Vom Umgang mit dem Anderen. Adolph Freiherr von Knigges Schrift "Über den Umgang mit Menschen" (1788) als Beitrag zu einer aktuellen Diskussion

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Журнал интегративных исследований культуры, 2022, т. 4, № 1
                                                      Journal of Integrative Cultural Studies, 2022, vol. 4, no. 1
                                                                                            www.iik-journal.ru

                                                                                Герменевтика культуры

УДК 82.091 				https://www.doi.org/10.33910/2687-1262-2022-4-1-15-24

                 Vom Umgang mit dem Anderen.
    Adolph Freiherr von Knigges Schrift “Über den Umgang mit
    Menschen” (1788) als Beitrag zu einer aktuellen Diskussion
                                                          H. Rudloff1
                     1
                         Unabhängiger Forscher Dannergasse 9, 79227 Schallstadt, Deutschland
                                              Zusammenfassung. Der Essay stellt die Schrift des Aufklärers Adolph Freiherr
                                              von Knigge Über den Umgang mit Menschen (1788) in einen Bezug zur
Für das Zitieren:                             aktuellen Diskussion über den Umgang mit dem Anderen. Knigges Werk
Rudloff, H.                                   propagiert, althergebrachten populären Vorurteilen gegenüber anderen
(2022) Vom Umgang mit dem                     Menschen durch rationale Argumentation zu begegnen. Dabei liegt das
Anderen. Adolph Freiherr von                  Selbstverständnis zugrunde, erst eine Freundschaft des Subjekts zu sich selbst
Knigges Schrift “Über den Umgang              könne Umgangsformen ermöglichen, den Anderen zu respektieren. Das
mit Menschen” (1788) als Beitrag zu           Thema wird in drei Schritten problematisiert: Teil 1 stellt die aktuell zu
einer aktuellen Diskussion. Journal           Benimmregeln verkommene Knigge-Rezeption dem wirklichen Knigge
of Integrative Cultural Studies,
Bd. 4, Nr. 1, S. 15–24.
                                              gegenüber. Teil 2 rekonstruiert Knigges Kernthese, die Wertschätzung des
https://www.doi.org/10.33910/2687-            Anderen erfolge durch eine eigene Wertschätzung.
1262-2022-4-1-15-24                           Teil 3 untersucht Knigges Aufforderung zur „Abrechnung mit Dir selbst“. Der
Erhalten am 18. Mai 2021;
                                              Andere solle im Lichte einer eigenen Gewissensprüfung erscheinen. Eingebettet
von Experten begutachtet am 1.                in die Fragestellungen sind Hinweise auf zeitgenössische Aufklärer (Kant,
September 2021; akzeptiert am 1.              Hegel). Diese Exkurse beschränken sich notwendigerweise auf einen
September 2021.                               Verweischarakter, um den Rahmen der Abhandlung nicht zu sprengen.
Finanzierung:                                 Gleiches gilt für die am Ende vorgenommenen Vergleiche mit literarischen
Für die Studie wurden keine                   Werken. Unabhängig von Knigges Schrift findet man in der Weltliteratur
externen Mittel bereitgestellt.               (Fjodor Dostojevski, Thomas Mann, F. Scott Fitzgerald) Ratschläge zur
Copyright: © H. Rudloff (2022).               Beurteilung des Anderen, die an Knigges Forderung zu Selbstabrechnung
Veröffentlicht von der Staatlichen            anknüpfen.
Pädagogischen Herzen Universität,
Russland. Offener Zugang unter                Schlüsselwörter: Adolph Knigge, Zeitalter der Aufklärung, Über den Umgang
CC BY-NC License 4.0.                         mit Menschen, Andersheit, Selbstreflexion, Literatur

     From dealing with the other. Adolph Freiherr von Knigges’s
     “Über den Umgang mit Menschen” (1788) as a contribution
                      to a current discussion
                                                          H. Rudloff1
                                        1
                                            9 Dannergasse, Schallstadt 79227, Germany

                                              Abstract. This essay relates “Über den Umgang mit Menschen” (1788)
For citation:                                 (“On Human Relations”)—a publication of a representative of the Age of
Rudloff, H.                                   Enlightenment, Adolph Freiherr von Knigge—to the current discussion on
(2022) From dealing with the other.           how to handle “otherness.” Knigge’s work aspires to react to traditional popular
Adolph Freiherr von Knigges’s                 prejudices towards other human beings by rational argument. His ideas are
“Über den Umgang mit Menschen”                based on his assumption that only through a friendly attitude towards oneself
(1788) as a contribution to a current         may people develop manners of behaviour that ultimately contribute to
discussion. Journal of Integrative            understanding others. The topic is addressed following three steps. Part 1
Cultural Studies, vol. 4, no. 1,
                                              challenges Knigge’s common reception that tends to reduce his message to
pp. 15–24.
https://www.doi.org/10.33910/2687-            simple rules of conduct of behaviour. Part 2 reconstructs Knigge’s main thesis
1262-2022-4-1-15-24                           that respect towards others results from respecting yourself. Part 3 examines

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Vom Umgang mit dem Anderen...
                                       Knigge’s request to critically question yourself. The other person you encounter
                                       is to be viewed in the light of examining your own conscience.
Received 18 May 2021;                  Embedded into my questions are references to current representatives of the
reviewed 1 September 2021;             Age of Enlightenment (Kant, Hegel). These references necessarily had to be
accepted 1 September 2021.             reduced so as to not exceed the scope of this essay. The same applies to
Funding: The study did not receive     comparing Knigge to various literary works at the end of the article. Independent
any external funding.                  of Knigge’s publication you find references to Knigge’s work in the world
Copyright: © H. Rudloff (2022).        literature (Dostojevski, Thomas Mann, F. Scott Fitzgerald) that take up Knigge’s
Published by Herzen State              demand for critical self-reflection.
Pedagogical University of Russia.
Open access under CC BY-NC             Keywords: Adolph Knigge, Age of Enlightenment, On human relations,
License 4.0.                           otherness, self-reflection, literature

