Bundestagswahl 2005 - Programme auf dem Prüfstand - Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien
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Nr. 93 August 2005 Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien Stiftung Marktwirtschaft ISSN: 1612 – 7072 Vorstand: Prof. Dr. Michael Eilfort Charlottenstraße 60 Telefon: +49 (0)30 206057-0 E-Mail: info@stiftung-marktwirtschaft.de Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen D-10117 Berlin Telefax: +49 (0)30 206057-57 Internet: www.stiftung-marktwirtschaft.de
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien Vorwort Die Wirtschafts- und Sozialpolitik gehört zu den zen- geführt, um den Leser sachbezogen zu informieren. tralen Themenfeldern im Vorfeld der Bundes- Zum anderen erfolgt eine nüchterne ordnungspoliti- tagswahl 2005. Zum einen war der kaum kaschierte sche Analyse und Bewertung der jeweiligen An- Konflikt innerhalb der rot-grünen Regierungs- sätze, Maßnahmen und Ideen; sinnvolle Reform- fraktionen über die zukünftige Politikausrichtung auf schritte können so von politischem Aktionismus un- diesen Gebieten überhaupt erst der Anstoß für die terschieden werden. Eine Skizze zu den eigentlich anstehende Neuwahl. Zum anderen sind fast alle notwendigen Reformen schließt die Themenbe- Bürger von den derzeitigen Problemen wie auch von reiche ab. etwaigen Reformen in diesen Politikfeldern direkt betroffen. Die Analyse umfasst die Wahlprogramme aller der- zeit im Bundestag vertretenen Parteien. Der bestehende Handlungsbedarf ist allseits offen- kundig: Wachstums- schwäche, Massenar- beitslosigkeit, Defizite in Themenbereiche: den Kassen der Gebiets- Seite körperschaften und So- 1. Wirtschaftswachstum......................................................................3 zialversicherungen, eine 2. Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik.........................................6 alternde und schrumpfen- 3. Gesundheitswesen und gesetzliche Krankenversicherung..........11 de Bevölkerung, ein sich 4. Soziale Pflegeversicherung...........................................................16 verschärfender internatio- 5. Gesetzliche Rentenversicherung..................................................18 naler Steuerwettbewerb, 6. Reform des Steuersystems...........................................................21 aber auch die Problema- 7. Föderalismusreform......................................................................25 tik der unvollendeten Fö- 8. Energiepolitik.................................................................................26 deralismusreform sowie eines ökonomisch und zugleich ökologisch nachhaltigen Energiemixes sind nur einige der gro- ßen Thermen und Herausforderungen, mit denen sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen muss. Sowohl die Versäumnisse der vergangenen Jahr- Berlin, den 30. August 2005 zehnte als auch globale Veränderungen haben dazu geführt, dass es in Deutschland häufig nicht zum Besten steht. Der Vergleich mit anderen Ländern – etwa beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – zeigt, dass wir hinter unserem ökonomischen Potenzial zurückbleiben. Das muss sich ändern, wenn wir unser erworbenes Wohlstandsniveau halten und Prof. Dr. Michael Eilfort, Vorstand weiter ausbauen wollen. Mit dem Start in eine neue Legislaturperiode muss auch Deutschland endlich „durchstarten“. Dafür braucht es schlüssige Konzepte und standhaften Reformwillen. Die Stiftung Marktwirtschaft unter- sucht, mit welchen Ansätzen die Parteien das Land nach der Bundestagswahl 2005 nach vorne bringen wollen. Zum einen werden die konkreten Einzelmaß- nahmen jenseits des Wahlkampfjargons isoliert auf- Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstand 2
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien Am Horizont erscheint das Szenario einer galoppieren- den Staatsverschuldung mit anschließendem Staats- 1 Wirtschaftswachstum bankrott, der seit der europäischen Währungsunion nicht mehr mit Notenpresse und Inflation abgewendet 1.1 Status quo werden könnte. Die dramatische Haushaltslage ver- pflichtet das Land zu boomen, um nicht nur Arbeitslose Alle Parteien sehen im Anspringen der Konjunktur und in Lohn und Brot zu bringen, sondern auch um Steuer- dem Erreichen eines höheren Wirtschaftswachstums quellen sprudeln zu lassen und den sozialen Siche- das wichtigste Ziel ihrer Wirtschaftspolitik. „Die Wirt- rungssystemen steigende Beiträge zu bescheren. schaft ist unser Schicksal“ – dieses Wort Walter Rathenaus hat insbesondere im Hinblick auf das Los Zwar bekennen sich alle wahlkämpfenden Parteien von Millionen von Arbeitslosen wie auf die finanzielle formal zur sozialen Marktwirtschaft, doch haben sich Handlungsunfähigkeit des Staates heute noch seine die wirtschaftspolitischen Grundlinien in den Program- volle Gültigkeit. So übersteigen die Staatsausgaben die men im Zuge der so genannten Kapitalismusdebatte Einnahmen bei weitem, mittlerweile um ca. 60 Milliarden teilweise deutlich von marktwirtschaftlichen Prinzipien Euro jährlich. Jeden Tag muss der Staat über 100 Millio- entfernt. Hält man sich statt der Wahlprogramme das nen Euro Zinsschuld begleichen. Modell Ludwig Erhards vor Augen, dann bestünde die Herausforderung darin, Menschen und Wirtschaft wie- der Raum für Freiheit in Verantwortung zu lassen. 1.2 Reformansätze der Parteien sofern sie innovativ sind. Private Modernisierungsauf- wendungen sollen zu 20 % bis zu einer Höhe von maxi- mal 3.000 Euro von der Einkommensteuer abziehbar SPD sein. Die Haushaltskonsolidierung des Bundes soll in Kurs Zukunft „konjunkturgerecht“ fortschreiten. In der Präambel ihres Wahlprogramms artikuliert die SPD ihre Skepsis gegenüber der bestehenden Deregulierung marktwirtschaftlichen Ordnung. Im gesamten Wahl- Bürokratische Lasten sollen reduziert werden, indem manifest ist von Unternehmertum und Wettbewerb Unternehmensgründer alles bei einer Behörde regeln kaum die Rede, dafür um so häufiger von einem können (One-stop-Prinzip). Staat, der „stark und solidarisch“ sein soll. Das letzte CDU/CSU Wort soll bei der öffentlichen Hand liegen: „Wir wol- len den Primat der Politik“. Die „Gesetze des Mark- Kurs tes“ sieht die SPD teilweise kritisch; so dürfe ihnen Im Titel ihres Wahlprogramms nennt die CDU/CSU z.B. nicht die Gesundheit des Menschen „ausgelie- zwar schon die Schlagworte Wachstum und Arbeit, fert“ werden. An anderer Stelle setzt die SPD die im gesamten Programm fehlt jedoch das klare Be- „Kräfte des Marktes“ unkommentiert mit „mehr Un- kenntnis zur Marktwirtschaft. gerechtigkeit plus mehr Unsicherheit“ gleich. Ihren wirtschaftspolitischen Kurs sieht sie als einen „Mix Wirtschaftsförderung aus Angebots- und Nachfragepolitik“. Zusätzlich zur bereits beschlossen Exzellenzinitiative für einzelne Hochschulen sollen 1 Mrd. Euro in For- Wirtschaftsförderung schung und Entwicklung investiert werden. Die Fi- Die Forschungsausgaben sollen bis 2010 auf 3 % des nanzierung soll durch den Abbau von Subventionen BIP angehoben werden. Von dieser Summe soll die erfolgen. Bereits in fünf Jahren sollen 3 % des BIP Wirtschaft 2/3 und der Staat 1/3 tragen. 1,9 Mrd. Euro jährlich in diese Bereiche fließen. Breitbandkabel werden im Rahmen der „Exzellenzinitiative“ für die und europäische Wissenschaftsvernetzung sollen Hochschulförderung ausgegeben. Mittelständische den Boden für technischen Fortschritt und zukünfti- Unternehmen sollen Kredite unter Marktzins erhalten, ges Wirtschaftswachstum bereiten. 3
