Bundestagswahl 2005 - Programme auf dem Prüfstand - Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

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Nr. 93
August 2005
                        Argumente
                        zu Marktwirtschaft und Politik

               Bundestagswahl 2005 –
            Programme auf dem Prüfstand
                        Die wirtschafts- und sozialpolitischen
                             Vorstellungen der Parteien

                                              Stiftung Marktwirtschaft

                                                  ISSN: 1612 – 7072

Vorstand:
Prof. Dr. Michael Eilfort       Charlottenstraße 60   Telefon: +49 (0)30 206057-0    E-Mail: info@stiftung-marktwirtschaft.de
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen   D-10117 Berlin        Telefax: +49 (0)30 206057-57   Internet: www.stiftung-marktwirtschaft.de
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

Vorwort

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik gehört zu den zen-                  geführt, um den Leser sachbezogen zu informieren.
tralen Themenfeldern im Vorfeld der Bundes-                            Zum anderen erfolgt eine nüchterne ordnungspoliti-
tagswahl 2005. Zum einen war der kaum kaschierte                       sche Analyse und Bewertung der jeweiligen An-
Konflikt innerhalb der rot-grünen Regierungs-                          sätze, Maßnahmen und Ideen; sinnvolle Reform-
fraktionen über die zukünftige Politikausrichtung auf                  schritte können so von politischem Aktionismus un-
diesen Gebieten überhaupt erst der Anstoß für die                      terschieden werden. Eine Skizze zu den eigentlich
anstehende Neuwahl. Zum anderen sind fast alle                         notwendigen Reformen schließt die Themenbe-
Bürger von den derzeitigen Problemen wie auch von                      reiche ab.
etwaigen Reformen in diesen Politikfeldern direkt
betroffen.                                                             Die Analyse umfasst die Wahlprogramme aller der-
                                                                       zeit im Bundestag vertretenen Parteien.
Der bestehende Handlungsbedarf ist allseits offen-
kundig:       Wachstums-
schwäche,       Massenar-
beitslosigkeit, Defizite in    Themenbereiche:
den Kassen der Gebiets-                                                                                                          Seite
körperschaften und So-         1.     Wirtschaftswachstum......................................................................3
zialversicherungen, eine       2.     Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik.........................................6
alternde und schrumpfen-       3.     Gesundheitswesen und gesetzliche Krankenversicherung..........11
de Bevölkerung, ein sich       4.     Soziale Pflegeversicherung...........................................................16
verschärfender internatio-     5.      Gesetzliche Rentenversicherung..................................................18
naler Steuerwettbewerb,        6.     Reform des Steuersystems...........................................................21
aber auch die Problema-        7.     Föderalismusreform......................................................................25
tik der unvollendeten Fö-      8.     Energiepolitik.................................................................................26
deralismusreform sowie
eines ökonomisch und
zugleich        ökologisch
nachhaltigen Energiemixes sind nur einige der gro-
ßen Thermen und Herausforderungen, mit denen
sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen muss.
Sowohl die Versäumnisse der vergangenen Jahr-           Berlin, den 30. August 2005
zehnte als auch globale Veränderungen haben dazu
geführt, dass es in Deutschland häufig nicht zum
Besten steht. Der Vergleich mit anderen Ländern –
etwa beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – zeigt,
dass wir hinter unserem ökonomischen Potenzial
zurückbleiben. Das muss sich ändern, wenn wir
unser erworbenes Wohlstandsniveau halten und            Prof. Dr. Michael Eilfort, Vorstand
weiter ausbauen wollen.

Mit dem Start in eine neue Legislaturperiode muss
auch Deutschland endlich „durchstarten“. Dafür
braucht es schlüssige Konzepte und standhaften
Reformwillen. Die Stiftung Marktwirtschaft unter-
sucht, mit welchen Ansätzen die Parteien das Land
nach der Bundestagswahl 2005 nach vorne bringen
wollen. Zum einen werden die konkreten Einzelmaß-
nahmen jenseits des Wahlkampfjargons isoliert auf-                     Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstand

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Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien
                                                                    Am Horizont erscheint das Szenario einer galoppieren-
                                                                    den Staatsverschuldung mit anschließendem Staats-
1         Wirtschaftswachstum                                       bankrott, der seit der europäischen Währungsunion
                                                                    nicht mehr mit Notenpresse und Inflation abgewendet
1.1       Status quo                                                werden könnte. Die dramatische Haushaltslage ver-
                                                                    pflichtet das Land zu boomen, um nicht nur Arbeitslose
Alle Parteien sehen im Anspringen der Konjunktur und                in Lohn und Brot zu bringen, sondern auch um Steuer-
dem Erreichen eines höheren Wirtschaftswachstums                    quellen sprudeln zu lassen und den sozialen Siche-
das wichtigste Ziel ihrer Wirtschaftspolitik. „Die Wirt-            rungssystemen steigende Beiträge zu bescheren.
schaft ist unser Schicksal“ – dieses Wort Walter
Rathenaus hat insbesondere im Hinblick auf das Los                  Zwar bekennen sich alle wahlkämpfenden Parteien
von Millionen von Arbeitslosen wie auf die finanzielle              formal zur sozialen Marktwirtschaft, doch haben sich
Handlungsunfähigkeit des Staates heute noch seine                   die wirtschaftspolitischen Grundlinien in den Program-
volle Gültigkeit. So übersteigen die Staatsausgaben die             men im Zuge der so genannten Kapitalismusdebatte
Einnahmen bei weitem, mittlerweile um ca. 60 Milliarden             teilweise deutlich von marktwirtschaftlichen Prinzipien
Euro jährlich. Jeden Tag muss der Staat über 100 Millio-            entfernt. Hält man sich statt der Wahlprogramme das
nen Euro Zinsschuld begleichen.                                     Modell Ludwig Erhards vor Augen, dann bestünde die
                                                                    Herausforderung darin, Menschen und Wirtschaft wie-
                                                                    der Raum für Freiheit in Verantwortung zu lassen.

1.2       Reformansätze der Parteien                                sofern sie innovativ sind. Private Modernisierungsauf-
                                                                    wendungen sollen zu 20 % bis zu einer Höhe von maxi-
                                                                    mal 3.000 Euro von der Einkommensteuer abziehbar
SPD
                                                                    sein. Die Haushaltskonsolidierung des Bundes soll in
Kurs                                                                Zukunft „konjunkturgerecht“ fortschreiten.
In der Präambel ihres Wahlprogramms artikuliert die
SPD ihre Skepsis gegenüber der bestehenden                          Deregulierung
marktwirtschaftlichen Ordnung. Im gesamten Wahl-                    Bürokratische Lasten sollen reduziert werden, indem
manifest ist von Unternehmertum und Wettbewerb                      Unternehmensgründer alles bei einer Behörde regeln
kaum die Rede, dafür um so häufiger von einem                       können (One-stop-Prinzip).
Staat, der „stark und solidarisch“ sein soll. Das letzte
                                                                    CDU/CSU
Wort soll bei der öffentlichen Hand liegen: „Wir wol-
len den Primat der Politik“. Die „Gesetze des Mark-                 Kurs
tes“ sieht die SPD teilweise kritisch; so dürfe ihnen               Im Titel ihres Wahlprogramms nennt die CDU/CSU
z.B. nicht die Gesundheit des Menschen „ausgelie-                   zwar schon die Schlagworte Wachstum und Arbeit,
fert“ werden. An anderer Stelle setzt die SPD die                   im gesamten Programm fehlt jedoch das klare Be-
„Kräfte des Marktes“ unkommentiert mit „mehr Un-                    kenntnis zur Marktwirtschaft.
gerechtigkeit plus mehr Unsicherheit“ gleich. Ihren
wirtschaftspolitischen Kurs sieht sie als einen „Mix                Wirtschaftsförderung
aus Angebots- und Nachfragepolitik“.                                Zusätzlich zur bereits beschlossen Exzellenzinitiative
                                                                    für einzelne Hochschulen sollen 1 Mrd. Euro in For-
Wirtschaftsförderung                                                schung und Entwicklung investiert werden. Die Fi-
Die Forschungsausgaben sollen bis 2010 auf 3 % des                  nanzierung soll durch den Abbau von Subventionen
BIP angehoben werden. Von dieser Summe soll die                     erfolgen. Bereits in fünf Jahren sollen 3 % des BIP
Wirtschaft 2/3 und der Staat 1/3 tragen. 1,9 Mrd. Euro              jährlich in diese Bereiche fließen. Breitbandkabel
werden im Rahmen der „Exzellenzinitiative“ für die                  und europäische Wissenschaftsvernetzung sollen
Hochschulförderung ausgegeben. Mittelständische                     den Boden für technischen Fortschritt und zukünfti-
Unternehmen sollen Kredite unter Marktzins erhalten,                ges Wirtschaftswachstum bereiten.

