Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen - Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels - Deutsche ...

 
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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen - Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels - Deutsche ...
Ralf-Gero C. Dirksen | Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels
VON R ALF-GERO C. DIRKSEN

Netto hatte ich rund zehn Jahre akut mit meiner schizoaffektiven Störung – der phasenhaften Kombination aus
Depression und Psychose – zu tun. Meistens wurde ich in psychiatrischen Fachkliniken, überwiegend auf geschlos-
senen Stationen behandelt, bis ich meinen Abschluss als »Master of Desaster« (1) machte und die Krankheit hinter
mir ließ. Meine Geschichte soll Anlass sein, um Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, trotzdem
Hoffnung zu machen.

Erste Psychiatrieerfahrung                     Nach insgesamt neun Monaten war das         im Fach Organisationsentwicklung und
                                               außergewöhnliche Leben in einer psy-        Gruppendynamik in Wien.
Meine erste Krise ereilte mich mit Mitte       chiatrischen Fachklinik zu Ende und ich        Dabei hatte ich nicht mit den mehr-
zwanzig, als ich mich im Studium befand.       nahm mein gewohntes Leben in der Uni-       fachen Belastungen gerechnet, die auf
Auslöser war eine unglückliche Liebe, die      versitätsstadt wieder auf. Ich hatte das    mich zukamen. Im Job war ich häufig
mich im Innersten erschütterte. Nach der       Gefühl, wieder der neugierige und ehr-      angespannt, im Zweifel darüber, ob mei-
Trennung war ich verbittert, fand aber         geizige Mensch zu sein, nur glücklicher.    ne Leistungen wirklich gut genug waren.
kein Ventil für meine heftigen Gefühle.        Meine bestehenden Probleme wie Prü-         Die üblichen Intrigen im Business und
Zeitweise glaubte ich, meine Ex-Freundin       fungsangst und eine generelle Unsicher-     toxische Vorgesetzte setzten mir zu. Meine
an bestimmten Orten zu sehen, ohne es          heit blieben weiterhin verdeckt.            Frau bemerkte, dass ich nicht abschalten
genau bestätigen zu können. Diagnose:                                                      könne. Die Freizeit wurde von dem Dis-
psychotische Depression.                       Psychiatrie als Beruf                       sertationsvorhaben aufgefressen, dazu
   Der Seitenwechsel von einem durch-                                                      kam das permanente Pendeln mit dem
schnittlich unbeschwerten Studenten-           Das Thema Psychiatrie hatte mich aber       Flugzeug zwischen Arbeits-, Studien- und
leben in das Grauen einer Depression kam       aufgrund meiner eigenen Erfahrungen so      Wohnort. Ich war regelrecht ausgebrannt.
bei mir relativ spontan und massiv. Kei-       »angefressen«, dass ich nach dem Studien-   Nach rund fünfzehn Jahren kam die
neswegs sind es Depressionen (Plural!), die    abschluss eine duale Ausbildung zum         Krankheit wieder als ausgewachsene schi-
irgendetwas unbestimmtes darstellen, so        Public-Relations-Berater begann und mir     zoaffektive Störung. Der Profi wurde wie-
etwas wie eine schlechte Angewohnheit,         eine Fachklinik suchte, für die ich eine    der Betroffener.
die man halt hat. Depression (Singular!) ist   PR-Konzeption verfassen konnte. Ich war
ein nicht steuerbarer seelischer Zustand       beseelt von der Aufgabe der gesellschaft-
mit extremen kognitiven und körperlichen       lichen Entstigmatisierung psychiatri-
Auswirkungen: Watte im Kopf, innere Un-        scher Patientinnen und Patienten. Nicht
ruhe, schwere Beine. Eben noch Normalität,     weniger als der Imagewandel von den al-
und dann empfindet man sich selbst als         ten »Schlangengruben« zu einem moder-
komplett anders im Vergleich zu seinem         nen Unternehmen der Gesundheitswirt-
Vorleben. Ängste bestimmen den Tag; was        schaft schwebte mir als Ziel vor. Dabei
mache ich, wenn mir die einfachsten Din-       halfen mir ganz erheblich meine eigenen
ge nicht mehr gelingen? Ich konnte nicht       persönlichen Erfahrungen, von denen ich
mehr mit anderen mitschwingen, traute          aber in der betreffenden Klinik nieman-
mich nicht mehr, jemanden anzusprechen,        dem erzählte. Der Seitenwechsel blieb ge-
weil ja auch kein Selbstwert mehr vorhan-      heim. Ich wäre sonst mit meinem Anlie-
den war. Ich fühlte mich vollständig von       gen Ende der Neunzigerjahre nicht ernst
meiner Umwelt abgeschnitten, auf mich          genommen worden. Nach dem Abschluss
allein zurückgeworfen, unendlich einsam.       der PR-Ausbildung wurde ich als Leiter
Und dann die Bedrohung aus dem Innern,         Kommunikation übernommen und stieg
der man am liebsten nachgeben möchte,          schnell zur Führungskraft für Strategie
damit endlich alles ein Ende hat. Ich war      und Kommunikation auf. Berufsbeglei-
mehr als ein Mal kurz davor, mir das Leben     tend absolvierte ich eine Weiterbildung
zu nehmen: Ich stand auf einem Hochhaus        in Health Care Management mit MBA-
                                                                                                                                        Foto: MichaelGaida /pixabay