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien Deregulierung gen für den Tourismussektor, etwa steuerliche Benach- Der Abbau von Bürokratie soll unternehmerisches teiligungen von Busunternehmen, sollen verbessert und Handeln besser möglich machen. Es werden 10 kon- Ladenöffnungszeiten weiter liberalisiert werden. Wachs- krete Entbürokratisierungsmaßnahmen genannt, wie tumsimpulse erhofft sich die FDP auch von einer Ände- z.B. die Freistellung kleiner Unternehmen von Buch- rung des Embryonenschutzgesetzes. führungspflichten. Deregulierung Bündnis 90/Die Grünen Die Anzahl der von den Unternehmen geforderten Sta- Kurs tistiken soll deutlich reduziert, zeitliche Intervalle für In ihrem Programm betonen die Grünen, dass sie nicht Prüfverfahren vergrößert und Schwellenwerte angeho- an die „Allzuständigkeit des Staates“ glauben. Vielmehr ben werden. Existenzgründerprogramme sollen entbü- könne es Arbeit und Wohlstand nur geben, wenn der rokratisiert werden. Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Mut zur mehr Freiheit und Verantwortung aufgebracht flexibler gestaltet werden. Das Briefmonopol müsse um- werde. In Deutschland solle ein gutes Klima für Unter- gehend fallen. Es soll ein echter europäischer Dienstleis- nehmen herrschen, besonders auch für Existenzgrün- tungsmarkt entstehen. Im Arbeitsrecht soll von Tarifver- der. In ihrer Kursbestimmung bekennen sich die Grünen trägen abgewichen werden können. Außerdem müsse einerseits zu einem freiheitlichen und individualverant- Bürokratie durch Gesetzesbefristungen, einen „Bürokra- wortlichen Gesellschaftsmodell, andererseits müsse der tiekosten-TÜV“ sowie Länderöffnungsklauseln für die Staat für „Verteilungsgerechtigkeit“ sorgen. Die Lage der Aussetzung bundesrechtlicher Regelungen im Tarif- und öffentlichen Haushalte wird zwar eingangs kurz genannt, Arbeitsrecht in Modellregionen abgebaut werden. aber nicht im Zusammenhang mit einem teueren Sozial- Die Linke.PDS staat gesehen, der im Sinne eines Gerechtigkeitskanons an vielen Stellen noch ausgebaut werden soll. Kurs Die Linkspartei.PDS sieht im Wirtschaftswachstum die Wirtschaftsförderung Voraussetzung für neue Arbeitsplätze. Um Wachstum Für kleine und mittlere Unternehmen sollen „geeignete zu generieren, verfolgt die Partei einen Kurs der strik- Finanzierungsinstrumente“ entwickelt und ausgebaut ten Nachfrage- und Staatsausgabenorientierung. werden. Im Osten Deutschlands sollen Forschungsre- gionen aufgebaut und „sanfter Tourismus“ – auch mit Wirtschaftsförderung Infrastrukturprojekten – gezielt gefördert werden. Der Im Sinne der Kaufkraftargumentation fordert Die Lin- Klimaschutz soll Wachstumsmotor sein. ke.PDS einen hohen gesetzlichen Mindestlohn bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung. Außerdem soll die Deregulierung Investitionstätigkeit des Staates an folgenden Stellen Bürokratie soll verhindert werden, indem neue Gesetze ausgedehnt werden: Der öffentliche Verkehr soll ausge- ständig auf ihre Wirkung überprüft und nach Möglich- baut und verbilligt werden, Wasser, Strom, Post, Müll- keit zeitlich befristet werden. Kammerzwänge sollen entsorgung, Nahverkehr, Kultur, Gesundheitsdienste reduziert werden. und das gesamte Bildungswesen sollen in staatlicher Verantwortung bleiben oder dorthin zurückgeführt wer- FDP den. Ein umfangreiches Zukunftsinvestitionsprogramm Kurs soll mit Hilfe „politischer Gestaltung“ den Strukturwan- Die FDP sieht den Wettbewerb als Kernelement der del zur Informations- und Wissensgesellschaft fördern. sozialen Marktwirtschaft. Das Wahlprogramm verste- In Ostdeutschland soll eine staatliche Industriepolitik he sich daher als Gesamtkonzept marktwirtschaft- Kristallisationskerne für Zukunftsbranchen schaffen. licher Erneuerung; es müsse auf einen freien und fai- Auf europäischer Ebene möchte Die Linke.PDS die ren Wettbewerb gesetzt werden, um Wachstum und Verwirklichung eines Marktes für Dienstleistungen ver- Arbeitsplätze zu schaffen. hindern, um Kaufkraftverluste zu vermeiden. Wirtschaftsförderung Deregulierung Für Forschungszwecke sollen im Jahre 2010 rund 3 % Die Linke.PDS will „eine neue Politik im Bund, die auf des BIP ausgegeben werden. Es soll verstärkt auf so- [...] politische Gestaltungskraft gegenüber den Wild- genannte Public-Private-Partnerships im Infrastruk- wüchsen des Marktes setzt“. Deregulierung ist in turbau zurückgegriffen werden. Die Rahmenbedingun- ihrem Programm daher nicht vorgesehen. 4
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien 1.3 Wertung In das Horn der Marktskepsis stößt auch die SPD. Ihr Kurs, ein „Mix aus Nachfrage- und Angebotspolitik“, Der Schlüssel zu mehr Wachstum liegt vor allem in weist stark in Richtung staatlich finanzierter För- der Zunahme der Beschäftigung. Mit steigender derprogramme, deren Liste u.a. mit gesteigerten For- Beschäftigung steigen die Einkommen auf gesamt- schungsausgaben, Kreditvergabe unter Marktzins bis wirtschaftlicher Ebene. Dieser Hebel ist weitaus zur Abzugsfähigkeit von privaten Renovierungs- effektiver als eine einseitige Steigerung der Nomi- arbeiten lang ist. Flexibilisierung und Deregulierung nallöhne, die bei fehlender Entsprechung von wird nur vereinzelt angesprochen, vor den „Mecha- Produktivitätssteigerungen schnell kompensiert nismen des Marktes“ um so häufiger gewarnt. werden würde. In Deutschland ist die Beschäftigung derzeit rückläufig: Die Zahl der geleisteten Die drei übrigen Parteien, Bündnis 90/Die Grünen, Arbeitsstunden sank seit dem Jahr 2000 um 2,3 %; CDU/CSU und FDP, vertreten in ihren Programmen 300.