundesebene kompen- siert wird. Auch die Bürgerbeteiligung braucht im Hintergrund die direkte Demokratie, damit ernst genommen wird, was die Bürgerinnen und Bürger vortragen, Am 15. November wurde das Bürgergutachten an den Bundestagspräsidenten in einer sehr würdigen Veranstaltung übergeben – begleitet von einer großen Kunstaktion mit vielen Menschen. Bis hierhin war das ein fulminanter und gelungener Prozess. Die Seiten in dieser Ausgabe, die vielen Fotos, lassen das spüren. Ein Wort fiel bei der Veranstaltung auffallend oft: Schublade. Die ausgelosten Bürgerinnen und Bürger sprachen ebenso über die Gefahr, das Bürgergutachten könnte in irgendeiner Schubla- de verschwinden wie auch die Menschen aus der Politik, dem wissenschaftlichen und dem zivilgesellschaftlichen Beirat. Für Mehr Demokratie heißt es: An die Arbeit! Jetzt werden wir auf die Umsetzung drängen müssen. Ist die Regierung, die sich bisher nicht einmal auf eine Expertenkommission einigen konnte, jetzt wach? Gelingen interfrakti- onelle Initiativen? Kann das Bürgergutachten helfen, damit die Politik über den Koali- tionsvertrag hinauswächst? Dabei könnte uns und die Politik ermutigen, was es bereits gibt, hier und andernorts in Europa, was gelingt, was die Menschen bewegt. Davon findet sich in diesem Heft so einiges. Ach, und die Expertenkommission soll nun doch noch kommen. Das jedenfalls verkündete der Unionsvertreter vom Podium unserer Festveranstaltung aus hinunter in den Saal. Wir werden sehen. Eine ertragreiche Lektüre wünscht Korrigendum Daniel Wittig ist Mitarbeiter von Mehr Demokratie im Be- Ralf-Uwe Beck reich Fundraising und IT und Bundesvorstandssprecher Mitglied im Arbeitskreis Di- gitalisierung und nicht, wie in der letzten Ausgabe geschrie- ben, Vorstandsmitglied im Landesverband Bremen und Leiter des AK Digitalisie- rung. Wir bitten, dies zu ent- schuldigen. 3
REZENSION VOLKSENTSCHEIDE IN EUROPA Eine Rezension VON DR. PAUL TIEFENBACH Zwei Mitarbeiter von Mehr Demokratie, n Von oben, durch den Präsidenten, das Frank Rehmet und Tim Weber, sowie Parlament oder die Regierung ange- eine ehemalige Mitarbeiterin, Neelke ordnet. Interessant ist das besonders Wagner, haben ein Buch vorgelegt, das dann, wenn auch eine Minderheit im alle europäischen Volksentscheide, die Parlament ausreicht, um einen Volks- unter demokratischen Verhältnissen entscheid zu starten. Ein Sonderfall stattfanden, auflistet. Es ist nicht nur als sind die sog. „unverbindlichen Volks- Nachschlagewerk interessant, die Lektü- befragungen“. Die Regierung oder re bietet auch einige Überraschungen. das Parlament fragen die Bevölkerung Zunächst: Es geht der Autorin und nach ihrer Meinung, ohne rechtliche den Autoren nur um Volksentscheide auf Bindung. Trotzdem wird in der Regel nationaler Ebene, also nicht um Bürge- das Votum der Bevölkerung auch um- rentscheide in Kommunen oder Volksent- Frank Rehmet, Neelke Wagner, gesetzt. Beispiel dafür ist etwa die Bre- scheide in Bundesländern. Untersucht Tim Willy Weber: xit-Abstimmung in Großbritannien. werden Sachabstimmungen, nicht Direkt- „Volksabstimmungen in Europa“, n Mischsysteme: die Bürgerinnen und Verlag Barbara Budrich, wahlverfahren, wie zum Beispiel die Bürger sammeln Unterschriften, das ISBN: 9783847422754, 26 Euro. Wahl des französischen Präsidenten. Lan- Parlament berät das Anliegen, letztlich desweite Volksentscheide in Europa? entscheiden Parlament und Staatpräsi- Man neigt zu der Auffassung, dass es da dent, ob ein Volksentscheid stattfinden außerhalb der Schweiz doch nicht viel ischen Volksentscheide statt. Auf dem soll. Oder: die Opposition im Parla- gibt. Aber weit gefehlt. Sage und schreibe dritten Platz folgt Italien mit 70 Volksent- ment fordert einen Volksentscheid, er 1050 Volksentscheide und weitere 50 scheiden, dann Slowenien, Litauen und findet aber nur statt, wenn sie auch eine Volksbefragungen haben bislang in den das kleine San Marino, das es auf immer- Reihe von Unterschriften sammelt. untersuchten 43 europäischen Staaten hin 25 Entscheide brachte. Aber auch die Worüber wird eigentlich so abgestimmt? stattgefunden! In 41 der 43 Staaten kann Wege zum Volksentscheid sind sehr un- Offensichtlich beschäftigt die Frage der die Bevölkerung wenigstens ab und zu terschiedlich. Die Autorin und die Auto- staatlichen Souveränität die Bürgerinnen über landesweite Themen abstimmen. ren unterscheiden vier Möglichkeiten: und Bürger. Den eindeutigsten Volksent- Die einzigen europäischen Staaten, in de- n Von unten, per Volksinitiative oder fa- scheid dazu gab es 1944 in Island, wo nen es das gar nicht gibt, sind das Fürsten- kultativem Referendum. Das kennt 99,5 Prozent für die Unabhängigkeit von tum Monaco und die Bundesrepublik man natürlich aus der Schweiz. Aber Dänemark stimmten, bei einer Beteili- Deutschland. auch in der Slowakei, Ungarn und Li- gung von 98 Prozent. 1961 ließ der fran- Die Unterschiede zwischen den Län- tauen gab es zahlreiche Volksinitiati- zösische Staatspräsident die Franzosen dern sind allerdings enorm, sowohl was ven. Beim fakultativen Referendum darüber abstimmen, ob Algerien unab- die Zahl, als auch was die Art der Volks- dagegen liegt Italien (nach der hängig werden solle – drei Viertel waren entscheide angeht. Die Schweiz liegt Schweiz) auf dem zweiten Platz. dafür. In zahlreichen Ländern gab es auch überall klar vorn, gefolgt vom Fürsten- n Automatisch, etwa bei einer Verfas- Abstimmungen für oder gegen den Bei- tum Liechtenstein. In diesen beiden Län- sungsänderung. Hier liegt Irland nach tritt zur Europäischen Union. Zwei Mal dern fanden etwa drei Viertel der europä- der Schweiz auf dem zweiten Platz stimmten die Spanier über den Verbleib in 4 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