oder lag mit dem Föhn in der Wanne. Ich        Abschluss und wechselte in die Schweiz
hatte Riesenglück und wahrscheinlich           zu einem privaten Krankenhauskonzern,
höheren Beistand, dass ich noch am Leben       wo ich Kommunikationsdirektor wurde.
bin. Bei einer Depression erscheint Suizid        Trotzdem wollte ich mich immer noch
für die Betroffenen als eine reelle Lösungs-   weiterbilden und mehr lernen. Ich be-
alternative.                                   gann deshalb ein Promotionsstudium

                                                                                                    SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021    9
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HERBST-LESE

                                                                                                                                Erneute Seitenwechsel

                                                                                                                                Sogar meine Dissertation habe ich in
                                                                                                                                einer psychiatrischen Klinik zu Ende ge-
                                                                                                                                schrieben. Ich war unsicher über meinen
                                                                                                                                Weg und fragte meine Mitpatientinnen
                                                                                                                                und Mitpatienten, ob ich meine Doktorar-
                                                                                                                                beit abschließen sollte. Alle bejahten. So
                                                                                                                                funktionierte ich mein Krankenzimmer
                                                                                                                                kurzerhand zum Büro um und machte
                                                                                                                                mich an die Arbeit. Das hat mir insge-
                                                                                                                                samt sehr viel Auftrieb gegeben, sodass
                                                                                                                                die Freiheitsgrade ohne schizoaffektive
                                                                                                                                Episoden größer wurden. 2011 vollzog
                                                                                                                                ich dann noch mal einen Seitenwechsel
                                                                                                                                und wurde Referent im Vorstandsbereich
                                                                                                                                Medizin und Qualitätssicherung der
Foto: Secretgarden /photocase.com