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Im Vergleich zumindest formal einen gesellschaftspolitischen dazu sind in den USA im gleichen Zeitraum 1,1 Kurs, der zu geringerer staatlicher Aktivität und zu Millionen neue Arbeitsplätze entstanden; die verfüg- mehr Freiheit und Verantwortung führen soll. Alle baren Einkommen stiegen um 3 % und haben er- drei Parteien räumen dem Bürokratieabbau eine heblichen Spielraum zur Ausweitung des privaten große Bedeutung ein und listen zielführende Konsums geschaffen. Maßnahmen auf. Die Forderung der Grünen nach Mindestlöhnen und Arbeitszeitverkürzung würde Wachstum durch mehr Beschäftigung kann erstens den Arbeitsmarkt jedoch weiter versteinern, wäh- durch eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeits- rend die vielen staatlichen Förderungsmaßnahmen zeit erreicht werden. Die Lohnstückkosten sänken das Staatsdefizit steigen ließen. Vorhaben wie z.B. dann bei unverändertem Lohnniveau, während der die Neuauflage des Antidiskrimierungsgesetzes las- Anreiz für Neueinstellungen gleichzeitig stiege. sen eher mehr als weniger Bürokratie erwarten. Zweitens sind die Sozialversicherungssysteme vom Vieles klingt zunächst gut, wird aber das Wachstum Faktor Arbeit zu entkoppeln, um ihren Druck auf die nicht fördern. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Arbeitskosten zu reduzieren. Deregulierung ist eine viele der vorgeschlagenen Maßnahmen im Arbeits- weitere Voraussetzung für Prosperität. recht im Widerspruch zum eingangs betonten Ideal von Eigenverantwortlichkeit und Freiheit stehen. Am weitesten entfernt von zielführenden Reform- ideen ist das Programm der Linkspartei.PDS. Statt Im Programm der CDU/CSU ist der Mut zu markt- auf Deregulierung setzt diese Partei ganz bewusst wirtschaftlichen Lösungen und Deregulierung nur auf mehr Staat, mehr Umverteilung und mehr Be- zwischen den Zeilen zu finden. Die CDU/CSU möch- stimmungen. Extreme Forderungen nach mehr te für eine „Politik ohne Angst“ stehen, ein gesell- Lohn, geringerer Arbeitszeit und höheren Steuern schafts- oder wirtschaftspolitischer Kurs ist daraus werden in den Deckmantel der längst widerlegten noch nicht abzulesen. Obwohl viele der vorgeschla- Nachfragetheorie gekleidet. So müsse v.a. die Kauf- genen Maßnahmen ein höheres Maß an Freiheit und kraft der Bevölkerung und die Investitionstätigkeit Flexibilität bedeuten würden, bleibt die Linie – wohl des Staates gesteigert werden, um Wachstum zu bewusst – eher unklar. Viele der aufgeführten Reform- generieren. Diese Strategie des „Deficit Spending“ maßnahmen weisen jedoch in die richtige Richtung. gilt spätestens seit dem Scheitern der „Glo- balsteuerung“ in den 70er Jahren als überholt. Sie Das klarste Plädoyer für Wettbewerb und Dere- hat die Basis für einen gewaltigen Staatsschulden- gulierung stellt das FDP-Programm dar. Die wirt- stand gelegt. Dennoch wird das antiquierte Binnen- schafts- und gesellschaftspolitische Kursangabe kaufkraftargument immer wieder zum Stimmenfang stimmt hier mit den aufgeführten Maßnahmen, etwa herangezogen. Dabei wird übersehen, dass Lohn- der verstärkten Etablierung von Public-Private- erhöhungen stets durch Produktivitätszuwächse ge- Partnerships, der Unterstützung eines echten euro- deckt sein müssen. Sie belasten ansonsten die Un- päischen Dienstleistungsmarktes oder der umfassen- ternehmensgewinne und führen über Investitions- den Liste von Deregulierungsvorhaben, überein. zurückhaltung zu mehr Arbeitslosigkeit. Auf gesamt- wirtschaftlicher Ebene schrumpfen dann die Löhne trotz nominaler Lohnerhöhungen. 5
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien der Arbeitsmarktordnung. Sie reichen von einem unbefriedigenden Bildungssystem über beschäfti- 2 Arbeitsmarkt und gungsfeindlich konstruierte Sozialversicherungssys- Beschäftigungspolitik teme bis hin zu externen konjunkturellen Schocks. Hinzu kommt eine stetig voranschreitende Globali- 2.1 Status quo sierung und ein sich verschärfender internationaler Standortwettbewerb um Unternehmen, der vor allem Die Misere auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist offen- das Arbeitsmarktsegment für Tätigkeiten mit gerin- kundig. 4,77 Mio. offiziell Arbeitslose im Juli 2005 geren qualifikatorischen Anforderungen unter Druck sprechen eine eindeutige Sprache. Für die Betroffenen setzt. Dies alles hat Auswirkungen auf Arbeitsange- ist es dabei unerheblich, ob die Arbeitsmarktsituation bot und Arbeitsnachfrage. derzeit noch etwas schlechter als gegen Ende der Regierung Kohl ist oder ob die zahlenmäßig höhere Hauptmanko der deutschen Arbeitsmarktordnung Arbeitslosigkeit das Ergebnis einer vermeintlich ehr- ist, dass sie die notwendigen Anpassungen an diese licheren Arbeitslosenstatistik ist. Fakt bleibt, dass die Veränderungen systematisch verhindert oder zumin- deutsche Arbeitsmarktperformance seit Jahrzehnten dest erheblich erschwert. Das Arbeitsrecht sowie die zu wünschen übrig lässt. Im Gegensatz zu anderen institutionellen Regelungen der Arbeitslosenver- Industrieländern ist es uns nicht ausreichend gelun- sicherung und der sozialen Grundsicherung unter- gen, einmal entstandene Arbeitslosigkeit systematisch stützen sowohl eine beschäftigungsfeindliche Lohn- wieder abzubauen. Die Hauptleidtragenden sind zum politik der Tarifvertragsparteien, die sich vor allem an einen gering Qualifizierte und zum anderen ältere den Arbeitsplatzbesitzern, nicht aber an den Arbeitnehmer. Beide Gruppen weisen deutlich über- Arbeitslosen orientiert, als auch eine zu geringe re- durchschnittliche Arbeitslosenquoten auf. Hinzu gionale, sektorale und qualifikatorische Lohnsprei- kommt eine im internationalen Vergleich beängstigend zung. Vor allem Menschen mit einer geringen Pro- starke Ausprägung von Langzeitarbeitslosigkeit. Ge- duktivität haben kaum eine Chance auf dem Ar- rade sie bringt für die Betroffenen häufig gravierende beitsmarkt. Zu viel wird einheitlich durch Gesetz oder soziale Probleme mit sich. auf kollektiver Ebene geregelt. So lassen sich die Herausforderungen vor Ort weder in den Betrieben Die Ursachen für diese unbefriedigende Situation noch in den Job-Centern oder Kommunen lösen. sind vielfältig und haben ihren Ausgangspunkt kei- Wettbewerb ist Mangelware. neswegs ausschließlich im eigentlichen Kernbereich 2.2 Reformansätze der Parteien dungsmaßnahmen. Ältere sollen durch Lohnkosten- zuschüsse gefördert werden, für junge Menschen SPD unter 25 wird das Ziel einer maximal 3-monatigen Die SPD beruft sich zunächst darauf, die wichtigsten Arbeitslosigkeit ausgegeben. Illegale Beschäftigung Arbeitsmarktreformen bereits durchgeführt und die soll massiv bekämpft werden. Eine striktere Durch- Lohnnebenkosten gesenkt zu haben. Auch die setzung der Zumutbarkeitskriterien bei Transferbezie- Arbeitnehmer hätten ihren Beitrag zur Stärkung der hern wird dagegen nur angedeutet. deutschen Wirtschaft bereits