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Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

Deregulierung                                                       gen für den Tourismussektor, etwa steuerliche Benach-
Der Abbau von Bürokratie soll unternehmerisches                     teiligungen von Busunternehmen, sollen verbessert und
Handeln besser möglich machen. Es werden 10 kon-                    Ladenöffnungszeiten weiter liberalisiert werden. Wachs-
krete Entbürokratisierungsmaßnahmen genannt, wie                    tumsimpulse erhofft sich die FDP auch von einer Ände-
z.B. die Freistellung kleiner Unternehmen von Buch-                 rung des Embryonenschutzgesetzes.
führungspflichten.
                                                                    Deregulierung
Bündnis 90/Die Grünen                                               Die Anzahl der von den Unternehmen geforderten Sta-
Kurs                                                                tistiken soll deutlich reduziert, zeitliche Intervalle für
In ihrem Programm betonen die Grünen, dass sie nicht                Prüfverfahren vergrößert und Schwellenwerte angeho-
an die „Allzuständigkeit des Staates“ glauben. Vielmehr             ben werden. Existenzgründerprogramme sollen entbü-
könne es Arbeit und Wohlstand nur geben, wenn der                   rokratisiert werden. Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll
Mut zur mehr Freiheit und Verantwortung aufgebracht                 flexibler gestaltet werden. Das Briefmonopol müsse um-
werde. In Deutschland solle ein gutes Klima für Unter-              gehend fallen. Es soll ein echter europäischer Dienstleis-
nehmen herrschen, besonders auch für Existenzgrün-                  tungsmarkt entstehen. Im Arbeitsrecht soll von Tarifver-
der. In ihrer Kursbestimmung bekennen sich die Grünen               trägen abgewichen werden können. Außerdem müsse
einerseits zu einem freiheitlichen und individualverant-            Bürokratie durch Gesetzesbefristungen, einen „Bürokra-
wortlichen Gesellschaftsmodell, andererseits müsse der              tiekosten-TÜV“ sowie Länderöffnungsklauseln für die
Staat für „Verteilungsgerechtigkeit“ sorgen. Die Lage der           Aussetzung bundesrechtlicher Regelungen im Tarif- und
öffentlichen Haushalte wird zwar eingangs kurz genannt,             Arbeitsrecht in Modellregionen abgebaut werden.
aber nicht im Zusammenhang mit einem teueren Sozial-
                                                                    Die Linke.PDS
staat gesehen, der im Sinne eines Gerechtigkeitskanons
an vielen Stellen noch ausgebaut werden soll.                       Kurs
                                                                    Die Linkspartei.PDS sieht im Wirtschaftswachstum die
Wirtschaftsförderung                                                Voraussetzung für neue Arbeitsplätze. Um Wachstum
Für kleine und mittlere Unternehmen sollen „geeignete               zu generieren, verfolgt die Partei einen Kurs der strik-
Finanzierungsinstrumente“ entwickelt und ausgebaut                  ten Nachfrage- und Staatsausgabenorientierung.
werden. Im Osten Deutschlands sollen Forschungsre-
gionen aufgebaut und „sanfter Tourismus“ – auch mit                 Wirtschaftsförderung
Infrastrukturprojekten – gezielt gefördert werden. Der              Im Sinne der Kaufkraftargumentation fordert Die Lin-
Klimaschutz soll Wachstumsmotor sein.                               ke.PDS einen hohen gesetzlichen Mindestlohn bei
                                                                    gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung. Außerdem soll die
Deregulierung                                                       Investitionstätigkeit des Staates an folgenden Stellen
Bürokratie soll verhindert werden, indem neue Gesetze               ausgedehnt werden: Der öffentliche Verkehr soll ausge-
ständig auf ihre Wirkung überprüft und nach Möglich-                baut und verbilligt werden, Wasser, Strom, Post, Müll-
keit zeitlich befristet werden. Kammerzwänge sollen                 entsorgung, Nahverkehr, Kultur, Gesundheitsdienste
reduziert werden.                                                   und das gesamte Bildungswesen sollen in staatlicher
                                                                    Verantwortung bleiben oder dorthin zurückgeführt wer-
FDP                                                                 den. Ein umfangreiches Zukunftsinvestitionsprogramm
Kurs                                                                soll mit Hilfe „politischer Gestaltung“ den Strukturwan-
Die FDP sieht den Wettbewerb als Kernelement der                    del zur Informations- und Wissensgesellschaft fördern.
sozialen Marktwirtschaft. Das Wahlprogramm verste-                  In Ostdeutschland soll eine staatliche Industriepolitik
he sich daher als Gesamtkonzept marktwirtschaft-                    Kristallisationskerne für Zukunftsbranchen schaffen.
licher Erneuerung; es müsse auf einen freien und fai-               Auf europäischer Ebene möchte Die Linke.PDS die
ren Wettbewerb gesetzt werden, um Wachstum und                      Verwirklichung eines Marktes für Dienstleistungen ver-
Arbeitsplätze zu schaffen.                                          hindern, um Kaufkraftverluste zu vermeiden.

Wirtschaftsförderung                                                Deregulierung
Für Forschungszwecke sollen im Jahre 2010 rund 3 %                  Die Linke.PDS will „eine neue Politik im Bund, die auf
des BIP ausgegeben werden. Es soll verstärkt auf so-                [...] politische Gestaltungskraft gegenüber den Wild-
genannte Public-Private-Partnerships im Infrastruk-                 wüchsen des Marktes setzt“. Deregulierung ist in
turbau zurückgegriffen werden. Die Rahmenbedingun-                  ihrem Programm daher nicht vorgesehen.

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Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

