UBS Outlook Schweiz Konjunkturanalyse Schweiz - Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz - EU

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UBS Outlook Schweiz Konjunkturanalyse Schweiz - Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz - EU
UBS Outlook Schweiz
Chief Investment Office WM
November 2014

4. Quartal 2014

Konjunkturanalyse Schweiz

Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

ab
UBS Outlook Schweiz Konjunkturanalyse Schweiz - Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz - EU
In der Europapolitik gilt es abzuwägen,
    was unserem Land langfristig mehr
    Erfolg verspricht: die Bewahrung der
    schweizerischen Eigenheiten oder die
    wirtschaftliche Öffnung.

    UBS Outlook Schweiz                               Desktop                                Bestelladresse
    4. Quartal 2014                                   CIO digital & print publishing         UBS AG, Help Desk /Operations
    Diese Publikation wurde von UBS AG erstellt.                                             F2AL, Postfach, CH-8098 Zürich
                                                      Druck                                  Fax +41 44 238 50 21
    Die Kurs-Entwicklung der Vergangenheit            galledia ag, Flawil, Schweiz           E-Mail: SH-IZ-UBS-Publikationen@ubs.com
    ist keine Indikation für die Zukunft. Die ange-
    gebenen Markt­preise sind Schlusskurse der        Redaktionsschluss                      Abonnements- und Adressänderungen
    jeweiligen Hauptbörse. Dies gilt für alle Kurs-   15. Oktober 2014                       E-Mail: emanuela.abbiati@ubs.com
    diagramme und Tabellen in dieser Publikation.                                            Telefon: +41 44 238 50 15
                                                      Titelbild
    Regional CIO Switzerland                          Fahnenschwinger mit Schweizer und      Aus rechtlichen Gründen erhalten nur Kundinnen
    Dr. Daniel Kalt                                   Europafahne, aufgenommen auf dem       und Kunden mit Wohnsitz in der Schweiz die Beilage
                                                      Männlichen bei Grindelwald (BE),       «Investieren in der Schweiz».
    Herausgeber                                       Keystone
    UBS AG, Chief Investment Office WM,                                                      UBS-Homepage: www.ubs.com
    Postfach, CH-8098 Zürich                          Sprachen
                                                      Deutsch, Französisch und Italienisch
    Chefredaktion
    Sibille Duss                                      Kontakt
    E-Mail: sibille.duss@ubs.com                      ubs-cio-wm@ubs.com

    Redaktion
    Caspar Heer                                                                              SAP-Nr. 80428D-1404

2   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
UBS Outlook Schweiz Konjunkturanalyse Schweiz - Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz - EU
EditoriaL

                        Daniel Kalt
                        Regional CIO Switzerland,
                        UBS AG

Liebe Leserin
Lieber Leser

Das Schweizer Stimmvolk hat am 9. Februar dieses Jahres       Europa­politik der Schweiz steht. Ausserdem erläutert
die Masseneinwanderungsinitiative knapp angenommen.           Staatssekretär Yves Rossier in einem Interview auf Seite 12
Dies bedeutet, dass die Einwanderung in die Schweiz künf-     seine Sicht der europapolitischen Entwicklungen. Auch in
tig wieder über Kontingente gesteuert – lies: gebremst –      der Steuerpolitik soll mit der Unternehmenssteuerreform III
werden soll. Mit der Umsetzung des neuen Verfassungs­         ein Reibungspunkt mit der EU beseitigt werden. Elias
artikels dürfte das Abkommen über den freien Personen-        ­Hafner gibt auf Seite 10 einen Überblick dazu.
verkehr verletzt werden. Damit stehen mit einem Schlag
alle Bilateralen Verträge I mit der Europäischen Union (EU)   Ausserdem finden Sie wie gewohnt in den hinteren Teilen
auf dem Spiel. Denn wegen der Guillotinenklausel fallen bei   dieser Publikation unsere Einschätzungen zur globalen wie
Kündigung auch nur eines Vertrages die anderen ebenfalls      auch zur schweizerischen Konjunktur-, Zins- und Wechsel-
dahin.                                                        kursentwicklung. Den Abschluss macht wie üblich unser
                                                              Überblick zu den Konjunkturtrends in den unterschied­
Unser Verhältnis zur EU steht somit auf dem Prüfstand.        lichen Industrie- und Dienstleistungsbranchen.
Der bisher so erfolgreiche bilaterale Weg der Schweiz in
Europa ist nicht mehr gesichert. Im Beitrag ab Seite 6        Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
geben ­Veronica Weisser und Sibille Duss eine Einschätzung
zur bisherigen und möglichen weiteren Entwicklung ab.
Sie zeigen aus ökonomischer Perspektive auf, was hinter
den unterschiedlichen politischen Standpunkten zur
UBS Outlook Schweiz Konjunkturanalyse Schweiz - Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz - EU
Auf einen Blick

    Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – Europa                Konjunktur

    Die Schweiz in der europapolitischen                          Europa am Rande der Deflation
    Zerreissprobe                                                 Während die Konjunkturindikatoren in der Eurozone im
                                                                  Frühjahr auf eine Überwindung der zweiten Rezession
    Nach der Abstimmung zur Begrenzung der Einwanderung
                                                                  hindeuteten, zerschlugen sich diese Hoffnungen im
    müssen die Bilateralen Verträge mit der EU – die wir als
                                                                  Sommer wieder. Die hohe Arbeitslosigkeit in der Euro-
    wirtschaftlichen Erfolg betrachten – neu verhandelt wer-
                                                                  zone und das Überangebot an Arbeitskapazität drücken
    den. In der künftigen europapolitischen Marschrichtung
                                                                  zudem auf die Preise und Löhne.
    gilt es, zwischen der wirtschaftlichen Isolation mit der
    Beibehaltung der Schweizerischen Eigenheiten oder einer
                                                                                                                    16
    Integration mit einem teilweisen Verlust von politischer
    Unabhängigkeit und Selbstbestimmung abzuwägen.                Auch in Zukunft ein Sonderfall
                                                         06      Nach schwächeren Konjunkturdaten im zweiten Quar-
    Reform mit Patentbox,                                         tal hat UBS die Wachstumsprognosen für die Schweiz
                                                                  leicht nach unten korrigiert. Wir gehen aber immer
    aber ohne Patentrezept                                        noch von einem soliden Wirtschaftswachstum aus.
                                                                  Obwohl die Schweiz im internationalen Umfeld nach
    Die Schweizerische Unternehmensbesteuerung steht seit
                                                                  wie vor gut dasteht, sollten wir die hervorragende
    einiger Zeit in der Kritik. Die Schweiz hat sich Mitte Jahr
                                                                  Schweizer Wirtschaftsentwicklung der vergangenen
    nun bereit erklärt, die Besteuerung von Unternehmen
                                                                  Jahre nicht als Selbstläufer sehen.
    unter Beibehaltung der steuerlichen Attraktivität an die
    internationalen Standards der OECD anzupassen.
                                                                                                                      18
                                                                  
                                                           10
                                                                 UBS-Lohnumfrage: Steigende Löhne
    «Wir müssen jetzt mit zwei, drei Jahren                       trotz tiefer Inflationserwartung
    wirtschaftlicher Unsicherheit leben»                          Dank einer robusten Konjunkturlage dürften die Löhne
                                                                  2015 in der Schweiz trotz niedriger Inflationserwartung
    Für Yves Rossier ist die Einwanderungsproblematik nicht       um 0,9 Prozent steigen, was einer realen Lohnerhö-
    durch grosse Kontigente zu lösen. Dadurch würden die          hung von 0,6 Prozent entspricht. Den grössten Zuwachs
    Probleme mit dem Freizügigkeitsabkommen nicht aus der         gibt es in der Informatikbranche, beim Tourismus hinge-
    Welt geschafft, sagt der Staatssekretär des Eidgenössi-       gen erwarten die Unternehmen eine Nullrunde.
    schen Departements für auswärtige Angelegenheiten.                                                               22
    Gleichzeitig könnte eine solche Lösung den Unmut bei          
    Bürgerinnen und Bürgern in der Schweiz schüren, welche        
    von der Initiative eine restriktivere Einwanderungspolitik
    erwarten.
                                                         12

4   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Finanzmärkte und Immobilien                                  Branchen