                                                                                                                                Management-Holding eines öffentlich-
                                                                                                                                rechtlichen Klinikenverbundes in Mün-
                                                                                                                                chen; dieses Mal mit Wissen des Vor-
                                                                                                                                stands über meine Krankheitsgeschichte.
                                                                                                                                   Das Arbeiten und Leben in der Isar-
                                                                                                                                metropole hat mir sehr viel Spaß gemacht.
                                                                                                                                Damit ich aber im Berufsleben mithalten
                                                                                                                                konnte, glaubte ich meine Medikamente
                                                                                                                                mit Zustimmung eines ärztlichen Psy-
                                    Odyssee durch die Psychiatrie                 oder Monaten, bis er sich dann nach           chotherapeuten umstellen und reduzie-
                                                                                  einigen Wochen wieder verschlechterte.        ren zu müssen. Dies stellte sich als Fehler
                                    Diesmal war das gestörte Gefühl eine          Ein ewiges Auf und Ab, das mich allmäh-       heraus und ließ mich schließlich in eine
                                    nicht enden wollende Belastung. Meist         lich zermürbte. Meines Erachtens ist eine     schwere Psychose fallen. Klinikaufenthal-
                                    brauchte ich mehrmals täglich Profes-         psychische Erkrankung ein beschleuni-         te in München und Baden-Württemberg
                                    sionelle und Angehörige, die mir sagen        gender Flummi, der an die Wände einer         schlossen sich an.
                                    mussten, dass »alles wieder gut wird«.        Box – dem eigenen Wesen – springt und            Ich hatte zwischendurch auch gute
                                    Insbesondere meine Mutter, zu der ich         für seelisches Chaos sorgt. Was kann ich      Phasen, die ich nutzte, um Versäumtes wie
                                    eine besonders emotionale Vertrauensbe-       tun, damit der Ball wieder in der Mitte       Bildung oder Reisen nachzuholen. Als die
                                    ziehung habe, musste mir immer wieder         »schwebt« und ich ausgeglichen bin?           ständigen Aufenthalte in der Psychiatrie
                                    das Gleiche sagen, damit ich wenigstens          Jahrelang war ich in Kliniken, die mir     nicht mehr abreißen wollten, bekam ich
                                    mal für eine Minute Glauben und Zuver-        vor allem mit einer immer wieder wech-        eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) als
                                    sicht spüren und die Angst in Schach hal-     selnden Pharmakotherapie helfen woll-         »Ultima Ratio« für resistente Krankheits-
                                    ten konnte.                                   ten. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass       verläufe. Danach dauerte es noch etwa ein
                                       Die Therapien in den Krankenhäusern        das Prinzip der Behandlung für mich »Viel     halbes Jahr, bis es mir nachhaltig besser
                                    habe ich aktiv mitgemacht, wenn ich           hilft auch viel« lautete. Im Gegensatz dazu   ging. Deshalb kann ich nicht genau sagen,
                                    dazu in der Lage war. Ich wollte ja, dass     trat das Psychoanalytische immer mehr in      ob es einen Kausalzusammenhang zwi-
                                    es mir wieder besser geht. Zum Teil gab       den Hintergrund und wich einer »thera-        schen der EKT und der Verbesserung mei-
                                    es dort innovative Ansätze wie Schwert-       peutischen Begleitung«, wobei das Prinzip     nes Zustands gab. Zwischenzeitlich hatte
                                    arbeit, Wasser-Shiatsu oder eine Art osteo-   »Walk and Talk« beim Rauchen im Park          aber die behandelnde Oberärztin meine
                                    pathische Körpertherapie. Aber auch jede      ganz sinnvoll ist: Therapeutin und Patient    Zwangsentlassung veranlasst, weil ich
                                    Form von Sport hat bestimmt ihren Nut-        sind gleicher, und beim Gehen können          aus ihrer Sicht nicht mehr als therapier-
                                    zen für Spannungsabbau und Genesung.          die Gedanken besser fließen, während          bar galt – ein erlebter Tiefpunkt ärztlicher
                                    Die klassische Ergo- oder Musiktherapie       man sich sonst wie mit einem »Brett           Behandlungskunst! Mit meiner Hoffnung
                                    hat meines Erachtens aber wenig gehol-        vor dem Kopf« fühlt. Ich habe auch eher       war ich am Ende, ein Gefühl der Resigna-
                                    fen. Therapie ist immer ein indirektes Vor-   Schutz und die Gespräche mit Pflegenden       tion machte sich breit. Es heißt ja, wenn
                                    tasten.                                       in den Kliniken gesucht als allein mein       man nicht mehr laufen kann, dann trägt
                                       Bei mir besserte sich der Gesundheits-     drastisches Erleben zu Hause durchste-        einen der Herrgott. Und mich musste er
                                    zustand meist nach mehreren Wochen            hen zu müssen.                                viel herumtragen. Es gab unzählige Situa-

                                    10 SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021
Ralf-Gero C. Dirksen | Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels

