Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)

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Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft
                                  13 (2012)

Herausgegeben von Lukas Gloor, Kerstin Gräfin von Schwerin und Reto Sorg
im Auftrag der Robert Walser-Gesellschaft und
in Zusammenarbeit mit dem Robert Walser-Zentrum

1. Auflage 2020

Mariana Prusák: Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht Renoir im Kontext von
     Kunstrezeption und Wahrnehmungsdiskurs.                                   3

Kay Wolfinger: Walser gecovert.
     Zu Robert Walsers Buchtitelseiten und Illustrierungen.                    19
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)
Vorbemerkung
Die hier versammelten Vorträge wurden an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesell-
schaft vom 12. Oktober 2012 bis 14. Oktober 2012 in Winterthur zum Thema Bild,
Schrift, Text gehalten und für die Publikation redaktionell geringfügig bearbeitet. Pri-
märzitate von Robert Walser wurden überprüft; entsprechend ihrem mündlichen Charak-
ter sind in einzelnen Vorträgen nicht alle Zitate nachgewiesen.

Rechte
Die hier abgedruckten Texte sind Eigentum der Autorinnen und Autoren. Über weitere
Verwendung außerhalb des privaten Rahmens freuen wir uns nach Absprache mit der
Redaktion und den Autorinnen und Autoren. In Bezug auf Abbildungen und Zitate halten
wir uns an die Amerikanische Rechtsdoktrin der Angemessenen Verwendung (»Fair
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Ansicht sind, dass ein Fehler oder eine Verletzung des Urheberrechts vorliegen sollte.
Das Copyright dieser Publikation liegt bei der Robert Walser-Gesellschaft.

Zur Zitierweise
Bitte zitieren Sie die Vorträge gemäß folgendem Beispiel: Schuller, Marianne: Zwischen
Brief und Literatur. Zu Robert Walsers Korrespondenz mit Frieda Mermet. In: Vorträge
der Robert Walser-Gesellschaft 11 (2009). 1. Auflage 2020, S. 3–14. URL: https://robert-
walser.ch/assets/documents/Vortraege/VorRWG_2009-11.pdf

Impressum
© Robert Walser-Gesellschaft 2020
Herausgegeben im Auftrag der Robert Walser-Gesellschaft
Redaktion: Gelgia Caviezel, Lukas Gloor, Kerstin Gräfin von Schwerin, Sophie Stäger
URL: https://robertwalser.ch/assets/documents/Vortraege/VorRWG_2012-13.pdf

ISSN: 2673-7388
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                                          3

Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht Renoir im Kontext von
Kunstrezeption und Wahrnehmungsdiskurs
von Mariana Prusák (Lausanne)

Im Mai des Jahres 1901 fand in Berlin die zweite Ausstellung der Berliner Sezession statt.
Die Berliner Sezession wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Abspaltung vom offiziellen
Berliner Kulturbetrieb gegründet und hatte unter anderem – in Opposition zum konven-
tionellen und historisierenden Kunstverständnis Wilhelms II. – die Förderung des Im-
pressionismus zum Ziel.1 Neben der erstmaligen Ausstellung von fünf Werken Vincent
van Goghs in Deutschland wurde auf der Veranstaltung von 1901 auch Pierre Auguste
Renoirs Gemälde Lise, das 1867 entstanden ist, der Öffentlichkeit präsentiert.2 Renoirs
Lise gilt als eines der Hauptwerke des frühen Impressionismus, dessen programmatische
Ziele unter anderem die »Befreiung der Farbe« sowie die Abbildung von »Licht, Luft und
Bewegung«3 waren. Robert Walser besuchte die Berliner Ausstellung im Sommer 1901
auf seiner zweiten Reise nach Berlin und wird einige Jahre später für kurze Zeit als Sek-
retär der Berliner Sezession tätig sein.4 In Walsers Werk finden sich vielfältige Spuren