Mindestkurs-Debatte erhält neuen                             Stabile Industrie, schwächelnder
Zunder                                                       Tourismus
Die Diskussionen um die Kursuntergrenze sind in der          Die Zweiteilung der Schweizer Wirtschaft mit einer soliden
Schweiz wieder aufgeflammt, nachdem die Europäische          Binnenwirtschaft und einer eher schwächelnden Export-
Zentralbank eine Geldmengenausweitung beschloss. Die         wirtschaft ist auch im dritten Quartal zu beobachten. Doch
Notwendigkeit der Kursuntergrenze ist jedoch unverän-        haben sich in den letzten Monaten beide Bereiche etwas
dert, da in der Schweiz immer noch latente Deflations­       angenähert. In der Industrie beurteilten die meisten Unter-
gefahr besteht. Zudem dürften bei einer starken Aufwer-      nehmen neu ihre Geschäftslage als befriedigend, während
tung des Schweizer Frankens viele Firmen ihre                sich die Dynamik beispielsweise bei den Dienstleistern in
Investitionen ins Ausland verlagern.                        jüngster Zeit etwas abgeschwächt hat.
24                                                                                                                                        29
Die Zinsdifferenz zu den USA und
Grossbritannien weitet sich aus                              î Industrie-Panorama                                                          30
Die kurzfristigen Zinsen in der Schweiz werden mass­         î Dienstleistungs-Panorama                                                    32
geblich von der Schweizerischen Nationalbank (SNB)
bestimmt. Im Gegensatz zur US-Notenbank und der Bank
of England liegt eine geldpolitische Straffung seitens der
Europäischen Zentralbank (EZB) und der SNB noch in
weiter Ferne. Wir erwarten von der EZB und der SNB
keine Zinserhöhung vor 2017.
25
                                                                 «Investieren in der Schweiz»
Schwächephase bei Wohnimmobilien                                 Die Schweizer Unternehmen weisen eine robuste Profitabilität
                                                                 aus und ihre Verschuldung ist im historischen Vergleich tief.
Obwohl die Angebotspreise auf dem Schweizer Eigen-
                                                                 ­Entsprechend haben die Unternehmen die Ausschüttungsraten
heimmarkt im dritten Quartal immer noch nach oben                 erhöht. Trotz konjunkturellen und politischen Risiken wagen sich
tendieren, liegen die Preissteigerungsraten deutlich unter        die Firmen nun wieder öfter an Fusionen und Akquisitionen.
dem zehnjährigen Durchschnitt. Einer der Gründe dürfte            Beilage*.
die Leerstandsquote sein. Diese ist seit Mitte 2013 von
0,96 auf 1,08 Prozent gestiegen.                                 * Aus rechtlichen Gründen erhalten nur Kundinnen und Kunden mit Wohnsitz in der

26                                                                Schweiz die Beilage «Investieren in der Schweiz».

                                                                                                  4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz              5
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

    Die Schweiz in der europapolitischen
    Zerreissprobe
                                                                werden. Im Maastricht-Vertrag vom 7. Februar 1992 wur-
                                                                den schliesslich die Entstehung der Währungsunion endgül-
                                                                tig entschieden, die Geburt des Euro auf den 1. Januar
                                                                1999 angesetzt sowie die Konvergenzkriterien für die Teil-
                                                                nahme an der Währungsunion definiert. 1996 folgte der
                                                                für die Währungsunion bedeutende Stabilitätspakt.

                                                                Gleichzeitig koppelte sich die Schweiz damals mit ihrem
                             Veronica Weisser                   EWR-Nein vom europäischen Integrationsprozess ab. Zwar
                             Ökonomin, UBS AG                   waren die bis dahin erfolgten Integrationsschritte von
                                                                grosser wirtschaftlicher Bedeutung, insbesondere das 1972
                                                                unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen der
                                                                Schweiz und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
                                                                Dennoch blieb die Annäherung im Vergleich der europäi-
                                                                schen Nationen insgesamt zurückhaltend. In der Bevölke-
                                                                rung überwog das Missbehagen. Man fürchtete, die politi-
                                                                sche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aufzugeben.
                                                                Inmitten der schwersten Immobilienkrise der Schweizer
                             Sibille Duss                       Nachkriegsgeschichte und einer schmerzhaften Rezession
                             Ökonomin, UBS AG                   war die Verunsicherung über die Ausgestaltung der Bezie-
                                                                hungen zu den europäischen Nachbarn gross. Ein Allein-
                                                                gang in die Isolation schien ebenso wenig wünschenswert
                                                                wie die vollständige Integration. Was also sollte anstelle der
    Die Masseneinwanderungsinitiative hat die Schweiz           vertieften Integration, wie sie der EWR vorsah, kommen?
    in die Zwickmühle gebracht. Gelingt es nicht, das Per-
    sonenfreizügigkeitsabkommen mit der Europäischen           Zwei Welten prallen aufeinander
    Union (EU) neu zu verhandeln, so könnte dies das           Damals wie heute prallten in der Frage des europapoliti-
    gesamte Vertragswerk der Bilateralen I zu Fall brin-       schen Kurses der Schweiz zwei gegensätzliche Vorstellun-
    gen. Die Schweiz stünde vor einem europapolitischen        gen aufeinander, was die wesentlichen Elemente des
    Scherbenhaufen.                                            Erfolgsmodells Schweiz sind. Auf der einen Seite stehen
                                                               die konservativen, teils isolationistischen Kräfte rund um
    Schon einmal stand die Schweiz vor einem Trümmerhaufen die SVP. Für sie erklärt sich der Erfolg des schweizerischen
    in der Europapolitik. Die Ablehnung des EWR-Beitritts im   Weges in der politischen Unabhängigkeit und vollständi-
    Dezember 1992 markierte eine schicksalshafte Weichen-      gen Selbstbestimmung durch das Volk. In dieser Weltsicht
    stellung in den Beziehungen zu Europa. Der schrittweisen   sind es eine Reihe von spezifischen Eigenheiten des «Son-
    Annäherung der Schweiz an Europa in den 1970er und         derfalls Schweiz», welche es zu bewahren gilt: Die direkte
    1980er Jahren folgte die Vollbremsung. Ebenso knapp wie Demokratie, dank der auf praktisch allen politischen Ebe-
    anfangs dieses Jahres die Masseneinwanderungsinitiative    nen das Stimmvolk, der Souverän, der letztinstanzliche
    angenommen wurde, wurde damals der EWR-Beitritt            Gesetzesgeber ist. Dessen Wille soll auch nicht durch inter-
    abgelehnt – mit genau 50,3 zu 49,7 Prozent der Stimmen. nationales (Völker-)Recht überstimmt werden können.
    Und ebenso unklar wie heute die Folgen des Entscheids      Ausserdem gehört das Prinzip der Subsidiarität dazu, wel-
    zur Masseneinwanderung sind, waren damals die Erfolgs-     ches politische und fiskalische Kompetenzen und Ent-
    chancen bilateraler Verhandlungen.                         scheide immer auf der tiefstmöglichen Staatsebene ansie-
                                                               delt. Darin begründet ist auch der hohe Standort- und
    Die Schweiz koppelt sich ab                                Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen und Gemein-
    Die frühen 1990er Jahre waren durch eine rasante           den innerhalb der Schweiz. All diese Elemente sind wich-
    Beschleunigung der europäischen Integration gekennzeich- tige Erklärungsfaktoren dafür, dass in der Schweiz eine
    net. Denn François Mitterand stimmte der deutschen Ein-    hohe politische Stabilität, ein hohes Mass an demokrati-
    heit nur unter der Bedingung zu, dass Deutschland stärker  scher Kontrolle über den Staat und daher eine vergleichs-
    eingebunden und die Gemeinschaftswährung eingeführt        weise tiefe Steuerbelastung bei guter Qualität der öffentli-
    wird. Damit sollte eine Verschiebung der Machtverhältnisse chen Dienstleistungen bestehen.
    zugunsten eines wiedervereinten Deutschlands verhindert

6   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

Die alternative Sichtweise erklärt den Erfolg der Schweiz
mit ihrer internationalen Offenheit und der möglichst star-     Die Bilateralen I umfassen die folgenden Verträge, die (mit Aus-
ken Integration in die Weltwirtschaft sowie den grossen         nahme des Forschungsabkommens) alle klassische Marktöffnungs-
europäischen Binnenmarkt. Schweizer Unternehmen kön-            abkommen sind, und die eine vertiefte wirtschaftliche Integration
nen so Grössenvorteile (sogenannte Skaleneffekte) aus-          anstreben:1
schöpfen und auch Einsparungen durch den liberalisierten
Waren­verkehr erzielen. Vom Zugang zu ausländischen              Personenfreizügigkeitsabkommen
                                                                 Abkommen über den Abbau technischer Handels-
Märkten profitieren demnach vor allem die exportorientier-
                                                                  hemmnisse
ten Unternehmen, während die Öffnung der zuvor teils
                                                                 Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen
stark verkrusteten und kartellisierten Binnenmärkte haupt-       Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen
sächlich den Konsumenten zugute kommt. Der ausländi-              Erzeugnissen
sche Wettbewerbsdruck generiert Anreize zur Produktivi-          Landverkehrsabkommen
tätssteigerung und Innovation, die heimische Wirtschaft          Luftverkehrsabkommen
wird langfristig effizienter und leistungsfähiger.               Forschungsabkommen