1.3      Wertung                                                    In das Horn der Marktskepsis stößt auch die SPD. Ihr
                                                                    Kurs, ein „Mix aus Nachfrage- und Angebotspolitik“,
Der Schlüssel zu mehr Wachstum liegt vor allem in                   weist stark in Richtung staatlich finanzierter För-
der Zunahme der Beschäftigung. Mit steigender                       derprogramme, deren Liste u.a. mit gesteigerten For-
Beschäftigung steigen die Einkommen auf gesamt-                     schungsausgaben, Kreditvergabe unter Marktzins bis
wirtschaftlicher Ebene. Dieser Hebel ist weitaus                    zur Abzugsfähigkeit von privaten Renovierungs-
effektiver als eine einseitige Steigerung der Nomi-                 arbeiten lang ist. Flexibilisierung und Deregulierung
nallöhne, die bei fehlender Entsprechung von                        wird nur vereinzelt angesprochen, vor den „Mecha-
Produktivitätssteigerungen schnell kompensiert                      nismen des Marktes“ um so häufiger gewarnt.
werden würde. In Deutschland ist die Beschäftigung
derzeit rückläufig: Die Zahl der geleisteten                        Die drei übrigen Parteien, Bündnis 90/Die Grünen,
Arbeitsstunden sank seit dem Jahr 2000 um 2,3 %;                    CDU/CSU und FDP, vertreten in ihren Programmen
300.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Im Vergleich                 zumindest formal einen gesellschaftspolitischen
dazu sind in den USA im gleichen Zeitraum 1,1                       Kurs, der zu geringerer staatlicher Aktivität und zu
Millionen neue Arbeitsplätze entstanden; die verfüg-                mehr Freiheit und Verantwortung führen soll. Alle
baren Einkommen stiegen um 3 % und haben er-                        drei Parteien räumen dem Bürokratieabbau eine
heblichen Spielraum zur Ausweitung des privaten                     große Bedeutung ein und listen zielführende
Konsums geschaffen.                                                 Maßnahmen auf. Die Forderung der Grünen nach
                                                                    Mindestlöhnen und Arbeitszeitverkürzung würde
Wachstum durch mehr Beschäftigung kann erstens                      den Arbeitsmarkt jedoch weiter versteinern, wäh-
durch eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeits-                  rend die vielen staatlichen Förderungsmaßnahmen
zeit erreicht werden. Die Lohnstückkosten sänken                    das Staatsdefizit steigen ließen. Vorhaben wie z.B.
dann bei unverändertem Lohnniveau, während der                      die Neuauflage des Antidiskrimierungsgesetzes las-
Anreiz für Neueinstellungen gleichzeitig stiege.                    sen eher mehr als weniger Bürokratie erwarten.
Zweitens sind die Sozialversicherungssysteme vom                    Vieles klingt zunächst gut, wird aber das Wachstum
Faktor Arbeit zu entkoppeln, um ihren Druck auf die                 nicht fördern. Insgesamt lässt sich feststellen, dass
Arbeitskosten zu reduzieren. Deregulierung ist eine                 viele der vorgeschlagenen Maßnahmen im Arbeits-
weitere Voraussetzung für Prosperität.                              recht im Widerspruch zum eingangs betonten Ideal
                                                                    von Eigenverantwortlichkeit und Freiheit stehen.
Am weitesten entfernt von zielführenden Reform-
ideen ist das Programm der Linkspartei.PDS. Statt                   Im Programm der CDU/CSU ist der Mut zu markt-
auf Deregulierung setzt diese Partei ganz bewusst                   wirtschaftlichen Lösungen und Deregulierung nur
auf mehr Staat, mehr Umverteilung und mehr Be-                      zwischen den Zeilen zu finden. Die CDU/CSU möch-
stimmungen. Extreme Forderungen nach mehr                           te für eine „Politik ohne Angst“ stehen, ein gesell-
Lohn, geringerer Arbeitszeit und höheren Steuern                    schafts- oder wirtschaftspolitischer Kurs ist daraus
werden in den Deckmantel der längst widerlegten                     noch nicht abzulesen. Obwohl viele der vorgeschla-
Nachfragetheorie gekleidet. So müsse v.a. die Kauf-                 genen Maßnahmen ein höheres Maß an Freiheit und
kraft der Bevölkerung und die Investitionstätigkeit                 Flexibilität bedeuten würden, bleibt die Linie – wohl
des Staates gesteigert werden, um Wachstum zu                       bewusst – eher unklar. Viele der aufgeführten Reform-
generieren. Diese Strategie des „Deficit Spending“                  maßnahmen weisen jedoch in die richtige Richtung.
gilt spätestens seit dem Scheitern der „Glo-
balsteuerung“ in den 70er Jahren als überholt. Sie                  Das klarste Plädoyer für Wettbewerb und Dere-
hat die Basis für einen gewaltigen Staatsschulden-                  gulierung stellt das FDP-Programm dar. Die wirt-
stand gelegt. Dennoch wird das antiquierte Binnen-                  schafts- und gesellschaftspolitische Kursangabe
kaufkraftargument immer wieder zum Stimmenfang                      stimmt hier mit den aufgeführten Maßnahmen, etwa
herangezogen. Dabei wird übersehen, dass Lohn-                      der verstärkten Etablierung von Public-Private-
erhöhungen stets durch Produktivitätszuwächse ge-                   Partnerships, der Unterstützung eines echten euro-
deckt sein müssen. Sie belasten ansonsten die Un-                   päischen Dienstleistungsmarktes oder der umfassen-
ternehmensgewinne und führen über Investitions-                     den Liste von Deregulierungsvorhaben, überein.
zurückhaltung zu mehr Arbeitslosigkeit. Auf gesamt-
wirtschaftlicher Ebene schrumpfen dann die Löhne
trotz nominaler Lohnerhöhungen.

                                                                                                                       5
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

                                                                    der Arbeitsmarktordnung. Sie reichen von einem
                                                                    unbefriedigenden Bildungssystem über beschäfti-
2        Arbeitsmarkt und                                           gungsfeindlich konstruierte Sozialversicherungssys-
         Beschäftigungspolitik                                      teme bis hin zu externen konjunkturellen Schocks.
                                                                    Hinzu kommt eine stetig voranschreitende Globali-
2.1      Status quo                                                 sierung und ein sich verschärfender internationaler
                                                                    Standortwettbewerb um Unternehmen, der vor allem
Die Misere auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist offen-                das Arbeitsmarktsegment für Tätigkeiten mit gerin-
kundig. 4,77 Mio. offiziell Arbeitslose im Juli 2005                geren qualifikatorischen Anforderungen unter Druck
sprechen eine eindeutige Sprache. Für die Betroffenen               setzt. Dies alles hat Auswirkungen auf Arbeitsange-
ist es dabei unerheblich, ob die Arbeitsmarktsituation              bot und Arbeitsnachfrage.
derzeit noch etwas schlechter als gegen Ende der
Regierung Kohl ist oder ob die zahlenmäßig höhere                   Hauptmanko der deutschen Arbeitsmarktordnung
Arbeitslosigkeit das Ergebnis einer vermeintlich ehr-               ist, dass sie die notwendigen Anpassungen an diese
licheren Arbeitslosenstatistik ist. Fakt bleibt, dass die           Veränderungen systematisch verhindert oder zumin-
deutsche Arbeitsmarktperformance seit Jahrzehnten                   dest erheblich erschwert. Das Arbeitsrecht sowie die
zu wünschen übrig lässt. Im Gegensatz zu anderen                    institutionellen Regelungen der Arbeitslosenver-
Industrieländern ist es uns nicht ausreichend gelun-                sicherung und der sozialen Grundsicherung unter-
gen, einmal entstandene Arbeitslosigkeit systematisch               stützen sowohl eine beschäftigungsfeindliche Lohn-
wieder abzubauen. Die Hauptleidtragenden sind zum                   politik der Tarifvertragsparteien, die sich vor allem an
einen gering Qualifizierte und zum anderen ältere                   den Arbeitsplatzbesitzern, nicht aber an den
Arbeitnehmer. Beide Gruppen weisen deutlich über-                   Arbeitslosen orientiert, als auch eine zu geringe re-
durchschnittliche Arbeitslosenquoten auf. Hinzu                     gionale, sektorale und qualifikatorische Lohnsprei-
kommt eine im internationalen Vergleich beängstigend                zung. Vor allem Menschen mit einer geringen Pro-
starke Ausprägung von Langzeitarbeitslosigkeit. Ge-                 duktivität haben kaum eine Chance auf dem Ar-
rade sie bringt für die Betroffenen häufig gravierende              beitsmarkt. Zu viel wird einheitlich durch Gesetz oder
soziale Probleme mit sich.                                          auf kollektiver Ebene geregelt. So lassen sich die
                                                                    Herausforderungen vor Ort weder in den Betrieben
Die Ursachen für diese unbefriedigende Situation                    noch in den Job-Centern oder Kommunen lösen.
sind vielfältig und haben ihren Ausgangspunkt kei-                  Wettbewerb ist Mangelware.
neswegs ausschließlich im eigentlichen Kernbereich

