Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen - Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels - Deutsche ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ralf-Gero C. Dirksen | Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels VON R ALF-GERO C. DIRKSEN Netto hatte ich rund zehn Jahre akut mit meiner schizoaffektiven Störung – der phasenhaften Kombination aus Depression und Psychose – zu tun. Meistens wurde ich in psychiatrischen Fachkliniken, überwiegend auf geschlos- senen Stationen behandelt, bis ich meinen Abschluss als »Master of Desaster« (1) machte und die Krankheit hinter mir ließ. Meine Geschichte soll Anlass sein, um Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, trotzdem Hoffnung zu machen. Erste Psychiatrieerfahrung Nach insgesamt neun Monaten war das im Fach Organisationsentwicklung und außergewöhnliche Leben in einer psy- Gruppendynamik in Wien. Meine erste Krise ereilte mich mit Mitte chiatrischen Fachklinik zu Ende und ich Dabei hatte ich nicht mit den mehr- zwanzig, als ich mich im Studium befand. nahm mein gewohntes Leben in der Uni- fachen Belastungen gerechnet, die auf Auslöser war eine unglückliche Liebe, die versitätsstadt wieder auf. Ich hatte das mich zukamen. Im Job war ich häufig mich im Innersten erschütterte. Nach der Gefühl, wieder der neugierige und ehr- angespannt, im Zweifel darüber, ob mei- Trennung war ich verbittert, fand aber geizige Mensch zu sein, nur glücklicher. ne Leistungen wirklich gut genug waren. kein Ventil für meine heftigen Gefühle. Meine bestehenden Probleme wie Prü- Die üblichen Intrigen im Business und Zeitweise glaubte ich, meine Ex-Freundin fungsangst und eine generelle Unsicher- toxische Vorgesetzte setzten mir zu. Meine an bestimmten Orten zu sehen, ohne es heit blieben weiterhin verdeckt. Frau bemerkte, dass ich nicht abschalten genau bestätigen zu können. Diagnose: könne. Die Freizeit wurde von dem Dis- psychotische Depression. Psychiatrie als Beruf sertationsvorhaben aufgefressen, dazu Der Seitenwechsel von einem durch- kam das permanente Pendeln mit dem schnittlich unbeschwerten Studenten- Das Thema Psychiatrie hatte mich aber Flugzeug zwischen Arbeits-, Studien- und leben in das Grauen einer Depression kam aufgrund meiner eigenen Erfahrungen so Wohnort. Ich war regelrecht ausgebrannt. bei mir relativ spontan und massiv. Kei- »angefressen«, dass ich nach dem Studien- Nach rund fünfzehn Jahren kam die neswegs sind es Depressionen (Plural!), die abschluss eine duale Ausbildung zum Krankheit wieder als ausgewachsene schi- irgendetwas unbestimmtes darstellen, so Public-Relations-Berater begann und mir zoaffektive Störung. Der Profi wurde wie- etwas wie eine schlechte Angewohnheit, eine Fachklinik suchte, für die ich eine der Betroffener. die man halt hat. Depression (Singular!) ist PR-Konzeption verfassen konnte. Ich war ein nicht steuerbarer seelischer Zustand beseelt von der Aufgabe der gesellschaft- mit extremen kognitiven und körperlichen lichen Entstigmatisierung psychiatri- Auswirkungen: Watte im Kopf, innere Un- scher Patientinnen und Patienten. Nicht ruhe, schwere Beine. Eben noch Normalität, weniger als der Imagewandel von den al- und dann empfindet man sich selbst als ten »Schlangengruben« zu einem moder- komplett anders im Vergleich zu seinem nen Unternehmen der Gesundheitswirt- Vorleben. Ängste bestimmen den Tag; was schaft schwebte mir als Ziel vor. Dabei mache ich, wenn mir die einfachsten Din- halfen mir ganz erheblich meine eigenen ge nicht mehr gelingen? Ich konnte nicht persönlichen Erfahrungen, von denen ich mehr mit anderen mitschwingen, traute aber in der betreffenden Klinik nieman- mich nicht mehr, jemanden anzusprechen, dem erzählte. Der Seitenwechsel blieb ge- weil ja auch kein Selbstwert mehr vorhan- heim. Ich wäre sonst mit meinem Anlie- den war. Ich fühlte mich vollständig von gen Ende der Neunzigerjahre nicht ernst meiner Umwelt abgeschnitten, auf mich genommen worden. Nach dem Abschluss allein zurückgeworfen, unendlich einsam. der PR-Ausbildung wurde