REZENSION Legende Ländergruppe 1 Direktdemokratische Verfahren als politische Routineverfahren vorhanden. Ländergruppe 2 Direktdemokratische Verfahren mit einiger Praxis vorhanden. Ländergruppe 3 Direktdemokratische Verfahren mit wenig Praxis vorhanden. Ländergruppe 4 Direktdemokratische Verfahren als Ausnahmeverfahren vorhanden. Ländergruppen 5-7 Keine direktdemokratischen Verfahren vorhanden. Nicht betrachtete Staaten Keine demokratischen Verhältnisse / nicht oder nur zu einem Teil in Europa liegend. Grafik_Europa.indd 1 26.09.19 11:42 Direkte Demokratie in Europa: Wo geht was? der Nato ab. Litauen hat die Regelung, eher niedrigeren Beteiligung zu führen. schlossenes Gesetz verlangen. Gäbe es dass ein Volksentscheid bei der Übertra- Bis 2012 gab es in Slowenien kein Ab- nicht das hohe Beteiligungsquorum beim gung von Souveränitätsrechten auf inter- stimmungsquorum, die durchschnittliche Volksentscheid, wären das keine schlech- nationale Organisationen stattfinden Beteiligung betrug 31,9 Prozent. Seit ten Bedingungen. Schon 65 Mal haben muss. Andere Themen, die immer wieder 2013 gibt es ein Abstimmungsquorum die Italiener das fakultative Referendum vorkommen, sind das Abtreibungsrecht von 20 Prozent und die Beteiligung sank genutzt. Natürlich bleiben die dänischen und Änderungen am Wahlrecht. auf durchschnittlich 20,9 Prozent. Man- und italienischen Regelungen meilenweit Die Anwendungsfreundlichkeit des che gehen nicht mehr hin, weil die Ab- hinter der Schweiz zurück. Aber sie könn- Verfahrens ist ganz entscheidend für die stimmung möglicherweise ohnehin un- ten vielleicht als Türöffner dienen um Zahl der gültigen Volksentscheide. Be- gültig sein wird. neue Bewegung in die eingefrorene De- sonders das Abstimmungsquorum spielt Das Buch bringt einen auf neue Ideen. batte um den bundesweiten Volksent- in vielen Ländern eine fatale Rolle. Be- Obligatorische Volksentscheide bei Über- scheid zu bringen. / kanntlich gibt es in der Schweiz gar kein tragung von Hoheitsrechten, wie in Litau- Abstimmungsquorum, und das ist ein en, sollte es auch in Deutschland geben. wichtiger Grund für das gute Funktionie- Anregend fand ich auch das dänische Op- ren der direkten Demokratie dort. Auch positionsreferendum. Ein Drittel des Par- in Irland gibt es kein Quorum. In Litauen laments kann einen Volksentscheid zu dagegen scheiterten alle zehn Volksiniti- beschlossenen Gesetzen beantragen. Da- ativen am Abstimmungsquorum von 50 für müssten doch eigentlich die Oppositi- Dr. Paul Tiefenbach Prozent. Und das, obwohl wegen der ho- onsparteien im Bundestag zu gewinnen war Vertrauensperson des hen Unterschriftenhürde von zwölf Pro- sein? Oder das fakultative Referendum Volksbegehrens für ein neues zent nur Initiativen zur Abstimmung ka- Italiens: Ein Prozent der wahlberechtigen Wahlrecht in Bremen und men, die breite Unterstützung haben. Ein Bürgerinnen und Bürger können eine koordiniert den Arbeitskreis hohes Quorum scheint übrigens zu einer Abtimmung über ein vom Parlament be- Wahlrecht bei Mehr Demokratie. 5
GRUNDLAGEN MEHR DEMOKRATIE IN DER KLIMAKRISE – DURCH LOSBASIER- TE BÜRGERRÄTE! In Europa erwacht eine alte demokratische Idee zu neuem Leben: Bürgerbeteiligung per Losver- fahren. Immer mehr Kommunen und Staaten, Zivilgesellschaft wie Politik sehen in Bürgerräten (engl. citizens‘ assemblies) einen geeigneten Weg, um festgefahrene politische Themen anzugehen – allen voran die Klimakrise. VON DR. PERCY VOGEL Auslöser dieses Trends ist eindeutig Irland. Dessen Regierung spirierte Fridays for Future-Bewegung globalisierte sich inner- stand 2011 vor der Herausforderung, überfällige Verfassungs- halb von wenigen Monaten genauso wie die in Großbritannien reformen auf den Weg zu bringen, ohne das ohnehin krisenge- entstandene Bewegung „Extinction Rebellion“ (XR). Mit ihren plagte Land zu spalten. In dieser Lage nahm sie den Vorschlag gezielten Gesetzesübertretungen und beindruckenden Teilneh- des Politologen David Farrell mendenzahlen setzen sie seither dankend an, die Reformen die Regierungen vieler Länder Weil auch XR sich inzwischen auf durch (im Wesentlichen) ausge- unter Druck. loste Bürgergremien beratschla- fast alle Kontinente ausgebreitet hat, XR hat sich – als eine ihrer gen zu lassen. Es ging dabei u.a. dürfte die Bewegung zum weltweit drei Forderungen – auch eine de- um die gleichgeschlechtliche stärksten Advokaten für Bürgerräte mokratische Idee auf die Fahnen Ehe (Einführung), das Recht geschrieben: Die Rebellen wol- geworden sein. auf Schwangerschaftsabbruch len sich nicht selbst an die Macht (Einführung) und das Blasphe- putschen, sondern fordern die mie-Verbot (Abschaffung) – also um Themen, die im katholisch Einsetzung einer losbasierten „Bürger:innenversammlung“, die geprägten Irland als besonders konflikthaft galten. Doch die mit der ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesell- beiden Bürgergremien schafften den Durchbruch und sprachen schaft befasst werden soll. Schließlich hätten die letzten dreißig sich mehrheitlich für die jeweiligen Reformen aus. Dies spie- Jahre gezeigt, dass der herkömmliche Parlamentarismus nicht in gelte sich dann auch in den anschließenden Referenden wider. der Lage sei, diese Aufgabe aus sich heraus zu bewältigen. Das letzte – zur Blasphemie-Frage – fand im Oktober 2018 statt. Weil auch XR sich inzwischen auf fast alle Kontinente aus- Was ist seither passiert? gebreitet hat, dürfte die Bewegung zum weltweit stärksten Ad- Im Jahr 2018 gab es einen Hitzesommer, der die Gefahren der vokaten für Bürgerräte geworden sein. Und immerhin hat XR Erderwärmung erlebbar machte, während die Klimapolitik den in seinem Ursprungsland den ersten Erfolg zu verzeichnen: selbst gesetzten Zielen weiterhin hinterherhinkte. In Schwe- Bereits im Sommer 2019 beschlossen sechs Ausschüsse des den, Großbritannien und Frankreich entstanden Bewegungen, britischen Parlaments, noch in diesem Jahr einen Klima-Bür- die auf die Klimafrage reagierten: Die von Greta Thunberg in- gerrat einzusetzen. 6 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