1
  Die Berliner Sezession gilt als die wichtigste separatistische Kunstbewegung Deutschlands aus der Zeit,
in der sich in ganz Europa Sezessionen bildeten. Als ›Abspaltungen‹ (lat. secessio: ›Trennung‹, ›Spaltung‹,
›Absonderung‹) des offiziellen Kunstbetriebs hatten diese Künstlervereinigungen das Ziel, frei von den
Zwängen der Akademien zu sein. Die Berliner Sezession wurde im Mai 1898 gegründet, Max Liebermann
war ihr erster Präsident und Walter Leistikow, erster Sekretär, gilt als ihre treibende Kraft. Der wichtigste
und engagierteste Förderer der Berliner Sezession war ihr Geschäftsführer, der Verleger und Kunsthändler
Paul Cassirer. Zur Berliner Sezession siehe Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde
im Kaiserlichen Deutschland sowie Pfefferkorn: Die Berliner Secession. Eine Epoche deutscher Kunstge-
schichte. Zur Bewegung des Sezessionismus allgemein siehe Simon: Sezessionismus.
2
  Renoir war mit diesem Werk, das auch als Lise mit dem Sonnenschirm, Lise mit dem Schirm bzw. Lise –
La femme à l’ombrelle bekannt ist, im Pariser Salon von 1868 vertreten. Es befindet sich heute im Museum
Folkwang in Essen.
3
  Siehe dazu und zu weiteren Bezügen von Walsers Texten zur bildenden Kunst Echte: Nachwort, S. 107.
4
  Ebd., S. 107f.
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der Zeit der Berliner Sezession. Thematisiert werden deren Ausstellungen und Künstler
in mehreren Texten, auch wenn es sich dabei zum Teil nur um Andeutungen handelt.5
       In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, wie das Verhältnis von Bild
und Text bzw. von Malerei und Dichtung in Walsers Gedicht Renoir dargestellt ist und
wie sich in diesem Verhältnis eine Kunstrezeption und eine Ästhetik spiegeln, die wiede-
rum Aussagen über die Poetologie von Walsers Text zulassen.6 Dabei werden drei As-
pekte des Verhältnisses von Bild und Text im Gedicht Renoir hervorgehoben: Zunächst
wird die Art der Darstellung visueller Wahrnehmung im Gedicht erläutert. Zweitens wer-
den jene Aspekte thematisiert, die über das Thema des Schauens auf das Bild bzw. über
die Bildbeschreibung hinausgehen. Interessant ist hierbei die Frage, inwieweit die Art des
Schauens auf das Bild den Text mitstrukturiert. Zum Abschluss wird es drittens darum
gehen, auf welche Weise Walsers Text das Bild Renoirs integriert und wie dabei eine
Oberflächenästhetik im Text sichtbar wird.

I.

       Renoir

       1          Ich denke in meinem Wirkungsfelde
                  mit einem Mal an ein Gemälde;
                  es hing vor Jahr’n in der Sezession,
                  besaß einen bezaubernd milden Ton.
       5          Ein Frauenbild war’s; am weißen Kleide
                  fiel wie eine Augenweide
                  eine breite, schwarze Schleife der Süßen
                  unglaublich behaglich gemalt zu Füßen.
                  Ein niedliches Hütchen bedeckte das Haar,
       10         das von, ich weiß nicht, was für Farbe war.
                  Der Rock berührte mit seinem Saum
                  den Boden des Waldes; ich hatte noch kaum
                  dazumal zu dichten angefangen;
                  Frühling war’s; in den Straßen sangen
       15         liebe Hauptstadtvöglein,
                  es hörte sich an, als schlürfe man Wein.
                  Durch das Kunstgebäude flanierte

5
  Zur Rezeption der Kunst der Berliner Sezession in Walsers Texten siehe den Aufsatz von Evans: Ein
Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen.
6
  Dieser Vortrag ist eine verkürzte Darstellung des ersten Kapitels meiner Lizenziatsarbeit: Prusak: Visuelle
Wahrnehmung als Poetologie.
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                 eine schicklichermaßen ein bißchen gezierte
                 Menge von Menschen; vor dem Wald
       20        sammelten sich viele gar bald,
                 der traumhaft zart zu lächeln, grüßen schien;
                 sie flüsterten: ›Wir lieben ihn.‹
                 Ins reizend bewegte Sonntagsgedränge
                 sandte das Bild harmonische Klänge.
       25        Wenn’s mir doch gelänge,
                 dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe,
                 vom Gesicht herunter bis zum Schuhe,
                 passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.
                 Wie käme ich mir fein
       30        vor, und wie glücklich würd’ ich darüber sein! (SW 13, 170)