ich als Leiter Und dann die Bedrohung aus dem Innern, Kommunikation übernommen und stieg der man am liebsten nachgeben möchte, schnell zur Führungskraft für Strategie damit endlich alles ein Ende hat. Ich war und Kommunikation auf. Berufsbeglei- mehr als ein Mal kurz davor, mir das Leben tend absolvierte ich eine Weiterbildung zu nehmen: Ich stand auf einem Hochhaus in Health Care Management mit MBA- Foto: MichaelGaida /pixabay oder lag mit dem Föhn in der Wanne. Ich Abschluss und wechselte in die Schweiz hatte Riesenglück und wahrscheinlich zu einem privaten Krankenhauskonzern, höheren Beistand, dass ich noch am Leben wo ich Kommunikationsdirektor wurde. bin. Bei einer Depression erscheint Suizid Trotzdem wollte ich mich immer noch für die Betroffenen als eine reelle Lösungs- weiterbilden und mehr lernen. Ich be- alternative. gann deshalb ein Promotionsstudium SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021 9
HERBST-LESE Erneute Seitenwechsel Sogar meine Dissertation habe ich in einer psychiatrischen Klinik zu Ende ge- schrieben. Ich war unsicher über meinen Weg und fragte meine Mitpatientinnen und Mitpatienten, ob ich meine Doktorar- beit abschließen sollte. Alle bejahten. So funktionierte ich mein Krankenzimmer kurzerhand zum Büro um und machte mich an die Arbeit. Das hat mir insge- samt sehr viel Auftrieb gegeben, sodass die Freiheitsgrade ohne schizoaffektive Episoden größer wurden. 2011 vollzog ich dann noch mal einen Seitenwechsel und wurde Referent im Vorstandsbereich Medizin und Qualitätssicherung der Foto: Secretgarden /photocase.com Management-Holding eines öffentlich- rechtlichen Klinikenverbundes in Mün- chen; dieses Mal mit Wissen des Vor- stands über meine Krankheitsgeschichte. Das Arbeiten und Leben in der Isar- metropole hat mir sehr viel Spaß gemacht. Damit ich aber im Berufsleben mithalten konnte, glaubte ich meine Medikamente mit Zustimmung eines ärztlichen Psy- Odyssee durch die Psychiatrie oder Monaten, bis er sich dann nach chotherapeuten umstellen und reduzie- einigen Wochen wieder verschlechterte. ren zu müssen. Dies stellte sich als Fehler Diesmal war das gestörte Gefühl eine Ein ewiges Auf und Ab, das mich allmäh- heraus und ließ mich schließlich in eine nicht enden wollende Belastung. Meist lich zermürbte. Meines Erachtens ist eine schwere Psychose fallen. Klinikaufenthal- brauchte ich mehrmals täglich Profes- psychische Erkrankung ein beschleuni- te in München und Baden-Württemberg sionelle und Angehörige, die mir sagen gender Flummi, der an die Wände einer schlossen sich an. mussten, dass »alles wieder gut wird«. Box – dem eigenen Wesen – springt und Ich hatte zwischendurch auch gute Insbesondere meine Mutter, zu der ich für seelisches Chaos sorgt. Was kann ich Phasen, die ich nutzte, um Versäumtes wie eine besonders emotionale Vertrauensbe- tun, damit der Ball wieder in der Mitte Bildung oder Reisen nachzuholen. Als die ziehung habe, musste mir immer wieder »schwebt« und ich ausgeglichen bin? ständigen Aufenthalte in der Psychiatrie das Gleiche sagen, damit ich wenigstens Jahrelang war ich in Kliniken, die mir nicht mehr abreißen wollten, bekam ich mal für eine Minute Glauben und Zuver- vor allem mit einer immer wieder wech- eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) als sicht spüren und die Angst in Schach hal- selnden Pharmakotherapie helfen woll- »Ultima Ratio« für resistente Krankheits- ten konnte. ten. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass verläufe. Danach dauerte es noch etwa ein Die Therapien in den Krankenhäusern das Prinzip der Behandlung für mich »Viel halbes Jahr, bis es mir nachhaltig besser habe ich aktiv mitgemacht, wenn ich hilft auch viel« lautete. Im Gegensatz dazu ging. Deshalb kann ich nicht genau sagen, dazu in der Lage war. Ich wollte ja, dass trat das Psychoanalytische immer mehr in ob es einen Kausalzusammenhang zwi- es mir wieder besser geht. Zum Teil gab den Hintergrund und wich einer »thera- schen der EKT und der Verbesserung mei- es dort innovative Ansätze wie