GRUNDLAGEN Die dritte Forderung von Extinction Rebellion: eine geloste Bürger:innenversammlung, die mit der ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft befasst werden soll. | Foto: CC-BY 4.0 Extinction Rebellion. Doch der bislang wohl ehrgeizigste Bürgerrat auf nationaler geboten, einen dreimonatigen Bürgerdialog („grand débat na- Ebene ist der Klima-Bürgerrat „CCC“ (Convention Citoyenne tional“) zu veranstalten. Daraus ging schließlich die Forde- pour le Climat) in Frankreich. Im Auftrag (aber unabhängig) rung nach einem nationalen Klima-Bürgerrat hervor, der Ma- von der Regierung Macron arbeitend, soll er Wege aufzeigen, cron nachgab. Neben der Not waren es aber scheinbar auch die Frankreichs Treibhausgas-Emissionen bis 2040 um wenigstens guten Argumente für das losbasierte Verfahren, die Macron 40 Prozent zu reduzieren (gegenüber 1990) und zwar möglichst überzeugten. sozial gerecht. Die folgenden fünf Themenfelder sollen bearbei- Und in Deutschland? Auch hier regiert Kanzlerin Merkel tet werden: Wohnen, Ernährung, Mobilität, Konsum sowie Ar- weiterhin an den Klimazielen und den Bürgerinnen und Bürgern beit und Produktion. Hierfür wurden die 150 Ausgelosten auf vorbei. Teils geschieht dies aus Angst vor Protesten wie in Frank- fünf Gruppen à 30 Personen verteilt, die untereinander in en- reich, denn diese hatten sich an Macrons „von oben“ verordneter gem Austausch stehen und sich gemeinsam auch finanziellen CO2-Steuer entzündet, für die es keinen sozialen Ausgleich gab; und steuerlichen Aspekten annehmen. Der Bürgerrat sammelt teils fühlen sich die GroKo-Parteien ihrer jeweiligen Klientel also nicht nur Ideen, sondern trifft auch Grundsatzentscheidun- mehr verpflichtet, als dem Gemeinwohl. Auch hier könnte ein gen, stimmt die ausgewählten Maßnahmen aufeinander ab und Bürgerrat helfen, vor allem dann, wenn alle ihn wollen, Bürge- macht Vorschläge für deren Finanzierung. Sogar die Ausarbei- rinnen und Bürger, Zivilgesellschaft und Politik. Mehr Demo- tung von Gesetzestexten wird ihm ermöglicht. Für all dies ste- kratie bereitet mit Bündnispartnern daher einen Bürgerrat Kli- hen ganze vier Monate mit sechs dreitägigen Sitzungswochen- maschutz vor und lädt Regierung und Bundestag ein, das enden zur Verfügung sowie ein Stab von Fachleuten und eine Verfahren zu unterstützen. / Fachbibliothek. Und nicht zuletzt stellt Macron die weitgehende Umsetzung der Ergebnisse in Aussicht, wenn nötig sogar per Referendum. Dr. Percy Vogel Viele misstrauen Macron noch, denn seinen Schwenk hin setzt sich bei Mehr Demokratie für zur Bürgerbeteiligung machte er nur unter dem Druck der Bürgerräte ein und ist Gründungsvor- Straße: Nach anhaltenden und teils gewalttätigen Proteste der stand von BürgerBegehren Klima- „Gelbwesten“-Bewegung im Herbst 2018 hielt Macron es für schutz e.V. 7
GRUNDLAGEN SCHEINRIESEN Über das Verhältnis von Bürgern und Politikern VON NICOLA QUARZ UND RALF-UWE BECK „Ohne Volksabstimmung ist alles Ba- (direkt)demokratischen Ausweg aus dem Die Politiker hier, die Bürger dort. Die ge- nane“, steht auf einem Großbanner, das Dilemma zu zeigen – verbunden mit der fühlte Wahrnehmung: Die Bürger interes- der Künstler Thomas Baumgärtel, be- Einladung, gemeinsam die Verhältnisse zu sieren sich nur für sich selbst, nicht fürs kannt auch unter dem Namen „Bana- bessern. Ein Höhepunkt der beiden Aben- Gemeinwohl. Auch schwierige Entschei- nensprayer“ während der Koalitions- de war die Lesung aus Michael Endes Kin- dungen mitzutragen, sind sie nicht bereit. verhandlungen Anfang 2018 für eine derbuch „Jim Knopf und Lukas der Loko- Wirken Bürger auf Politiker wie Schein- Aktion von Mehr Demokratie in Berlin motivführer“ – gelesen von einer echten riesen? Sind ihre Widerstände unüber- gesprüht hat. Jetzt wurde es neben vie- Lok aus; zentrales Objekt der Ausstellung. windbar, zahlen sie bei Wahlen gnadenlos len anderen Plakaten und Skulpturen Diesen Text geben wir hier wieder: heim, wenn es ans Eingemachte geht? bei einer Ausstellung in Köln gezeigt. Die Bürger hier, die Politiker dort. „ … in diesem Augenblick stieß die Diesmal hatte Baumgärtel Mehr Demo- Die gefühlte Wahrnehmung: Nur im Lokomotive Emma plötzlich einen gel- kratie eingeladen, in der riesigen Werk- Wahlkampf suchen Politiker die Nähe lenden Pfiff aus, der wie ein Entsetzens- halle eine Veranstaltung zu bestreiten. der Bürger, dann wieder das Weite. Wo- schrei klang und zugleich machte sie ganz Wir haben uns von Baumgärtels Wer- ran liegt das? Ja, die Welt ist so kom- von selbst kehrt und raste wie verrückt ken inspirieren lassen und eine szenische plex, die können nur noch Ganztagspo- davon. … Am Horizont stand ein Riese Lesung geboten. Ausgehend von der Kli- litiker verstehen – erst recht gestalten, von … ungeheurer Größe. makrise haben wir mit Statements von oder? Wirken Politiker auf uns Bürger ‚Nun ja’, meinte Lukas ruhig, ‚bloß Willy Brandt, Max Frisch, Stephen wie Scheinriesen? Übermächtig, wich- weil er so groß ist, braucht er doch noch Hawking u.a. sowie mit realen und erfun- tig, unerreichbar mit ihrem vermeintli- lange kein Ungeheuer zu sein.’ … ‚Wenn denen Nachrichtentexten versucht, einen chen Wissensvorsprung? er uns was tun wollte’, sagte Lukas, die 8 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
GRUNDLAGEN Nicola Quarz und Ralf-Uwe Beck führten unter dem Titel «Ohne Volksabstimmung ist alles Banane» durch die Ausstellung GermanUrbanPopArt des Bananensprayer-Künstlers Thomas Baumgärtel. Foto: Jan Hagelstein. Pfeife zwischen den Zähnen, ‚dann hätte tive zu. … Aber was nun geschah, war er das längst gekonnt. Er scheint gutartig so erstaunlich, dass Jim Mund und Nase zu sein. Möchte bloß wissen, warum er aufsperrte und Lukas an seiner Pfeife zu nicht näher kommt. Ob er sich am Ende ziehen vergaß. Der Riese kam Schritt für vor uns fürchtet?’ Schritt näher und bei jedem Schritt wurde ‚Oh Lukas!’ stöhnte Jim, dem vor er ein Stückchen kleiner. Als er etwa noch Nicola Quarz Angst die Zähne zu klappern anfingen. hundert Meter entfernt war, schien er nicht Juristin bei Mehr Demokratie. ‚Jetzt is’ es aus mit uns!’ ‚Mir scheint’, mehr viel größer zu sein als ein hoher brummte Lukas, ‚das ist ein ganz harm- Kirchturm. Nach weiteren fünfzig Metern loser Riese. Er kommt mir sogar sehr nett hatte er nur noch die Höhe eines Hauses. vor.‘… ‚Du traust ihm nicht, bloß weil er Und als er schließlich bei der Lokomotive so mächtig groß ist … Aber das ist kein Emma anlangte, war er genauso groß wie Grund. Dafür kann er schließlich nichts.’ Lukas der Lokomotivführer. Er war sogar Ralf-Uwe-Beck Jetzt ließ sich der Riese am Horizont einen halben Kopf kleiner.“ Bundesvorstandssprecher von nieder und rief mit flehentlich gefalte- Die Bürger hier, die Politiker dort. Mehr Demokratie. ten Händen: ‚Ach bitte, bitte, glaubt mir Die Politiker hier, die Bürger dort. Über doch! Ich will euch nichts tun, ich will die Kluft zwischen Bürgern und Politik nur mit euch reden. Ich bin so allein, so hinweg werden sich die drängenden Pro- schrecklich allein!’ … Der Riese machte bleme nicht lösen lassen. Gemeinsam vorsichtig einen Schritt auf die Lokomo- schon eher. / 9