erbracht – in Form mo- derater Lohnsteigerungen und längerer Arbeitszeiten. Ein Großteil der programmatischen Ankündigungen Daher seien nun die Unternehmen in der Pflicht, neue zielt auf eine Verteidigung des Status quo in der Ar- Arbeitsplätze zu schaffen. beitsmarktordnung ab. So soll die vorgesehene Ver- kürzung der maximalen Bezugsdauer von Arbeitslo- Dementsprechend wird für die Politik nur ein be- sengeld um zwei Jahre auf 2008 verschoben werden, grenzter Handlungsbedarf gesehen. Dieser beinhal- gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie werden tet zum einen die Förderung von Forschung und ebenso wie eine Lockerung des Kündigungsschutzes Entwicklung bei Hochleistungsprodukten wie auch abgelehnt und die Mitbestimmung als „Standortvorteil verstärkte öffentliche Investitionen. Zum anderen für Deutschland“ steht nicht zur Disposition. Längere setzt die SPD auf bereits bestehende arbeitsmarktpo- Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich sind nach Ansicht litische Instrumente wie Ich-AGs (Existenzgründungs- der SPD „der falsche Weg“ und für eine Flexibilisie- zuschüsse), Mini-Jobs sowie Fort- und Weiterbil- rung der Arbeitszeiten seien die Tarifparteien zustän- 6
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien dig. Im Bereich der Arbeitslosenverwaltung wird eine diesem Zeitraum höhere ergänzende Sozialleistun- kommunale Betreuung und Finanzierung von Lang- gen als im Regelfall vorgesehen sind, bleibt aller- zeitarbeitslosen abgelehnt. dings unklar. Zum anderen soll ein Kombi-Lohn- Modell eingeführt werden – konkrete Angaben zu Veränderungen werden nur dann angestrebt, wenn seiner Ausgestaltung sucht man jedoch vergeblich. sie mit einem höheren Umverteilungsvolumen oder Und schließlich wollen CDU und CSU die mit Hartz höheren Löhnen einhergehen. Dies gilt neben der IV neu geschaffene Organisationsstruktur zwischen Ost/West-Angleichung beim Arbeitslosengeld II vor der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen allem für die Lohnpolitik. Löhne sollen grundsätzlich überprüfen und allen Kommunen ein Optionsrecht existenzsichernd sein. Um dieses Ziel zu erreichen, zur eigenständigen Durchführung dieser Aufgaben soll das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle einräumen. Branchen ausgeweitet werden. Sofern die Tarifver- tragsparteien nicht willens oder in der Lage sind, Bündnis 90/Die Grünen bundeseinheitliche tarifliche Mindestlöhne zu ver- einbaren, ist vorgesehen, einen gesetzlichen Min- Bündnis 90/Die Grünen wollen Beschäftigungsver- destlohn einzuführen. hältnisse im unteren Einkommensbereich durch eine Entlastung bei den Lohnnebenkosten fördern. An- CDU/CSU statt abrupt einzusetzen, sollen die Sozialversiche- rungsbeiträge in einer nicht näher definierten Gleit- CDU und CSU wollen mit einer Reihe von Maßnah- zone langsam ansteigen. Dabei sollen Mitnahme- men die Flexibilität des Arbeitsmarktes erhöhen. Be- effekte minimiert werden – wie das geschehen soll, triebliche Bündnisse für Arbeit sollen auf eine ge- wird nicht erläutert. setzliche Grundlage gestellt werden und nicht mehr an die Zustimmungspflicht der Tarifvertragsparteien Mangelnde Arbeitszeitflexibilität stellt aus Sicht von gebunden sein. Dazu soll das Günstigkeitsprinzip Bündnis 90/Die Grünen vor allem ein Problem für Ar- auf beschäftigungssichernde oder -aufbauende beitnehmer, weniger für Arbeitgeber dar, und soll u.a. Maßnahmen ausgeweitet werden. Für Neuein- durch Instrumente wie Arbeitszeitkonten, Familien- stellungen soll das Kündigungsschutzgesetz nur Teilzeit oder Job-Rotation verringert werden. Da- noch in Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeitern gel- neben wird ein allgemeiner Bedarf zur Arbeitszeit- ten; in größeren Betrieben wird er erst nach einer Be- verkürzung gesehen, wobei anteilige Lohnkürzungen schäftigungsdauer von zwei Jahren wirksam. Befris- nicht ausgeschlossen werden. Arbeitszeitverlänge- tete Arbeitsverhältnisse von bis zu zwei Jahren sol- rung wird dagegen abgelehnt. len dadurch erleichtert werden, dass sie mit demsel- ben Arbeitnehmer erneut geschlossen werden kön- Wie auch die SPD wollen Bündnis 90/Die Grünen nen, sofern kein enger Zusammenhang zwischen das Entsendegesetz ausdehnen und streben regio- den Arbeitsverhältnissen besteht. nal und branchenspezifisch differenzierte Mindest- lohnregelungen oberhalb der Armutsgrenze an. In der Arbeitslosenversicherung sollen für unwirk- Sofern sich dieses Ziel über Tarifverträge nicht errei- sam gehaltene arbeitsmarktpolitische Maßnahmen chen lässt, soll der Gesetzgeber verbindliche Min- abgeschafft werden, beispielsweise die Ich-AGs destlöhne unter Beteiligung von Gewerkschaften (Existenzgründungszuschüsse). Darüber hinaus ist und Arbeitgebern vorgeben. Im Bereich der sozialen eine Absenkung des Beitragssatzes ab Januar 2006 Grundsicherung soll das „Fördern“ mehr Gewicht um 2 Prozentpunkte auf 4,5 % vorgesehen. Zur Ge- bekommen, u.a. indem die Regelsätze des Arbeits- genfinanzierung wird die Mehrwertsteuer von 16 % losengeldes II (ALG II) deutlich angehoben und ver- auf 18 % erhöht. Schließlich will die Union die maxi- besserte Hinzuverdienstmöglichkeiten geschaffen male Dauer des Arbeitslosengeldes an die Dauer der werden. Als zumutbar sollen nur ortsüblich bezahlte geleisteten Beitragszahlungen koppeln. Erwerbstätigkeiten gelten. Aktive Arbeitsmarktpolitik wird als alternativlos angesehen und soll stärker in Um die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslo- die Verantwortung der Kommunen überführt werden sen in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern, ist können. Dabei sollen auch geförderte sozialversi- zum einen vorgesehen, dass die Entlohnung für cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im ehemalige ALG II-Empfänger für die Dauer von zwei zweiten Arbeitsmarkt über mehrere Jahre möglich Jahren bis zu 10 % unter Tarif liegen kann. Ob in sein. 7