Schwert- peutischen Begleitung«, wobei das Prinzip nes Zustands gab. Zwischenzeitlich hatte arbeit, Wasser-Shiatsu oder eine Art osteo- »Walk and Talk« beim Rauchen im Park aber die behandelnde Oberärztin meine pathische Körpertherapie. Aber auch jede ganz sinnvoll ist: Therapeutin und Patient Zwangsentlassung veranlasst, weil ich Form von Sport hat bestimmt ihren Nut- sind gleicher, und beim Gehen können aus ihrer Sicht nicht mehr als therapier- zen für Spannungsabbau und Genesung. die Gedanken besser fließen, während bar galt – ein erlebter Tiefpunkt ärztlicher Die klassische Ergo- oder Musiktherapie man sich sonst wie mit einem »Brett Behandlungskunst! Mit meiner Hoffnung hat meines Erachtens aber wenig gehol- vor dem Kopf« fühlt. Ich habe auch eher war ich am Ende, ein Gefühl der Resigna- fen. Therapie ist immer ein indirektes Vor- Schutz und die Gespräche mit Pflegenden tion machte sich breit. Es heißt ja, wenn tasten. in den Kliniken gesucht als allein mein man nicht mehr laufen kann, dann trägt Bei mir besserte sich der Gesundheits- drastisches Erleben zu Hause durchste- einen der Herrgott. Und mich musste er zustand meist nach mehreren Wochen hen zu müssen. viel herumtragen. Es gab unzählige Situa- 10 SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021
Ralf-Gero C. Dirksen | Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels tionen, in denen ich dekompensierte. Eine derzubeleben und mit den Aktivitäten zu schätzen. Heute lebe ich ein zufriede- Grenzerfahrung, bei der man glaubt, dass der Gegenwart und Plänen der Zukunft nes Leben. Eine alte Frau auf Madeira hat es jetzt nicht mehr weitergeht, und irgend- zu verknüpfen, sodass eine Brücke über mir mal erzählt, was ihrer Meinung nach wie schließt sich doch wieder etwas Neues das Tal der psychischen Erkrankung ge- Glück bedeutet. Sie sagte: »Gesundheit – an. Als ich dann in eine andere norddeut- baut werden konnte. Zeit (für die Seele) – ein bisschen Geld«. Ich sche Klinik kam, fand ich Ruhe und Gebor- Heute gehe ich davon aus, dass mehre- bin nicht der größte Fisch im Teich, aber genheit in der Kirche des Hauses. Mit an- re Faktoren zur Genesung geführt haben. einer der schönsten, was heißen soll, dass deren Patientinnen und Patienten sprach Vor allem muss man aber seinen eigenen ich nicht mehr so ehrgeizig und karriere- ich nicht viel und zog mich meist zurück. Weg finden, der zu Lösungen führt, die orientiert wie früher bin, sondern meine Ich litt immer an einem extremen Mor- eine Antwort auf die Frage geben: »Was Nischen suche, gerne in der Freizeit oder gentief. Als ich dann spürte, dass das Tief ist gut für mich?« einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Zum immer flacher wurde, bis es ganz ausblieb, Psychische Erkrankungen können je- Beispiel habe ich Deutsch für Flüchtlin- da konnte ich es fühlen: »Es ist vorbei, ich den treffen. Aber man kommt da auch ge unterrichtet oder Kinder aus prekären bin frei!« Sofort begann ich alles, was mir wieder raus. Ich appelliere an Betroffene, Familienverhältnissen betreut. Mit der möglich war, nachzuholen – vor allem die Ausdauer zu haben und immer wieder Überwindung der schizoaffektiven Stö- Kontakte zu Freunden und das Reisen. neue Dinge auszuprobieren. In meinem rung bin ich zurückgekehrt, aber in ein Fall tappte ich selbst lange im Dunkeln. anderes Leben. Demütig zu sein und sich Lösungsansätze Ich wollte immer nur wieder zurück in zugleich seiner selbst bewusst werden. mein altes Leben. Seit Jahren bin ich nun völlig beschwer- Im Laufe der Zeit habe ich dann einiges Ich war ein erfolgreicher, mehrfach defrei. Ich fühle mich gesegnet und voller für mich herausgefunden. Erst mal muss- studierter Manager im Gesundheits- und Zuversicht. Die Champions-League habe te ich mir Zeit verschaffen. Also blieb mir Sozialwesen, der u. a. für psychiatrische ich schon gewonnen (nach den ganzen nichts anderes übrig, als die Erkrankung Einrichtungen tätig war – mit gesell- Strapazen mit der Erkrankung), warum mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. schaftlichem