EUROPA & INTERNATIONAL DIE KONKORDANZDEMOKRATIE DER SCHWEIZ: EINE MÖGLICH- KEIT FÜR DIE EU? „Das stabilste Land der Welt hat keine Regierung. Es ist nicht stabil, obwohl, sondern weil es keine Regierung hat.“ Nassim Taleb, Antifragilität, Knaus Verlag, München 2013 VON KARL-MARTIN HENTSCHEL UND STEFAN PADBERG Die Schweiz hat keine Regierung im üblichen Sinne, die das zwei Vertretende der SVP (Rechtspopulisten), zwei der SP (So- Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Deswegen sagt zialisten), zwei der FDP (Liberale) und eine der CVP (Katho- Nassiv Taleb, sie habe keine Regierung, sondern eine „Nichtre- lisch-Konservative). Die kleinen Parteien unter zehn Prozent gierung“. An der Spitze der Exekutive steht ein siebenköpfiger wie die Grünen, die Grünliberalen und die BDP (demokratische Verwaltungsrat, der sog. „Bundesrat“, der überparteilich von Bürger) sind nicht vertreten. Es gibt auch einen Proporz nach allen größeren Parteien zusammengesetzt wird. Der Bundesrat Sprachen und Religionen. entscheidet im Konsens. Er beschließt Verordnungen, zu denen Die Zauberformel steht nicht in der Verfassung, sondern er per Gesetz ermächtigt ist, legt den Finanzplan (Haushalt) vor, wurde in den letzten 70 Jahren zum Gewohnheitsrecht. Der Ver- führt Gesetze und Gerichtsurteile aus, verwaltet den Haushalt teilungsschlüssel ist nirgends festgelegt, sondern wird bei Bedarf und vertritt die Schweiz nach außen. neu vereinbart. Wenn es relevante Verschiebungen bei den Stim- Diese Konstruktion führt neben der direkten Demokratie zu mergebnissen gab, wurde die Formel jeweils angepasst. einem einmalig hohen Vertrauen in die „Nicht-Regierung“ und So ist es bei der Nationalratswahl letzten Oktober zu Ver- zu einer völlig anderen Rolle der Parteien. Das könnte auch für schiebungen gekommen, die eine Diskussion über eine Verän- die EU ein geeignetes Modell sein. derung der Zauberformel ausgelöst haben. Die Grüne Partei Schweiz hatte über sechs Prozent hinzugewonnen und ist damit Die Wahl des Bundesrates stärker als die CVP, darf aber laut Zauberformel keinen Bun- Die sieben Bundesrats-Mitglieder werden alle vier Jahre ein- desrat stellen. Die Debatte zeigte, dass die Funktion der Formel zeln in der konstituierenden gemeinsamen Sitzung der Bundes- nicht nur darin besteht, den Parteienproporz im Nationalrat in versammlung gewählt. Diese besteht aus dem Nationalrat (200 den Bundesrat zu projizieren. Interessanterweise wird eine rein Abgeordnete – entspricht dem Bundestag) und dem Ständerat arithmetische Zauberformel abgelehnt, damit der Bundesrat (46 Vertreter der Kantone). Gewählt werden können alle nicht politisiert wird. Das könnte dazu führen, dass die „Oppo- Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Eine Abwahl ist nicht mög- sition“ vermehrt über Volksinitiativen versuchen würde Politik lich. Tritt ein Bundesrat oder eine Bundesrätin zurück, dann zu machen. Es besteht auch augenscheinlich kein Bedürfnis, die wird eine Nachrückerin oder ein Nachrücker der gleichen Par- Reform so schnell wie möglich zu machen. Eine neue Formel tei gewählt. soll gut durchdacht und im Konsens gefunden werden. Vorsitzender ist der Bundespräsident oder die Bundespräsi- Foto: Seb Mooze | Unsplash dentin. Diese und ihre Stellvertretenden werden jährlich von Der Grund für die Zauberformel der Bundesversammlung neu gewählt und dürfen nicht sofort Bis 1943 saßen nur Konservative und Liberale im Bundesrat. Es wiedergewählt werden. gibt drei Gründe für die Entstehung des Konkordanzprinzips: Erstens ist die Schweiz sehr heterogen und hat kein Staatsvolk. Die Zauberformel Sie war nie eine Nation. Der Zusammenschluss zu einem Staat Seit 1943 wird nach einer vereinbarten Formel gewählt, die heu- erfolgte 1848 nur, weil sie nach der Eroberung und Besetzung te die „Zauberformel“ genannt wird. Gewählt werden zur Zeit durch Napoleon dies nicht wieder erleben wollten. Die Schweiz 10 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
EUROPA & INTERNATIONAL Die Schweiz hat keine Regierung im üblichen Sinne, die das Land in die eine oder andere Rich- Foto: Christian Wiediger | Unsplash tung lenkt. Deswegen sagt Nassiv Taleb, sie hat keine Regierung, sondern eine „Nichtregierung“. 11
EUROPA & INTERNATIONAL hat vier Sprachen, eine Vielfalt an Kulturen, zwei damals zu- Parteien sind keine Machtapparate wie in Deutschland. Nur tiefst verfeindete Religionen, und hatte extrem unterschiedliche bei der Benennung der Bundesrätinnen und -räte ( = Ministe- Regierungsformen (mehrere Monarchien, Handwerkerrepubli- rinnen und Minister) üben sie Macht aus. Da aber ihre Position ken wie Genf, Patrizierherrschaft wie Zürich, Bauerndemokra- sich aufgrund der Konsenspflicht wenig zur Polarisierung und tien wie Schwyz und Uri usw.). Deswegen war der Wunsch nach Profilierung eignet, sitzen im Bundesrat eher Vertrauensper- Konsens schon immer wichtig. Eine polarisierende Regierung sonen und keine polarisierenden Parteiführenden. Oft bleiben hätte diesen Bund zerrissen. die persönlich gewählten Bundesrätinnen und -räte über viele Der zweite und aktuelle Grund für die Zauberformel war Jahre und Legislaturperioden für ihre Partei im Bundesrat. das Gefühl der Bedrohung im Zweiten Weltkrieg. Der dritte Der große Vorteil dieses Systems besteht darin, dass die po- war die zunehmende Anzahl der Referenden gegen Gesetze. litischen Debatten im Parlament (Legislative) und durch die Di- Direkte Demokratie erfordert viel mehr Kommunikation, da die rekte Demokratie in