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien FDP beitsplätze schaffen, wo für die Privatwirtschaft Dienstleistungen nicht rentabel sind. Die hierzu not- Voraussetzung für mehr Beschäftigung ist nach wendigen Gelder sollen aus den durch die Abschaf- Ansicht der FDP mehr Wettbewerb – sowohl auf den fung von Hartz IV freiwerdenden finanziellen Mitteln, Gütermärkten als auch auf dem Arbeitsmarkt. Min- der Wiedereinführung der Vermögensteuer und aus destlöhne werden daher abgelehnt. Ähnlich wie auch Förderfonds von Ländern, Bund und Europäischer von CDU/CSU gefordert, sollen betriebliche Bündnis- Union entstammen. Daneben sollen durch gezielte se für Arbeit ohne Zustimmungspflicht der Tarifver- Lohnkostenzuschüsse gering Qualifizierte für Unter- tragsparteien möglich sein. Der Geltungsbereich des nehmen attraktiver gemacht werden. Lohnkürzungen Kündigungsschutzgesetzes soll auf Betriebe mit mehr und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors werden als 50 Mitarbeitern beschränkt werden und auch dann hingegen abgelehnt. Vielmehr soll durch die Einfüh- erst vier Jahre nach Beginn des Arbeitsverhältnisses rung eines gesetzlichen Mindestlohnes von monatlich einsetzen. Zusätzlich sollen Arbeitgeber und Arbeit- 1.400 Euro brutto eine existenzsichernde Entlohnung nehmer für den Fall einer betriebsbedingten Kündi- aller Arbeitnehmer sichergestellt werden. Für Bran- gung eine Abfindung vereinbaren können. Die betrieb- chen, in denen die niedrigsten tariflichen Lohngruppen liche Mitbestimmung soll zu Gunsten der Unternehmer oberhalb dieses Wertes liegen, strebt die Linkspartei reformiert werden. eine Vereinfachung von Allgemeinverbindlichkeitser- klärungen an. Damit diese durch ausländische In der Arbeitslosenversicherung soll die Bundesagen- Anbieter nicht unterlaufen werden können, soll das tur für Arbeit nach dem Willen der FDP aufgelöst und Entsendegesetze auf alle Wirtschaftszweige erweitert ein Großteil der Aufgaben auf kommunale Job-Center werden. Die Abkehr von der „Niedriglohnstrategie“ verlagert werden. Für versicherungsfremde Leistungen führe zu steigender Kaufkraft der Bevölkerung und – insbesondere Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt- somit zu einer Stärkung der Binnennachfrage. politik sowie der Aussteuerungsbetrag – wird die bis- Dementsprechend will die Linke.PDS auch die längere herige Beitragsfinanzierung abgelehnt. Insgesamt Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I wieder einführen strebt die FDP so eine Beitragssatzreduktion von 2 und den Beschäftigten höhere Einkommenszuwächse Prozentpunkten an. Darüber hinaus sollen die paritäti- gönnen. Die Sozialabgaben besonders schlecht be- sche Finanzierung entfallen und Wahltarife in der zahlter Personengruppen seien zeitweise aus Steu- Arbeitslosenversicherung eingeführt werden. ermitteln zu finanzieren. Im Bereich der sozialen Grundsicherung setzt die FDP Durch eine Verkürzung der Arbeitszeiten will Die auf das Bürgergeld – eine Art negative Einkommen- Linke.PDS „Arbeit umverteilen“, um so das Problem steuer – in dem alle steuerfinanzierten Sozialleistungen der Arbeitslosigkeit zu lösen. Dazu sollen u.a. Über- zusammengefasst werden sollen. Durch eine strikte stunden begrenzt, die durchschnittliche regelmäßige Durchsetzung der Zumutbarkeitsregeln und groß- Höchstarbeitszeit von derzeit 48 Stunden auf 40 Stun- zügige Hinzuverdienstmöglichkeiten soll so ein funk- den gesenkt und Gewerkschaften in ihren Bemühun- tionierender Niedriglohnsektor mit wirksamen finan- gen, Arbeitszeitverkürzungen zu vereinbaren, unter- ziellen Arbeitsanreizen entstehen. Konkrete Ausgestal- stützt werden. Aufgrund von Produktivitätssteige- tungsparameter werden jedoch nicht genannt. Als rungen seien dabei entsprechende Lohnsenkungen erste Schritte sollen beim Arbeitslosengeld II von nicht notwendigerweise erforderlich; für Beschäftigte einem monatlichen Hinzuverdienst von bis zu 600 Euro mit geringem Einkommen müsse aber ein Lohn- 40 % anrechnungsfrei bleiben sowie die Einkommens- ausgleich gewährleistet werden. Um Teilzeitarbeit zu grenze für die Minijobregelung auf 600 Euro ausgewei- fördern, erhalten solche Beschäftigungsverhältnisse tet werden. vollständigen Sozialversicherungsschutz. Zudem soll jeder das Recht haben, nach gewählter Teilzeitarbeit Die Linke.PDS wieder in Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren. Die Linke.PDS sieht den dirigistischen Staat als zen- Dritter Ansatzpunkt der Linkspartei ist die „Demokra- tralen Akteur im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. tisierung der Wirtschaft“. Dies soll durch stärkere Neben einem umfangreichen „Zukunftsinvestitions- Mitbestimmung und Beteiligung der Beschäftigten am programm“ soll ein durch vornehmlich öffentliche Produktivvermögen und durch regulierende Eingriffe in Mittel finanzierter, gemeinnütziger Beschäftigungs- die internationalen Kapital- und Finanzmärkte erreicht sektor dort reguläre sozialversicherungspflichtige Ar- werden. 8
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien 2.3 Wertung Liberalisierung des Kündigungsschutzes mittelfristig einen positiven Beitrag im Kampf gegen die (Lang- Im Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, sind sich alle zeit)arbeitslosigkeit leisten, auch wenn – bei iso- Parteien einig. Unterschiedliche Auffassungen be- lierter Betrachtung – von diesem Schritt keine Wun- stehen jedoch hinsichtlich des bestehenden Hand- der erwartet werden dürfen. Angesichts der prin- lungsbedarfs sowie der einzuschlagenden arbeits- zipiellen Willkür von Schwellenwerten wäre aber eine marktpolitischen Strategie. betriebsgrößenunabhängige Liberalisierung, bei- spielsweise in Form freiwillig vereinbarter Abwei- SPD chungsmöglichkeiten von den gesetzlichen Re- gelungen durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Das Wahlprogramm der SPD verkennt die Ursachen bessere Strategie. der Massenarbeitslosigkeit und den bestehenden Handlungsbedarf. Wer glaubt, dass alle notwendi- Nur teilweise überzeugend sind die Reformabsich- gen Reformschritte bereits durchgeführt sind und ten von CDU und CSU für die Arbeitslosenversiche- nur noch etwas Zeit zum Wirken bräuchten, befindet rung. Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Gegenfinan- sich auf dem Holzweg. Das Instrumentarium der zierung der angestrebten Beitragssatzsenkung ist aktiven Arbeitsmarktpolitik hat sich bereits in der kontraproduktiv und unnötig. Eine Reduzierung des Vergangenheit als nicht sonderlich hilfreich im Beitragssatzes sollte nur in dem Umfang erfolgen, in Kampf gegen die Arbeitslosigkeit erwiesen. dem auch Leistungen zurückgefahren werden. Das Inzwischen ist auch klar, dass Mini-Jobs für ist in der Arbeitslosenversicherung leichter als in Arbeitslose nur wenig attraktiv sind, mithin verfehlen anderen Zweigen der Sozialversicherung möglich. sie ihre eigentliche Zielgruppe. Stattdessen werden Die geplante effizienzorientierte Überprüfung ar- Mini-Jobs vor allem von Schülern, Studenten und beitsmarktpolitischer Maßnahmen ist ein richtiger Rentnern oder als Nebenerwerbsquelle genutzt. Schritt auf diesem Weg. Dagegen ist eine Staffelung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes Die Mixtur aus Zementierung des Status quo und der nach Dauer der Beitragszahlungen abzulehnen. Eine allgemeinen Einführung von Mindestlöhnen würde solche Differenzierung würde im