Bilaterale – bisher der goldene Mittelweg
Nach dem EWR-Nein war die Schweiz gezwungen, die                1
                                                                    Departement für auswärtige Angelegenheiten, Europapolitik der Schweiz,
                                                                    Bilaterale I, https://www.eda.admin.ch/dea/de/home/europapolitik/
Beziehungen zu Europa entlang eines neuen Wegs zu defi-             ueberblick/bilaterale-1.html
nieren. Um der drohenden wirtschaftlichen Isolation der
Schweiz zu begegnen, drängte der Bundesrat auf den
Abschluss sektorieller Abkommen, wozu sich die EU Ende
1993 in sieben Bereichen verhandlungsbereit erklärte. So
wurde der bilaterale Weg aus der Not geboren und über         das Vorgehen der Schweizer. Das starke einseitige Inter-
die kommenden zwei Jahrzehnte erfolgreich begangen –          esse der EU, die Schweiz in einer grenzüberschreitenden
als goldener Mittelweg zwischen den dargestellten gegen-      Zins­besteuerung und der Betrugsbekämpfung einzubin-
läufigen Standpunkten.                                        den, ermöglichte es der Schweiz im Gegenzug aber, wei-
                                                              tere wichtige Verhandlungsziele durchzusetzen. Im Jahre
Die bilateralen Verträge I wurden im Jahr 1999 ratifiziert,   2004 wurden die Bilateralen II unterzeichnet, unter ande-
traten 2002 in Kraft und umfassen insgesamt sieben recht-     rem mit Verträgen zu Lebensmittelindustrie, Tourismus,
lich unabhängige, jedoch faktisch durch die Guillotine-       Zinsbesteuerung, nationale Sicherheit (Schengen/Dublin),
Klausel miteinander verbundene Abkommen. Diese Klausel        Asyl, Statistik, Umwelt und Kultur. Diese unterliegen im
bestimmt, dass nur alle Verträge gemeinsam in Kraft sein      Unterschied zu den Bilateralen I nicht einer Guillotine-­
können. Bei Kündigung oder Nicht-Verlängerung eines ein-      Klausel und können einzeln von den beiden Vertrags­
zelnen Abkommens werden auch alle anderen Abkommen            partnern gekündigt werden.
ausser Kraft gesetzt. Wie hoch der wirtschaftliche Nutzen
der Verträge auf breiter Front eingestuft wurde, zeigte sich   Aus Wirtschaftsoptik ist der bilaterale Mittelweg als Erfolg
bei der Ratifizierung: Alle grossen politischen Parteien zähl- zu werten. Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH
ten zum Lager der Befürworter, auch eine Mehrheit der SVP. Zürich errechnete für die erste Phase bis Ende 2007, dass
                                                               5,5 Milliarden Franken des Anstiegs des Schweizer Brutto­
Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative vom              inlandprodukts auf die Bilateralen I zurückzuführen sind.
9. Februar 2014 läuft auf einen Vertragsbruch des Perso-       Während die meisten entwickelten Länder in der Zeit zwi-
nenfreizügigkeitsabkommens hinaus, da die Einwanderung schen 2005 und 2013 aufgrund der US-Subprime- und der
über Kontingente und Höchstzahlen geregelt werden soll.        Euro-Schuldenkrise tiefe Rezessionen durchlitten, blühte
Kann das Abkommen nicht erfolgreich neuverhandelt wer- die Schweizer Wirtschaft auf. Vom 2-prozentigen Durch-
den, droht es über die Guillotinen-Klausel auch alle ande-     schnittswachstum kann etwa die Hälfte direkt auf die
ren Verträge der Bilateralen I ausser Kraft zu setzen.         Immigration zurückgeführt werden, die sich als Folge der
                                                               Personenfreizügigkeit verstärkte. Aber auch das Schweizer
Eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte                         Pro-Kopf-Einkommen stieg weiter an, sowohl nominal, als
Nach den Bilateralen I stand die Europäische Kommission        auch kaufkraftbereinigt – dies im Gegensatz zur Entwick-
zunächst einer Weiterführung des bilateralen Wegs und          lung in den meisten Nachbarstaaten.
dem Abschluss weiterer Vertragspakete ablehnend gegen-
über. Zu umständlich, zu eigenwillig und fordernd war ihr

                                                                                                 4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz         7
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

    Dank der Öffnung des schweizerischen Arbeitsmarktes                                           Die Schweiz würde bei der Produktezulassung wieder
    konnten viele Schweizer Firmen im Verlauf der letzten                                            auf einen Drittstaat zurückgestuft werden. Da die Über-
    Jahre dringend benötigte Fachkräfte überhaupt erst rekru-                                        nahme und Anerkennung der Chargen-bezogenen Ana-
    tieren. Wir schätzen, dass die Schweiz jährlich rund 6 bis                                       lysenergebnisse und der Freigabeentscheide (sogenannte
    9 Milliarden Franken höhere Ausbildungskosten hätte                                              Selbstzertifizierung) der in der Schweiz gefertigten Pro-
    ­aufwenden müssen, um die vielen gut qualifizierten Ein-                                         dukte entfällt, würden in der Pharmaindustrie zusätz­
     wanderer mit tertiärer Ausbildung selber auszubilden.                                           liche Kosten von 150 bis 300 Millionen Franken anfallen.
     Das Land hat also massiv vom «Brain Gain» aus der EU
     profitiert.                                                                                  Mit dem Wegfall des Abkommens müsste die Herstell-
                                                                                                     bewilligung und der Herstellstandort in der Regel zwei-
    Teure Konsequenzen eines Alleingangs                                                             mal jährlich überprüft respektive inspiziert werden.
    Obwohl der Wert der Bilateralen heute teilweise in Frage                                         ­Die Pharmaindustrie beziffert die Kosten einer einzelnen
    gestellt wird, scheint klar: Zumindest für einzelne Unter­                                        ­Inspektion auf etwa 160 Personentage oder auf rund
    nehmen und Branchen hätte ein Wegfall der bilateralen                                              400 000 Franken. Allgemein dürfte die Anzahl der
    Verträge I erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen. Insge-                                         Inspek­tionen generell zunehmen.
    samt beziffern Schätzungen die Einsparungen der Export­
    industrie dank des Abkommens über die technischen                                            Die Schweiz profitierte zudem stark vom Forschungs­
    Handelshemmnisse auf jährlich 200 bis 500 Millionen                                          abkommen, dessen Bilanz bei den Beitragszahlungen
    Franken. Die Schätzungen basieren auf Mehrkosten für                                         des 6. Forschungsrahmenprogramms (FRP) positiv ist.
    die zusätzliche Konformitätsbewertung in Höhe von
    0,5 bis 1 Prozent des Produktwerts. Für die Pharmaindust-                                     Die Beitragszahlungen (775,3 Millionen Franken) flossen
    rie wäre eine Aufhebung des Vertrags über die technischen                                        zu über 100 Prozent in Form von Projektunterstützungen
    Handelshemmnisse besonders schmerzhaft:                                                          (794,5 Millionen Franken) in die Schweiz zurück. Es
                                                                                                     ergab sich also ein positiver Nettorückfluss von 19,2 Mil-

    Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa
                      1989                       1992                       2004                                               2009                         2011
                      Versicherungs-             EWR-Beitritt vom           Bilaterale II                                      Unterzeichnung und           Unterzeichnung des Abkommens
                      abkommen                   Volk abgelehnt             (Schengen, Dublin, Zinsbesteuerung,                vorläufige Anwendung         über die gegenseitige Anerkennung
                                                                            Betrugsbekämpfung, landwirtschaliche              des revidierten Abkommens    der geschützten Ursprungs-
                                                                            Verarbeitungsprodukte, Umwelt,                     über Zollerleichterungen     bezeichnungen (GUB) und der
                                                                            Statistik, MEDIA, Ruhegehälter)                    und Zollsicherheit           geschützten geografischen Angaben
                                                                                                                                                            (GGA) für Agrarprodukte und
                                                                                                                                                            Lebensmittel

       1972                        1990                      1999                            2005                    2009                       2010                        2013
       Freihandels-                Abkommen über             Bilaterale I                    Ausdehnung der          Weiterführung der          Unterzeichnung              Unterzeichnung
       abkommen                    Zollerleichterungen       (Personenfreizügigkeit,         Personenfreizügigkeit   Personenfreizügigkeit      des Bildungs-               des Wettbewerbs-
       EFTA-EWG                    und Zollsicherheit        technische Handels-             auf die EU-10           sowie Ausdehnung           abkommens                   abkommens
                                                             hemmnisse, öffentliches                                 auf Bulgarien und
                                                             Beschaffungswesen,                                      Rumänien
                                                             Landwirtscha, Landverkehr,
                                                             Luverkehr, Forschung)