der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft Unterschriften von einem Prozent der Bürgerinnen und Bürger stattfinden. Der Bundesrat – die „Nichtregierung“ – bleibt über- eine Abstimmung erzwingen können. Die Beteiligung aller parteilich und genießt daher ein großes Ansehen – ähnlich wie großen Fraktionen bewirkt, dass wichtige Entscheidungen in Deutschland das Bundesverfassungsgericht. Er führt die meistens im Konsens getroffen werden. Staatsgeschäfte aus aufgrund der Gesetze, die im Parlament Bemerkenswert: Obwohl es schon mehrere Krisen gab, weil oder vom Volk beschlossen wurden. nicht die vorgeschlagenen Kandidierenden einer Partei gewählt wurden, Bundesräte aus ihrer Partei austraten oder von dieser Konkordanzdemokratie als Modell für Europa ausgeschlossen wurden und mehrfach das Ende des Konkordats Warum eignet sich das Modell der Konkordanzdemokratie be- prognostiziert wurde, hat es sich immer wieder bewährt. sonders für die EU? Europa und die EU als Teil davon ist ein extrem vielfältiger Erdteil. Man schätzt, dass noch über 250 Die Arbeitsweise des Bundesrats. Muttersprachen gesprochen werden – die EU hat alleine 24 Jeder Bundesrat und und jede Bundesrätin ist zuständig für ein Amtssprachen. Entsprechend vielfältig sind die Religionen, Department (Ministerium) der Bundesverwaltung. Die Vergabe Kulturen und Geschichten der Völker – obwohl diese seit Jahr- der Departments an die Bundesrätinnen und Bundesräte erfolgt tausenden miteinander verwoben sind, aber immer auch durch nach Anciennität im Zugriffsverfahren. Das amtsälteste Mitglied neue Anstöße von außen beeinflusst wurden. wählt zuerst sein Departement, anschließend das Zweitälteste Wenn es zu einer demokratischen Verfassung in der EU und so weiter. Die Mitglieder des Bundesrats vertreten dessen kommt, dann wäre eine Mehrheitsregierung geradezu gefähr- Entscheidungen, die ihr Ressort betreffen, auch wenn sie dage- lich. Osteuropa könnte in Opposition zu einer westlich gepräg- gen gestimmt haben. ten Regierung treten, Südeuropa in Opposition zu einer nörd- Die Geschäftsführung obliegt der Bundeskanzlerin oder dem lich geprägten. Und eine von Süden und Osten geprägte Bundeskanzler, die nicht Mitglied des Bundesrates ist, sondern Regierung gegen Deutschland würde erst recht massive Ver- in einer eigenen Wahl vom Nationalrat gewählt wird. werfungen hervorrufen. Den Vorsitz hat die Bundespräsidentin oder der Bundesprä- sident. Sie haben keine herausgehobene Funktion – vertreten Kollegialrat statt Direktwahl des Präsidenten die Schweiz aber protokollarisch bei Treffen der Staatspräsiden- Dieses Problem könnte auch nicht durch eine Direktwahl der ten. Es gibt keine Richtlinienkompetenz. Nur bei Stimmen- Präsidentin oder des Präsidenten gelöst werden, wie es Ulrike gleichheit im Rat entscheidet die Stimme der Präsidentin oder Guerot vorschlägt. Es ist interessant, dass ausgerechnet Parag des Präsidenten. Khanna, ein vertrauter außenpolitischer Berater von Obama, die Direktwahl des Präsidenten für den größten Fehler der US-Ver- Auswirkungen auf die Parteien fassung hält, da sie das Land spaltet und die politische Debatte Das Konkordanzsystem führt dazu, dass es keine Koalitionen personalisiert. Rousseau lehnte sie als „Wahlkönigtum“ ab. zur Wahl des Bundesrates gibt. Daher gibt es auch keine Regie- Eine Konsensdemokratie in der EU mit einem Kollegialrat rungsfraktionen und keine Opposition in der Bundesversamm- als Leitung der Exekutive würde die heute oft so produktiv lung und logischerweise auch keinen Fraktionszwang. beschriebene offene Atmosphäre im EU-Parlament ohne Jede Partei arbeitet wie eine Nichtregierungsorganisation Fraktionszwang erhalten und wäre eine große Chance, Ver- und wirbt für ihre Ziele. Wenn sie glaubt, dass eine Position trauen aufzubauen anstatt zu spalten. Die politischen Debat- mehrheitsfähig ist oder breit diskutiert werden sollte, dann kann ten würden dann zu Sachdebatten werden. Dies kann natür- sie eine Volksinitiative starten. Meist geschieht dies im Bündnis lich noch verstärkt werden, wenn auch in Europa mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Volksentscheide möglich werden und so politische Debatten 12 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
EUROPA & INTERNATIONAL quer durch ganz Europa über die Zukunft des Kontinents Polarisierung im obersten Verwaltungsgremium führen. Die Zau- möglich werden. berformel müsste stattdessen für politischen Ausgleich sorgen. Insgesamt scheint uns, dass mit dem Konkordanzprinzip Eine Zauberformel für die EU die Gewaltenteilung viel besser beachtet wird. Die Verwaltung Wie könnte eine Zauberformel für einen Kollegialrat der EU aus- arbeitet ziemlich unabhängig vom politischen Getümmel im sehen? Gegenwärtig ist das Hauptprinzip, dass jeder Mitglieds- Rahmen der Gesetze, die das Parlament beschließt. Gleichzeitig staat eine Kommissarin oder einen Kommissar entsendet. Dabei führt dies zu einer Befreiung der Legislative von den Zwängen wird noch ein Geschlechterproporz beachtet. Unseres Wissens der politischen Machtkämpfe. Die Debatten versachlichen sich nach wird bei der Auswahl (zumeist) auf fachliche Kompetenz auch im Parlament, denn es gibt keine Macht mehr zu erobern. / geachtet, wenig auf die politische Ausrichtung. Diese 28 Kom- missare verteilen sich dann auf die 33 Generaldirektionen. Ob so viele Generaldirektionen eine EU-Reform überleben Karl-Martin Hentschel werden, ist zweifelhaft. Es müsste somit vermutlich das Prin- Mitglied des Bundesvorstandes zip, dass jeder Mitgliedsstaat eine Kommissarin oder einen und dort zuständig für Europa. Kommissar entsendet, aufgegeben werden. Ein regionaler Pro- porz wäre aber gleichwohl wichtig, und zwar sowohl ein West- Stefan Padberg Ost als auch ein Nord-Süd-Proporz. Koordinator des AK „Europa und Wenn man die Schweizer Erfahrung eines entpolitisierten Welt“ bei Mehr Demokratie. Bundesrates ernst nimmt, dann sollte man auch nicht in Richtung Spitzenkandidatenverfahren gehen, denn dieses würde zu einer Anzeige 13