tionen, in denen ich dekompensierte. Eine      derzubeleben und mit den Aktivitäten          zu schätzen. Heute lebe ich ein zufriede-
Grenzerfahrung, bei der man glaubt, dass       der Gegenwart und Plänen der Zukunft          nes Leben. Eine alte Frau auf Madeira hat
es jetzt nicht mehr weitergeht, und irgend-    zu verknüpfen, sodass eine Brücke über        mir mal erzählt, was ihrer Meinung nach
wie schließt sich doch wieder etwas Neues      das Tal der psychischen Erkrankung ge-        Glück bedeutet. Sie sagte: »Gesundheit –
an. Als ich dann in eine andere norddeut-      baut werden konnte.                           Zeit (für die Seele) – ein bisschen Geld«. Ich
sche Klinik kam, fand ich Ruhe und Gebor-          Heute gehe ich davon aus, dass mehre-     bin nicht der größte Fisch im Teich, aber
genheit in der Kirche des Hauses. Mit an-      re Faktoren zur Genesung geführt haben.       einer der schönsten, was heißen soll, dass
deren Patientinnen und Patienten sprach        Vor allem muss man aber seinen eigenen        ich nicht mehr so ehrgeizig und karriere-
ich nicht viel und zog mich meist zurück.      Weg finden, der zu Lösungen führt, die        orientiert wie früher bin, sondern meine
Ich litt immer an einem extremen Mor-          eine Antwort auf die Frage geben: »Was        Nischen suche, gerne in der Freizeit oder
gentief. Als ich dann spürte, dass das Tief    ist gut für mich?«                            einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Zum
immer flacher wurde, bis es ganz ausblieb,         Psychische Erkrankungen können je-        Beispiel habe ich Deutsch für Flüchtlin-
da konnte ich es fühlen: »Es ist vorbei, ich   den treffen. Aber man kommt da auch           ge unterrichtet oder Kinder aus prekären
bin frei!« Sofort begann ich alles, was mir    wieder raus. Ich appelliere an Betroffene,    Familienverhältnissen betreut. Mit der
möglich war, nachzuholen – vor allem die       Ausdauer zu haben und immer wieder            Überwindung der schizoaffektiven Stö-
Kontakte zu Freunden und das Reisen.           neue Dinge auszuprobieren. In meinem          rung bin ich zurückgekehrt, aber in ein
                                               Fall tappte ich selbst lange im Dunkeln.      anderes Leben. Demütig zu sein und sich
Lösungsansätze                                 Ich wollte immer nur wieder zurück in         zugleich seiner selbst bewusst werden.
                                               mein altes Leben.                             Seit Jahren bin ich nun völlig beschwer-
Im Laufe der Zeit habe ich dann einiges            Ich war ein erfolgreicher, mehrfach       defrei. Ich fühle mich gesegnet und voller
für mich herausgefunden. Erst mal muss-        studierter Manager im Gesundheits- und        Zuversicht. Die Champions-League habe
te ich mir Zeit verschaffen. Also blieb mir    Sozialwesen, der u. a. für psychiatrische     ich schon gewonnen (nach den ganzen
nichts anderes übrig, als die Erkrankung       Einrichtungen tätig war – mit gesell-         Strapazen mit der Erkrankung), warum
mit allen Konsequenzen zu akzeptieren.         schaftlichem Ansehen, einem Top-Gehalt        soll ich jetzt nicht auch die Weltmeister-
Ich stellte fest, dass ich wieder Mut fass-    und privater Idylle mit einer Ehefrau und     schaft gewinnen? Nicht auf dem höchs-
te, indem ich kleine Mutproben bestand:        diversen Freunden. Das alles habe ich         ten beruflichen Niveau, sondern so, dass
irgendwo alleine hinfahren, auch wenn es       nicht mehr. Heute beziehe ich eine Er-        es zu mir passt: Vielleicht beginne ich
einem nicht gut ging; in die Sauna gehen       werbsminderungsrente, bin geschieden,         noch mal ein Studium, mache eine Welt-
und die Nähe der anderen Menschen dort         weil meine Frau die durch die Krankheit       reise oder begleite einfach Menschen mit
spüren; jemanden Unbekanntes anspre-           bedingte Wesensveränderung von mir            psychischer Erkrankung bei ihrer Gene-