    Quelle: Schweizerische Europapolitik, Direktion für europäische Angelegenheiten

8   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

                      lionen Franken Zusätzliche 75 Millionen Franken gingen                 Kritikpunkt – dynamische Rechtsübernahme
                      an internationale Organisationen mit Sitz in der Schweiz               Die Zielsetzung der Schweiz bei den bilateralen Verträgen
                      (Cern, verschiedene Uno-Orga­nisationen u.a.).                         war immer, das Land wirtschaftlich möglichst vorteilhaft in
                                                                                             die EU einzubinden, dabei aber die nationale Eigenständig-
                   Die Schweiz beteiligte sich an mehr als 1300 Projekten.                  keit und die wirtschaftspolitische Unabhängigkeit möglichst
                      Daraus ergaben sich über 32 000 Projektpartnerschaften                 zu bewahren. Allerdings kam es immer wieder zu Friktio-
                      zwischen Forschenden aus der Schweiz und anderen                       nen. So brachte der Beitritt der Schweiz zum Schengener
                      europäischen Staaten. Umfragen zufolge hätte die Mehr-                 Abkommen, mit dem Personenkontrollen an den Landes-
                      heit der Teilnehmenden ihr Projekt ohne FRP nicht durch-               grenzen wegfielen, erstmals und anders als bei den bisheri-
                      geführt. Bei über 50 Prozent sind die Projektergebnisse                gen bilateralen Verträgen eine automatische Übernahme
                      in neue Produkte und Dienstleistungen eingeflossen.                    des sich dynamisch weiter entwickelnden EU-Rechtes.
                      40 Prozent realisierten oder erwarten positive Beschäfti-              Darauf pocht die EU seit 2008 auch in anderen Bereichen
                      gungseffekte, 30 Prozent eine Steigerung des Umsatzes.                 immer stärker. Die europakritischen Kreise befürchten, dass
                                                                                             mehr und mehr Politikbereiche, in denen die Schweiz bisher
                  Unsicherheit hat zugenommen                                                selber die Rahmenbedingungen setzen konnten, durch
                  Vermutlich wären aber die einzelnen Einbussen bei den                      Regulierungen aus der EU oder durch völkerrechtliche
                  verschiedenen Abkommen weniger entscheidend. Viel                          Bestimmungen überlagert und die Schweiz somit zuneh-
                  bedeutender dürften die übergreifenden Konsequenzen                        mend fremdbestimmt würde. Der Wettbewerb der politi-
                  eines Wegfalls der Bilateralen I sein. Denn Unsicherheit ist               schen Institutionen im Landesinnern, so die Europaskepti-
                  Gift für die Wirtschaft. Gemäss einer Umfrage der Schwei-                  ker, würde beeinträchtigt und die Standortvorteile verspielt.
                  zerischen Nationalbank (SNB) hat seit Annahme der Mas-                     Diese Befürchtungen sind nicht ohne Weiteres von der
                  seneinwanderungsinitiative die Unsicherheit bei 43 Prozent                 Hand zu weisen und müssen ernst genommen werden.
                  der Unternehmen leicht oder stark zugenommen.2 Zwar
                  haben die meisten Unternehmen noch keine personal- und                     Schwierige Güterabwägung
                                          investitionspolitischen Massnahmen                 Worum wird es also gehen, wenn die Schweiz über ihre
                                          getroffen, aber Sorgen bezüglich                   künftige europapolitische Marschrichtung wird entschei-
                                          der Personalrekrutierung haben                     den müssen? Im Wesentlichen darum abzuwägen, welche
                                          zugenommen.3                                       Strategie für unser Land auf lange Frist erfolgs­
2014                    2014
Annahme                 Unterzeichnung                                                       versprechender sein wird: jene der Bewahrung der schwei-
der Volksinitiative     des Partizipations-   Bei einer im April von UBS durchge-            zerischen Eigenheiten von wirtschaftspolitischer Unabhän-
«Gegen Massen-          abkommens EASO
einwanderung»           (Europäisches         führten Umfrage gaben 56 Prozent               gigkeit oder jene der möglichst starken wirtschaftlichen
                        Unterstützungsbüro    der befragten Unternehmen an,                  Öffnung und Integration in die europäischen Märkte –
                        für Asylfragen)
                                              die Masseneinwanderungsinitiative              dies verbunden mit einem Verlust von politischer Unab­
                                              würde ihnen schaden. Sie machen                hängigkeit und Selbstbestimmungsmöglichkeiten.
                                              sich Sorgen über den Fachkräfte­
                                              mangel, und mehr als 26 Prozent                Angesichts der europapolitischen Spaltung des Landes
                                              gaben an, sie würden jetzt weniger             wären die Bilateralen als goldener Mittelweg auch auf län-
                                              in der Schweiz investieren. Laut einer         gere Sicht die optimale Lösung. Doch der diesbezügliche
                                              Erhebung der KOF rechnet die Hälfte            Konsens im Inland scheint arg strapaziert zu sein, und die
                                              der befragten Unternehmen damit,               EU zeigt bisher keine Kompromissbereitschaft bei der Per-
                                              dass sich aufgrund der Initiative die          sonenfreizügigkeit. Das sind keine guten Aussichten für den
                                              Wachstumsdynamik in der Schweiz                bisher so erfolgreichen Kurs. Gleichzeitig ist es nahezu
                                              abkühlen wird. Unsicher­heiten bezüg-          unmöglich zu beurteilen, welche der anderen Varianten die
                                              lich des Wachstums dürften sich                «bessere» wäre. Denn wie sich die Schweiz wirtschaftlich,
                                              dabei generell negativ auf die Ent-            gesellschaftlich und politisch unter diesen beiden Szenarien
             2014
             Beginn der                       wicklung des Personal­bestandes und            langfristig entwickeln würde, lässt sich nicht zuverlässig
             Verhandlungen                    der Investitionstätigkeit auswirken.           abschätzen. Einem Entscheid werden sicher lange und kon-
             im institutio-
             nellen Bereich                                                                  troverse politische Debatten vorangehen. Bis es soweit ist,
                                              2
                                                  Quartalsheft 3/2014, SNB
                                                                                             gilt es aber, den bilateralen Weg weiter zu pflegen.
                                              3
                                                  Medienmitteilung zur KOF-Sonderum­
                                                  frage über die Auswirkung der Initiative
                                fotolia.com       gegen Masseneinwanderung

                                                                                                                       4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz   9
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

     Reform mit Patentbox aber ohne Patentrezept
                                                                                      Um die steuerliche Attraktivität auch nach der Abschaffung
                                                                                      der kantonalen Steuerstatus sicherzustellen und so die
                                                                                      Abwanderung von bisher bevorzugt besteuerten und inter-
                                                                                      national äusserst mobilen Firmen in Grenzen zu halten, wird
                                                                                      die Einführung von mehreren Massnahmen vorgeschlagen:

                                                                     Einführung von Lizenzboxen auf kantonaler Ebene
                                                                    In sogenannten Lizenz- oder Patentboxen werden Erträge
                                Elias Hafner                        aus Immaterialgüterrechten zu reduzierten Sätzen besteu-
                                Ökonom, UBS AG                      ert. Der Bundesrat will nach wie vor keine «Superboxen»
                                                                    und hält an einer engen Definition eines immateriellen
                                                                    Gutes fest, die nur unwesentlich über Patente hinausgeht.
     Die Unternehmenssteuerreform III soll den Steuer-              Somit wird rund ein Drittel des mobilen Steuersubstrats
     streit mit der EU beilegen. Das breite Spektrum von            abgedeckt. Die Ermässigung bei der Besteuerung dieser
     Massnahmen wurde nun konkretisiert. Die Schweiz                Erträge gegenüber den ordentlichen kantonalen Steuer­
     tut gut daran, Möglichkeiten im Rahmen der interna- sätzen wird auf maximal 80 Prozent limitiert, was am Bei-
     tional verwendeten Steuerpraktiken auszuschöpfen.              spiel des Kantons Nidwalden, der schon heute eine Lizenz-
                                                                    box kennt, eine effektive Steuerbelastung von 8,8 Prozent
     Nicht erst seit der Annahme der Masseneinwanderungs­           ergibt. Gemessen an der Steuerbelastung und der Quali­
     initiative steht die Beziehung mit der Europäischen Union      fikation für ein immaterielles Gut kann man das vorge-
     (EU) auf dem Prüfstand. Die schweizerische Unternehmens­       schlagene Modell im ­internationalen Vergleich als restriktiv
     besteuerung ist seit 2005 zunehmend unter internationalen bezeichnen (siehe Tabelle). Die OECD prüft momentan
     Beschuss geraten, insbesondere die privilegierte Besteuerung ­Patentboxen. Angesichts der Tatsache, dass rund die Hälfte
     ausländischer Erträge bei Domizil- und Holding­gesellschaften der Wirtschaftsleistung der EU in Ländern erzeugt wird,
     sowie Gemischten Gesellschaften (kurz: kantonaler Steuer-      welche eine Patentbox kennen, ist der Fort­bestand solcher
     status). Aus Sicht der EU ist dies nicht mit dem Frei­handels­ Boxen – in einer engeren oder erweiterten Form – durch-
     abkommen Schweiz-EU von 1972 vereinbar. Mit der am             aus wahrscheinlich.
     14. Oktober 2014 unterschriebenen Verständigung zwischen
     der Schweiz und der EU zur Unternehmensbesteuerung hat          Zinsbereinigte Gewinnsteuer
     der Bundesrat seinen Willen unterstrichen, diese an die inter- Wie bei Fremdkapital soll neu auch auf überschüssiges
     nationalen Standards der Organisation für wirtschaftliche      Eigenkapital ein kalkulatorischer Zins abgezogen werden
     Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) anzupassen.              dürfen, was die Konzernfinanzierungstätigkeiten in der
                                                                    Schweiz begünstigt. Die Höhe des kalkulatorischen Zins­
     Keine Superboxen                                               satzes bestimmt sich durch die Rendite auf zehnjährigen
     Konkret will der Bundesrat mit der Unternehmenssteuer­         Bundesobligationen plus 50 Basispunkte, beträgt mindes-
     reform III (USR III) die kantonalen Steuerstatus abschaffen    tens jedoch 2 Prozent. Solche zinsbereinigten Gewinn­
     und so (1) die internationale Akzeptanz der hiesigen Unter- steuern sind auch in Liechtenstein und Belgien in Kraft.
     nehmensbesteuerung wieder herstellen, (2) ohne dabei die
     steuerliche Attraktivität zu verlieren oder (3) den Staats-
     haushalt in Schieflage zu bringen.1 In der im September        1
                                                                      Weitere Details zur USR III sowie eine Liste der möglichen Gewinner
     2014 veröffentlichten Vernehmlassungsvorlage wurde die           und Verlierer finden Sie im Artikel «Steuerreform begünstigt KMUs»
     Reform nun konkretisiert.                                        (UBS Outlook Schweiz, 1. Quartal 2014).