2.2       Reformansätze der Parteien                                dungsmaßnahmen. Ältere sollen durch Lohnkosten-
                                                                    zuschüsse gefördert werden, für junge Menschen
SPD
                                                                    unter 25 wird das Ziel einer maximal 3-monatigen
Die SPD beruft sich zunächst darauf, die wichtigsten                Arbeitslosigkeit ausgegeben. Illegale Beschäftigung
Arbeitsmarktreformen bereits durchgeführt und die                   soll massiv bekämpft werden. Eine striktere Durch-
Lohnnebenkosten gesenkt zu haben. Auch die                          setzung der Zumutbarkeitskriterien bei Transferbezie-
Arbeitnehmer hätten ihren Beitrag zur Stärkung der                  hern wird dagegen nur angedeutet.
deutschen Wirtschaft bereits erbracht – in Form mo-
derater Lohnsteigerungen und längerer Arbeitszeiten.                Ein Großteil der programmatischen Ankündigungen
Daher seien nun die Unternehmen in der Pflicht, neue                zielt auf eine Verteidigung des Status quo in der Ar-
Arbeitsplätze zu schaffen.                                          beitsmarktordnung ab. So soll die vorgesehene Ver-
                                                                    kürzung der maximalen Bezugsdauer von Arbeitslo-
Dementsprechend wird für die Politik nur ein be-                    sengeld um zwei Jahre auf 2008 verschoben werden,
grenzter Handlungsbedarf gesehen. Dieser beinhal-                   gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie werden
tet zum einen die Förderung von Forschung und                       ebenso wie eine Lockerung des Kündigungsschutzes
Entwicklung bei Hochleistungsprodukten wie auch                     abgelehnt und die Mitbestimmung als „Standortvorteil
verstärkte öffentliche Investitionen. Zum anderen                   für Deutschland“ steht nicht zur Disposition. Längere
setzt die SPD auf bereits bestehende arbeitsmarktpo-                Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich sind nach Ansicht
litische Instrumente wie Ich-AGs (Existenzgründungs-                der SPD „der falsche Weg“ und für eine Flexibilisie-
zuschüsse), Mini-Jobs sowie Fort- und Weiterbil-                    rung der Arbeitszeiten seien die Tarifparteien zustän-

6
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

dig. Im Bereich der Arbeitslosenverwaltung wird eine                diesem Zeitraum höhere ergänzende Sozialleistun-
kommunale Betreuung und Finanzierung von Lang-                      gen als im Regelfall vorgesehen sind, bleibt aller-
zeitarbeitslosen abgelehnt.                                         dings unklar. Zum anderen soll ein Kombi-Lohn-
                                                                    Modell eingeführt werden – konkrete Angaben zu
Veränderungen werden nur dann angestrebt, wenn                      seiner Ausgestaltung sucht man jedoch vergeblich.
sie mit einem höheren Umverteilungsvolumen oder                     Und schließlich wollen CDU und CSU die mit Hartz
höheren Löhnen einhergehen. Dies gilt neben der                     IV neu geschaffene Organisationsstruktur zwischen
Ost/West-Angleichung beim Arbeitslosengeld II vor                   der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen
allem für die Lohnpolitik. Löhne sollen grundsätzlich               überprüfen und allen Kommunen ein Optionsrecht
existenzsichernd sein. Um dieses Ziel zu erreichen,                 zur eigenständigen Durchführung dieser Aufgaben
soll das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle                       einräumen.
Branchen ausgeweitet werden. Sofern die Tarifver-
tragsparteien nicht willens oder in der Lage sind,                  Bündnis 90/Die Grünen
bundeseinheitliche tarifliche Mindestlöhne zu ver-
einbaren, ist vorgesehen, einen gesetzlichen Min-                   Bündnis 90/Die Grünen wollen Beschäftigungsver-
destlohn einzuführen.                                               hältnisse im unteren Einkommensbereich durch eine
                                                                    Entlastung bei den Lohnnebenkosten fördern. An-
CDU/CSU                                                             statt abrupt einzusetzen, sollen die Sozialversiche-
                                                                    rungsbeiträge in einer nicht näher definierten Gleit-
CDU und CSU wollen mit einer Reihe von Maßnah-                      zone langsam ansteigen. Dabei sollen Mitnahme-
men die Flexibilität des Arbeitsmarktes erhöhen. Be-                effekte minimiert werden – wie das geschehen soll,
triebliche Bündnisse für Arbeit sollen auf eine ge-                 wird nicht erläutert.
setzliche Grundlage gestellt werden und nicht mehr
an die Zustimmungspflicht der Tarifvertragsparteien                 Mangelnde Arbeitszeitflexibilität stellt aus Sicht von
gebunden sein. Dazu soll das Günstigkeitsprinzip                    Bündnis 90/Die Grünen vor allem ein Problem für Ar-
auf beschäftigungssichernde oder -aufbauende                        beitnehmer, weniger für Arbeitgeber dar, und soll u.a.
Maßnahmen ausgeweitet werden. Für Neuein-                           durch Instrumente wie Arbeitszeitkonten, Familien-
stellungen soll das Kündigungsschutzgesetz nur                      Teilzeit oder Job-Rotation verringert werden. Da-
noch in Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeitern gel-                 neben wird ein allgemeiner Bedarf zur Arbeitszeit-
ten; in größeren Betrieben wird er erst nach einer Be-              verkürzung gesehen, wobei anteilige Lohnkürzungen
schäftigungsdauer von zwei Jahren wirksam. Befris-                  nicht ausgeschlossen werden. Arbeitszeitverlänge-
tete Arbeitsverhältnisse von bis zu zwei Jahren sol-                rung wird dagegen abgelehnt.
len dadurch erleichtert werden, dass sie mit demsel-
ben Arbeitnehmer erneut geschlossen werden kön-                     Wie auch die SPD wollen Bündnis 90/Die Grünen
nen, sofern kein enger Zusammenhang zwischen                        das Entsendegesetz ausdehnen und streben regio-
den Arbeitsverhältnissen besteht.                                   nal und branchenspezifisch differenzierte Mindest-
                                                                    lohnregelungen oberhalb der Armutsgrenze an.
In der Arbeitslosenversicherung sollen für unwirk-                  Sofern sich dieses Ziel über Tarifverträge nicht errei-
sam gehaltene arbeitsmarktpolitische Maßnahmen                      chen lässt, soll der Gesetzgeber verbindliche Min-
abgeschafft werden, beispielsweise die Ich-AGs                      destlöhne unter Beteiligung von Gewerkschaften
(Existenzgründungszuschüsse). Darüber hinaus ist                    und Arbeitgebern vorgeben. Im Bereich der sozialen
eine Absenkung des Beitragssatzes ab Januar 2006                    Grundsicherung soll das „Fördern“ mehr Gewicht
um 2 Prozentpunkte auf 4,5 % vorgesehen. Zur Ge-                    bekommen, u.a. indem die Regelsätze des Arbeits-
genfinanzierung wird die Mehrwertsteuer von 16 %                    losengeldes II (ALG II) deutlich angehoben und ver-
auf 18 % erhöht. Schließlich will die Union die maxi-               besserte Hinzuverdienstmöglichkeiten geschaffen
male Dauer des Arbeitslosengeldes an die Dauer der                  werden. Als zumutbar sollen nur ortsüblich bezahlte
geleisteten Beitragszahlungen koppeln.                              Erwerbstätigkeiten gelten. Aktive Arbeitsmarktpolitik
                                                                    wird als alternativlos angesehen und soll stärker in
Um die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslo-                   die Verantwortung der Kommunen überführt werden
sen in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern, ist                  können. Dabei sollen auch geförderte sozialversi-
zum einen vorgesehen, dass die Entlohnung für                       cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im
ehemalige ALG II-Empfänger für die Dauer von zwei                   zweiten Arbeitsmarkt über mehrere Jahre möglich
Jahren bis zu 10 % unter Tarif liegen kann. Ob in                   sein.