Wesentlichen die dazu führen, dass die Arbeitskosten weiter steigen gleichen negativen Beschäftigungswirkungen her- und Deutschland in einer globalisierten Welt endgültig vorrufen, die heute durch das verlängerte Arbeits- den wirtschaftlichen Anschluss verliert. Ausländische losengeld für Ältere entstehen, und hat in einer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt stellt die SPD unter Risikoversicherung nichts zu suchen. den Generalverdacht des Sozial- und Lohndumpings. Die Forderung nach „fairem Wettbewerb“ wird so zu Die Überprüfung und Optimierung der durch Hartz IV einem kaum verhüllten Ruf nach staatlichem Protek- neu geschaffenen Organisationsstrukturen stellt an- tionismus zu Gunsten der Arbeitsplatzbesitzer, der gesichts der deutlich gewordenen Anlaufschwierig- sich in seinen negativen Auswirkungen vor allem ge- keiten eigentlich eine Selbstverständlichkeit dar. Die gen die inländischen Arbeitslosen richtet. Verlierer wä- von CDU und CSU angestrebte Ausweitung der Op- ren vor allem Menschen mit geringer Produktivität, die tionsmöglichkeit auf alle Kommunen lässt aber nur zum dann herrschenden Mindestlohn noch geringere dann deutlich bessere Ergebnisse erwarten, wenn Beschäftigungschancen als heute hätten. diesen auch erweiterte Entscheidungs- und Rege- lungskompetenzen zugesprochen werden, als es CDU/CSU heute der Fall ist. Dies gilt beispielsweise für den Einsatz arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums Vor dem Hintergrund der diagnostizierten Probleme oder die Höhe des ALG II. Ohne zusätzliche Frei- erfordern die Pläne von CDU und CSU eine differen- räume ist weder die ausreichende Berücksichtigung zierte Betrachtung – sie scheinen aber zumindest regionaler Besonderheiten möglich, noch kann der ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Dies gilt kommunale Wettbewerb seine Funktion als Ent- zum einen für die erhöhte Flexibilität bei der deckungsverfahren für überlegene Integrationsstra- Lohnfindung. Hier haben die Tarifvertragsparteien in tegien in den Arbeitsmarkt ausüben. Eine Bewertung der Vergangenheit bewiesen, daß es ihnen an des geplanten Kombi-Lohn-Modells fällt angesichts beschäftigungspolitischer Verantwortung mangelt. der fehlenden Umsetzungspläne schwer. So wichtig Die Stärkung der betrieblichen Bündnisse für Arbeit die Implementierung eines funktionierenden Niedrig- ist deshalb zu begrüßen. Zum anderen sollte die lohnsektors auch ist, mit finanziellen Anreizen in Form 9
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien staatlicher Zuschüsse alleine wird sich das Problem Auf den ersten Blick überzeugender als bei der Uni- bei gegebenem ALG II-Niveau nicht lösen lassen – on ist der Weg zur Senkung des Beitragssatzes zur und schon gar nicht zu vertretbaren fiskalischen Arbeitslosenversicherung, der ohne eine Mehrwert- Kosten. Es ist daher unerlässlich, den begonnenen steuererhöhung auskommt. Allerdings bleibt unge- Weg des Förderns und Forderns konsequent weiter- klärt, wie der Wegfall des Aussteuerungsbetrages im zuentwickeln. Im Vergleich zu dem von SPD und Bundeshaushalt kompensiert werden soll. Die übri- Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.PDS vor- gen Maßnahmen in der Arbeitslosenversicherung – geschlagenen Weg, existenzsichernde Einkommen Auflösung der Bundesagentur, Einführung von über Mindestlöhne zu sichern, ist ein intelligent Wahltarifen, Wegfall der paritätischen Finanzierung – ausgestaltetes Kombi-Lohn-Modell aber allemal die tragen das Potenzial für echte Effizienzgewinne in bessere Lösung. sich, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ent- scheidend wird diesbezüglich die konkrete Ausge- Bündnis 90/Die Grünen staltung der angestrebten Reformen sein. Die Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen zum Be- Die aus konzeptioneller Sicht attraktive Neuordnung reich Arbeitsmarkt und Beschäftigung können unter der sozialen Grundsicherung durch ein Bürgergeld ökonomischen Kriterien nicht überzeugen und sind in muss zumindest mit einem großen fiskalischen Frage- zentralen Bereichen durch innere Widersprüche cha- zeichen versehen werden. Die Gefahren für die öffent- rakterisiert. So passt die Forderung nach Mindest- lichen Haushalte zeigen sich bereits bei den beiden als löhnen, auch wenn diese regional und branchenspezi- Vorabmaßnahmen intendierten Veränderungen – die fisch differenziert sind, schwer zu der Erkenntnis, dass großzügigere Hinzuverdienstregelung und die Aus- zu hohe Lohnnebenkosten Beschäftigung verhindern weitung der Minijobgrenze. Großzügige und zeitlich – gerade für gering Qualifizierte. Verbesserte Hinzu- unbefristete Hinzuverdienstregelungen bergen zudem verdienstmöglichkeiten und höhere Regelsätze beim die Gefahr in sich, dass sie den Bezug von Arbeits- ALG II sind in dieser Kombination kontraproduktiv und losengeld II finanziell attraktiver als die Aufnahme einer erhöhen die Gefahr, dass der Transferbezug finanziell niedrig entlohnten Vollzeitarbeit machen. attraktiver als die Aufnahme einer regulären Vollzeit- stelle ist, von den negativen Auswirkungen auf die Die Linke.PDS öffentlichen Haushalte ganz zu schweigen. Schon heute werden deutlich mehr Mittel für ALG II-Bezieher Das von Die Linke.PDS angestrebte Sammelsurium aufgewendet als ursprünglich geplant. wachstums- und beschäftigungsfeindlicher Maß- nahmen ist an gesamtwirtschaftlich schädlicher Wir- Insgesamt ist zu konstatieren, dass die häufig be- kung kaum zu übertreffen und spiegelt einen voll- schworenen positiven Auswirkungen einzelner Vor- ständigen arbeitsmarktpolitischen Realitätsverlust haben und Maßnahmen bloßes Wunschdenken sind wider. Ökonomische Logik wird zum Opfer populisti- und sowohl die damit verbundenen Kosten als auch scher Wunschträume. Unter Missachtung grundle- fundamentale Anreizwirkungen außer Acht lassen. gender volkswirtschaftlicher Wirkungszusammen- Realistischerweise werden sich die meisten arbeits- hänge werden gleichsam unbezahlbare und höchst marktpolitischen Pläne von Bündnis 90/Die Grünen kontraproduktive planwirtschaftliche Instrumentarien negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken. aneinandergereiht, die sich auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren lassen: durch höhere Umvertei- FDP lung finanzierte staatliche Intervention. Mit der Wie- derentdeckung marxistischer Schlagworte zur Das arbeitsmarktpolitische Programm der FDP weist „Demokratisierung der Wirtschaft“ mag hinsichtlich eine ähnliche Grundrichtung wie das von CDU/CSU angestammter Wählerklientel ein kurzfristiger Wahl- auf, zeigt aber in einigen Teilbereichen deutlich mehr erfolg zu erzielen sein. Eine auch nur ansatzweise Mut zu marktwirtschaftlichen, wettbewerbsorientier- Umsetzung des Maßnahmenkatalogs der Links- ten Veränderungen. Hinsichtlich der betrieblichen partei.PDS hätte jedoch katastrophale Konse- Bündnisse für Arbeit und der Liberalisierung des quenzen für alle Bevölkerungsschichten. Kündigungsschutzes kann die bereits weiter oben bei CDU/CSU grundsätzlich positiv vorgenommene Be- Insgesamt zeigt sich, dass vor allem die Vorschläge wertung im Wesentlichen 1:1 auf das FDP-Programm von Die Linke.PDS nur als Beschäftigungsvernich- übertragen werden. tungsprogramm charakterisiert werden können. Aber 10