     Mehr als nur Patente
     Lizenzboxen in ausgewählten Staaten

                                              Liechtenstein    Niederlande            Luxemburg                Belgien                 UK             Spanien
     Einführung                                       2011              2007                 2007                 2007               2012                2008
     Privilegierte                         Patente, Marken,             IP mit    Patente, Marken,      Bezug auf OECD            Patente,    Patente, Modelle,
     Immatrialgüterrechte                   Muster, Designs,    «Dutch R&D       Software, Domain-   Frascati Manual mit   diverse Schutz-      Pläne, Formeln,
                                                   Software      Certificate»      namen, Modelle,        Einschränkung         zertifikate          Verfahren
                                                                                      Zeichnungen
     Effektive                                        2,5%             5,0%                 5,8%                  6,8%             10,0%                15,0%
     Steuerbelastung
     Quellen: EFD, Deutscher Bundestag, UBS

10   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

  Regelung für die Aufdeckung stiller Reserven                  v­ erlangsamen könnte. Ob die USR III wirklich erfolgreich ist,
 Diese Regelung schafft in erster Linie Zeit. Beim System-        hängt vom Erreichen der drei Teilziele ab. Mit der Abschaf-
wechsel von der privilegierten zur ordentlichen Besteue-          fung der kantonalen Steuerstatus macht die Schweiz einen
rung können stille Reserven steuerneutral offengelegt und         grossen Schritt in Richtung internationaler Akzeptanz, diese
in den Folgejahren abgeschrieben werden. Somit dürfte             ist aber auch an die weiteren Entscheide der EU und vor
für einen Teil der bis anhin bevorzugt besteuerten Unter-         allem der OECD gekoppelt. Es wird sich ­zeigen, ob durch
nehmen die Steuerbelastung bis zu zehn Jahre auf einem            die eingeleiteten Massnahmen das mobile Steuersubstrat
ähnlich tiefen Niveau bleiben, was die Abwanderungs­              an den jetzigen Standorten gehalten werden kann oder es
bestreben dieser Firmen und somit den unmittelbaren               zumindest eine steuerlich genügend attraktive Alternative
Steuersenkungsdruck der Kantone mindert. Ebenfalls soll           im Inland findet. Die Schweiz tut aber gut daran, ihre Mög-
die steuerneutrale Offenlegung beim Zuzug von Firmen              lichkeiten im Rahmen der in den internationalen Konkur-
in die Schweiz gelten. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die         renzstandorten verwendeten Steuerpraktiken auszuschöp-
­steuerneutrale Offenlegung von stillen Reserven mit den          fen. Und nicht zuletzt wird die tatsächliche Realisierung von
 internationalen Bestimmungen vereinbar ist.                      Gegenfinanzierungsmassnahmen über die finanzielle Ver-
                                                                  kraftbarkeit der Reform entscheiden.
Zusätzlich schlägt der Bundesrat vor, den Beteiligungsab-
zug anzupassen, die zeitliche Beschränkung von Verlust-
vorträgen aufzuheben sowie die Emissionsabgabe auf
Eigenkapital abzuschaffen. Letzteres wirkt sich vor allem
                                                                  ist die schweiz steuerlich attraktiv?
positiv auf Firmen mit grossem Kapitalbedarf und Konzern-         Heute werden ausländische Erträge unter dem kantonalen Steuer-
zentralen aus.                                                    status mit 7,8 bis 12 Prozent besteuert. Ist dieser abgeschafft, müs-
                                                                  sen alle Unternehmensgewinne zu den ordentlichen Sätzen besteu-
                                                                  ert werden. Ordentliche Sätze reichen in der Schweiz von 12 Prozent
Wegzugsteuer als Politikum
                                                                  in Luzern bis 24 Prozent in Genf. In der EU bewegen sich diese von
Gemäss den Schätzungen des Bundesrats könnte durch                10 Prozent in Bulgarien bis 35 Prozent in Malta (siehe Abbildung).
­die Reform bei den Bundeseinnahmen gegenüber heute               Steht die Schweiz im Mittel immer noch gut da, dürften mit der
 insgesamt eine Lücke von rund 2 Milliarden Franken oder          Abschaffung gerade wichtige Schweizer Wirtschaftszentren in Zug-
 3 Prozent entstehen. Um diese Lücke zu schliessen, schlägt       zwang kommen, ihre Steuern zu senken: In den Kantonen Basel-
 der Bundesrat Gegenfinanzierungsmassnahmen vor. Jähr-            Stadt, Waadt und Genf, wo über die Hälfte der gesamtschweizeri-
 lich rund 1 Milliarde Franken sollten künftig aus strukturel-    schen Gewinne von kantonalen Steuerstatus anfallen, betragen die
                                                                  Steuersätze heute rund 22 Prozent bis 24 Prozent. Dies ist höher als
 len Überschüssen des Bundes resultieren. Auslaufende
                                                                  in Grossbritannien und liegt deutlich über dem Satz von Irland –
 Ausgaben und bereits budgetierte Mindereinnahmen tra-            zwei wichtige Konkurrenzstandorte innerhalb der EU. Zur Beurtei-
 gen weiter 0,5 Milliarden Franken zur Finanzierung bei. Die      lung der effektiven Steuerbelastung ist der statutarische Steuersatz
 Einstellung von 75 neuen Steuerinspektoren sollten jährlich      aber nicht immer massgebend. Dies zeigt sich besonders gut am
 zusätzliche Steuereinnahmen in der Höhe von 0,3 Milliar-         Beispiel von Malta. Mit 35 Prozent scheint der Mittelmeerstaat der
 den Franken generieren. Letztlich soll eine weitere steuer­      teuerste Standort innerhalb der EU-28. Dividenden­empfänger kön-
 liche Massnahme im Rahmen der USR III 0,3 Milliarden             nen aber sechs Siebtel dieser Steuer zurückfordern, was den effekti-
                                                                  ven Steuersatz in einer Holdingstruktur auf 5 Prozent drückt und
 Franken einbringen:
                                                                  somit Malta zum günstigen EU-Standort macht.

 Besteuerung von Kapitalgewinnen auf Wertschriften               Statutarische Gewinnsteuerbelastung
Neben Ausschüttungen von Firmen würden neu auch                   In ausgewählten EU-Staaten und Hauptorte Schweizer Kantone (2014), in Prozent
Kapitalgewinne auf Wertschriften mit der Einkommens-
                                                                        Bulgarien
steuer belastet. Dies soll für alle Wertschriften – von                    Luzern                           Kanton mit tiefsten Steuern
Aktien, über Obligationen bis zu Derivaten – Anwendung                      Irland
finden. Relativ gesehen gewinnen Aktien dabei an Attrak­                       Zug
                                                                       Rumänien
tivität, da Kapitalgewinne auf diese im Vergleich zu                     Schweiz                                        Durchschnitt der Kantone
Obliga­tionen oder Derivate zu einem reduzierten Satz ver-                   Polen
                                                                  Grossbritannien
steuert werden können. Kapitalverluste sind hingegen                        Zürich
steuerlich absetzbar. Diese Regelung wird auch als Weg-                Schweden
                                                                      Basel-Stadt
zugsteuer bezeichnet, denn ein Wegzug der steuerpflichti-                Ø EU-28
gen Person wird einem Verkauf gleichgestellt. Die starke                   Waadt
Partizipation der natürlichen Personen an der Finanzierung               Portugal
                                                                                                                                        Kanton mit
                                                                              Genf
der USR III dürfte innerhalb der Schweiz zu einem Politi-            Niederlande
                                                                                                                                        höchsten Steuern
kum werden.                                                           Luxemburg
                                                                     Deutschland
                                                                         Spanien
Wie weiter?                                                            Frankreich
Die Gesetzesanpassung auf Bundesebene dürfte frühestens                   Belgien
                                                                            Malta
Anfang 2017 in Kraft treten und so auf kantonaler Ebene
                                                                                  0        5        10        15        20         25          30      35
Anfang 2019 wirksam werden. Die USR III ist aber komplex          Quellen: EFD, KPMG, Hinny, UBS
und schafft auch Verlierer, was den politischen Prozess