Robert Walser verfasste das Gedicht Renoir im Februar oder März des Jahres 1927 und
damit ein Vierteljahrhundert nach der Ausstellung des Gemäldes in Berlin.7 Die Bilder
des Textes sind denn auch als erinnerte Bilder gekennzeichnet, die Beschreibung des Bil-
des und der Museumsszenerie sind im Präteritum formuliert.8 Auch der Beginn des Dich-
tens liegt in der Vergangenheit: »[I]ch hatte noch kaum / dazumal zu dichten angefan-
gen«, heißt es ab Vers 12. Dieser Verweis auf den Beginn des Dichtens erinnert an
Walsers Prosastück Das erste Gedicht, in dem ebenfalls das Sehen und das Dichten ne-
beneinander gestellt werden. Dort heißt es zu Beginn: »Einer stand im Raum starkstill,
schaute bloß herum. Ob er etwa dichtete? In der Tat kam er hierher, um sein erstes Ge-
dicht hervorzubringen.« (SW 16, 252)9 Ist der Walser’sche Dichter in diesen Texten also
vielleicht einer, der sich vor allem durch seine Art der visuellen Wahrnehmung von an-
deren Figuren unterscheidet?
       Im Gedicht Renoir spricht kein unbefangener, dilettantischer Kunstbetrachter, son-
dern hier spricht eine Figur, die den Kunstdiskurs der Zeit nicht nur einfließen lässt,

7
  Veröffentlicht wurde der Text zuerst in der Morgenausgabe der Prager Presse vom 17. 7. 1927. Zudem
ist das Gedicht auf einem Mikrogrammblatt aus der Reihe der Kalenderblätter überliefert (Kalenderblatt
Nr. 227, Kalenderseite 69a Abbildung).
8
  Wie alle späten Texte Walsers untersteht auch dieses Gedicht in der Forschung einem generellen Patho-
logieverdacht. Werner Weber weist im einzigen bisher erschienenen Aufsatz zu diesem Gedicht darauf hin,
dass das »Wirkungsfelde« des Autors Walser, auf das in der ersten Zeile hingewiesen werde, »damals in
der Randzone der Krankheit, vielleicht schon in der Zone der Krankheit« war. In Webers Interpretation
erscheint daher die Erinnerung, welche im Text geschildert wird, als eine Art ›Ausflucht‹ oder ›Kur‹. We-
ber: Robert Walser vor Bildern.
9
  Von Lothar Baier wurde dieser Text als ›Aufsatz‹ interpretiert, was als Gattungsbezeichnung unzu-
reichend erscheint. Der Text trägt vielmehr Züge eines Essays, bei dem die Thematik des Glückens bzw.
Misslingens des Dichtens im Vordergrund steht und Dichten als ein ›Versuch‹ dargestellt wird. Baier: Ro-
bert Walsers Landschäftchen, S. 23.
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sondern die diesen innerhalb seines eigenen »Wirkungsfelde[s]«, von dem hier in der
ersten Zeile die Rede ist, genau umzusetzen weiß. Durch das dem »Wirkungsfelde« vo-
rangestellte Possessivpronomen »meinem« wird zudem eine Grenze zu einem anderen
Bereich markiert: Das Wirkungsfeld des lyrischen Ichs ist das der Dichtung. Innerhalb
des Textes ist es das Schauen, das aus der Bildbeschreibung eine Darstellung eines Bildes
macht, die im zeitgenössischen Kunstdiskurs verhaftet ist. Es soll deshalb im Folgenden
gezeigt werden, auf welche Art und Weise der Betrachter im Gedicht Renoir das Bild
anschaut.