EUROPA & INTERNATIONAL KUBA HAT EINE NEUE VERFASSUNG – PER VOLKSABSTIMMUNG EINGEFÜHRT In Kuba hat in diesem Jahr ein Verfassungsreferendum stattgefunden. Da die Lage schwer einzuschätzen ist, nähert sich der Autor dem Thema unter anderem literarisch an – mit einem Gespräch zwischen Fidel Castro und Che Guevara. VON RALF-UWE BECK „Patria o Muerte“ steht noch immer an mancher Hauswand in Barack Obamas der Würgegriff des Wirtschaftsembargos lo- Kuba. Vaterland oder Tod – der Ruf, mit dem die Revolutionäre ckerte, kam auch diese Frage durch die Verkrustungen des das Land 1959 von Diktator Batista befreit hatten. Was soll wer- kommunistischen Regimes an die Oberfläche. Nun hat sich den aus dem Land, das nur knapp 200 Kilometer von Key West Kuba eine neue Verfassung gegeben – per Volksabstimmung. und damit von Florida entfernt liegt – jetzt, da es den Anschein Festgeschrieben wird das Bekenntnis zum Sozialismus und zu hat, als würde es sich öffnen? Je mehr sich durch die Politik der revolutionären Tradition. Gleichzeitig werden private unter- nehmerische Aktivitäten zugelassen. Das könnte so etwas wie eine Hilfe zur Selbsthilfe für den gebeutelten Karibikstaat wer- den. Die Amtszeit für den Präsidenten wird auf zweimal fünf Jahre begrenzt. Und gestärkt werden die Rechte von Minderhei- ten und so vermutlich die Homo-Ehe ermöglicht. 90,1 Prozent der 8,7 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich am 24. Februar dieses Jahres an der Volksabstimmung über diese neue Verfassung. Zuvor gingen zwischen August und No- vember 2018 mehr als 783.000 Änderungsvorschläge ein. Dar- aufhin wurden 60 Prozent des Textes, der dann vom Parlament für die Volksabstimmung freigegeben wurde, modifiziert. „Volksaussprache“ hat die Regierung dieses groß angelegte Verfassungsgespräch genannt und zur Diskussion des Entwurfs in der Nachbarschaft, in Schulen, Behörden, Betrieben und Ka- sernen aufgerufen. Schwer zu beurteilen, wie offen die Volksaussprache tat- sächlich war. Das Stichwort der „Nachbarschaft“ verweist auf die Commités de Defensa de la Revolución, die 779.000 Komi- Foto: OpenClipart-Vectors | Pixabay tees zur Verteidigung der Revolution, die es in jedem Stadtteil, in jedem großen Wohnblock gibt – Auge und Ohr der kommu- nistischen Partei. Hier kann wohl kaum von freien Diskussio- nen ausgegangen werden. Presse- und Meinungsfreiheit sind in Kuba mindestens eingeschränkt. In den Sozialen Medien aller- dings wurde offener diskutiert. 78,3 Prozent votierten schließ- lich für die neue Verfassung. Bei der Abstimmung über die Vorgänger-Verfassung waren es 1976 noch 98 Prozent. Ein Hoffnungsschimmer? 14 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
EUROPA & INTERNATIONAL Über die Zukunft des Landes (worüber sonst!) unterhal- Fidel Das Land könnte wieder zum Nachtclub Floridas wer- ten sich Fidel Castro und Che Guevara – im Himmel. den – wie zu Batistas Zeiten. Die Revolution war dann nichts weiter als eine Episode. Che Du hast mich gesucht? Che Weil wir den Menschen nichts zugetraut haben. Wir ha- Fidel Und gefunden, weglaufen kannst du ja hier nicht. ben ihrem Leidensdruck vertraut, als wir von der Sierra Che Dann müsste dir das hier entgegenkommen. Maestra aus angegriffen haben. Kaum hatten wir Ha- Fidel Lass uns nicht gleich streiten. vanna erobert, haben wir ihnen misstraut – je länger, je Che Stimmt, dafür ist immer noch Zeit. mehr. Fidel Alle Zeit der W… na ja, die nun nicht mehr. Hast dich Fidel Wir konnten sie nicht frei lassen, sie wären dem Geld gut gehalten. nachgelaufen bis nach Florida. Che Kann man von dir nicht sagen. Che Das haben sie auch so gemacht, in ihren Gedanken. Des- Fidel Ist das ein Vorwurf? Du musst ganz still sein, hattest halb tun sie es auch, wenn sie die Gelegenheit haben – dich vom Acker gemacht, die Mühen der Ebene waren wie eben bald. Oder Florida kommt nach Cuba, dann nichts für dich, musstest unbedingt nach Bolivien. bleiben sie. Che Ich hab dafür teuer bezahlt, auf der Seite ging die Kugel Fidel Dann werden die einen reich, die meisten ärmer. rein, da raus – drei Tage später war ich hier. Che Wir haben ihnen vorgesetzt, wie sie zu leben haben – Fidel Wir hätten dich gebraucht, die schweren Jahre kamen und haben ihnen dadurch die Freiheit genommen. erst noch. Fidel Die Freiheit geschenkt, die Armut genommen, Krank- Che Die schweren Jahre? heiten, den Analphabetismus. Fidel Die Hungerjahre, nachdem der Ostblock zerfallen war Che Verschone mich, ich kenne deine Reden. Die Freiheit, und die Russen uns nicht mehr unterstützt haben, du die ich meine … weißt davon, oder? Fidel Auch so ein Satz, von wem ist der? Che Ja, ich weiß. Und jetzt? Cuba ist nur noch Nostalgie und Che Lenk nicht ab, die Freiheit, die ich meine, ist nicht die wir beide sind Maskottchen. des Reisens und Kaufens. Fidel Du schon immer, du mit deinem Foto, das sich die Leute Fidel Sondern? auf die Arme tätowieren lassen. Nachlass eines ganzen Che Diese Freiheit reicht nur soweit wie der Dispo. Ich weiß Lebens. wovon ich rede, ich war Bankdirektor. Che Hoffnung, es geht um Hoffnung. Sie suchen nach dem Fidel Von mir ernannt. Gesicht oder der Formel für den Ausweg, woraus auch Che Ja, du hattest alles in der Hand. Das war doch das Prob- immer. Und sind zu bequem, sich selbst einen Weg zu lem. Frei sind die Menschen nur, indem sie die Bedin- bahnen. Ikonen und Sprüche haben die Leute wie Gebe- gungen, unter die sie die Gesellschaft stellt, selbst be- te zum Himmel geschickt. Darüber stolperst du hier einflussen können. Auch daraus entsteht eine oben dauernd: Die Amis sind da ganz groß. Den Obama revolutionäre Kraft. zitieren sie hier an jeder Wolkenecke, finden das lustig Fidel Sprach der Oberrevolutionär und legte die Waffe aus der hier oben: Yes, we can. Hand. Fidel Ah, du führst die Amis im Munde. Che Wenn dir eine Kugel durch den Kopf fliegt, macht das Che Du musst ganz still sein. Ich sage nur: Marilyn … nachdenklich. Fidel Was wäre das Leben ohne den Trost der Sünde. Haben Fidel Zu spät. sie für mich auch einen Satz parat, mein Gesicht wird es Che Für mich schon, aber Cuba ist noch nicht verloren. Es wohl kaum sein? könnte immer noch heißen: Venceremos. / Che Patria o Muerte, vielleicht. Fidel Das trifft es, viel mehr gab es nicht, das Vaterland und nun der Tod. Che Und dein Vermächtnis? Ralf-Uwe Beck Fidel Lange durchgehalten. Jetzt geht das Land den Bach run- Bundesvorstandssprecher von Mehr ter. Coca Cola und Mc Donalds klopfen schon an. Demokratie. Che Immerhin haben wir das geschafft: Sie treten nicht die Tür ein. 15