Ansehen, einem Top-Gehalt soll ich jetzt nicht auch die Weltmeister- Ich stellte fest, dass ich wieder Mut fass- und privater Idylle mit einer Ehefrau und schaft gewinnen? Nicht auf dem höchs- te, indem ich kleine Mutproben bestand: diversen Freunden. Das alles habe ich ten beruflichen Niveau, sondern so, dass irgendwo alleine hinfahren, auch wenn es nicht mehr. Heute beziehe ich eine Er- es zu mir passt: Vielleicht beginne ich einem nicht gut ging; in die Sauna gehen werbsminderungsrente, bin geschieden, noch mal ein Studium, mache eine Welt- und die Nähe der anderen Menschen dort weil meine Frau die durch die Krankheit reise oder begleite einfach Menschen mit spüren; jemanden Unbekanntes anspre- bedingte Wesensveränderung von mir psychischer Erkrankung bei ihrer Gene- chen und zum Kaffee einladen. Merkt er, wie das In-sich-gekehrt-Sein nicht mehr sung. Ich kann wieder machen, was ich dass irgendetwas nicht mit mir stimmt? ertragen wollte. Meine damaligen Lebens- wirklich möchte. ■ Bei einer Reise mit meiner Schwester ging mittelpunkte in der Schweiz und in Süd- mir der »Arsch ganz schön auf Grundeis«. deutschland habe ich eingetauscht gegen Dr. phil. Ralf-Gero C. Dirksen ist Gesundheits- ökonom und Organisationsentwickler mit Aber dass ich fliegen durfte und dabei fast die Wurzeln meiner Kindheit und Jugend den Schwerpunkten Strategie, Kommunika- schon ein bisschen mit den Stewardessen in Schleswig-Holstein, um wieder frei at- tion und Digitalisierung im Gesundheits- flirtete, das war eine riesige Belohnung. Es men zu können. Inhalte meiner früheren wesen sowie psychiatrieerfahrener Wissen- war gut, das gemacht zu haben, erkannte vielseitigen Vollzeitjobs habe ich jetzt in schaftsjournalist. (2) ich schließlich. meine interdisziplinäre Tätigkeit als frei- Dr. Dirksen Büro für Hochschulschriften, Gesundheitswirtschaft und -politik, Um die Eigenstigmatisierung eines beruflicher Wissenschaftsjournalist inte- Schleswig psychisch kranken Menschen zu durch- griert. Aber natürlich arbeite ich nicht E-Mail: ralf.dirksen.67@gmail.com brechen, griff ich zu einem Trick: Ich mehr acht bis zwölf Stunden täglich wie schrieb Listen zu ganz unterschiedlichen früher, sondern genieße mein begrenztes Anmerkungen Erlebnissen in meinem Leben und sah Arbeitspensum und viel Freizeit. Ohne die 1 Dies ist eine Würdigung meines Freundes, diese Erlebnisse als meinen gedanklichen ganze Administration des Berufslebens dem leider schon verstorbenen Künstler Jiri Keuthen, der mich immer so nannte, als Besitz an. Das konnten Reisen sein, Treffen bin ich heute auch viel kreativer. wenn er geahnt hätte, was mit der Bewäl- mit Freunden, Besuche von Museen oder tigung einer psychischen Krankheit noch sakralen Bauten, Opern- bzw. Kinovorstel- Fazit auf mich zukommen würde. Neben meinen lungen etc. Gleichzeitig unternahm ich anderen Abschlüssen bin ich sehr stolz auf Aktivitäten, um diese Listen fortzufüh- Mancher Abschied war auch schmerz- diesen »Titel«. 2 Die ganze Geschichte ist nachzulesen in ren. Manchmal setzte ich auch nur ein haft – so empfand ich die Rückkehr in dem E-Book: Ralf-Gero Dirksen (2019) Wenn geplantes Ziel auf eine Liste. Wenn das meine beschauliche Heimatstadt zunächst die Seele brennt. Leben mit schizoaffektiver dann erreicht wurde, war das ein schöner als Höchststrafe. Schnell begann ich aber, Störung – ein Erfahrungsbericht. 2., Erfolg. So gelang es mir, die Identifikation die Nähe zu meiner Familie und die beson- neu bearb. Aufl., München: neobooks 2019, mit meiner positiven Vergangenheit wie- dere Work-Life-Balance einer Kleinstadt 141 S., ISBN 978-3-7502-1589-4 SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021 11