                            Abbildung 1: Renoir: Lise (1867).
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Der Titel des Gemäldes bleibt in Walsers Text ausgespart. Hinweise, dass es sich in der
Beschreibung um Renoirs Lise handelt, finden sich vor allem im ersten Teil des Gedichts,
in den Versen 5 bis 12.10 Auffallend an der Umsetzung des Betrachterblicks im Text ist
der ständige Wechsel der Blickrichtungen – von oben nach unten und umgekehrt.11 Mit
der Bezeichnung eines Gemäldes, das in der Sezession »hing« (V 3), wird zu Beginn auf
einen nach oben blickenden Betrachter angespielt. In Vers 6 fällt der Blick des Betrach-
ters nach unten, indem er »am weißen Kleide« entlang nun der »schwarze[n]« Schleife
folgt, die dem »Frauenbild« »zu Füßen« »fiel« (V 5–8). Irritiert wird diese Blickrichtung
nach unten jedoch durch den Begriff der »Augenweide«, der durch den Verweis auf die
Augen einen Blick nach oben – auf die Augen der Abgebildeten – andeutet.12 Durch den
eingeschobenen Vergleich der »breite[n], schwarze[n] Schleife«, die »wie eine Augen-
weide« sein soll, wird aber nicht nur der Blick von oben nach unten irritiert, sondern die
Störung wird verstärkt durch die Art des Vergleichs: Die »breite, schwarze Schleife« ist
nämlich keine »Augenweide« an sich, sondern sie verhält sich lediglich wie eine Augen-
weide. Mit dieser medialen Reflexion, die durch den Verweis auf bloße Ähnlichkeit zu-
stande kommt, zitiert das Gedicht das grundsätzliche Verhältnis von Bild und Text und
wirft Fragen zu diesem auf: Denn ist es nicht eigentlich die Frau auf dem Gemälde, die
eine Augenweide ist?
      Der Blick des Betrachters ist nun am unteren Teil des Gemäldes angekommen und
zwar »zu Füßen« (V 8). Darauf folgt ein Blick nach oben, auf ein »niedliches Hütchen«,