                                                                                                                          7
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

FDP                                                                 beitsplätze schaffen, wo für die Privatwirtschaft
                                                                    Dienstleistungen nicht rentabel sind. Die hierzu not-
Voraussetzung für mehr Beschäftigung ist nach                       wendigen Gelder sollen aus den durch die Abschaf-
Ansicht der FDP mehr Wettbewerb – sowohl auf den                    fung von Hartz IV freiwerdenden finanziellen Mitteln,
Gütermärkten als auch auf dem Arbeitsmarkt. Min-                    der Wiedereinführung der Vermögensteuer und aus
destlöhne werden daher abgelehnt. Ähnlich wie auch                  Förderfonds von Ländern, Bund und Europäischer
von CDU/CSU gefordert, sollen betriebliche Bündnis-                 Union entstammen. Daneben sollen durch gezielte
se für Arbeit ohne Zustimmungspflicht der Tarifver-                 Lohnkostenzuschüsse gering Qualifizierte für Unter-
tragsparteien möglich sein. Der Geltungsbereich des                 nehmen attraktiver gemacht werden. Lohnkürzungen
Kündigungsschutzgesetzes soll auf Betriebe mit mehr                 und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors werden
als 50 Mitarbeitern beschränkt werden und auch dann                 hingegen abgelehnt. Vielmehr soll durch die Einfüh-
erst vier Jahre nach Beginn des Arbeitsverhältnisses                rung eines gesetzlichen Mindestlohnes von monatlich
einsetzen. Zusätzlich sollen Arbeitgeber und Arbeit-                1.400 Euro brutto eine existenzsichernde Entlohnung
nehmer für den Fall einer betriebsbedingten Kündi-                  aller Arbeitnehmer sichergestellt werden. Für Bran-
gung eine Abfindung vereinbaren können. Die betrieb-                chen, in denen die niedrigsten tariflichen Lohngruppen
liche Mitbestimmung soll zu Gunsten der Unternehmer                 oberhalb dieses Wertes liegen, strebt die Linkspartei
reformiert werden.                                                  eine Vereinfachung von Allgemeinverbindlichkeitser-
                                                                    klärungen an. Damit diese durch ausländische
In der Arbeitslosenversicherung soll die Bundesagen-                Anbieter nicht unterlaufen werden können, soll das
tur für Arbeit nach dem Willen der FDP aufgelöst und                Entsendegesetze auf alle Wirtschaftszweige erweitert
ein Großteil der Aufgaben auf kommunale Job-Center                  werden. Die Abkehr von der „Niedriglohnstrategie“
verlagert werden. Für versicherungsfremde Leistungen                führe zu steigender Kaufkraft der Bevölkerung und
– insbesondere Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt-                  somit zu einer Stärkung der Binnennachfrage.
politik sowie der Aussteuerungsbetrag – wird die bis-               Dementsprechend will die Linke.PDS auch die längere
herige Beitragsfinanzierung abgelehnt. Insgesamt                    Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I wieder einführen
strebt die FDP so eine Beitragssatzreduktion von 2                  und den Beschäftigten höhere Einkommenszuwächse
Prozentpunkten an. Darüber hinaus sollen die paritäti-              gönnen. Die Sozialabgaben besonders schlecht be-
sche Finanzierung entfallen und Wahltarife in der                   zahlter Personengruppen seien zeitweise aus Steu-
Arbeitslosenversicherung eingeführt werden.                         ermitteln zu finanzieren.

Im Bereich der sozialen Grundsicherung setzt die FDP                Durch eine Verkürzung der Arbeitszeiten will Die
auf das Bürgergeld – eine Art negative Einkommen-                   Linke.PDS „Arbeit umverteilen“, um so das Problem
steuer – in dem alle steuerfinanzierten Sozialleistungen            der Arbeitslosigkeit zu lösen. Dazu sollen u.a. Über-
zusammengefasst werden sollen. Durch eine strikte                   stunden begrenzt, die durchschnittliche regelmäßige
Durchsetzung der Zumutbarkeitsregeln und groß-                      Höchstarbeitszeit von derzeit 48 Stunden auf 40 Stun-
zügige Hinzuverdienstmöglichkeiten soll so ein funk-                den gesenkt und Gewerkschaften in ihren Bemühun-
tionierender Niedriglohnsektor mit wirksamen finan-                 gen, Arbeitszeitverkürzungen zu vereinbaren, unter-
ziellen Arbeitsanreizen entstehen. Konkrete Ausgestal-              stützt werden. Aufgrund von Produktivitätssteige-
tungsparameter werden jedoch nicht genannt. Als                     rungen seien dabei entsprechende Lohnsenkungen
erste Schritte sollen beim Arbeitslosengeld II von                  nicht notwendigerweise erforderlich; für Beschäftigte
einem monatlichen Hinzuverdienst von bis zu 600 Euro                mit geringem Einkommen müsse aber ein Lohn-
40 % anrechnungsfrei bleiben sowie die Einkommens-                  ausgleich gewährleistet werden. Um Teilzeitarbeit zu
grenze für die Minijobregelung auf 600 Euro ausgewei-               fördern, erhalten solche Beschäftigungsverhältnisse
tet werden.                                                         vollständigen Sozialversicherungsschutz. Zudem soll
                                                                    jeder das Recht haben, nach gewählter Teilzeitarbeit
Die Linke.PDS                                                       wieder in Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren.

Die Linke.PDS sieht den dirigistischen Staat als zen-               Dritter Ansatzpunkt der Linkspartei ist die „Demokra-
tralen Akteur im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.                  tisierung der Wirtschaft“. Dies soll durch stärkere
Neben einem umfangreichen „Zukunftsinvestitions-                    Mitbestimmung und Beteiligung der Beschäftigten am
programm“ soll ein durch vornehmlich öffentliche                    Produktivvermögen und durch regulierende Eingriffe in
Mittel finanzierter, gemeinnütziger Beschäftigungs-                 die internationalen Kapital- und Finanzmärkte erreicht
sektor dort reguläre sozialversicherungspflichtige Ar-              werden.