    Wer heute den Namen „Knigge“ hört, verbindet             und Sittlichkeit durch vernünftige Argumentation
damit eine Übersicht über die wichtigsten Regeln             auszurotten“ (Mayer 1975, 28). Knigges universel-
guten Benehmens. Er verspricht sich davon eine               les Gleichheitspostulat weise alle Bestrebungen
Orientierung über richtiges Verhalten im Privat-             zurück, den Anderen als Sonderfall von Fremdheit
und Berufsleben. Im Gegensatz dazu ist der wirk-             oder Exotik zu verstehen.
liche „Knigge“ ein philosophisches Werk der deut-                Welchen Geltungsanspruch besitzt Knigges
schen Aufklärung. Ein Jahr vor der französischen             Programmschrift heute? Welchen Beitrag leistet
Revolution verfasste ausgerechnet ein Adeliger,              sie zu einer aktuellen Diskussion über den Umgang
Freiherr Adolph von Knigge (1751–1796), eine                 mit dem Anderen? Unter welchem Vorzeichen steht
Schrift über das soziale Zusammenleben: Über den             diese Herausforderung zu vorurteilsfreiem und
Umgang mit Menschen. Im Sinne der Aufklärung                 rationalem Miteinander? Diese Fragen sollen in
möchte der Autor ein Konzept praktischer Lebens-             drei Schritten erörtert werden. Teil 1 skizziert die
klugheit vermitteln, um den Menschen ihr Mitein-             Knigge-Rezeption. In der Überlieferung gibt es den
ander menschlicher zu machen. Im Vorwort zur                 wirklichen und den verfälschten „Knigge“. Teil 2
dritten Auflage 1790 nimmt er sowohl zum Ziel                rekonstruiert Knigges Ansatz, dass die Beziehung
seines Unterfangens als auch zur Methode Stellung.           zum Anderen durch die Beziehung des Subjekts zu
Er entwickelt seine Auffassungen über die „Regeln            sich selbst maßgeblich geregelt wird. Teil 3 präzisiert,
des Umgangs“ wie folgt:                                      wie das bürgerliche Individuum seine Beziehung
                                                             zum Anderen konkret gestalten kann, nämlich
     Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vor-
                                                             durch Selbstprüfung und Selbstabrechnung.
     schriften einer konventionellen Höflichkeit oder
     gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so
     müssen sie auf die Lehren von den Pflichten ge-              Knigge und die Überlieferung:
     gründet sein, die wir allen Arten von Menschen          Zur Geschichte eines Missverständnisses
     schuldig sind, und wiederrum von ihnen fordern             Die genannte Abhandlung Knigges Über den
     können. — Das heißt: ein System, dessen Grund-          Umgang mit Menschen teilt das Los mit einer Viel-
     pfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei         zahl anderer klassisch gewordener Bücher. Deren
     zum Grunde liegen (Knigge 1977, 10).                    Schicksal besteht darin, dass fast jedermann den
    Knigge geht es darum, dem Menschen Anwei-                Autor bzw. den Titel des Buches kennt, doch nur
sungen für das Zusammenleben zu geben, das                   wenige haben tatsächlich die entsprechenden
moralischen, ethischen und lebenspraktischen                 Schriften gelesen. Auf diese Weise werden Bücher
Begründungen folgt. Der Umgang mit dem Ande-                 und Schriftsteller in einen neuen Zusammenhang
ren sollte Prinzipien gehorchen, die einen egalitären        gerückt, der mit dem Original und seiner möglichen
Anspruch jenseits herkömmlicher Privilegien be-              Intention bestenfalls am Rande etwas zu tun hat.
gründen. Kaum etwas kennzeichnet Knigges Be-                 Genannt seien hier nur Mary Shelleys Roman
mühungen so exakt wie Hans Mayers Einsicht, hier             Frankenstein or the Modern Prometheus (1818),
liege ein Programm gleichartiger „Menschenfreund-            Bram Stokers Roman Dracula (1897) oder Edgar
lichkeit“ vor, das soziale Unterschiede mit Hilfe            Rice Burroughs Tarzan of the Apes (1914). Oder,
allgemeiner Rationalität nivellieren will. Knigges           um noch ein Beispiel zu nennen: Felix Saltens Ge-
Buch gilt als ein umfassender Beitrag über anemp-            schichte Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem
fohlene und praktizierte Menschlichkeit: „Literatur          Walde (1923). Die genannten Werke der Weltlite-
sollte dazu beitragen, die emotionalen Vorurteile            ratur sind durch ihre ästhetisierende und kommer-
gegen Menschen anderer Rasse und Religion, Sitte             zielle Vereinnahmung durch die Kulturindustrie

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H. Rudloff

weit von ihrem Ursprung abgekommen und mit              über Ratschläge hinsichtlich richtiger Umgangs-
Unterhaltungs- oder Sensationsangeboten überla-         formen im privaten und öffentlichen Leben, über
gert. Das geht soweit, dass viele Rezipienten das       das Verhalten bei Tisch, auf dem Parkett oder sonst
Monster aus Mary Shelleys romantischer Erzählung        wo. Ein Knigge für Beruf und Karriere liegt ebenso
nur aus den zahlreichen Hollywoodverfilmungen           vor wie ein Knigge für den perfekten Gastgeber oder
kennen. Missverständlich versehen sie dann den          ein Schnellkurs über Anstandsregeln bei der Part-
Namen Frankenstein mit dem des Monsters und             nerwahl. Wer auf angepasste Weise vorwärts kom-
kennen ggf. noch den Namen Boris Karloff. Aber          men will, schlägt im jeweiligen „Knigge“ nach. Ein
von den Unternehmungen des schweizer Arztes             besonderes Beispiel liefert das unter dem Titel Der
Viktor Frankenstein wissen sie wenig. An den Rand       Öko-Knigge (Grießhammer 1990) erschienene Buch
gedrängt werden die humanistischen Intentionen          von Rainer Grießhammer. Die bereits mehrere
der englischen Romantik. Vergessen wird, dass das       zehntausend Mal verkaufte Schrift gilt als Anleitung
Monster keinesfalls von Anfang an ein Unmensch          über Gärtnern ohne Gift, über Mülltrennung, Re-
ist. Im Gegensatz zu einer Vielzahl seiner Zeitge-      cycling, Umwelt- und Klimaschutz für alle und
nossen bildet er sein Gemüt an Goethes Werther          jeden. Wer umweltschonend wohnen, arbeiten oder
und John Miltons Paradise Lost. Erst die Vorurtei-      reisen möchte, oder wer über all das nur gerne
le des sozialen Umfeldes treiben diesem Anderen         mitreden möchte, der bekommt mit Hilfe von
seine Menschlichkeit aus, um ihn zum Monster            Grießhammers Öko-Knigge entsprechende Faust-
abzustempeln. Und das durch Zeichentrickfilme           regeln geliefert. Damit hat sich der Name „Knigge“
berühmt gewordene Rehkitz namens Bambi gilt             von den Spuren des Aufklärers Freiherr Adolph
entsprechend als putzige Erfindung von Walt Dis-        von Knigge verabschiedet. Vorstellungen über
ney. Schließlich mutiert Tarzan, der Dschungel-         ethisch richtiges Verhalten werden durch Rezepte
mensch von einer literarischen Figur zu einem           für das Alltagsleben ersetzt. Zurück bleibt ein Eti-
Abziehbild in Medien, Film, Fernsehen, Musical,         kettenschwindel.
Comics etc. Von der literarischen Figur Tarzans,            Vergessen wie Knigges Schrift Über den Umgang
die eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Figur        mit Menschen aus dem Jahre 1788 ist auch der
des zum Menschen gewordenen Affen Rotpeter aus          Schriftsteller Knigge. Immerhin hat er eine Vielzahl
Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie aufweist,    von Romanen verfasst. Selbst bei Fachgermanisten
bleibt nicht einmal ein schwacher Schimmer übrig.       sind die Romane Knigges weitgehend in Verges-
    Ähnlich ist es Knigges Umgang mit Menschen          senheit geraten. Eine Ausnahme liefert Gert Uedings
ergangen. Dass es sich um eine Schrift handelt, die     Schrift über Klassik und Romantik, erschienen als
anhand von begründeten Vorschlägen die sittliche        Band 4 von Hansers Sozialgeschichte der deutschen
Vollkommenheit des Bürgers zum aufgeklärten             Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Individuum anstrebt, ist aus dem Blickfeld geraten.     (Ueding 1987, 481ff.). Ueding rückt Knigges Roma-
Im öffentlichen Bewusstsein spielt das hier verfolg-    ne in einen Zusammenhang mit Klinger und Schil-
te Humanitätsideal der deutschen Klassik keine          ler, mit Rousseau und Goethe. Ausführlich behan-
Rolle mehr. In der Überlieferung hat man es um-         delt er Knigges frühen Roman Geschichte Peter
gedeutet und missverstanden. Heute wird Knigges         Clausens (1783) als Modell des utopischen Staats-
Schrift als eine Art Benimmbuch gehandelt. Man          romans in der Folge von Thomas Morus. Am
erhofft sich Ratschläge vorteilhaften Auftretens in     deutlichsten wird das Abhängigkeitsverhältnis von
unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Bereits         Utopie und Satire in Knigges erstmals 1791 anonym
umgangssprachlich versteht man unter dem Stich-         erschienen Roman Benjamin Noldmann‘s Geschich-
wort „Knigge“ ein „Buch über Umgangsformen“,            te der Aufklärung in Abyssinien oder Nachricht von
wie eine Eintragung im Duden über die deutsche          seinem und seines Herrn Vetters Aufenthalte an dem
Rechtschreibung verrät (Dudenredaktion 2006,            Hofe des großen Negus, oder Priester Johannes.
586). Mit der Redensart, etwas stehe so nicht im        Moral, wie sie Knigges gesellschaftskritischer Roman
Knigge, ist gemeint, etwas gehöre sich nicht, etwas     versteht, ist auf Gesellschaft und Politik bezogen
verstoße gegen die verabredeten Umgangsformen           und nicht etwa nur auf individuelles Verhalten.
und guten Sitten. Zu den Büchern, die mit dem           Vielfältig sind seine literarischen Themen und
Beinamen „Knigge“ versehen sind, gehören Be-            Vorbilder, die den Einfluss von Rousseau, Sterne
nimmratgeber unterschiedlichster Coleur. Bereits        und Fielding ebenso verraten, wie seine Rezeption
ein erster Blick auf aktuelle Buchpublikationen zeigt   des spanischen Schelmenromans. Sein humoristi-
unzählige Werke über Manieren oder über ver-            scher Roman Die Reise nach Braunschweig ist
meintlich gutes Benehmen. Man gebe nur einmal           stellvertretend für sein Gesamtwerk in den Roman-
das entsprechende Stichwort in eine Computer-           führer aus der DDR aufgenommen (Spiewok 1974,
suchmaschine ein. Es erscheint eine breite Palette      242f.).