10
   Bei der Frau im Gemälde handelt es sich um Lise Tréhot (1848–1922), die von ca. 1865 bis 1972 Renoirs
bevorzugtes Modell war. Vgl. Hansen: Camille und ihre ›Schwestern‹ – Ganzfigurige Frauenportraits als
Programmbilder der modernen Malerei, S. 104. In der von seinem Sohn Jean verfassten Biographie Mein
Vater Auguste Renoir von 1962 wird Lise Tréhot nur kurz erwähnt: »Bei meiner Schilderung der Jahre vor
und nach dem siebziger Krieg habe ich Renoirs Beziehung zu zwei Menschen übergangen, die eine Rolle
für seine Entwicklung spielten: den Maler Lecoeur und Lisa, eine reizende junge Frau, die für ihn und
andere Maler Modell stand. Aus erster Hand weiß ich nichts über die Beziehungen des Trios, außer daß
Renoir und Lecoeur einige Monate bei Lisas Eltern in Ville d’Avray lebten.« (Renoir: Mein Vater Auguste
Renoir, S. 127.) Renoir lernte Lise Tréhot 1865 kennen, »Renoirs Freund Jules Le Coeur, der Geliebte von
Lises Schwester, muss die beiden miteinander bekannt gemacht haben, und wahrscheinlich waren auch
Renoir und Lise ein Paar.« (Hansen: Camille und ihre ›Schwestern‹ – Ganzfigurige Frauenportraits als
Programmbilder der modernen Malerei, S. 104) Es gibt drei Versionen der Szene mit Tréhot im weißen
Kleid mit schwarzer Schleife, von der dieses Gemälde das bekannteste ist.
11
   Zwar ist von einem ›Blick‹ selbst im Text nicht die Rede, jedoch zeigt sich hier ein bestimmtes Muster
der visuellen Wahrnehmung.
12
   Der Begriff der »Augenweide« findet sich auch bei Goethe: »süßer Anblick, Seelenfreude / augenweid
und herzensweide«. »Süß« ist bei Goethe die Augenweide, bei Walser die Frauenfigur. Goethe: Scherz,
List und Rache, S. 379. Die Goethe-Stelle wird zitiert in: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch
der hochdeutschen Mundart, Sp. 566.
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welches »das Haar« »bedeckte« (V 9). Während der Blick nach oben wandert, zeigt sich
erneut eine Irritation dieser Blickrichtung durch das kontrastierende Adjektiv »niedlich«,
das durch die etymologische Verwandtschaft mit dem Adverb »nieder« die Bedeutung
von »unten« besitzt.13 Im Anschluss an den Blick nach oben erfolgt nun abermals ein
Blick nach unten, auf den »Rock«, der »mit seinem Saum / den Boden des Waldes« (V
11–12) berührte. An dieser Stelle endet vorläufig die Beschreibung des Gemäldes durch
den Text. Erst am Schluss wird die visuelle Wahrnehmung des Betrachters wieder aufge-
nommen und zusammengefasst: »vom Gesicht herunter bis zum Schuhe« (V 27). Dieser
vertikale Blick im Text lässt sich als eine Analogie zur vertikal dargestellten Frauenfigur
im Gemälde verstehen. Die Darstellung des vertikalen Blicks auf diesen Körper innerhalb
der Bildbeschreibung kontrastiert durch die Irritationen jedoch mit der Beschreibung des
Bildes als homogenes Ganzes, die am Schluss des Textes in der Wendung »vom Gesicht
herunter bis zum Schuhe« enthalten ist.
      Der Blick auf den Körper der Betrachteten im Gedicht Renoir ist also ein unruhiger,
mehrfach irritierter Blick: Während die Blickregie einer vertikalen Bewegung folgt,
wodurch der Text eine Analogie zum Bild vollzieht, ist diese vertikale Bewegung cha-
rakterisiert durch mehrfache Wechsel der Richtungen. Damit kontrastiert der Betrachter-
blick zudem mit der im Text genannten »Friedlichkeit, dieser Ruhe« (V 26). Diese Be-
schreibung des Betrachtens kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Text
sich im ersten Teil zwar als Bildbeschreibung inszeniert, dass er dieses Versprechen je-
doch nicht einhält. Wir begegnen hier einem wesentlichen Merkmal von Walsers Poetik,
dem abschweifenden Erzählen. Der Blick des Betrachters in Renoir ist nicht nur ein un-
ruhiger und einer, der in der vertikalen Bewegung des Schauens unterbrochen wird, son-
dern er schweift von der Frauenfigur ab und widmet sich der Umgebung. Was folgt ist
ein Exkurs,14 ein ›Herauslaufen‹ aus den Grenzen des Gemäldes.

13
   ›Niedlich‹ ist mit ›nieder‹ verwandt und hat die Bedeutung von ›klein und fein‹. Das Adverb ›nieder‹
geht zurück auf indogerm. *ni für ›nieder, unten‹. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Spra-
che, S. 652.
14
   Während der Begriff der ›Abschweifung‹ in der Forschung als zentrales Element in der Poetik Walsers
behandelt wird (siehe z.B. Greven: Poetik der Abschweifungen), ist für die hier behandelte Thematik der
Begriff des ›Exkursiven‹ (lat. excursus: ›das Auslaufen‹) vorzuziehen, da der Begriff der ›Abschweifung‹
vor allem das Verlassen eines Themenstrangs betont, und weniger den Prozess der Bewegung, welcher in
einer Überschreitung der Themengrenzen liegt.
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II.
Auf die Bildbeschreibung in Renoir folgt eine Referenz auf den Wahrnehmungsdiskurs
der damaligen Zeit:

                 Frühling war’s; in den Straßen sangen
       15        liebe Hauptstadtvöglein,
                 es hörte sich an, als schlürfe man Wein.