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien auch in den Programmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sind vielversprechende Lösungsansätze Man- 3 Gesundheitswesen gelware. Man konzentriert sich einerseits auf sozial- staatliche Reparaturmaßnahmen und sucht anderer- und gesetzliche seits sein beschäftigungspolitisches Heil beim Tarifkar- Krankenversicherung tell. Dabei wird verkannt, dass großzügige Sozialleis- tungen eine der Ursachen für überhöhte, kollektiv aus- 3.1 Status quo gehandelte Lohnabschlüsse sind. Zu hohe (Tarif-)Löh- ne – die Hauptdeterminante der Arbeitskosten – wer- den als Ursache der Arbeitslosigkeit negiert. Dass ge- Das deutsche Gesundheitssystem bedarf einer rade geringer qualifizierte Menschen mit einer niedri- Grundsanierung. In der Vergangenheit haben sowohl gen Produktivität besonders große Probleme haben, steigende Ausgaben als auch die Erosion der zu den herrschenden Löhnen eine Beschäftigung zu Einnahmenbasis zu einem Anstieg der Beitragssätze finden, wird übersehen oder bewusst ignoriert. geführt. Neben allgegenwärtigen Ineffizienzen im Gesundheitswesen sind vor allem die abnehmende Der Versuch, sozialpolitische Ziele mit einer Mindest- Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, das lohnpolitik erreichen zu wollen, ist daher zum Schei- geringe Wirtschaftswachstum sowie die fortschrei- tern verurteilt. Er führt nur zu einer weiteren Erhö- tende Alterung der Bevölkerung als Ursachen zu hung der Arbeitslosigkeit und schädigt gleichzeitig identifizieren. Hinzu kommt, dass die Umverteilung die Konsumenten. Daher sollten die entsprechenden in der gesetzlichen Krankenversicherung zu großen Vorschläge möglichst schnell wieder in der Motten- Teilen willkürlich erfolgt und grundlegende Gerech- kiste verschwinden. Das Gegenteil ist notwendig: Die tigkeitskriterien verletzt. Lohnspreizung muss größer werden. Nur wenn das Arbeitseinkommen bei einer Vollzeittätigkeit das Angesichts der negativen Beschäftigungswirkungen sozioökonomische Existenzminimum nicht decken steigender Lohnzusatzkosten können weiter steigen- kann, hat der Staat die Verpflichtung, ergänzende de lohnbezogene Beitragssätze keine überzeugende Hilfe zu leisten, damit niemand unverschuldet in Ar- Lösungsstrategie darstellen. Ohne eine grundlegende mut leben muss. Neuordnung der Einnahmenseite wird das Finanzie- rungsgebäude der gesetzlichen Krankenversicherung Gerade SPD und Bündnis 90/Die Grünen fallen mit vie- durch die sich weiter verschärfende Alterung der Be- len ihrer Pläne hinter das mit den Hartz-Reformen völkerung fundamental erschüttert werden. Gleichzei- Erreichte zurück. Anders dagegen die arbeitsmarktpo- tig steigen die Leistungsausgaben. Insofern dieser litischen Programme von CDU/CSU und FDP. Auch Ausgabenanstieg aus nutzenbringendem technologi- wenn sie nicht in allen Punkten überzeugen können – schen Fortschritt resultiert, den Präferenzen der das betrifft vor allem CDU/CSU – und viele entschei- Bürger entspricht und zu einer Verbesserung der me- dende Details noch im Dunkeln liegen – das betrifft vor dizinischen Versorgung beiträgt, sollte er durch die allem die FDP –, schlagen beide Parteien zumindest Form des Krankenversicherungssystems nicht verhin- keine beschäftigungsfeindliche Grundrichtung ein. dert werden. In Deutschland führen jedoch Ineffi- zienzen in Form von Über-, Unter- und Fehlversorgung dazu, dass das drittteuerste Gesundheitssystem der Welt im internationalen Vergleich nur eine durch- schnittliche Qualität der Gesundheitsversorgung ge- neriert. Ein überzeugendes Kosten-Leistungs-Verhält- nis sieht anders aus. 11
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien 3.2 Die Pläne der Parteien die hierdurch entstehenden Kosten sollen aus Steuer- mitteln gedeckt werden. Ebenfalls über Steuern wird SPD der aus der Krankenversicherung ausgegliederte Solidarausgleich finanziert, der bei Versicherten mit Auf der Einnahmenseite strebt die SPD eine einkom- niedrigem Einkommen automatisch greifen soll. mensabhängige Bürgerversicherung an. Der Pflicht- versichertenkreis wird dabei auf die gesamte Wohnbe- Die Versicherungspflichtgrenze, d.h. die Trennung zwi- völkerung erweitert, d.h. die private Krankenver- schen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, sicherung (PKV) wird in die gesetzliche Krankenversi- bleibt bestehen. Der Wettbewerb zwischen den cherung (GKV) eingebunden und die Unterteilung in Krankenversicherungen soll gestärkt werden – in der versicherungspflichtige Personen und freiwillig Ver- GKV, indem die Kassen unterschiedliche Tarife anbie- sicherte entfällt. Als Beitragsbemessungsgrundlage ten, in der PKV, indem die Übertragbarkeit der Alters- dienen nicht mehr allein Lohn und Gehalt, sondern das rückstellungen eingeführt wird. gesamte Einkommen der Versicherten mit Ausnahme von Mieten und Pachten. Hierdurch soll jeder Bürger Auf der Ausgabenseite soll der Wettbewerb zwi- gemäß seiner individuellen Leistungsfähigkeit zur schen den medizinischen Leistungserbringern inten- Finanzierung der GKV herangezogen werden. Es ist siviert werden – konkrete Angaben, wie dieses Ziel vorgesehen, Erträge aus „Durchschnittsersparnissen“ zu erreichen ist, fehlen jedoch. durch Freibeträge auszunehmen. Bündnis 90/Die Grünen Private Krankenversicherungsunternehmen dürfen sich theoretisch weiterhin an der Gesundheitsversor- Auch Bündnis 90/Die Grünen verfolgen ähnlich wie die gung beteiligen, sind jedoch vollständig an die engen SPD die Einführung einer einkommensabhängigen Rahmenbedingungen der GKV gebunden, insbeson- Bürgerversicherung, nehmen jedoch keine Einkom- dere was die einkommensbezogene Beitragsermitt- menskategorie aus. Dabei legen sie besonderes Au- lung betrifft. Die internen Organisationsstrukturen der genmerk auf die Ausgestaltung der Familienversi- GKV bleiben erhalten. Dies betrifft insbesondere den cherung. So sind nach diesem Modell Ehegatten bzw. Leistungskatalog, den Kontrahierungszwang für die Lebenspartner, die Kinder erziehen oder