AKTION UNSER ZIEL: 10.000! Vielen Dank an alle Mitglieder, Förderer, Spenderinnen und Spender. VON KATRIN TOBER Rund 9.500 Mitglieder und Förderer unterstützen die Arbeit Demokratie zu gewinnen. Nutzen Sie hierfür gerne das beige- von Mehr Demokratie mit einem regelmäßigen Beitrag. Jedes legte Formular und vergessen Sie nicht, Ihre Wunschprämie Mitglied stärkt unser politisches Gewicht und hilft dabei, uns anzukreuzen. Gehör zu verschaffen. Und: Die Mitgliedsbeiträge sind plan- https://www.mehr-demokratie.de/mitglied-wirbt-mitglied.html bar. Wir können zu Beginn des Jahres sagen: „Das ist dran, das nehmen wir uns vor.“ Noch aber reichen unsere Mitglieds- Partnermitgliedschaft beiträge nicht aus, um die laufenden Kosten und Kampagnen- Vielleicht liegt Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin die Demokra- kosten zu decken. Zusätzliche Spenden helfen uns, die zahl- tie ebenso am Herzen wie Ihnen? Sie können Ihre Einzelmit- reichen Projekte umzusetzen. Viele von Ihnen bedenken gliedschaft jederzeit in eine Partnermitgliedschaft (96 Euro unsere Arbeit neben dem regelmäßigen Beitrag zusätzlich mit jährlich) umtragen lassen. Damit stärken Sie unsere Arbeit Spenden für einzelne Projekte. Für all diese Unterstützung gleich doppelt. bedanken wir uns ganz herzlich. Schön, Sie an unserer Seite mitgliederservice@mehr-demokratie.de zu wissen! Tel.: 07957 – 923 9050 Wie Sie Mehr Demokratie unterstützen können Mehr Schultern schultern mehr Ansprechpartnerin: Unsere Basis ist stark, aber nicht stark genug. 2020 wollen wir Katrin Tober (Tel. 0421-79 46 370) stabil auf 10.000 Mitglieder wachsen. Sprechen Sie Freunde und katrin.tober@mehr-demokratie.de Bekannte an und helfen Sie mit, ein neues Mitglied für Mehr IHREN BEITRAG ERHÖHEN – UNSERE BASIS IHRE SPENDENBESCHEINIGUNG PER POST STÄRKEN IM FEBRUAR Die Basis für die Arbeit von Mehr Demokratie sind Sie, unsere Mitglieder und Förderer von Mehr Demokratie können die Mitglieder und Förderer. Mit Ihren regelmäßigen Beiträgen Mitgliedsbeiträge und Spenden steuerlich absetzen. Wir und Spenden ermöglichen Sie unsere Arbeit für die Weiter- schicken Ihnen die Spendenbescheinigung in jedem Jahr entwicklung der Demokratie. Dafür danken wir Ihnen ganz unaufgefordert Anfang Februar zu. Die Bescheinigung finden herzlich! Die regelmäßige Unterstützung sichert unsere Sie in unserem ersten Brief des Jahres gemeinsam mit dem Unabhängigkeit, erweitert unsere Möglichkeiten und erhöht Jahresbericht. Wir vermeiden dadurch unnötigen Einsatz von Foto: Shane Rounce | Unsplash unser politisches Gewicht. Papier und Porto. Daher rufen wir Sie von Zeit zu Zeit an und fragen, ob Sie Falls Sie Ihre Steuererklärung früher fertigstellen möchten, Ihren Beitrag erhöhen möchten. Falls Sie das nicht wünschen schicken wir Ihnen die Bescheinigung auf Anfrage gerne oder wenn Sie selbst aktiv erhöhen möchten, rufen Sie uns schon im Januar zu. Melden Sie sich hierzu bitte beim einfach an oder schicken uns eine E-Mail: Mitgliederservice unter: 07957–923 90 50 07957–923 90 50 mitgliederservice@mehr-demokratie.de mitgliederservice@mehr-demokratie.de 16
ETAPPENSIEG: 32.827 UNTERSCHRIFTEN FÜR MEHR TRANSPARENZ VON OLIVER WIEDMANN 25. November, 16.15 Uhr. Der Digitalausschuss des Abgeordne- zufriedenstellen. Geht es nach dem Senat, so sollen die Berline- tenhauses berät über einen Entwurf der FDP für ein Transpa- rinnen und Berliner weiterhin Gebühren für Informationsaus- renzgesetz. Vier Sachverständige stehen Rede und Antwort. künfte zahlen müssen. Entscheidungen der Landesregierung und Auch wir sind mit unserem Volksbegehren vertreten. Der zu- Gutachten sollen weiterhin zurückgehalten werden können und Foto: CC-BY 4.0 Open Knowledge Foundation Deutschland e.V., Foto: Leonard Wolf ständige Abgeordnete der SPD meldet sich zu Wort und fragt, die Verwaltung sperrt sich gegen eine Frist für die Veröffentli- wen denn ein solches Transparenzgesetz überhaupt interessiere. chung von Informationen. Mal ein Beispiel: Für die letzte Infor- In seinem Freundeskreis zumindest fiele ihm keiner ein. Eine mationsanfrage von uns – die Herausgabe eines Vertrages mit ziemlich respektlose Frage gegenüber uns und den anderen An- einem Wohnungsbauunternehmen – hat sich der Bezirk zuerst zuhörenden. Die Antwort darauf bekam er eine Woche später gewehrt und ihn dann erst nach acht Monaten herausgerückt. von uns geliefert – natürlich in einem Aktenschrank: Der Senat hat uns nun Gesprächsbereitschaft signalisiert. 32.827! So viele Berlinerinnen und Berliner haben unseren Mit einem halbgaren Entwurf werden wir uns dabei nicht zu- Volksbegehrensantrag unterschrieben und fordern mehr Trans- frieden geben. Eigentlich stehen die Chancen gut, denn zwei parenz in Politik und Verwaltung. Die Unterschriften haben wir Partner der Dreier-Koalition stehen hinter unserem Volksbe- am 3. Dezember mit einer schönen Aktion dem Senat über- gehren. Und am Ende steht uns ja auch noch der Weg ins Volks- reicht. Ein wirklich toller Etappensieg. Wir haben nochmal viel begehren offen, sollte sich der Senat nicht bewegen. / Berichterstattung für unser Volksbegehren bekommen. Das Thema ist gesetzt – in Politik und Stadtgesellschaft. Doch wie geht es jetzt weiter? Wie kommt Berlin zu dem fortschrittlichsten Transparenzgesetz bundesweit? Noch vor Weihnachten werden die Unterschriften ausgezählt sein. Im Ja- nuar geht das Volksbegehren dann in die rechtliche Zulässig- Oliver Wiedmann keitsprüfung. Schon jetzt berät der Senat über Eckpunkte eines Sprecher des Landesvorstands von Transparenzgesetzes. So sieht es auch der Koalitionsvertrag vor. Mehr Demokratie Berlin/Branden- Ein Entwurf wurde im November von Netzpolitik geleakt. Die burg und Vertrauensperson des Vorschläge, so wie sie im Papier zu lesen sind, werden uns nicht Volksbegehrens.