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Vom Umgang mit dem Anderen...

    Eine republikanische Staatsverfassung, die Knig-           glücklichen Anlage hat geboren werden lassen,
ges Roman von Benjamin Noldmann‘s Geschichte                   erwerbe sich Studium der Menschen, eine gewisse
entfaltet und erörtert, ist auch im Umgang mit                 Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit,
Menschen zu finden. Bereits der Titel des Buches               Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt
ist programmatisch. Entsprechend formuliert Gert               über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf
Ueding in seinem Nachwort zur 1977 herausgege-                 sich selber und Heiterkeit des immer gleich
benen Neuauflage:                                              gestimmten Gemüts; [...] (Knigge 1977, 23f.).

     Der Begriff Mensch gehörte in dieser Periode der          Von Anfang an ist Knigge sich darüber klar, dass
     bürgerlichen Literatur mit seiner allgemeinen,         die von ihm gelehrten Formen der Umgangskunst
     generalisierenden, Standesunterschiede                 sich nicht nur gegen die höfische Etikette richten.
     demonstrativ einebnenden Bedeutung in eine             Er weiß, wie sehr seine bürgerlichen Zeitgenossen
     sozialrevolutionäre Disposition, der auch Begriff      Leittugenden erwerben, um egoistische Vorteile
     wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,              daraus zu schlagen. Schließlich ist der Nutzen, wie
     Glück seligkeit , Menschenrechte und                   Friedrich Schiller wenige Jahre später formuliert,
     Natürlichkeit ihre enorme Wirkung verdankten           das große Idol der Zeit. Deshalb warnt Knigge im
     (Ueding 1977, 439f.).                                  gleichen Atemzuge davor, seine Bildungsziele zu
                                                            individuellem Vorteilsdenken jenseits aufgeklärter
   Der Begriff des Menschen ist ein Kampfbegriff            Humanität zu missbrauchen:
des Bürgertums, der sich gegen feudale Privilegien
auf Prinzipien beruft, die allen Menschen Kraft                [...] doch hüte man sich, dieselbe zu verwechseln
ihres natürlichen Ursprunges zukommen. Ähnlich                 mit der schändlichen, niedrigen Gefälligkeit des
verhält es sich mit Knigges Zeitgenossen Friedrich             verworfenen Sklaven, der sich von jedem
Hölderlin, der den Begriff des Vaterlandes als einen           mißbrauchen läßt, sich jedem preisgibt; um eine
                                                               Mahlzeit zu gewinnen, dem Schurken huldigt,
bürgerlichen Kampfbegriff benutzt und als Ideal
                                                               und um eine Bedienung zu erhalten, zum Unrechte
gegen die fürstliche Territorialherrschaft propagiert,
                                                               schweigt, zum Betruge die Hände bietet und die
um die zerstückelte Nation in einem einzigen
                                                               Dummheit vergöttert! (Knigge 1977, 24).
Staatswesen ohne Fürsten zu vereinigen. Angelehnt
an die Übersetzung des französischen patrie der                 Als hätte Knigge geahnt, dass man seine Schrift
Marseillaise bedeutet „Vaterland“ die Heimat Frei-          zu Karriereratgebern zurechtstutzt wie sie heute in
er und Gleicher, die für die Verteidigung ihrer             zahlreichen Auflagen anzutreffen sind, thematisiert
Rechte ins Feld ziehen. Hölderlins Begriff des „Va-         er die immanenten Widersprüche der Emanzipation.
terlandes“ und Knigges Begriff des „Menschen“                   Selbst wo er dazu rät, „kleine gesellschaftliche
bezeichnen in ihren zeitgenössischen Bezügen eben           Ungeschicklichkeiten“ (Knigge 1977, 65) zu
nicht — wie wohl erst seit der Reichsgründung und           vermeiden, zielt er auf eine gewisse Vorbildfunktion
dem Wilhelminischen Imperialismus — die Kräf-               einer bürgerlichen Haltung ab. Dazu gehört,
te der Obrigkeit und Herrschaft, sondern deren              dass sich der Bürger an einem egalitären
ideales menschheitsverbrüderndes Gegenteil.                 Gegenseitigkeitsprinzip zu orientieren hat und sich
   Bereits auf diesem Hintergrund wird deutlich,            „überlegen muß, wie es wohl aussehen würde, wenn
dass Knigge keine Anleitungen über Umgangsfor-              jeder von den Anwesenden sich dieselbe Freiheit
men und Etikette vorlegen wollte, sondern ethisch           erlauben wollte“ (Knigge 1977, 65). Knigges
und sozial richtiges Verhalten in einer bürgerlich          kategorischer Imperativ gibt praktische Anweisungen,
geprägten Gesellschaft im Sinn hatte. Entsprechend          was „zum Beispiel“ unschicklich ist, nämlich
weist er in seiner Einleitung darauf hin: [...] so will        während der Predigt zu schlafen; in Konzerten
ich nicht etwa ein Komplimentierbuch schreiben“                zu plaudern; hinter eines andern Rücken einem
(Knigge 1977, 24). Der Umgang mit Menschen                     Freunde etwas zuzuflüstern oder ihm Winke zu
beruht auf dem, „was die Franzosen den esprit de               geben, die jener auf sich deuten kann; überhaupt
conduite nennen“ (Knigge 1977, 23), was so viel                das Ins-Ohr-Reden in Gesellschaften [...] bei dem
bedeutet, wie                                                  Tanze zugleich die Melodie mitzusingen; in
     sich nach den Temperamenten, Einsichten und               Schauspielen so hinzutreten, daß man nicht über
     Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch            uns wegsehn kann; in jede Versammlung später
     zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder                zu kommen, früher wegzugehn oder länger zu
                                                               verweilen als alle übrigen Mitglieder der
     Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder
                                                               Gesellschaft (Knigge 1977, 65f.).
     Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren,
     noch sich zu niedriger Schmeichelei herablassen.         Um den Charakter von Knigges Umgangslehre
     Der, welchen nicht die Natur schon mit dieser          und die vorgenommene Unterscheidung zwischen