chen und zum Kaffee einladen. Merkt er,        wie das In-sich-gekehrt-Sein nicht mehr       sung. Ich kann wieder machen, was ich
dass irgendetwas nicht mit mir stimmt?         ertragen wollte. Meine damaligen Lebens-      wirklich möchte. ■
Bei einer Reise mit meiner Schwester ging      mittelpunkte in der Schweiz und in Süd-
mir der »Arsch ganz schön auf Grundeis«.       deutschland habe ich eingetauscht gegen       Dr. phil. Ralf-Gero C. Dirksen ist Gesundheits-
                                                                                             ökonom und Organisationsentwickler mit
Aber dass ich fliegen durfte und dabei fast    die Wurzeln meiner Kindheit und Jugend
                                                                                             den Schwerpunkten Strategie, Kommunika-
schon ein bisschen mit den Stewardessen        in Schleswig-Holstein, um wieder frei at-     tion und Digitalisierung im Gesundheits-
flirtete, das war eine riesige Belohnung. Es   men zu können. Inhalte meiner früheren        wesen sowie psychiatrieerfahrener Wissen-
war gut, das gemacht zu haben, erkannte        vielseitigen Vollzeitjobs habe ich jetzt in   schaftsjournalist. (2)
ich schließlich.                               meine interdisziplinäre Tätigkeit als frei-   Dr. Dirksen Büro für Hochschulschriften,
                                                                                             Gesundheitswirtschaft und -politik,
    Um die Eigenstigmatisierung eines          beruflicher Wissenschaftsjournalist inte-
                                                                                             Schleswig
psychisch kranken Menschen zu durch-           griert. Aber natürlich arbeite ich nicht      E-Mail: ralf.dirksen.67@gmail.com
brechen, griff ich zu einem Trick: Ich         mehr acht bis zwölf Stunden täglich wie
schrieb Listen zu ganz unterschiedlichen       früher, sondern genieße mein begrenztes       Anmerkungen
Erlebnissen in meinem Leben und sah            Arbeitspensum und viel Freizeit. Ohne die     1 Dies ist eine Würdigung meines Freundes,
diese Erlebnisse als meinen gedanklichen       ganze Administration des Berufslebens           dem leider schon verstorbenen Künstler
                                                                                               Jiri Keuthen, der mich immer so nannte, als
Besitz an. Das konnten Reisen sein, Treffen    bin ich heute auch viel kreativer.
                                                                                               wenn er geahnt hätte, was mit der Bewäl-
mit Freunden, Besuche von Museen oder                                                          tigung einer psychischen Krankheit noch
sakralen Bauten, Opern- bzw. Kinovorstel-      Fazit                                           auf mich zukommen würde. Neben meinen
lungen etc. Gleichzeitig unternahm ich                                                         anderen Abschlüssen bin ich sehr stolz auf
Aktivitäten, um diese Listen fortzufüh-        Mancher Abschied war auch schmerz-              diesen »Titel«.
                                                                                             2 Die ganze Geschichte ist nachzulesen in
ren. Manchmal setzte ich auch nur ein          haft – so empfand ich die Rückkehr in
                                                                                               dem E-Book: Ralf-Gero Dirksen (2019) Wenn
geplantes Ziel auf eine Liste. Wenn das        meine beschauliche Heimatstadt zunächst         die Seele brennt. Leben mit schizoaffektiver
dann erreicht wurde, war das ein schöner       als Höchststrafe. Schnell begann ich aber,      Störung – ein Erfahrungsbericht. 2.,
Erfolg. So gelang es mir, die Identifikation   die Nähe zu meiner Familie und die beson-       neu bearb. Aufl., München: neobooks 2019,
mit meiner positiven Vergangenheit wie-        dere Work-Life-Balance einer Kleinstadt         141 S., ISBN 978-3-7502-1589-4