8
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

2.3      Wertung                                                    Liberalisierung des Kündigungsschutzes mittelfristig
                                                                    einen positiven Beitrag im Kampf gegen die (Lang-
Im Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, sind sich alle             zeit)arbeitslosigkeit leisten, auch wenn – bei iso-
Parteien einig. Unterschiedliche Auffassungen be-                   lierter Betrachtung – von diesem Schritt keine Wun-
stehen jedoch hinsichtlich des bestehenden Hand-                    der erwartet werden dürfen. Angesichts der prin-
lungsbedarfs sowie der einzuschlagenden arbeits-                    zipiellen Willkür von Schwellenwerten wäre aber eine
marktpolitischen Strategie.                                         betriebsgrößenunabhängige Liberalisierung, bei-
                                                                    spielsweise in Form freiwillig vereinbarter Abwei-
SPD                                                                 chungsmöglichkeiten von den gesetzlichen Re-
                                                                    gelungen durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die
Das Wahlprogramm der SPD verkennt die Ursachen                      bessere Strategie.
der Massenarbeitslosigkeit und den bestehenden
Handlungsbedarf. Wer glaubt, dass alle notwendi-                    Nur teilweise überzeugend sind die Reformabsich-
gen Reformschritte bereits durchgeführt sind und                    ten von CDU und CSU für die Arbeitslosenversiche-
nur noch etwas Zeit zum Wirken bräuchten, befindet                  rung. Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Gegenfinan-
sich auf dem Holzweg. Das Instrumentarium der                       zierung der angestrebten Beitragssatzsenkung ist
aktiven Arbeitsmarktpolitik hat sich bereits in der                 kontraproduktiv und unnötig. Eine Reduzierung des
Vergangenheit als nicht sonderlich hilfreich im                     Beitragssatzes sollte nur in dem Umfang erfolgen, in
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit erwiesen.                          dem auch Leistungen zurückgefahren werden. Das
Inzwischen ist auch klar, dass Mini-Jobs für                        ist in der Arbeitslosenversicherung leichter als in
Arbeitslose nur wenig attraktiv sind, mithin verfehlen              anderen Zweigen der Sozialversicherung möglich.
sie ihre eigentliche Zielgruppe. Stattdessen werden                 Die geplante effizienzorientierte Überprüfung ar-
Mini-Jobs vor allem von Schülern, Studenten und                     beitsmarktpolitischer Maßnahmen ist ein richtiger
Rentnern oder als Nebenerwerbsquelle genutzt.                       Schritt auf diesem Weg. Dagegen ist eine Staffelung
                                                                    der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
Die Mixtur aus Zementierung des Status quo und der                  nach Dauer der Beitragszahlungen abzulehnen. Eine
allgemeinen Einführung von Mindestlöhnen würde                      solche Differenzierung würde im Wesentlichen die
dazu führen, dass die Arbeitskosten weiter steigen                  gleichen negativen Beschäftigungswirkungen her-
und Deutschland in einer globalisierten Welt endgültig              vorrufen, die heute durch das verlängerte Arbeits-
den wirtschaftlichen Anschluss verliert. Ausländische               losengeld für Ältere entstehen, und hat in einer
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt stellt die SPD unter                Risikoversicherung nichts zu suchen.
den Generalverdacht des Sozial- und Lohndumpings.
Die Forderung nach „fairem Wettbewerb“ wird so zu                   Die Überprüfung und Optimierung der durch Hartz IV
einem kaum verhüllten Ruf nach staatlichem Protek-                  neu geschaffenen Organisationsstrukturen stellt an-
tionismus zu Gunsten der Arbeitsplatzbesitzer, der                  gesichts der deutlich gewordenen Anlaufschwierig-
sich in seinen negativen Auswirkungen vor allem ge-                 keiten eigentlich eine Selbstverständlichkeit dar. Die
gen die inländischen Arbeitslosen richtet. Verlierer wä-            von CDU und CSU angestrebte Ausweitung der Op-
ren vor allem Menschen mit geringer Produktivität, die              tionsmöglichkeit auf alle Kommunen lässt aber nur
zum dann herrschenden Mindestlohn noch geringere                    dann deutlich bessere Ergebnisse erwarten, wenn
Beschäftigungschancen als heute hätten.                             diesen auch erweiterte Entscheidungs- und Rege-
                                                                    lungskompetenzen zugesprochen werden, als es
CDU/CSU                                                             heute der Fall ist. Dies gilt beispielsweise für den
                                                                    Einsatz arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums
Vor dem Hintergrund der diagnostizierten Probleme                   oder die Höhe des ALG II. Ohne zusätzliche Frei-
erfordern die Pläne von CDU und CSU eine differen-                  räume ist weder die ausreichende Berücksichtigung
zierte Betrachtung – sie scheinen aber zumindest                    regionaler Besonderheiten möglich, noch kann der
ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Dies gilt             kommunale Wettbewerb seine Funktion als Ent-
zum einen für die erhöhte Flexibilität bei der                      deckungsverfahren für überlegene Integrationsstra-
Lohnfindung. Hier haben die Tarifvertragsparteien in                tegien in den Arbeitsmarkt ausüben. Eine Bewertung
der Vergangenheit bewiesen, daß es ihnen an                         des geplanten Kombi-Lohn-Modells fällt angesichts
beschäftigungspolitischer Verantwortung mangelt.                    der fehlenden Umsetzungspläne schwer. So wichtig
Die Stärkung der betrieblichen Bündnisse für Arbeit                 die Implementierung eines funktionierenden Niedrig-
ist deshalb zu begrüßen. Zum anderen sollte die                     lohnsektors auch ist, mit finanziellen Anreizen in Form

                                                                                                                         9
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

staatlicher Zuschüsse alleine wird sich das Problem                 Auf den ersten Blick überzeugender als bei der Uni-
bei gegebenem ALG II-Niveau nicht lösen lassen –                    on ist der Weg zur Senkung des Beitragssatzes zur
und schon gar nicht zu vertretbaren fiskalischen                    Arbeitslosenversicherung, der ohne eine Mehrwert-
Kosten. Es ist daher unerlässlich, den begonnenen                   steuererhöhung auskommt. Allerdings bleibt unge-
Weg des Förderns und Forderns konsequent weiter-                    klärt, wie der Wegfall des Aussteuerungsbetrages im
zuentwickeln. Im Vergleich zu dem von SPD und                       Bundeshaushalt kompensiert werden soll. Die übri-
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.PDS vor-                        gen Maßnahmen in der Arbeitslosenversicherung –
geschlagenen Weg, existenzsichernde Einkommen                       Auflösung der Bundesagentur, Einführung von
über Mindestlöhne zu sichern, ist ein intelligent                   Wahltarifen, Wegfall der paritätischen Finanzierung –
ausgestaltetes Kombi-Lohn-Modell aber allemal die                   tragen das Potenzial für echte Effizienzgewinne in
bessere Lösung.                                                     sich, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ent-
                                                                    scheidend wird diesbezüglich die konkrete Ausge-
Bündnis 90/Die Grünen                                               staltung der angestrebten Reformen sein.

Die Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen zum Be-                    Die aus konzeptioneller Sicht attraktive Neuordnung
reich Arbeitsmarkt und Beschäftigung können unter                   der sozialen Grundsicherung durch ein Bürgergeld
ökonomischen Kriterien nicht überzeugen und sind in                 muss zumindest mit einem großen fiskalischen Frage-
zentralen Bereichen durch innere Widersprüche cha-                  zeichen versehen werden. Die Gefahren für die öffent-
rakterisiert. So passt die Forderung nach Mindest-                  lichen Haushalte zeigen sich bereits bei den beiden als
löhnen, auch wenn diese regional und branchenspezi-                 Vorabmaßnahmen intendierten Veränderungen – die
fisch differenziert sind, schwer zu der Erkenntnis, dass            großzügigere Hinzuverdienstregelung und die Aus-
zu hohe Lohnnebenkosten Beschäftigung verhindern                    weitung der Minijobgrenze. Großzügige und zeitlich
– gerade für gering Qualifizierte. Verbesserte Hinzu-               unbefristete Hinzuverdienstregelungen bergen zudem
verdienstmöglichkeiten und höhere Regelsätze beim                   die Gefahr in sich, dass sie den Bezug von Arbeits-
ALG II sind in dieser Kombination kontraproduktiv und               losengeld II finanziell attraktiver als die Aufnahme einer
erhöhen die Gefahr, dass der Transferbezug finanziell               niedrig entlohnten Vollzeitarbeit machen.
attraktiver als die Aufnahme einer regulären Vollzeit-
stelle ist, von den negativen Auswirkungen auf die                  Die Linke.PDS
öffentlichen Haushalte ganz zu schweigen. Schon
heute werden deutlich mehr Mittel für ALG II-Bezieher               Das von Die Linke.PDS angestrebte Sammelsurium
aufgewendet als ursprünglich geplant.                               wachstums- und beschäftigungsfeindlicher Maß-
                                                                    nahmen ist an gesamtwirtschaftlich schädlicher Wir-
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die häufig be-                  kung kaum zu übertreffen und spiegelt einen voll-
schworenen positiven Auswirkungen einzelner Vor-                    ständigen arbeitsmarktpolitischen Realitätsverlust
haben und Maßnahmen bloßes Wunschdenken sind                        wider. Ökonomische Logik wird zum Opfer populisti-
und sowohl die damit verbundenen Kosten als auch                    scher Wunschträume. Unter Missachtung grundle-
fundamentale Anreizwirkungen außer Acht lassen.                     gender volkswirtschaftlicher Wirkungszusammen-
Realistischerweise werden sich die meisten arbeits-                 hänge werden gleichsam unbezahlbare und höchst
marktpolitischen Pläne von Bündnis 90/Die Grünen                    kontraproduktive planwirtschaftliche Instrumentarien
negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken.                             aneinandergereiht, die sich auf einen gemeinsamen
                                                                    Nenner reduzieren lassen: durch höhere Umvertei-
FDP                                                                 lung finanzierte staatliche Intervention. Mit der Wie-
                                                                    derentdeckung marxistischer Schlagworte zur
Das arbeitsmarktpolitische Programm der FDP weist                   „Demokratisierung der Wirtschaft“ mag hinsichtlich
eine ähnliche Grundrichtung wie das von CDU/CSU                     angestammter Wählerklientel ein kurzfristiger Wahl-
auf, zeigt aber in einigen Teilbereichen deutlich mehr              erfolg zu erzielen sein. Eine auch nur ansatzweise
Mut zu marktwirtschaftlichen, wettbewerbsorientier-                 Umsetzung des Maßnahmenkatalogs der Links-
ten Veränderungen. Hinsichtlich der betrieblichen                   partei.PDS hätte jedoch katastrophale Konse-
Bündnisse für Arbeit und der Liberalisierung des                    quenzen für alle Bevölkerungsschichten.
Kündigungsschutzes kann die bereits weiter oben bei
CDU/CSU grundsätzlich positiv vorgenommene Be-                      Insgesamt zeigt sich, dass vor allem die Vorschläge
wertung im Wesentlichen 1:1 auf das FDP-Programm                    von Die Linke.PDS nur als Beschäftigungsvernich-
übertragen werden.                                                  tungsprogramm charakterisiert werden können. Aber