                                                                                                      4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz                   11
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

     «Wir müssen jetzt zwei, drei Jahre mit
     der wirtschaftlichen Unsicherheit leben»
     Mit Staatssekretär Yves Rossier sprach Pierre Weill.             arbeit kontinuierlich aus. Um davon nicht ausgeschlossen
                                                                      zu werden, muss die Schweiz den bilateralen Weg weiter-
                                                                      entwickeln. Die EU stimmte dem zu, forderte aber zuerst
                                                                      einen institutionellen Rahmen, bevor weitere Abkommen
     Herr Staatssekretär Rossier – an einer Veranstaltung             mit Marktzugang abgeschlossen werden. Zu diesem Paket
     sagten Sie mal, dass bei Verhandlungen zwischen                  gehören weitere Bereiche, zum Beispiel Energie. Hier wird
     der Schweiz und der EU gemeinsame Interessen                     es in Europa zu einer Neustrukturierung kommen, und für
     gefunden werden müssen.                                          die Schweizer Wirtschaft ist es sehr wichtig, dass sie in die
     Der gemeinsame Nutzen für die Schweiz und die EU war             neuen Strukturen eingebunden ist. Falls dies nicht gelingt,
     immer die Grundlage für alle unsere Abkommen. Nach der           läuft die Schweiz Gefahr, enorme Wettbewerbsnachteile
     Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist es etwas           zu erleiden.
     anders. Wir hatten das Freizügigkeitsabkommen ausgehan-
     delt und an der Urne wurde es vom Volk mehrmals bestä-     Dann kam die Abstimmung mit der Annahme
                                                                der Masseneinwanderungsinitiative.
     tigt. Die letzte Abstimmung stellt dies nun in Frage. Die Dis-
     kussion über eine Anpassung des Freizügigkeits­abkommens   Der angenommene Verfassungsartikel ist nicht vereinbar
     mit der EU ist von einem anderen Geist geprägt. Da geht es mit dem Freizügigkeitsabkommen. Deshalb müssen wir
     jetzt darum, zwischen den sich widersprechenden Interes-   jetzt versuchen, das Abkommen mit der EU so zu ver­
     sen beider Seiten einen Ausgleich zu finden.               ändern, dass es verfassungskonform wird. Ein zusätzliches
                                                                Problem ist die rechtliche Verknüpfung des Freizügigkeits-
     Parallel dazu laufen mit der EU noch andere                abkommens mit sämtlichen Abkommen der Bilateralen I.
     ­Verhandlungen…                                            Sie bilden zusammen ein Paket, das entweder gemeinsam
      Ja, für ein Abkommen zu den institutionellen Fragen, mit  oder gar nicht gültig ist. Betroffen sind davon beispiels-
      dem wir den bilateralen Weg stärken und erneuern wollen. weise das Luftverkehrsabkommen, das Landverkehrs­
      Mit den Verhandlungen will man die Rechtssicherheit stär- abkommen oder jenes über die Anerkennung von Produk-
      ken und sicherstellen, dass die Schweiz weiterhin Markt­  tevorschriften. Findet man keine Lösung bei der Freizügig-
      zugangsabkommen abschliessen kann. Die EU-Staaten         keit und wird das Abkommen dann gekündigt, fallen auch
      haben unter sich Regelungen zum EU-Binnenmarkt erlas-     die anderen Abkommen dieses Pakets der Bilateralen I mit
      sen. Wir wollen sicherstellen, dass diese Marktzugangs­   der EU dahin. Die Frage der Kontrolle der Immigration ist
      regelungen auch weiterhin zwischen der Schweiz und der also die Schlüsselfrage, von der die Zukunft weiterer
      EU gelten. Die EU-Mitgliedstaaten bauen die Zusammen­     Abkommen abhängt.

     « Die Frage
     der Kontrolle
     der Immigration
     ist die Schlüssel-
     frage, von
     der die Zukunft
     weiterer Abkommen
     abhängt.         »

12   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Diese Seiten enthalten Ansichten, die von Einheiten ausserhalb von UBS CIO WM erstellt                 Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU
wurden. Diese Einheiten unterliegen nicht allen gesetzlichen Bestimmungen bezüglich der
Unabhängigkeit der Finanzanalyse.

Welche Möglichkeiten bestehen angesichts der
­Unvereinbarkeit zwischen dem Freizügigkeitsabkom-                                          Yves Rossier (53) ist als Staatssekretär und Direktor der Politi-
 men und den bilateralen Verträgen?                                                         schen Direktion der erste Ansprechpartner des Bundesrats in
 Der EU haben wir mitgeteilt, dass wir das ursprüngliche                                    aussenpolitischen Belangen. Er steuert die konzeptuelle Entwick-
 Abkommen über die Freizügigkeit nicht einhalten können.                                    lung, Koordination und Planung der Aussenpolitik sowie die
                                                                                            Berichterstattung zuhanden der politischen Behörden. Bei Bedarf
 Deshalb bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder passen wir
                                                                                            vertritt der Staatssekretär den Departementsvorsteher an Sitzun-
 das Abkommen an, oder es wird aufgehoben. In einer
                                                                                            gen der aussenpolitischen Kommissionen von National- und Stän-
 ­ersten politischen Antwort sagt die EU, man könne über
                                                                                            derat. Ausserdem pflegt er regelmässige Kontakte mit seinen
  Fragen der Umsetzung des Abkommens diskutieren, aber                                      Amtskollegen im Ausland oder in Bern. Zu den wichtigsten
  eine Einführung von Kontingenten oder nationaler Präfe-                                  ­Dossiers gehören die Zusammenarbeit mit den Vereinten Natio-
  renzen ist für die EU nicht denkbar.                                                      nen (Uno), die Entwicklung der Beziehungen zur Europäischen
                                                                                            Union (EU) sowie die Sicherheits- und Friedenspolitik. Der Jurist ist
Es bestehen ja auch beim Freizügigkeitsabkommen                                             seit 2012 Staatsekretär im Eidgenössisches Departement für aus-
gemeinsame Interessen. Die Schweiz hat zu wenig                                             wärtige Angelegenheiten. Zuvor war er Direktor des Bundesamtes
Fachkräfte, die EU sehr viele Arbeitslose.                                                  für Sozialversicherung.
Arbeitslose aus dem EU-Raum können nicht einfach in
die Schweiz gelangen. Bestimmte Bedingungen müssen
erfüllt sein, damit man hier arbeiten darf. Doch es ist ja
auch nicht so, dass künftig niemand mehr aus dem                                          Gegenteil: Die meisten gemeinsamen Werte, die wir mit
­Ausland in der Schweiz wird arbeiten können. Nur, die EU                                 anderen Ländern teilen, teilen wir mit unseren europäi-
 akzeptiert kein Freizügigkeitsabkommen mit Kontingen-                                    schen Nachbarn. Mit anderen Worten: Wir lassen uns auf
 ten. Dazu ist der Zeitplan sehr ehrgeizig: Wir müssen auf                                einen unnötigen Kampf mit jenen Leuten und Ländern ein,
 Grund der I­nitiative jetzt innert zweieinhalb Jahren eine                               die uns am nächsten sind. Wenn wir auf Konfrontations-
 Lösung f­inden – und einer Änderung des Freizügigkeits-                                  kurs mit einem Feind gehen, den es nicht gibt, mit wem
 Abkommens muss jedes einzelne der 28 EU-Mitgliedländer                                   werden wir dann Kooperationen eingehen können?
 zustimmen.
                                                           Worauf führen Sie diese Mentalität zurück?
Besteht nicht bereits eine indirekte Kontingen­            In Europa ist die Stimmung derzeit nicht gut. Europa hat
tierung? Ein EU-Bürger muss ja eine Arbeitsstelle          ein demografisches Problem, zudem wird Europas Stellung
oder Vermögen vorweisen, um in die Schweiz                 in der Welt in Frage gestellt. Schliesslich geht es dem
zu kommen. Ist die Kontingentierung nicht eine             ­Multilateralismus in der Welt schlecht, es gibt eine klare
­Defi­nitionsfrage?                                         Tendenz hin zum Regionalismus. Die Verhandlungen im
 Die Definition ist im Vertrag festgelegt. Jeder, der genü- Rahmen der Welthandelsorganisation WTO stagnieren. Im
 gend Vermögen oder einen Job hat, ist berechtigt, in jenes Handel wird vermehrt zwischen Blöcken verhandelt, zum
 Land zu gehen, in das er gehen will beziehungsweise, wo    Beispiel zwischen den USA und der EU. Diese Entwicklung
 die Stelle angesiedelt ist. Doch es besteht ein Unterschiedist nicht positiv für die Schweiz, denn als kleines Land hat
 in der Wahrnehmung zwischen der EU und der Schweiz.        man in einem multilateralen System grösseren Einfluss:
 EU-Bürger sehen dies als Recht an. In der Schweiz ist es   Multilateralismus und internationales Recht schützen die
 eine Frage der Arbeitsmarktpolitik. Da geht es in erster   Interessen der Schweiz. Wenn wir uns dann noch von
                                                            unseren natürlichen Partnern distanzieren – von unseren
 Linie darum, Fachkräfte zu finden. Für EU-­Politiker besteht
 die Schwierigkeit, Kontingenten zuzustimmen, darin, dass   Nachbarn, mit denen wir ähnliche wirtschaftliche und
 sie damit die Rechte ihrer Bürger einschränken. Da treffen politische Interessen teilen – steigt die Gefahr der Isola-
 wir auf einen sehr sensiblen politischen Punkt. Migration  tion. Europa durch andere Partner zu ersetzen, ist eine
 ist ein sehr emotional behaftetes Problem, nicht nur in derIllusion. China hätte nie mit der Schweiz ein Frei­
 Schweiz.                                                   handelsabkommen vereinbart, wenn das Land dadurch
                                                            nicht die Chance hätte, Zugang zu einer halben Milliarde
Die Freizügigkeit ermöglicht es aber auch Schweizern, Menschen innerhalb der EU zu erhalten. Und auch hier
im Ausland zu arbeiten.                                     müssen wir die Relationen wahren: Unser Handel mit der
Das stimmt, wir nehmen diesen Aspekt oft gar nicht wahr. Lombardei ist grösser als beispielsweise mit Japan.
Dies hat vielleicht mit der Festungsmentalität zu tun, die
in der Schweiz vorhanden ist. Begründet ist diese Mentali-
tät nicht, wir sind ja nicht von Feinden umgeben. Ganz im