                                                                                                       SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021        11
HERBST-LESE

                                Die Liste
                                Ein einfaches Prinzip für die Therapie depressiver Menschen –
                                oder: »Erinnerungen sind mein persönlicher Besitz!«

                                Das Schreiben von Listen kann das Gefühlsleben von Men-          Was kann ich wieder neu auf meiner Liste eintragen?« Die
                                schen in depressiven Episoden nachhaltig positiv beeinflus-      Perspektive wandert in die Zukunft und mobilisiert den
                                sen. Gemeint sind Listen, die das eigene Leben skizzieren.       Depressiven, neue Projekte anzugehen, um seine Liste fort-
                                Die Posten auf der Liste bilden zusammen genommen eine           zuführen. »Ich habe meine Erfolge in der Vergangenheit,
                                Art stichwortartige (Auto-)Biografie, die Betroffene auch        auf die ich setzen kann, und schaue jetzt in die Zukunft!«
                                durch neue Erlebnisse fortschreiben können. Diese Me-            Das schafft Sicherheit für neue Vorhaben von Menschen, die
                                thode kann in therapeutischer Begleitung angewandt und           sich in ihrer Erkrankung ansonsten eher unsicher fühlen.
                                besprochen oder auch von dem Patienten allein in völliger        Auch potenzielle Ziele, die noch nicht verwirklicht wurden,
                                Eigenregie ausgeübt werden.                                      können auf der Liste als perspektivischer Anker eingetragen
                                Der Nutzen des Listenschreibens liegt einerseits in der für      werden. Das Nachvorneträumen schließt den »gestörten
                                Betroffene und Therapeuten einfach umzusetzenden Hand-           Gap« zwischen gelungener Vergangenheit und anvisierter
                                habbarkeit und andererseits darin, dass dem Patienten der        Zukunft. Wenn es dann tatsächlich zur Realisierung eines
                                emotionale Besitz, den er in seinem bisherigen Leben erwor-      angestrebten Ziels kommt – ein Opernbesuch, die aufge-
                                ben hat, vergegenwärtigt wird. Eine realistischere Selbstein-    schobene Fahrt zu einer guten Freundin –, dann ist das ein
                                schätzung kann damit Raum greifen.                               großer Erfolg, der emotional stark aufbaut und zur Formu-
                                                                                                 lierung weiterer Ziele veranlasst, bis die Krankheit vollstän-
                                Frankreich, Spanien … und wo geht’s als Nächstes                 dig überwunden ist. Patientinnen und Patienten erfahren
                                hin?                                                             ein positives Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein.
                                Ideal bietet sich für das Schreiben einer Liste der Gegenstand
                                von Urlaubsreisen an: »Wann war ich in der Türkei? Wo war        Neuartiger schreibtherapeutischer Ansatz
                                ich in Frankreich? Mit wem war ich auf der Zugspitze?« Mit       Das Listenschreiben kann eine antidepressive Wirkung ha-
                                dem Verfassen der Liste kommen Erlebnisse wieder zutage,         ben und neuen Lebensmut verleihen. In zahlreichen Studien
                                die durch die Erkrankung verschüttet waren, Begebenhei-          wurde belegt, dass schreibtherapeutische Ansätze generell
                                ten können reflektiert werden und laufen vor dem inneren         und kreatives Schreiben im Besonderen zu einer Verbes-
                                Auge ab. Der Betroffene bekommt wieder eine Ahnung für           serung der Immunparameter führen können, depressive
                                den Wert des eigenen Lebens in                                                         Verstimmungen vermindern sowie zu
                                seiner Vollständigkeit.                                                                einer Verbesserung der Lebensqualität
                                Auch können Listen zu Perso-                                                           beitragen. Außerdem werden Resili-
                                nen angefertigt werden: Freun-                                                         enz, Kreativität und das Vertrauen in
                                dinnen und Freunde (»Mit Andi                                                          die Selbstwirksamkeit aktiviert.
Foto: kaboompics /pixabay

                                war ich im Sommer 2012 im                                                              In einem Selbstversuch habe ich die
                                Münchener Biergarten …«) oder                                                          Wirksamkeit dieses Therapiekonzeptes
                                Lebenspartner oder Orte, an                                                            erfolgreich bestätigen können. Ich war
                                denen ich gewohnt habe und                                                             lange Zeit depressiv. Wenn ich aber
                                die meine Mobilität oder Bo-                                                           meine Listen betrachte, dann erkenne
                                denständigkeit zum Ausdruck                                                            ich, wie vielfältig und glücklich mein
                                bringen. Unvergessliche Muse-                                                          Leben bisher gewesen ist. Die psychi-
                                ums- und Konzertbesuche bieten sich ebenso an wie sakra-         sche Erkrankung ist eine zurückliegende Erfahrung, sie fällt
                                le Denkmäler oder was auch immer einem wichtig ist und           aber nicht mehr so ins Gewicht.
                                woran man sich gerne erinnert.                                   Ich lade Psychiater, Psychotherapeuten und Betroffene ein,
                                Bei dem Listenschreiben geht es weniger darum, die Ver-          persönliche Listen in der Therapie einzusetzen und ihre
                                gangenheit zu verarbeiten, sondern sie positiv zu würdi-         Erfahrungen mit mir zu teilen.
                                gen und damit wieder Kontakt zum Innern aufzunehmen.
                                Der Listenschreiber erkennt, was er erlebt hat, und fragt        Ralf-Gero C. Dirksen
                                sich dann vielfach: »Wie geht‘s in meinem Leben weiter?          E-Mail: ralf.dirksen.67@gmail.com

                            12 SOZIALE PSYCHIATRIE 04/2021
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