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE „Ich habe schon […] die parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen eingeladen, und gesagt: Guckt euch das an, was wir da mit dem Bürgerrat Demokratie […] haben werden. Ich rate dringend, dass wir das in unsere Überle- gungen mit einbeziehen – unabhängig davon, ob wir jetzt Koalition oder Opposition sind. Wir müssen darauf achten, dass unsere wunderbare rechtsstaatliche Demokratie nicht durch Ermüdung an Wirkungskraft verliert. Deswegen müssen wir neue Dinge machen, um das Mo- dell [westlicher Demokratien] zu stärken. Und da ist der Bürgerrat ein wirklich interessanter Ansatz und deshalb empfehle ich sehr, dass wir im Bundestag uns damit be- schäftigen und auch versuchen, das umzusetzen.“ Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident 18 www.mehr-demokratie.de Foto: | Nr. Robert 122 | 1/2020 Boden
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE WAS PASSIERT EIGENTLICH... ... wenn man Menschen auswählt, um die Demokratie zu stärken? VON ANNE DÄNNER Eine riesige Spirale, gebil- niert. Anders gesagt: Wenn der det von hunderten von Men- Werkzeugkasten schlecht aus- schen, die sich vor dem gestattet ist, die Sägen rosten Reichstag ent-wickelt, in und an den Schraubenziehern perfekter Linienführung zu die Bits fehlen, dann wird man den Stufen des Reichstags auch nichts Funktionierendes hin öffnet und dann, wenn oder gar Schönes bauen können. man die Menschenkette optisch verlängert, eine Brücke zur glä- Über die Grundlagen der Politik mit ganz normalen Menschen sernen Kuppel des Gebäudes schlägt. Dort dreht sich über den zu diskutieren und ihnen tragbare Lösungen zuzutrauen, das Köpfen der Abgeordneten ebenfalls eine Spirale. war zumindest mal…ein Wagnis. Und es hat funktioniert, es Eine lebendes Kunstwerk für die Demokratie – gestaltet von hat unglaublich gut funktioniert! und mit hunderten von Menschen. Ein Symbol für die Gestal- Am 15.11.19, dem „Tag für die Demokratie“, haben wir die tungskraft der Bürgerinnen und Bürger, das zugleich eine Brü- ausgearbeitete Empfehlung der 160 Bürgerrats-Teilnehmenden cke in den Bundestag, zu unseren Vertreterinnen und Vertre- an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble übergeben. tern schlägt. Als diese Idee vor etlichen Monaten geboren Dieses Bürgergutachten möchten wir Ihnen auszugsweise auf wurde, schien das alles ganz schön größenwahnsinnig. den kommenden Seiten vorstellen, geschmückt mit Zitaten von Anlass war ein anderes Projekt, ebenfalls ein bisschen grö- Menschen aus der Politik, den Medien und Teilnehmenden des ßenwahnsinnig. Der erste bundesweite Bürgerrat, ein „Bürger- Bürgerrats Demokratie. / rat Demokratie“. Und zwar nicht mit den „üblichen Verdächti- gen“, die sich ohnehin für Politik interessieren, sondern mit aus den Einwohnermelderegistern gelosten Menschen. BÜRGERGUTACHTEN Inspiriert durch die guten Erfahrungen mit gelosten Bür- gerräten in Irland, als Reaktion auf die im Koalitionsvertrag Das Bürgergutachten nennt alle Details, Zahlen und Fakten versprochene Expertenkommission zur Demokratieentwick- zum Bürgerrat Demokratie, beschreibt den Prozess und lung, gemeinsam mit starken Partnern (nexus, IFOK, Schöpf- geht auf die abgestimmten Empfehlungen ein. lin Stiftung, Stiftung Mercator und den Instituten), haben wir Sie können sich das Bürgergut- es gewagt und geschafft: Mit dem Bürgerrat Demokratie haben achten über folgenden QR-Code wir den ersten losbasierten Bürgerrat bundesweit initiiert und oder über: verwirklicht. www.buergerrat.de/fileadmin/ 160 Menschen, die die ganze Vielfalt der in Deutschland downloads/buergergutachten. Lebenden repräsentieren – aus dem Mini-Dorf und aus der pdf herunterladen. Großstadt, mit Hauptschulabschluss und Doktortitel, zwischen 16 und 82 Jahre alt, Frauen, Männer und Diverse, mit und ohne Migrationshintergrund…Diese 160 Bürgerinnen und Bürger kamen im Herbst an vier Tagen zusammen, um Vorträge von Anne Dänner Expertinnen und Experten anzuhören und dann über ein so ab- hat die Presse- und Öffentlichkeits- straktes Thema wie Demokratie zu diskutieren. arbeit für den Bürgerrat Demokra- Wie gut unser Zusammenleben funktioniert, hängt unmit- tie koordiniert. telbar damit zusammen, wie gut unsere Demokratie funktio- 19
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE „Democracy is daily exercise. We can never take it for granted. – Die Demokratie ist eine tägliche Aufgabe. Wir können sie niemals für selbstverständ- lich nehmen.“ John Quigley, Aerial Art-Künstler 20 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE Die folgende Doppelseite mit der aus der Luft fotografierten Aerial Art können Sie aus dem Heft nehmen und aufhängen. 21 Fotos von links nach rechts: Jan Hagelstein, rechts oben: Michael von der Lohe, Jan Hagelstein.
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE 22 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE 23 Foto: Clemens Wronski
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE Nach der Kunstaktion überreichten Teilnehmende des Bürgerrats Demokratie zusammen mit dem Vorsitzen- den des Bürgerrats Günther Beckstein das Bürgergutach- ten an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Dieser sprach sich in seiner Rede positiv zu den Empfeh- lungen aus und riet dem Bundestag dringend, sich damit auseinanderzusetzen. 24 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE Alle wichtigen Dokumente, Filme, Fotos, Zusammen- fassungen finden Sie hier: https://www.buergerrat.de/dokumentation/ Fotos: Robert Boden 25
TAG FÜR DIE DEMOKRATIE ZAHLEN, DATEN & FAKTEN sechs Regionalkon- viertägiger Bürgerrat in Leipzig mit ferenzen in ganz 160 zufällig ausgewählten Bürgerin- Deutschland mit nen und Bürgern aus ganz Deutsch- insgesamt mehr als land unter Vorsitz des ehemaligen 250 Teilnehmenden bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Günther Beckstein REPRÄSENTATIVITÄT DIREKTE LOBBYISMUS UND DEMOKRATIE TRANSPARENZ ONLINE BÜRGERBETEILI BETEILIGUNG GUNG Politikerinnen und Politiker aller Fraktionen im Bundestag bei den Re- gionalkonferenzen dabei; Bundestags- zentrale Themen des Bürgerrats: Bürgerbeteiligung, präsident Dr. Wolfgang Schäuble un- direkte Demokratie, Kombination von Bürgerbeteiligung terstützt den Bürgerrat und nimmt das und direkter Demokratie, Online-Beteiligung, Lobby- Bürgergutachten beim Tag für die De- ismus und Transparenz, Repräsentativität. mokratie entgegen. mehr als 50 Stunden Diskussionen in Kleingruppen, tausende beschriebene Moderationskarten, hunderte Gedanken und Ideen münden in 22 Bürger-Empfeh- lungen zur Stärkung der Demokratie Beirat sichert die Anbindung des Bürgerrat Demokratie an Wissenschaftliche Begleitung des Bürgerrat Demokratie durch die Zivilgesellschaft, u.a. mit 13 wissenschaftliche Beiräte sowie die Forschungsstelle ‚Demo- Bund der Steuerzahler, Bund kratische Innovationen‘ der Johann Wolfgang Goethe-Univer- für Umwelt und Naturschutz sität Frankfurt am Main Deutschland (BUND) und Deutscher Städte- und Ge- ein Planungs-, Organisations- und Durchfüh- meindetag rungsteam von über 50 Menschen über 450 Presse-Resonanzen, zahl- Entstehung eines Dokumentarfilms reiche Online- und Printberich- über den Bürgerrat Demokratie, te sowie jeweils 15 Hörfunk- und die Bürgerinnen und Bürger und TV-Beiträge (u.a. F.A.Z., Süddeut- zentralen Akteure, der im Fernse- sche, MDR, WDR) hen ausgestrahlt wird 26 www.mehr-demokratie.de | Nr. 122 | 1/2020
Sie können auch lesen