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Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

auch in den Programmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen sind vielversprechende Lösungsansätze Man-
                                                                    3      Gesundheitswesen
gelware. Man konzentriert sich einerseits auf sozial-
staatliche Reparaturmaßnahmen und sucht anderer-                           und gesetzliche
seits sein beschäftigungspolitisches Heil beim Tarifkar-                   Krankenversicherung
tell. Dabei wird verkannt, dass großzügige Sozialleis-
tungen eine der Ursachen für überhöhte, kollektiv aus-
                                                                    3.1    Status quo
gehandelte Lohnabschlüsse sind. Zu hohe (Tarif-)Löh-
ne – die Hauptdeterminante der Arbeitskosten – wer-
den als Ursache der Arbeitslosigkeit negiert. Dass ge-              Das deutsche Gesundheitssystem bedarf einer
rade geringer qualifizierte Menschen mit einer niedri-              Grundsanierung. In der Vergangenheit haben sowohl
gen Produktivität besonders große Probleme haben,                   steigende Ausgaben als auch die Erosion der
zu den herrschenden Löhnen eine Beschäftigung zu                    Einnahmenbasis zu einem Anstieg der Beitragssätze
finden, wird übersehen oder bewusst ignoriert.                      geführt. Neben allgegenwärtigen Ineffizienzen im
                                                                    Gesundheitswesen sind vor allem die abnehmende
Der Versuch, sozialpolitische Ziele mit einer Mindest-              Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, das
lohnpolitik erreichen zu wollen, ist daher zum Schei-               geringe Wirtschaftswachstum sowie die fortschrei-
tern verurteilt. Er führt nur zu einer weiteren Erhö-               tende Alterung der Bevölkerung als Ursachen zu
hung der Arbeitslosigkeit und schädigt gleichzeitig                 identifizieren. Hinzu kommt, dass die Umverteilung
die Konsumenten. Daher sollten die entsprechenden                   in der gesetzlichen Krankenversicherung zu großen
Vorschläge möglichst schnell wieder in der Motten-                  Teilen willkürlich erfolgt und grundlegende Gerech-
kiste verschwinden. Das Gegenteil ist notwendig: Die                tigkeitskriterien verletzt.
Lohnspreizung muss größer werden. Nur wenn das
Arbeitseinkommen bei einer Vollzeittätigkeit das                    Angesichts der negativen Beschäftigungswirkungen
sozioökonomische Existenzminimum nicht decken                       steigender Lohnzusatzkosten können weiter steigen-
kann, hat der Staat die Verpflichtung, ergänzende                   de lohnbezogene Beitragssätze keine überzeugende
Hilfe zu leisten, damit niemand unverschuldet in Ar-                Lösungsstrategie darstellen. Ohne eine grundlegende
mut leben muss.                                                     Neuordnung der Einnahmenseite wird das Finanzie-
                                                                    rungsgebäude der gesetzlichen Krankenversicherung
Gerade SPD und Bündnis 90/Die Grünen fallen mit vie-                durch die sich weiter verschärfende Alterung der Be-
len ihrer Pläne hinter das mit den Hartz-Reformen                   völkerung fundamental erschüttert werden. Gleichzei-
Erreichte zurück. Anders dagegen die arbeitsmarktpo-                tig steigen die Leistungsausgaben. Insofern dieser
litischen Programme von CDU/CSU und FDP. Auch                       Ausgabenanstieg aus nutzenbringendem technologi-
wenn sie nicht in allen Punkten überzeugen können –                 schen Fortschritt resultiert, den Präferenzen der
das betrifft vor allem CDU/CSU – und viele entschei-                Bürger entspricht und zu einer Verbesserung der me-
dende Details noch im Dunkeln liegen – das betrifft vor             dizinischen Versorgung beiträgt, sollte er durch die
allem die FDP –, schlagen beide Parteien zumindest                  Form des Krankenversicherungssystems nicht verhin-
keine beschäftigungsfeindliche Grundrichtung ein.                   dert werden. In Deutschland führen jedoch Ineffi-
                                                                    zienzen in Form von Über-, Unter- und Fehlversorgung
                                                                    dazu, dass das drittteuerste Gesundheitssystem der
                                                                    Welt im internationalen Vergleich nur eine durch-
                                                                    schnittliche Qualität der Gesundheitsversorgung ge-
                                                                    neriert. Ein überzeugendes Kosten-Leistungs-Verhält-
                                                                    nis sieht anders aus.

                                                                                                                     11
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

3.2       Die Pläne der Parteien                                    die hierdurch entstehenden Kosten sollen aus Steuer-
                                                                    mitteln gedeckt werden. Ebenfalls über Steuern wird
SPD                                                                 der aus der Krankenversicherung ausgegliederte
                                                                    Solidarausgleich finanziert, der bei Versicherten mit
Auf der Einnahmenseite strebt die SPD eine einkom-                  niedrigem Einkommen automatisch greifen soll.
mensabhängige Bürgerversicherung an. Der Pflicht-
versichertenkreis wird dabei auf die gesamte Wohnbe-                Die Versicherungspflichtgrenze, d.h. die Trennung zwi-
völkerung erweitert, d.h. die private Krankenver-                   schen gesetzlicher und privater Krankenversicherung,
sicherung (PKV) wird in die gesetzliche Krankenversi-               bleibt bestehen. Der Wettbewerb zwischen den
cherung (GKV) eingebunden und die Unterteilung in                   Krankenversicherungen soll gestärkt werden – in der
versicherungspflichtige Personen und freiwillig Ver-                GKV, indem die Kassen unterschiedliche Tarife anbie-
sicherte entfällt. Als Beitragsbemessungsgrundlage                  ten, in der PKV, indem die Übertragbarkeit der Alters-
dienen nicht mehr allein Lohn und Gehalt, sondern das               rückstellungen eingeführt wird.
gesamte Einkommen der Versicherten mit Ausnahme
von Mieten und Pachten. Hierdurch soll jeder Bürger                 Auf der Ausgabenseite soll der Wettbewerb zwi-
gemäß seiner individuellen Leistungsfähigkeit zur                   schen den medizinischen Leistungserbringern inten-
Finanzierung der GKV herangezogen werden. Es ist                    siviert werden – konkrete Angaben, wie dieses Ziel
vorgesehen, Erträge aus „Durchschnittsersparnissen“                 zu erreichen ist, fehlen jedoch.
durch Freibeträge auszunehmen.
                                                                    Bündnis 90/Die Grünen
Private Krankenversicherungsunternehmen dürfen
sich theoretisch weiterhin an der Gesundheitsversor-                Auch Bündnis 90/Die Grünen verfolgen ähnlich wie die
gung beteiligen, sind jedoch vollständig an die engen               SPD die Einführung einer einkommensabhängigen
Rahmenbedingungen der GKV gebunden, insbeson-                       Bürgerversicherung, nehmen jedoch keine Einkom-
dere was die einkommensbezogene Beitragsermitt-                     menskategorie aus. Dabei legen sie besonderes Au-
lung betrifft. Die internen Organisationsstrukturen der             genmerk auf die Ausgestaltung der Familienversi-
GKV bleiben erhalten. Dies betrifft insbesondere den                cherung. So sind nach diesem Modell Ehegatten bzw.
Leistungskatalog, den Kontrahierungszwang für die                   Lebenspartner, die Kinder erziehen oder Pflegeleistun-
Versicherungen, die Beitragsbemessungsgrenze und                    gen erbringen, beitragsfrei mitversichert. Ansonsten
die beitragsfreie Familienversicherung.                             soll für die Festsetzung der Beitragshöhe von
                                                                    Ehepaaren und eingetragenen Partnerschaften ein
Hinsichtlich der Ausgabenseite sieht die SPD keine                  Splitting des Einkommens durchgeführt werden. Die
Reformschritte vor. Die Zukunftsfähigkeit der GKV-                  Beitragsbemessungsgrenze soll maßvoll angehoben
Kostenentwicklung sei durch das Gesundheitsmoder-                   werden. Für die über Lohn und Gehalt hinausgehen-
nisierungsgesetz (GMG) bereits ausreichend gesichert                den zusätzlichen Einkommensarten sind Freigrenzen
worden.                                                             vorgesehen. Die Aussage, dass in der Bürgerversiche-
                                                                    rung Unisex-Tarife angeboten werden sollen, ist an-
CDU/CSU                                                             gesichts einkommensbezogener Beiträge inhaltsleer.