HERBST-LESE Die Liste Ein einfaches Prinzip für die Therapie depressiver Menschen – oder: »Erinnerungen sind mein persönlicher Besitz!« Das Schreiben von Listen kann das Gefühlsleben von Men- Was kann ich wieder neu auf meiner Liste eintragen?« Die schen in depressiven Episoden nachhaltig positiv beeinflus- Perspektive wandert in die Zukunft und mobilisiert den sen. Gemeint sind Listen, die das eigene Leben skizzieren. Depressiven, neue Projekte anzugehen, um seine Liste fort- Die Posten auf der Liste bilden zusammen genommen eine zuführen. »Ich habe meine Erfolge in der Vergangenheit, Art stichwortartige (Auto-)Biografie, die Betroffene auch auf die ich setzen kann, und schaue jetzt in die Zukunft!« durch neue Erlebnisse fortschreiben können. Diese Me- Das schafft Sicherheit für neue Vorhaben von Menschen, die thode kann in therapeutischer Begleitung angewandt und sich in ihrer Erkrankung ansonsten eher unsicher fühlen. besprochen oder auch von dem Patienten allein in völliger Auch potenzielle Ziele, die noch nicht verwirklicht wurden, Eigenregie ausgeübt werden. können auf der Liste als perspektivischer Anker eingetragen Der Nutzen des Listenschreibens liegt einerseits in der für werden. Das Nachvorneträumen schließt den »gestörten Betroffene und Therapeuten einfach umzusetzenden Hand- Gap« zwischen gelungener Vergangenheit und anvisierter habbarkeit und andererseits darin, dass dem Patienten der Zukunft. Wenn es dann tatsächlich zur Realisierung eines emotionale Besitz, den er in seinem bisherigen Leben erwor- angestrebten Ziels kommt – ein Opernbesuch, die aufge- ben hat, vergegenwärtigt wird. Eine realistischere Selbstein- schobene Fahrt zu einer guten Freundin –, dann ist das ein schätzung kann damit Raum greifen. großer Erfolg, der emotional stark aufbaut und zur Formu- lierung weiterer Ziele veranlasst, bis die Krankheit vollstän- Frankreich, Spanien … und wo geht’s als Nächstes dig überwunden ist. Patientinnen und Patienten erfahren hin? ein positives Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Ideal bietet sich für das Schreiben einer Liste der Gegenstand von Urlaubsreisen an: »Wann war ich in der Türkei? Wo war Neuartiger schreibtherapeutischer Ansatz ich in Frankreich? Mit wem war ich auf der Zugspitze?« Mit Das Listenschreiben kann eine antidepressive Wirkung ha- dem Verfassen der Liste kommen Erlebnisse wieder zutage, ben und neuen Lebensmut verleihen. In zahlreichen Studien die durch die Erkrankung verschüttet waren, Begebenhei- wurde belegt, dass schreibtherapeutische Ansätze generell ten können reflektiert werden und laufen vor dem inneren und kreatives Schreiben im Besonderen zu einer Verbes- Auge ab. Der Betroffene bekommt wieder eine Ahnung für serung der Immunparameter führen können, depressive den Wert des eigenen Lebens in Verstimmungen vermindern sowie zu seiner Vollständigkeit. einer Verbesserung der Lebensqualität Auch können Listen zu Perso- beitragen. Außerdem werden Resili- nen angefertigt werden: Freun- enz, Kreativität und das Vertrauen in dinnen und Freunde (»Mit Andi die Selbstwirksamkeit aktiviert. Foto: kaboompics /pixabay war ich im Sommer 2012 im In einem Selbstversuch habe ich die Münchener Biergarten …«) oder Wirksamkeit dieses Therapiekonzeptes Lebenspartner oder Orte, an erfolgreich bestätigen können. Ich war denen ich gewohnt habe und lange Zeit depressiv. Wenn ich aber die meine Mobilität oder Bo- meine Listen betrachte, dann erkenne denständigkeit zum Ausdruck ich, wie vielfältig und glücklich mein bringen. Unvergessliche Muse- Leben bisher gewesen ist. Die psychi- ums- und Konzertbesuche bieten sich ebenso an wie sakra- sche Erkrankung ist eine zurückliegende Erfahrung, sie fällt le Denkmäler oder was auch immer einem wichtig ist und aber nicht mehr so ins Gewicht. woran man sich gerne erinnert. Ich lade Psychiater, Psychotherapeuten und Betroffene ein, Bei dem Listenschreiben geht es weniger darum, die Ver- persönliche Listen in der Therapie einzusetzen und ihre gangenheit zu verarbeiten, sondern sie positiv zu würdi- Erfahrungen mit mir zu teilen. gen und damit wieder Kontakt zum Innern aufzunehmen. Der Listenschreiber erkennt, was er erlebt hat, und fragt Ralf-Gero C. Dirksen sich dann vielfach: »Wie geht‘s in meinem Leben weiter? E-Mail: ralf.dirksen.67@gmail.com 12 SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021
Sie können auch lesen