                                                                                                                         4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz        13
Schwerpunktthema: Beziehungen Schweiz – EU

                                                                                                                     Prisma-dia.ch

     Die Schweizer Wirtschaft hat sich im zweiten Quartal           Der neue Verfassungsartikel fordert, dass Höchst-
     abgeschwächt. Ist dies eine Folge der Unsicherheit,            zahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländer
     welche die Abstimmung vom 9. Februar verursacht                auf «die gesamtwirtschaftlichen Interessen der
     hat?                                                           Schweiz» auszurichten sind. Wie definiert man
     In der Politik und in der Wirtschaft sind die langfristigen    «gesamtwirtschaftliche Interessen der Schweiz»?
     Trends wichtig. Wie weit sich diesbezüglich die Abstim-        Man könnte argumentieren, dass alle Leute, die in die
     mung vom 9. Februar auswirkt, lässt sich heute nicht           Schweiz kommen, um zu arbeiten, im gesamtwirtschaft­
     sagen. Klar ist aber: Aufgrund des Ergebnisses der Abstim-     lichen Interesse der Schweiz sind. Doch dies würde heis­
     mung werden wir jetzt zwei, drei Jahre mit der wirtschaft-     sen, dass die Schweiz Kontingente erlassen müsste, die
     lichen und politischen Unsicherheit leben müssen, bis wir      höher wären als die Netto-Immigration im vergangenen
     eine Lösung mit der EU gefunden haben. Wir können diese        Jahr. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass dies nicht die
     Zeit der Unsicherheit nicht künstlich verkürzen.               Botschaft der Initiative war, die am 9. Februar gutgeheis­
                                                                    sen wurde. Ich kann mir kein System vorstellen, bei dem
     Roche-Verwaltungsratspräsident Christoph Franz                 wir grosse Kontingente haben, weil wir dann trotzdem
     sagt in einem Interview 1: «Es wird in Zukunft für uns         Probleme mit dem Freizügigkeitsabkommen haben und
     ganz wichtig sein, dass wir die Offenheit der                  gleichzeitig – verständlicherweise – ein Problem mit den
     Schweiz bewahren, auch wenn wir an die Umset-                  Bürgerinnen und Bürgern, welche die Initiative angenom-
     zung der Masseneinwanderungsinitiative denken.                 men haben. Die Initiative spricht ja auch davon, die Zahl
     Aber ich bin zuversichtlich, dass die Schweiz den              der Ausländer in der Schweiz einzuschränken.
     nötigen Pragmatismus an den Tag legt, um hier pas-
     sable Lösungen zu finden.» Herr Rossier, sind Sie              Ist die Möglichkeit, dass die bilateralen Abkommen
     auch zuversichtlich?                                           aufgelöst werden, real?
     Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Es hängt von derart vie-   Es ist sehr wohl denkbar, dass das Freizügigkeitsabkom-
     len Entscheidungen ab: Wie setzen wir die Initiative um?       men aufgelöst wird und als Folge davon die übrigen mit
     Wie entscheidet das Parlament? Nächstes Jahr stehen            dem Freizügigkeitsabkommen verbundenen Abkommen
     zudem eidgenössische Wahlen an, es wird ein steiniger          dahinfallen. Es gibt andere denkbare Lösungen, aber der
     Weg. Unser Auftrag ist klar: Wir müssen das Abkommen           Wegfall eines Teils der bilateralen Abkommen ist eines
     mit dem neuen Verfassungsartikel und mit der Ausfüh-           der möglichen Szenarien.
     rungsgesetzgebung in Einklang bringen. Parallel dazu müs-
     sen wir versuchen, bei den institutionellen Fragen Lösun-
     gen zu finden, die in unserem Interesse liegen.                1
                                                                        Basler Zeitung vom 20. September 2014

14   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Konjunktur
Daniel Kalt
Regional CIO Schweiz

Bernd Aumann
Ökonom

Lucienne Brunner
Ökonomin

Die gute wirtschaftliche
Entwicklung der Schweiz
in den letzten Jahren sollte
nicht als Selbstläufer
gesehen werden.

              4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz   15
Konjunktur global

     Europa am Rande der Deflation
                                                                                                  USA auf solidem Wachstumskurs
                                                                                                  Nach einem wetterbedingt negativen ersten Quartal hat
                                                                                                  die US-Wirtschaft im Sommer wieder spürbar Fahrt auf­
                                                                                                  genommen und wächst derzeit im Bereich von gut 3 Pro-
                                                                                                  zent. Damit dürften die USA nach der Überwindung der
                                                                                                  tiefen Rezession im Jahr 2009 das dritte Jahr in Folge mit
                                                                                                  deutlich über 2 Prozent realem Wirtschaftszuwachs
                                                                                                  abschliessen und sich so kontinuierlich aus der Krise her-
                                          Daniel Kalt
                                          Regional CIO Switzerland,                              ausarbeiten. So sprudeln inzwischen in den USA auch
                                          UBS AG                                                 die Steuereinnahmen wieder kräftiger. Es dürfte der
                                                                                                 ­US-Regierung daher gelingen, ihr Haushaltsdefizit 2015
                                                                                                  erstmals wieder deutlich unter 3 Prozent des Bruttoinland-
                                                                                                  produkts (BIP) drücken, ein Ziel, das die meisten europäi-
     Vor gut sechs Jahren kollabierte die Investment Bank                                         schen Länder Jahr für Jahr vertagen müssen.
     Lehman Brothers, womit die akuteste Phase der
     Finanzkrise begann. Deren Folgen wurden dies- und                                           Mit dem Aufschwung normalisiert sich auch der Arbeits-
     jenseits des Atlantiks unterschiedlich gut bewältigt.                                       markt. Dank monatlich rund 200 000 neu geschaffenen
     Eine Bilanz.                                                                                Stellen hat sich die Arbeitslosenrate in den USA von rund
                                                                                                 10 Prozent im Jahr 2010 auf mittlerweile rund 6 Prozent
     Die US-Wirtschaft ist nicht zuletzt dank schnellem und                                      zurück­gebildet. Vor diesem Hintergrund schreitet die US-
     aggressivem Ausdehnen der Geldmenge durch die Federal                                       Notenbank Fed auch konsequent in der Normalisierung
     Reserve Bank (Fed) unter Ben Bernanke heute wieder auf                                      der Geldpolitik voran. Inzwischen wurden die monatlichen
     einem soliden Wachstumskurs, und Bernankes Nachfolge-                                       Stützungskäufe an den Anleihenmärkten auf Null herun-
     rin Janet Yellen kann sich an eine Normalisierung der                                       tergefahren. Da die US-Wirtschaft weiterhin ein solides
     ­Geldpolitik machen. Demgegenüber kämpft in Europa                                          Wachstum hinlegen dürfte, erwarten wir für Mitte des
      ihr Kollege Mario Draghi gegen einen Rückfall der schwä-                                   nächsten Jahres eine erste Zinserhöhung und damit einen
      chelnden Wirtschaft in eine neuerliche Rezession. Das                                      weiteren Meilenstein in der Normalisierung der Geld­
      ­bisher zögerliche Vorgehen der Europäischen Zentralbank                                   politik. Fed-Präsidentin Janet Yellen wird aber bemüht
       (EZB) und die weitgehend ausbleibenden Strukturreformen                                   sein, die Märkte ja nicht mit einem zu forschen Vorgehen
       haben gar die Gefahr einer deflationären Entwicklung                                      zu überraschen.
       ­heraufbeschworen.