18                                                        https://doi.org/10.33910/2687-1262-2022-4-1-15-24
H. Rudloff

Scheintugenden zur Erlangung individueller Vor-             Historisch geht Knigges Schrift Über den Umgang
teile und Tugenden, die sich am Gegenseitigkeits-       mit Menschen auf die Ideen der Aufklärung und
prinzip orientieren, besser herauszuarbeiten, scheint   Moralistik zurück, die die zwanghaften Umgangs-
es angebracht, Knigges Gegenseitigkeitsprinzip von      formen der höfischen Gesellschaft durch Formen
Kants kategorischen Imperativ abzugrenzen. Das          der Freiheit in Frage stellt. Wilhelm Schmid reiht
von Kant intendierte konfliktfreie Zusammenleben        in seiner Philosophie der Lebenskunst Knigge in
geht auf die transzendentale Selbstbestimmung des       eine Serie von Versuchen ein, „für die aufgrund der
vernünftigen Willens zurück, der in jedem Ver-          Auflösung traditioneller Gemeinschaften verein-
nunftwesen moralisch gesetzgebend ist. Knigges          zelten Individuen eine neue Form von Gesellschaft
intendierte Gleichberechtigung aller Menschen           zu schaffen“ (Schmid 2000, 273). Neben der Neu-
richtet sich vornehmlich an die Selbstbestimmung        begründung rechtlicher Formen — Schmid nennt
der empirischen Willenssubjekte. Ihre Selbstein-        hier Montesquieus Geist der Gesetze (1748) und
schränkung verhält sich lebensklug, wenn sie nach       Rousseaus Gesellschaftsvertrag (1762) — findet man
der Wirkung auf andere Mitglieder der Gesellschaft      Beiträge zur Grundlegung neuer Umgangsformen
fragt. Entsprechend ist es unschicklich, beim Tan-      bei allen Moralisten und Aufklärern. Knigges Lei-
ze Melodien mitzusingen oder zu spät zu kommen.         stung liege darin, einen „materialen Entwurf“ zu
Sicher liegt Knigges Begründungsleistung des            wagen, „mit einer Unzahl detailliert ausgearbeite-
Aspekts des Gegenseitigkeitsprinzips darin, gegen-      ter Formen und Inhalte des gesellschaftlichen
seitigen Respekt zu befördern. Auf dieser Basis         Umgangs, von denen er sich eine „natürliche“
empirischer Beobachtung kann aber noch keine            Neuordnung der Gesellschaft versprach und die
moralische Verpflichtung begründet werden, das          von den Individuen nur noch zu übernehmen sein
Zustandekommen einer rechtsstaatlichen Ordnung          sollten, den guten Willen aller vorausgesetzt“ (Schmid
ethisch befriedigend durchzusetzen. Was zentral         2000, 273). Knigges Formulierung von Umgangs-
geleistet wird, ist die wechselseitige Einschränkung    formen geht also von Beginn an Hand in Hand mit
der Willkür, also die Einschränkung jener „gesell-      einer Neubegründung der Gesellschaft. Wenn
schaftlichen Ungeschicklichkeiten“ (Knigge 1977,        heute unter dem Namen „Knigge“ Ratschläge, Er-
65). Dennoch wird der Maßstab des richtigen und         folgsrezepte oder sinnentleerte Anstandsmoral
falschen Verhaltens nicht ausschließlich durch die      kursieren, so macht das auf seine Art deutlich, wie
Beobachtung der Wirklichkeit begründet. Sie geht        sehr man sich zugunsten eines konfliktscheuen
über empirische und pragmatische Bestimmungen           Konformismus selbst von der Illusion eines anstän-
hinaus. Schließlich wendet sie sich ja an ein bür-      digen Lebens entfernt hat (Vgl. Göttert 1995). Eine
gerliches Publikum, das dem Bildungsideal der           Wiederentdeckung von Knigges Programmschrift
Klassik zufolge an Humanität orientiert ist.            bindet die Frage nach alltäglichen Umgangsformen
     Einzig das Bürgertum ist zur sittlichen Vervoll-   an die Abwehr von engstirnigen, egoistischen In-
kommnung eines wahrhaft vorbildlichen Menschen          teressen. Rücksichtnahme, Respekt, Anerkennung
in der Lage. Die feudale Gesellschaftsordnung kann      Anderer oder Höflichkeit sind Werte sozialen
von sich aus derlei Grundsätze nicht hervorbringen.     Zusammenlebens. In dem Sinne geht es um eine
Einen derartigen Anspruch untermauert Knigge            Zurückgewinnung von „Bürgersinn“ als „Citoyeni-
bei seinen Ausführungen im dritten Kapitel: Über        tät“ (Schmid 2000, 275). Citoyenität, wie Wilhelm
den Umgang mit Hofleuten und Ihresgleichen (Knig-       Schmid sie versteht, plädiert für eine soziale Ver-
ge 1977, 313 ff.). Bei Hofe, bei den Herrschern, den    bindlichkeit, die reflektierte Lebenskunst und in-
„Großen der Erde“, den „Fürsten, Vornehmen und          dividuelles Leben vereint:
Reichen“ (Knigge 1977, 284) und beim Umgang mit
deren dienstfleißigen Angestellten gelten weder            Das beginnt beim Umgang mit sich selbst, der
aufklärerische Umgangsformen noch moralische               die Wahrung der Selbstachtung zum Kriterium
Bestimmungen. Hier herrschen Direktive und                 erhebt und daher an einer gesellschaftlichen
Verhaltensmaßregeln nach althergebrachten Kon-             Realität interessiert ist, die die Selbstachtung
ventionen. Klipp und klar formuliert der Aufklärer:        ermöglicht und nicht etwa verletzt; [...] Für den
„Vorschriften, welche uns auf die erlaubten Sitten         Umgang mit Anderen ergibt sich daraus, deren
der feinern Sozietät verweisen, sind freilich keine        Selbstachtung im selben Maße zu respektieren,
Grundsätze der Moral, sondern nur der Überein-             wie dies umgekehrt von ihnen für das Selbst
kunft“ (Knigge 1977, 328). Sie sind einzig durch           erwartet wird; dies findet Niederschlag in den
den „Stempel der Konvention in Umlauf gebracht,            Umgangsformen, durch die der Andere nicht
[...] anerkannt von denen, die sich auf reines Gold        primär als Träger einer Funktion, sondern als
verstehen, und anerkannt von denen, die nur auf            Person behandelt wird, Primat der Person vor der
das Gepräge achten“ (Knigge 1977, 328).                    Funktion (Schmid 2000, 275).