CDU/CSU will die lohnabhängigen Beiträge durch ein                  Mit dem Ziel, ineffizienten Strukturen im Gesundheits-
Hybridmodell – genannt „solidarische Gesund-                        wesen entgegenzuwirken, sollen auf der Ausga-
heitsprämie“ – ersetzen. Diese setzt sich zusammen                  benseite innovative Versorgungsformen, insbesondere
aus einer pauschalen persönlichen Gesundheitsprä-                   die integrierte Versorgung, d.h. die Verzahnung unter-
mie und einer lohnbezogenen Arbeitgeberprämie mit                   schiedlicher Leistungsbereiche, und die hausarztzen-
dauerhaft festgeschriebenem Beitragssatz. Über eine                 trierte Versorgung weiter ausgebaut werden. Zu-
zwischengeschaltete Clearingstelle erhalten die                     zahlungen für Bezieher von Sozialgeld und Alters-
Krankenkassen für jeden erwachsenen Versicherten                    grundsicherung werden abgeschafft und die Er-
einen kostendeckenden Betrag. Unterschiedliche                      stattung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in
Effizienz und Kostenstrukturen der Kassen führen zu                 Ausnahmefällen wieder ermöglicht. Lokalem Fach-
unterschiedlichen persönlichen Gesundheitsprämien                   kräftemangel soll entgegengewirkt werden, wobei
zwischen den Kassen. Für Rentenempfänger über-                      jedoch keine Angaben über die einzusetzenden
nehmen die Rentenversicherungsträger den Arbeitge-                  Steuerungsinstrumente gemacht werden. Komple-
beranteil. Kinder bleiben beitragsfrei mitversichert und            mentärmedizinische Therapieformen wie z.B. Homöo-

12
Bundestagswahl 2005 – Programme auf dem Prüfstand
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Parteien

pathie und Anthroposophie können nach entspre-                      derter Wechsel der Versicherungen möglich ist. Der
chender Qualitätsprüfung in den Leistungskatalog                    soziale Ausgleich wird aus der Krankenversicherung
aufgenommen werden. Prävention und Gesundheits-                     ausgegliedert und in das allgemeine Steuer-Transfer-
förderung sollen zu einer eigenständigen Säule des                  System überführt. Die Prämien für Kinder werden
Gesundheitswesens ausgebaut werden.                                 über Steuern finanziert.

FDP                                                                 Abgesehen von einem allgemeinen Bekenntnis zu
                                                                    Wettbewerb, Wahlfreiheit und einer privatrechtlichen
Die FDP schlägt einen Systemwechsel hin zu einem                    Organisation der gesetzlichen Krankenkassen werden
„privaten Krankenversicherungsschutz mit sozialer                   zur Ausgabenseite und den medizinischen Leistungs-
Absicherung für alle“ vor. Danach muss jeder Bürger                 erbringern keine konkreten Aussagen gemacht.
einen gesetzlich vorgeschriebenen Regelleistungs-
katalog bei einem Versicherer seiner Wahl absichern.                Die Linke.PDS
Oberhalb dieser Mindestabsicherung besteht Wahl-
freiheit über Umfang und Ausgestaltung des Kran-                    Die Linke.PDS ist ein weiterer Vertreter der einkom-
kenversicherungsschutzes. Die Vertragsgestaltung                    mensabhängigen Bürgerversicherung. Die Aussagen
ist durch Tariffreiheit und flexible Vertragsstrukturen             zur Ausgestaltung kommen jedoch kaum über einige
gekennzeichnet. Allerdings hat jeder Bürger bei                     wenige Allgemeinplätze hinaus. Es sollen alle Ein-
Geburt und bei einem Versicherungswechsel einen                     kommensarten einbezogen und die Beitragsbemes-
Anspruch darauf, die Regelleistungen unabhängig                     sungsgrenze zunächst auf 5.100 Euro angehoben
von seinem Gesundheitszustand, d.h. ohne Risiko-                    werden. Da die Anhebung nur als „erster Schritt“
zuschläge, versichern zu lassen. Dazu muss jede                     bezeichnet wird, muss vermutet werden, dass letz-
Krankenversicherung im Umfang der Mindestver-                       tendlich ganz auf die Beitragsbemessungsgrenze
sicherungspflicht einen Pauschaltarif mit Kontra-                   verzichtet werden soll.
hierungszwang anbieten, der keine Risikozuschläge
zulässt und auch nicht nach Alter, Geschlecht oder                  Auf der Ausgabenseite soll insbesondere dem Fach-
sonstigen Kriterien differenziert.                                  kräftemangel in dünn besiedelten Regionen begegnet
                                                                    werden. Hierzu schlägt Die Linke.PDS für die Leis-
Um das System zukunftsfest zu machen, müssen die                    tungserbringer finanzielle Anreize zur Ansiedlung in sol-
Krankenversicherungen Altersrückstellungen bilden,                  chen Gebieten vor. Zudem unterstützt die Partei Model-
die übertragbar ausgestaltet sind, damit ein ungehin-               le wie Ärztehäuser und Gemeindeschwesterstationen.

3.3      Wertung                                                    aber keineswegs nachhaltige Kostendämpfungs-
                                                                    maßnahmen erkauft. Die ersten zaghaften Schritte
Die gesundheitspolitische Debatte wird seit dem                     hin zu einer stärkeren Wettbewerbsorientierung
Abschlussbericht der Rürup-Kommission von der                       konnten hingegen aufgrund unzureichender Um-
Diskussion um die Reform der Einnahmenseite do-                     setzung noch keine Wirkung entfalten. Es besteht
miniert. Die politischen Parteien bedienen sich über-               zusätzlicher, dringender Reformbedarf.
wiegend der dort vorgestellten konträren Konzepte,
denen unter den Begriffen „Bürgerversicherung“ und                  Bürgerversicherungsmodelle
„Gesundheitsprämie“ allgemeine Aufmerksamkeit
zuteil wurde. Dies spiegelt sich auch in den                        Die drei vorgeschlagenen einkommensabhängigen
Parteiprogrammen wider. Die Ausgabenseite indes-                    Bürgerversicherungsmodelle von SPD, Bündnis 90/Die
sen tritt zunehmend in den Hintergrund. Es wird der                 Grünen und Die Linke.PDS sind lediglich eine
Anschein erweckt, durch das von Rot-Grün und                        Scheinlösung für den Reformbedarf im Gesund-
CDU/CSU gemeinsam beschlossene Gesundheits-                         heitswesen. Die Erweiterung des Versichertenkreises
modernisierungsgesetz (GMG) seien die auf der                       der GKV führt zwar zu einer vorübergehenden Ver-
Ausgabenseite vorhandenen Effizienzpotenziale                       besserung der Risikostruktur, da die Gruppe der bis-
bereits vollends ausgeschöpft worden. Dies ist ein                  lang privat Versicherten derzeit noch über eine im
Irrglaube. Vorübergehende Erfolge in Form von Kran-                 Durchschnitt günstigere Alters-, Gesundheits- sowie
kenkassenüberschüssen und sinkenden Arznei-                         Einkommensstruktur verfügt. Zusammen mit der
mittelausgaben wurden durch kurzfristig wirksame,                   Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage

                                                                                                                           13
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