     Globale Wachstums- und Inflationstrends
                                 Reales BIP-Wachstum in Prozent                                                Inflation in Prozent
                                        2011        2012        2013                   2014P          2015P            2011         2012              2013          2014P           2015P
     Schweiz                              1,8         1,1         1,9                    1,6            1,4              0,2        –0,7              –0,2            0,1             0,3
     EWU                                   1,6            –0,6           –0,4             0,9            1,4             2,7            2,5             1,4            0,6             1,2
         Deutschland                       3,7             0,6            0,2             1,5            1,8             2,5            2,1             1,6            1,0             1,4
         Frankreich                        2,1             0,4            0,4             0,5            1,0             2,3            2,2             1,0            0,8             1,3
         Italien                           0,6            –2,4           –1,8            –0,2            0,6             2,9            3,3             1,3            0,2             0,9
         Spanien                           0,1            –1,6           –1,2             1,3            2,0             3,1            2,4             1,5            0,1             1,0
     Grossbritannien                       1,1             0,3            1,7             3,1            2,8             4,5            2,8             2,6            1,7             1,9
     USA                                   1,6             2,3            2,2             2,2            3,2             3,1            2,1             1,5            1,8             1,8
     Japan                                –0,6             2,0            1,5             1,1            1,2            –0,3            0,0             0,3            2,9             1,9
     China                                 9,3             7,7            7,7             7,2            6,8             5,4            2,6             2,6            2,2             2,2
     Asien1                                6,8             5,7            5,6             5,5            5,5             5,5            4,1             4,0            3,5             3,3
     Lateinamerika                         4,4             2,7            2,4             1,5            2,4             7,0            6,0             8,6           11,4            10,8
     Welt                                  3,2             2,6            2,6             2,8            3,3             4,0            3,1             2,9            3,2             3,2
     1
         ohne Japan                                                                                                             Quellen: Reuters EcoWin; Prognosen UBS (Stand 13.10.2014)

     Bei der Erstellung der UBS CIO WM-Konjunkturprognosen haben die Ökonomen von UBS CIO WM mit bei UBS Investment Research beschäftigten Ökonomen zusammen­gearbeitet. Die Prognosen und
     Einschätzungen sind nur zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Publikation aktuell und können sich jederzeit ändern.

16   UBS Outlook Schweiz 4. Quartal 2014
Konjunktur global

Deflationsgespenst in der Eurozone                            die EZB verbriefte Firmenkredite aufkaufen und so die
In der Eurozone fällt die Bilanz zur Krisenbewältigung        schwächelnde Kreditvergabe an Unternehmen ankurbeln.
gelinde gesagt durchzogen aus. Nachdem im Frühling die        Dabei hat Mario Draghi klar gemacht, dass weitere Eskala-
Vorlaufindikatoren zur Konjunkturentwicklung auf ein          tionsschritte folgen werden, sollte das Ziel der Belebung
­allmähliches Überwinden der zweiten Rezession seit der       von Konjunktur und Teuerung verfehlt werden. Damit
 Finanzkrise hingedeutet hatten, zerschlugen sich die Kon-    meinte er wohl Käufe von Euro-Staatsanleihen und damit
 junkturhoffnungen im Spätsommer. Italien befindet sich in    eine direkte Finanzierung der europäischen Regierungen
 der dritten Rezession seit 2009, und da auch in Frankreich   über die Notenpresse. Dieser Schritt reizt die Grenzen des
 und Deutschland die Wirtschaftsdynamik an Schwung            EZB-Mandats aus und stösst insbesondere in Deutschland
 verloren hat, droht der Eurozone insgesamt ein «Triple-      auf zum Teil erbitterten Widerstand. Sicher scheint, dass
 Dip», ein dritter Rückfall in die Rezession. Die Arbeits­    die Zinsen in Europa noch lange Zeit auf extrem tiefem
 losenrate verharrt auf hohen 11,5 Prozent, womit in der      Niveau verharren werden.
 Eurozone alleine rund 18,4 Millionen Arbeitswillige ver­
 gebens auf Stellen­suche sind. Bei einem derart enormen    Auch Asiens Wirtschaftsmotor stottert
 Überangebot an Arbeitskapazitäten erstaunt es nicht,       In Asien präsentiert sich die Konjunkturdynamik in den
 dass Löhne und Preise immer mehr unter Druck kommen.       ­verschiedenen Regionen uneinheitlich. Auch wenn das
 Die Teuerung bei Konsumgütern ist seit 2013 von 1,1 Pro-    reale Wirtschaftswachstum auf insgesamt deutlich höhe-
 zent auf mittlerweile lediglich 0,3 Prozent gefallen – und  rem Niveau liegt als im Westen, stottert der Konjunktur-
 droht ins Negative abzurutschen.                            motor in den beiden Schwergewichten Japan und China.
                                                             In Japan hat die Regierung Abe zusammen mit der Noten-
Dagegen will EZB-Präsident Mario Draghi mit allen Mitteln bank vor zwei Jahren ein enormes geld- und fiskalpoliti-
ankämpfen. Eine langanhaltende Deflation, also sinkende sches Stimulierungsprogramm gestartet, welches das Land
Preise und damit negative Teuerungsraten, ist unter ande- endlich aus der jahrzehntelangen Deflation herauskatapul-
rem deshalb fatal, weil sie schon nur eine Stabilisierung  tieren soll. Kurzfristig schien das Experiment zu gelingen,
der weiter steigenden Verschuldungsquoten in Europa        doch hat die nun notwendig gewordene Erhöhung der
praktisch unmöglich macht. Gemäss den Maastrichter         Mehrwertsteuer im Frühjahr der Binnenkonjunktur einen
Verträgen dürften die Euroländer eine maximale Verschul- Dämpfer versetzt. Aufgrund der geringeren Nachfrage aus
dungsquote von 60 Prozent des BIP aufweisen. Die Ver-      Europa schwächelt zudem auch Japans Exportsektor. Wir
schuldungsquote bemisst sich dabei aus der nominalen       gehen daher von einer eher verhaltenen weiteren
Staatsschuld geteilt durch das nominale BIP. Frankreichs   ­Entwicklung aus.
Schuldenquote liegt bei gegen 100 Prozent des BIP, Italien
weist eine solche von knapp 130 Prozent aus und in Grie- In China versucht die Führung mit Feinsteuerungsmass­
chenland liegt sie bei gegen 180 Prozent. Die Schulden-    nahmen zu verhindern, dass das reale Wirtschaftswachs-
stände selbst, also der Zähler des Bruchs, steigen derzeit tum auf deutlich unter 7 Prozent sinkt. Der sich abküh-
noch immer an, da die meisten europäischen Staatshaus-     lende Immobilienmarkt und die schrittweise Liberalisierung
halte nach wie vor hohe Defizite aufweisen. Wenn nun       des Bankensektors stellen makro­öko­no­mische Risiken dar,
der Nenner der Quote aufgrund rezessiver Tendenzen real die nicht einfach zu kontrollieren sein werden. Dennoch
sinkt und obendrein aufgrund negativer Teuerung nomi-        gehen wir zumindest für die nächsten Quartale davon aus,
nal zusätzlich schrumpft, wird die Schuldenquote über        dass es der chinesischen Führung gelingen wird, die Wirt-
längere Zeiträume massiv ansteigen und möglicherweise        schaft auf Kurs zu halten.
ausser Kontrolle geraten. In Japan haben zwei Jahrzehnte
Deflation genau diese Wirkung gehabt. Inzwischen liegt       Insgesamt sehen wir uns mit einer weltwirtschaftlichen
die Staatsschuldenquote im Land der aufgehenden Sonne Lage konfrontiert, in der die stabilsten Wachstumsimpulse
bei rund 230 Prozent des nominalen BIP.                      von den USA ausgehen, während die Situation in weiten
                                                             Teilen der Schwellenländer und insbesondere in Europa
Um eine ähnliche Entwicklung zu verhindern, hat EZB-         deutlich fragiler ist.
Chef Mario Draghi weitere geldpolitische Massnahmen
ergriffen. Im Sommer hat er den Einlagensatz für Banken
bei der EZB in den negativen Bereich gesenkt und den
europäischen Banken weitere Liquiditätsspritzen verab-
reicht. Im September folgten erste Schritte in Richtung
eines quantitativen Lockerungsprogramms. Zunächst will

                                                                                       4. Quartal 2014 UBS Outlook Schweiz   17
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