Журнал интегративных исследований культуры, 2022, т. 4, № 1                                                    19
Vom Umgang mit dem Anderen...

        Die Beziehung zum Anderen                        wird im ersten und zweiten Kapitel des Ersten Teils
     und die „Freundschaft“ des Bürgers                  abgehandelt. Das erste Kapitel ist überschrieben:
               mit sich selbst                           Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den
                                                         Umgang mit Menschen. Das zweite Kapitel lautet:
    Wie wird nun die in der Moderne geforderte           Über den Umgang mit sich selbst. In Kapitel 1, den
Selbstachtung und die Achtung des Anderen in             allgemeinen Bemerkungen, findet man die
Knigges Schrift vorbereitet? Wie gelingt es dem als      grundsätzliche Aufforderung, den Anderen mit sich
moralisch bestimmtem frühbürgerlichen Individuum,        selber in einem Zusammenhang zu sehen:
ein Gegenseitigkeitsprinzip aufzubauen, zu dem              Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, daß
die feudalen und geldaristokratischen Schichten             andre sich für Dich interessieren sollen! Wer
nicht in der Lage sind? Wie verschafft es sich eine         unteilnehmend, ohne Sinn für Freundschaft,
kulturelle Identität im geselligen Umgang?                  Wohlwollen und Liebe, nur sich selber lebt, der
    Diese Fragen beantwortet bereits ein Blick auf          bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem
die Struktur von Knigges Schrift Vom Umgang mit             Beistande sehnt (Knigge 1977, 44).
Menschen. Der kompositorische Aufbau stellt
schrittweise theoretische und praktische Elemente           Eigeninteresse und das Interesse am Mitmenschen
bereit, das Selbstbewusstsein des erwachtes              gehören konstitutiv zusammen. Der Imperativ, sich
Bürgertums zu stärken. Die Schrift besteht aus drei      für Andere zu interessieren, schließt das
Teilen, die jeweils mit einer eigenen Einleitung         angenommene Wollen des Subjektes ein, selbst
beginnen. Die drei Kapitel des Ersten Teils dienen       beachtet zu werden. Der Imperativ mündet in die
zur allgemeinen Orientierung. Das erste Kapitel ist      Schlussfolgerung menschlicher Gegenseitigkeit.
mit Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über         Die Werte „Freundschaft, Wohlwollen und Liebe“
den Umgang mit Menschen überschrieben, das               sind nur für denjenigen zu bekommen, der selbst
zweite Kapitel lautet: Über den Umgang mit sich          über Empathie verfügt. Wie kann nun aber ein
selbst, das dritte Kapitel heißt: Über den Umgang        Mensch die Bereitschaft ausbilden, emphatisch zu
mit Leuten von verschiedenen Gemütsarten,                handeln? Offensichtlich besitzt nicht jeder Mensch
Temperamenten und Stimmungen des Geistes und             von Natur aus das Vermögen des Zartgefühls für
Herzens. Im Zweiten Teil wird der Mensch innerhalb       Andere. Um es auf den Punkt zu bringen: Wie ist
seiner familiären Bindung gesehen. Dazu gehören          ein derartiges Vermögen auszubilden bzw. zu
Kapitel, die sich über den Umgang mit Eltern,            entwickeln, das mit den Attributen Zartgefühl,
Kindern, Freunden, Hauswirten, Nachbarn, Herrn           Empathie, Einfühlsamkeit, Einfühlungsvermögen,
und Dienern, Lehrern und Schülern, Wirt und Gast,        Feingefühl, Mitgefühl, Sensibilität einzukreisen ist?
Gläubigern und Schuldnern beschäftigen. Im Dritten       Anders formuliert: Wie kann das Individuum zu
Teil erfolgen die bereits erwähnten Anmerkungen          einer education sentimental geführt werden?
Über den Umgang mit den Großen der Erde, mit                Derartige Fragen können durch eine Interpretation
Fürsten, Vornehmen und Reichen. Hier tritt der           des zweiten Kapitels: Über den Umgang mit sich
Leser in einen hierarchisch gegliederten ständischen     selbst problematisiert werden. Der Leser wird
Lebensbereich ein. Er erfährt vom Umgang mit der         aufgefordert, über den Umgang mit dem Anderen
Aristokratie und vom Umgang mit Hofleuten.               seine eigene Gesellschaft ernst zu nehmen. Das
Anzutreffen sind hier ebenso Bemerkungen über            Individuum möge es als seine vornehmste Pflicht
den Umgang mit verschiedenen Berufen und sozialen
                                                         verstehen, sein eigenes Ich wertzuschätzen und zu
Gemeinschaften, so zum Beispiel über den Umgang
                                                         kultivieren:
mit Gelehrten, Geistlichen, Künstlern, Ärzten,
Juristen, Kaufleuten, Pferdehändlern, Buchhändlern,         Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigsten
Musikmeistern, Juden, Bauern und Landleuten.                und ersten, und also der Umgang mit unsrer
Zudem erfolgen Verhaltensregeln Über den Umgang             eigenen Person gewiß weder der unnützeste noch
mit Leuten von allerlei Lebensart und Gewerbe.              uninteressanteste. Es ist daher nicht zu verzeihn,
Dazu gehören Spieler, Betrüger, Abenteurer,                 wenn man sich immer unter andern Menschen
Geisterseher und Alchimisten. Nicht zuletzt                 umhertreibt, über den Umgang mit Menschen
behandelt ein Kapitel „die Art mit Tieren umzugehn“         seine eigene Gesellschaft vernachlässigt, gleichsam
(Knigge 1977, 396 ff.). Der Aufklärer erweist sich          vor sich selber zu fliehn scheint, sein eigenes Ich
als Vorreiter für artgerechte Tierhaltung.                  nicht kultiviert und sich doch stets um fremde
    Von besonderem Interesse für den vorliegenden           Händel bekümmert. Wer täglich herumrennt,
Zusammenhang und die Frage nach dem Umgang                  wird fremd in seinem eigenen Hause; wer immer
mit dem Anderen ist es zu prüfen, wie der Blick auf         in Zerstreuung lebt, wird fremd in seinem eignen
den Anderen zustande kommt. Dieses Problem                  Herzen, [...] (Knigge 1977, 82).