Pflegeleistun- Versicherungen, die Beitragsbemessungsgrenze und gen erbringen, beitragsfrei mitversichert. Ansonsten die beitragsfreie Familienversicherung. soll für die Festsetzung der Beitragshöhe von Ehepaaren und eingetragenen Partnerschaften ein Hinsichtlich der Ausgabenseite sieht die SPD keine Splitting des Einkommens durchgeführt werden. Die Reformschritte vor. Die Zukunftsfähigkeit der GKV- Beitragsbemessungsgrenze soll maßvoll angehoben Kostenentwicklung sei durch das Gesundheitsmoder- werden. Für die über Lohn und Gehalt hinausgehen- nisierungsgesetz (GMG) bereits ausreichend gesichert den zusätzlichen Einkommensarten sind Freigrenzen worden. vorgesehen. Die Aussage, dass in der Bürgerversiche- rung Unisex-Tarife angeboten werden sollen, ist an- CDU/CSU gesichts einkommensbezogener Beiträge inhaltsleer. CDU/CSU will die lohnabhängigen Beiträge durch ein Mit dem Ziel, ineffizienten Strukturen im Gesundheits- Hybridmodell – genannt „solidarische Gesund- wesen entgegenzuwirken, sollen auf der Ausga- heitsprämie“ – ersetzen. Diese setzt sich zusammen benseite innovative Versorgungsformen, insbesondere aus einer pauschalen persönlichen Gesundheitsprä- die integrierte Versorgung, d.h. die Verzahnung unter- mie und einer lohnbezogenen Arbeitgeberprämie mit schiedlicher Leistungsbereiche, und die hausarztzen- dauerhaft festgeschriebenem Beitragssatz. Über eine trierte Versorgung weiter ausgebaut werden. Zu- zwischengeschaltete Clearingstelle erhalten die zahlungen für Bezieher von Sozialgeld und Alters- Krankenkassen für jeden erwachsenen Versicherten grundsicherung werden abgeschafft und die Er- einen kostendeckenden Betrag. Unterschiedliche stattung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Effizienz und Kostenstrukturen der Kassen führen zu Ausnahmefällen wieder ermöglicht. Lokalem Fach- unterschiedlichen persönlichen Gesundheitsprämien kräftemangel soll entgegengewirkt werden, wobei zwischen den Kassen. Für Rentenempfänger über- jedoch keine Angaben über die einzusetzenden nehmen die Rentenversicherungsträger den Arbeitge- Steuerungsinstrumente gemacht werden. Komple- beranteil. Kinder bleiben beitragsfrei mitversichert und mentärmedizinische Therapieformen wie z.B. Homöo- 12
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien pathie und Anthroposophie können nach entspre- derter Wechsel der Versicherungen möglich ist. Der chender Qualitätsprüfung in den Leistungskatalog soziale Ausgleich wird aus der Krankenversicherung aufgenommen werden. Prävention und Gesundheits- ausgegliedert und in das allgemeine Steuer-Transfer- förderung sollen zu einer eigenständigen Säule des System überführt. Die Prämien für Kinder werden Gesundheitswesens ausgebaut werden. über Steuern finanziert. FDP Abgesehen von einem allgemeinen Bekenntnis zu Wettbewerb, Wahlfreiheit und einer privatrechtlichen Die FDP schlägt einen Systemwechsel hin zu einem Organisation der gesetzlichen Krankenkassen werden „privaten Krankenversicherungsschutz mit sozialer zur Ausgabenseite und den medizinischen Leistungs- Absicherung für alle“ vor. Danach muss jeder Bürger erbringern keine konkreten Aussagen gemacht. einen gesetzlich vorgeschriebenen Regelleistungs- katalog bei einem Versicherer seiner Wahl absichern. Die Linke.PDS Oberhalb dieser Mindestabsicherung besteht Wahl- freiheit über Umfang und Ausgestaltung des Kran- Die Linke.PDS ist ein weiterer Vertreter der einkom- kenversicherungsschutzes. Die Vertragsgestaltung mensabhängigen Bürgerversicherung. Die Aussagen ist durch Tariffreiheit und flexible Vertragsstrukturen zur Ausgestaltung kommen jedoch kaum über einige gekennzeichnet. Allerdings hat jeder Bürger bei wenige Allgemeinplätze hinaus. Es sollen alle Ein- Geburt und bei einem Versicherungswechsel einen kommensarten einbezogen und die Beitragsbemes- Anspruch darauf, die Regelleistungen unabhängig sungsgrenze zunächst auf 5.100 Euro angehoben von seinem Gesundheitszustand, d.h. ohne Risiko- werden. Da die Anhebung nur als „erster Schritt“ zuschläge, versichern zu lassen. Dazu muss jede bezeichnet wird, muss vermutet werden, dass letz- Krankenversicherung im Umfang der Mindestver- tendlich ganz auf die Beitragsbemessungsgrenze sicherungspflicht einen Pauschaltarif mit Kontra- verzichtet werden soll. hierungszwang anbieten, der keine Risikozuschläge zulässt und auch nicht nach Alter, Geschlecht oder Auf der Ausgabenseite soll insbesondere dem Fach- sonstigen Kriterien differenziert. kräftemangel in dünn besiedelten Regionen begegnet werden. Hierzu schlägt Die Linke.PDS für die Leis- Um das System zukunftsfest zu machen, müssen die tungserbringer finanzielle Anreize zur Ansiedlung in sol- Krankenversicherungen Altersrückstellungen bilden, chen Gebieten vor. Zudem unterstützt die Partei Model- die übertragbar ausgestaltet sind, damit ein ungehin- le wie Ärztehäuser und Gemeindeschwesterstationen. 3.3 Wertung aber keineswegs nachhaltige Kostendämpfungs- maßnahmen erkauft. Die ersten zaghaften Schritte Die gesundheitspolitische Debatte wird seit dem hin zu einer stärkeren Wettbewerbsorientierung Abschlussbericht der Rürup-Kommission von der konnten hingegen aufgrund unzureichender Um- Diskussion um die Reform der Einnahmenseite do- setzung noch keine Wirkung entfalten. Es besteht miniert. Die politischen Parteien bedienen sich über- zusätzlicher, dringender Reformbedarf. wiegend der dort vorgestellten konträren Konzepte, denen unter den Begriffen „Bürgerversicherung“ und Bürgerversicherungsmodelle „Gesundheitsprämie“ allgemeine Aufmerksamkeit zuteil wurde. Dies spiegelt sich auch in den Die drei vorgeschlagenen einkommensabhängigen Parteiprogrammen wider. Die Ausgabenseite indes- Bürgerversicherungsmodelle von SPD, Bündnis 90/Die sen tritt zunehmend in den Hintergrund. Es wird der Grünen und Die Linke.PDS sind lediglich eine Anschein erweckt, durch das von Rot-Grün und Scheinlösung für den Reformbedarf im Gesund- CDU/CSU gemeinsam beschlossene Gesundheits- heitswesen. Die Erweiterung des Versichertenkreises modernisierungsgesetz (GMG) seien die auf der der GKV führt zwar zu einer vorübergehenden Ver- Ausgabenseite vorhandenen Effizienzpotenziale besserung der Risikostruktur, da die Gruppe der bis- bereits vollends ausgeschöpft worden. Dies ist ein lang privat Versicherten derzeit noch über eine im Irrglaube. Vorübergehende Erfolge in Form von Kran- Durchschnitt günstigere Alters-, Gesundheits- sowie kenkassenüberschüssen und sinkenden Arznei- Einkommensstruktur verfügt. Zusammen mit der mittelausgaben wurden durch kurzfristig wirksame, Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage 13
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