20                                                     https://doi.org/10.33910/2687-1262-2022-4-1-15-24
H. Rudloff

    Herzensbildung, wie sie Knigge versteht, ist            Wenn ein wesentliches Charakteristikum der
der erste und unabdingbarste Schritt zur                Beziehung zum Anderen die Beziehung zum Selbst
Menschenbildung. Sie besteht primär aus einer           ist, dann liegt ein derartiges Verständnis im
Auseinandersetzung mit der eigenen Person, aus          Sinnhorizont christlicher Überlieferung. Selbst
einem interessegeleiteten Umgang mit den eigenen        wenn Knigge den bekannten neutestamentarischen
Anlagen und Gemütskräften. Ein Individuum, das          Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” nicht
diese Vermögen pflegt und „kultiviert“, schafft so      zitiert, so liegt er doch seinen Gedankengängen
die Voraussetzungen zu einem vollkommenen               unterschwellig zugrunde. Der Satz ist so oder in
gesellschaftlichen Umgang. Nur wer zu sich selbst       ähnlicher Form gleich an mehreren Stellen des
in einem freundschaftlichen Verhältnis steht, vermag    Neuen Testaments zu finden (Vgl. Galater 5.14,
es, Freundschaften mit den Anderen zu begründen         Jakobus 2.8, Matthäus 22.39, Matthäus 19.19, Markus
und zu erarbeiten. Wer die Freundschaft zu sich         12.31, Lukas 10.27). Es wäre missverständlich, die
selbst vernachlässigt, steht auf verlorenem Posten:     testamentarischen Gebote als Aufforderung zu
                                                        einem uneingeschränkten bzw. unkritischen
   Hüte dich also, Deinen treuesten Freund, Dich        Altruismus zu verstehen. Der Satz sagt nämlich
   selber, so zu vernachlässigen, daß dieser treue      über das Verhältnis zum Nächsten hinaus Wichtiges
   Freund Dir den Rücken kehre, wenn Du seiner          über das Verhältnis des Menschen zu sich selbst
   am nötigsten bedarfst. Ach, es kommen                aus. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu bekommen.
   Augenblicke, in denen Du Dich selbst nicht           So liegt die Interpretation nah, eine Unfähigkeit
   verlassen darfst, wenn Dich auch jedermann           zur Liebe mitzubedenken. Nur wer sich selber liebt
   verläßt; Augenblicke, in welchen der Umgang mit      und respektiert, ist in der Lage, entsprechendes
   Deinem Ich der einzige tröstliche ist —              Verhalten einem Anderen gegenüber an den Tag
   was wird aber in solchen Augenblicken aus Dir        zu legen. Wer sich jedoch selber missachtet, ist
   werden, wenn Du mit Deinem eignen Herzen             unfähig, einem Anderen Liebe entgegenzubringen.
   nicht in Frieden lebst, und auch von dieser
                                                           Über die Genese des Selbstbewusstseins und die
   Seite aller Trost, alle Hilfe Dir versagt wird?
                                                           Anerkennung anderer Personen ist im historischen
   (Knigge 1977, 82 f.).
                                                           Umkreis zu Knigges Schrift Über den Umgang
   Erst der freundschaftliche und gewissenhafte            mit Menschen ein erkenntnistheoretisches Gerüst
Umgang mit dem eigenen Ich ermöglicht es                   gelegt worden. Bei Kant gründet die Anerkennung
überhaupt, gerecht mit dem Anderen umzugehen.              von Personen in einem Gegenseitigkeitsprinzip,
Das mit sich selbst befreundete Ich verleugnet sich        das allen Menschen gleichermaßen zukommt.
nicht. Ebensowenig lügt oder schmeichelt es sich           Die dritte Formulierung des kategorischen
etwas in die eigene Tasche:                                Imperativs nimmt die Anerkennung des Anderen
                                                           in dieser Bedeutung mit auf:
   Willst Du aber im Umgange mit Dir Trost, Glück          Handle so, daß du die Menschheit sowohl in
   und Ruhe finden, so mußt Du ebenso vorsichtig,          deiner Person, als in der Person eines jeden andern
   redlich, fein und gerecht mit Dir selber umgehn         jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als
   als mit andern, also daß Du Dich weder durch            Mittel brauchst (Kant 1968, 429).
   Mißhandlung erbitterst und niederdrückest, noch
   durch Vernachlässigung zurücksetzest, noch               Wenn Kant formuliert, dass die Menschen selbst
   durch Schmeichelei verderbest (Knigge 1977, 83).     „Zwecke an sich“ sind, so sind sie selbst als
                                                        Vernunftwesen nicht nur Objekte, sondern zugleich
   Das Glück eines sozialen Miteinander basiert         die Subjekte moralischer Gesetzgebung.
auf der kooperativen Beziehung des Ich zu sich              Georg Wilhelm Friedrich Hegels Schrift
selbst. Zur Sorge für Andere ist es erst in der Lage,   Phänomenologie des Geistes (1805) thematisiert in
wenn es die Selbstachtung ernst nimmt. Gleichsam        dem schon legendär gewordenen Kapitel über
zusammenfassend bringt Knigge den Umgang mit            Herrschaft/Knechtschaft die Unselbstständigkeit
dem Anderen und den Umgang mit dem eigenen              und Selbstständigkeit des Bewusstseins. Hegel
Ich auf den Begriff: “Respektiere Dich selbst, wenn     behandelt hier diejenige Stufe des Entwicklungsprozess
Du willst, daß andre Dich respektieren sollen. [...]    des Geistes, durch die ein Individuum zur
Mißkenne Deinen eigenen Wert nicht” (Knigge             Selbstständigkeit gelangt. Es kommt erst zum
1977, 84).                                              Bewusstsein seiner selbst, indem es von einem
   Dieser Imperativ, den eigenen Wert zu                Anderen anerkannt wird und dieses selbst anerkennt.
respektieren, sein Licht nicht unter den Scheffel zu    In einer vermittelnden Bewegung der Anerkennung
stellen, ist die notwendige Voraussetzung einer         von Personen erkennen sich die Individuen
Achtung des Anderen.                                    gegenseitig. Nach Hegel begründet keine einsame

Журнал интегративных исследований культуры, 2022, т. 4, № 1                                                      21
Vom Umgang mit dem Anderen...

Reflektion auf sich selbst, sondern die wechselseitige        Zur Selbstorganisation des bürgerlichen Subjekts
reflexive Beziehung zu sich als auch zu den Anderen           gehört der reflektierte Umgang mit seinem „innere[n]
die Identität des Ich. Bereits im ersten Satz des oben        Bewusstsein“ (Knigge 1977, 86) und seinen
genannten Kapitels der Phänomenologie notiert                 Widersprüchen. Interessanterweise warnt Knigge
Hegel:                                                        eindringlich davor, bei Gewissensentscheidungen
                                                              einmal festgelegten Regeln bedingungslos zu folgen.
     Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem,
                                                              Nichts scheint ihm eintöniger, als Fixpunkte
     und dadurch, daß es für ein Anderes an und für
                                                              vermeintlich Identischem zu bewahren:
     sich ist, d.h. es ist nur als ein Anerkanntes (Hegel
     1970, 113).                                                 Man glaubt es gar nicht, welch ein eintöniges
                                                                 Wesen man wird, wenn man sich immer in dem
   Ein getreuer Schüler der hegelschen Dialektik
                                                                 Zirkel seiner eigenen Lieblingsbegriffe herumdreht,
formuliert das Verhältnis zwischen Eigenem und
                                                                 und wie man dann alles wegwirft, was nicht unser
Anderem in seinem 1867 erschienen Hauptwerk
                                                                 Siegel an der Stirne trägt (Knigge 1977, 86).
in analoger Weise. Die Kritik der politischen
Ökonomie von Karl Marx verbindet das menschliche                  Um der Zirkulation um jene „eigenen
Gegenseitigkeitsprinzip mit dem einfachen                     Lieblingsbegriffe“ zu entkommen, wird empfohlen,
Warentausch:                                                  Anregungen aus Lektüre und Lebenspraxis in die
                                                              Selbstberatung aufzunehmen: „Lerne Dich selbst
     In gewisser Art geht‘s dem Menschen wie der
                                                              nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus
     Ware. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt
                                                              Büchern und Menschen neue Ideen“ (Knigge 1977,
     kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin
                                                              86). M.a.W., der Aufklärer insistiert darauf, die
     ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem
                                                              Selbstverständigung immer wieder neu zu
     andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf
                                                              strukturieren und auf reale Situationen oder fiktive
     den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht
                                                              Handlungen zu beziehen.
     sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch.
                                                                  Es ist nicht weit hergeholt, Knigges Einspruch
     Damit gilt ihm aber auch der Paul mit Haut und
                                                              gegen die „eigenen Lieblingsbegriffe“ als einen
     Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als
                                                              frühen Beitrag zur Diskussion über private und
     Erscheinungsform des Genus Mensch (Marx 1975,
                                                              nicht rationalitätsfähige Wertentscheidungen
     67; eigene Hervorhebung).
                                                              anzusehen. Hegel wird in der Vorrede zur
                                                              Phänomenologie des Geistes eine Privatisierung des
        Die Beziehung zum Anderen                             Gewissens und eine selbstgenügsame Behauptung
     und die „Abrechnung mit Dir selbst“                      des Ich-Willens, die den moralischen Dialog mit
                                                              Anderen abbricht, problematisieren. Dort kritisiert
   Knigges Frage, wie das Ich mit dem Anderen so              er einen vermeintlich gesunden Menschenverstand,
„redlich, fein und gerecht“ (Knigge 1977, 83)                 der sich naiv auf seine Erfahrungen und auf sein
umzugehen lernt, führt ihn zu einer einsamen                  inneres Gefühl beruft und meint, dagegen könne
Reflektion, zu einer Gewissensprüfung. Die                    es keine Widersprüche geben. Indem der gemeine
Ausbildung eines sozialen und politischen                     Menschenverstand
bürgerlichen Individuums erfolgt auf dem Wege                    sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft,
der inneren Gerichtsbarkeit über das eigene Tun                  ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig;
und die eigene Moralität:                                        er muss erklären, daß er dem weiter nichts zu
     Halte hierüber oft in einsamen Stunden Abrechnung           sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und
     mit Dir selber und frage Dich als ein                       fühle; — mit anderen Worten, er tritt die Wurzel
     strenger Richter, wie Du alle diese Winke zu                der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser
     höherer Vollkommenheit genützt habest                       ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen,
     (Knigge 1977, 87).                                          und ihre Existenz [ist] nur in der zustande
                                                                 gebrachten Gemeinsamkeit der Bewusstseine.
    In den letzten drei Abschnitten des zweiten
                                                                 Das Widermenschliche [...] besteht darin, im
Kapitels präzisiert Knigge, wie es dem Menschen
                                                                 Gefühle zusammen stehen zu bleiben und nur
möglich wäre, eine Freundschaft mit sich selbst als
                                                                 durch dieses sich mitteilen zu können (Hegel
auch eine Übereinkunft mit Anderen nicht nur zu
                                                                 1970, 50).
stiften, sondern aufrecht zu erhalten. Hierbei
spielen Begriffe wie „Gewissen“ und „Abrechnung“                 Wenn die Natur der Humanität auf Übereinkunft
(Knigge 1977, 86) eine entscheidende Rolle. Sie sind          mit Anderen dringt, so wird die praktische
verbunden mit der „Pflicht, ebenso strenge gegen              Urteilsfähigkeit (Gewissensentscheidungen) an eine
dich als andere zu sein“ (Knigge 1977, 87).                   Argumentationsreflektion verwiesen. Bei Knigge

22                                                          https://doi.org/10.33910/2687-1262-2022-4-1-15-24
H. Rudloff

erfolgt eine derartige Prüfung durch die Loslösung             over in my mind ever since. “Whenever you feel
von den sog. „Lieblingsbegriffen“ des eigenen                  like criticizing anyone,” he told me, “just remember
Urteilens, hin zum Aufgeschlossensein für „neue                that all the people in this world haven’t had the
Ideen“ aus der Fiktion („Bücher“) und der Realität             advantages that you’ve had” (Fitzgerald 1995, 5).
(„Menschen“).                                                  Im Rahmen der von Knigge eingeforderten
    Zum Appell, der Mensch möge sich selbst ein             Selbstabrechnung geht es unter anderem auch um
„angenehmer und unterhaltender Gesellschafter“              die „nachteilige Abrechnung“. Der Leser möge sich
(Knigge 1977, 86) und sein „eigener treuester und           Rechenschaft über seine „schädlich hingebrachte[n]
aufrichtigster Freund“ (Knigge 1977, 87) sein, gehört       Stunden“ (Knigge 1977, 86) abliefern. Abschließend
wiederholt die Zurückweisung der Selbstgerechtigkeit        sollen die produktiven Widersprüche jener unan-
und die Bereitschaft zur kritischen Selbstbeurteilung.      genehmen Abrechnung anhand von Dichtungen
Dabei geht der Autor von einer menschlich-                  des 19. und 20. Jahrhunderts erweitert dargestellt
allzumenschlichen Beobachtung aus:                          werden. Ein Musterbeispiel jener „nachteilige[n]
   Gewöhnlich erlaubt man sich alles, verzeiht sich         Abrechnung“ (Knigge) illustriert die 1864 erschie-
   alles und andern nichts; gibt bei eigenen Fehltritten,   nene Schrift Dostojewskis Zapinski iz podpol‘al
   wenn man sich auch dafür anerkennt, dem                  (deutsch: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch). Der
   Schicksale oder unwiderstehlichen Trieben die            Ich-sagende Held oder Anti-Held weiß:
   Schuld, ist aber weniger tolerant gegen die                 Есть в воспоминаниях всякого человека такие
   Verirrungen seiner Brüder - das ist nicht gut getan         вещи, которые он открывает не всем, а разве
   (Knigge 1977, 87).                                          только друзьям. Есть и такие, которые он
   Der erhobene pädagogische Zeigefinger („das                 и друзьям не откроет, а разве только себе
ist nicht gut getan“) mahnt zur kritischen                     самому, да и то под секретом. Но есть, наконец,
Selbstprüfung und schlägt vor, den eigenen                     и такие, которые даже и себе человек открывать
Werdegang mit dem jener „Brüder“ zu vergleichen.               боится, и таких вещей у всякого порядочного
Konkret bedeutet das, seinen eigenen „Verdienst“               человека довольно-таки накопится. То есть
zu relativieren, denn was als Selbstverdienst                  даже так: чем более он порядочный человек,
erscheint, ist oft nur das Ergebnis günstiger                  тем более у него их есть.
Sozialisationsbedingungen. Dazu heißt es im letzten            In der deutschen Übersetzung liest man:
Abschnitt des Zweiten Teils:
                                                               Es gibt in den Erinnerungen eines jeden Menschen
   Miß auch nicht dein Verdienst darnach ab, daß               Dinge, die er nicht allen Leuten aufdeckt, sondern
   Du sagest: „Ich bin besser als dieser und jener             höchstens seinen Freunden. Es gibt auch Dinge,
   vom gleichen Alter, Stande“, und so ferner; sondern         die er auch den Freunden nicht aufdeckt, sondern
   nach den Graden Deiner Fähigkeiten, Anlagen,                höchstens sich selbst, und auch das nur unter
   Erziehung und der Gelegenheit, die Du gehabt                dem Siegel der Verschwiegenheit. Endlich aber
   hast, weiser und besser zu werden als viele (Knigge         gibt es auch Dinge, die der Mensch sogar sich
   1977, 87).                                                  selbst aufzudecken Scheu trägt, und solcher Dinge
   Der Ratschlag des Autors Über den Umgang mit                sammeln sich bei jedem ordentlichen Menschen
Menschen an seine Zeitgenossen besteht also darin              eine ziemlich große Menge an. Ja, man kann sogar
zu fragen, ob der Andere ebenso die Gelegenheit                sagen: je ordentlicher ein Mensch ist, umso größer
hatte, seine Fähigkeiten und Anlagen durch eine                wird die Anzahl solcher Dinge bei ihm sein.
entsprechende Erziehung zu entwickeln.                         (Dostojewksi 1986).
   Eine derartige Aufforderung zu vergleichender                Diese Einsichten aus Dostojewskis frühem Roman
Selbstprüfung, wie sie Knigge für das bürgerliche           begleiten Thomas Mann sein ganzes Leben als
Subjekt des späten 18. Jahrhunderts formuliert,             Schriftsteller. Von der frühen Erzählung Der Bajazzo
findet ihr Pendant in einem bedeutenden Roman               bis zu Essay Dostojewski — in Maßen (1946) heißt
der Weltliteratur des frühen 20. Jahrhunderts. F.           es für ihn Gerichtstag halten über sich selbst anhand
Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby (1925)             der literarischen Figuren, heißen sie Tonio Kröger,
beginnt mit einem Monolog des Ich-Erzählers über            Gustav Aschenbach oder Adrian Leverkühn. Und
den Rat seines Vaters, wie andere Menschen gerecht          Thomas Mann spricht von einer Nachtseite des
zu beurteilen seien. In diesem Zusammenhang                 Bewusstseins, die der Blick auf sich selbst ebenso
sollen die eigenen Lebensvorzüge („advantage“)              offenbart wie der Blick auf den Anderen.
mit in die Waagschale zu werfen sein:                       Zusammenfassend spricht er von der „Wahrheit“
   In my younger and more vulnerable years my               der Literatur, er spricht über Fjodor Dostojewski
   father gave me some advice that I’ve been turning        und — wie immer — von sich selbst:

Журнал интегративных исследований культуры, 2022, т. 4, № 1                                                           23
Vom Umgang mit dem Anderen...

   Es ist alles daran gelegen; und trotzdem sind               Dostojewski und Thomas Mann — all das legt es
jene Ketzereien die Wahrheit: die dunkle, der Sonne            nahe, den Umgang mit dem Anderen mit dem
abgewandte Seite, die Wahrheit, die niemand                    Umgang des eigenen Ich zu verbinden. Der Umgang
vernachlässigen darf, dem es um Wahrheit überhaupt,            mit Menschen des deutschen Aufklärers ermöglicht
die ganze Wahrheit zu tun ist, die Wahrheit über               es dem Einzelnen, beim Umgang mit dem Anderen
den Menschen. Die gequälten Paradoxe, die                      sein Leben in den verschiedensten Situationen zu
Dostojewskis „Held“ seinen positivistischen Gegnern            überdenken und so eine selbstständige Prüfung
entgegenschleudert sind dennoch, so antihuman                  vorzunehmen. Die Schrift eröffnet Horizonte über
sie klingen, im Namen der Menschheit und aus                   die Bedingungen und Möglichkeiten, das subjektive
Liebe zu ihr gesprochen: zugunsten einer neuen,                Verhalten kritisch zu hinterfragen und auszugestalten.
vertieften und unrhetorischen, durch alle Höllen               Knigges Vorstellung der „Abrechnung mit Dir
des Leidens und der Erkenntnis hindurchgegangenen              selber“ entwirft das Konzept eines mündigen Bürgers,
Humanität (Mann 2009, 61 f.).                                  der weit davon entfernt ist, sein Denken inhaltlich
   Der Umgang mit dem Anderen steht im                         starren Vorschriften einer Modeströmung zu opfern,
Zusammenhang mit dem Umgang mit sich selbst                    wie sie aktuell in Programmen der political correctness
und er hat, wie Thomas Mann betont, „die dunkle,               vorliegen. Statt eine Sollensmoral strikter Grundsätze
der Sonne abgewandte Seite“ unabdingbar mit zu                 vorzuschreiben, setzt Knigge auf die Lebenskunst
berücksichtigen, statt sie aus falsch verstandener             des aufgeklärten Bürgers, sich selbst zu führen.
Rücksicht zu verschweigen.
   Zusammenfassung: Knigges Bestimmungen                                       Conflict of interest
über die Bildung subjektiver Identität, die
erkenntniskritischen Positionen von Kant, Hegel                   The author declares that there is no conflict of
und Marx, die Einsichten der Literatur von Fjodor              interest, either existing or potential.

                                                     References
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Author
Holger Rudloff, email: rudloff@ph-freiburg.de
Dr. habil., Full Professor at the Department of Modern German Literature and Didactics at the Freiburg University of
Education

24                                                          https://doi.org/10.33910/2687-1262-2022-4-1-15-24
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