Die Schilderung der sinnlichen Wahrnehmung in den Versen 14–16 wirkt so chaotisch
wie die Großstadt selbst.15 Auffallend an der Darstellung von Wahrnehmung ist zudem,
dass die visuellen Eindrücke an dieser Stelle in den Hintergrund gerückt werden, während
die anderen Sinne konzentriert und simultan auftreten. Das Adjektiv »reizend« (V 23)
wird hier bereits vorweggenommen. Das Vermischen der Wahrnehmungsebenen zeigt
sich im Text an mehreren Stellen durch den Verweis auf Intermedialität: »Ins reizend
bewegte Sonntagsgedränge / sandte das Bild harmonische Klänge« (V 23–24). An dieser
Stelle findet eine Verdichtung der rhetorischen Figuren statt. Durch die Personifikation
des »Bild[es]« wird eine Überschneidung der Medienbereiche konstatiert, indem das Bild
zum Sender von »harmonische[n] Klänge[n]« (V 24) wird. Nicht nur die »harmoni-
sche[n] Klänge«, die dem Bild zugeschrieben werden, entstammen dem Bereich der Mu-
sik, sondern auch der »bezaubernd milde[ ] Ton« (V 4). »Klänge« und »Ton« besitzt auch
die Sprache, und der Dichter wird so zum ›Tonsetzer‹, wie auch im bereits zitierten Pro-
sastück Das erste Gedicht, in dem es heißt: »Jetzt zog er sein Taschen- oder Tagebuch
aus der Rocktasche hervor. Ein passender Bleistift war bereits gespitzt, und so konnte er
ansetzen und jeden Augenblick mit Tonsetzen beginnen« (SW 16, 252). In der Themati-
sierung des Dichtens erscheint auch in Renoir die Vermischung der Künste und Sinnes-
wahrnehmungen als zentrales Charakteristikum und die Wahrnehmung des Bildes wird
in Zusammenhang mit Synästhesie beschrieben.
       Auch wenn eine Harmonie zwischen den Künsten an dieser Stelle in Renoir mög-
lich erscheint, gibt es im Text weitere Hinweise auf eine Störung dieser Harmonie. Das
zeigt auch eine Analyse der Reimstruktur: Der Großteil des Gedichts ist paargereimt (»-
felde«, »Gemälde«, »Sezession«, »Ton« usw.). An zwei Stellen reimen sich drei

15
   Peter Utz verwendet den Begriff der ›Ohralität‹, der sich auch für die Analyse dieser Textpassage eignet,
insofern als hier die »akustische Nähe Walsers zum Stimmengewirr seiner lautstarken Epoche«, sein »fei-
nes Ohr für die Sprachklänge der Zeit« deutlich werden. Peter Utz: Tanz auf den Rändern, S. 13.
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Verszeilen. Auffällig dabei ist, dass sich die erste Abweichung vom Paarreimschema
exakt beim Wort »Klänge« befindet:

                   Ins reizend bewegte Sonntagsgedränge
                   sandte das Bild harmonische Klänge.
         25        Wenn’s mir doch gelänge,
                   dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe,
                   vom Gesicht herunter bis zum Schuhe,
                   passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.

Der Bruch in der Reimstruktur lässt sich verstehen als Störung der Harmonie, welche das
Paarreimschema bewirkt. Dadurch stellt sich der Text in Opposition zu den »harmoni-
sche[n] Klänge[n]«, die er dem Bild zuschreibt. Die Abweichung vom Reimschema be-
findet sich zudem genau an der Grenze zwischen den beiden thematischen Bereichen des
Textes: dem Bereich des »Bild[es]« und dem Bereich des Dichtens, der hier beginnt mit
»Wenn’s mir doch gelänge«. Der Exkurs aus den Grenzen des Gemäldes hat jedoch noch
eine weitere Funktion: Er dient als Reflexion über das Verhältnis von Dichtung zur bil-
denden Kunst. Indem die Bildbeschreibung nur einen Teil des Textes ausmacht, wird
gleichzeitig die Literatur als ein Medium, das über diesen Bildbereich hinausgeht, ge-
kennzeichnet. Das Verhältnis von Bild und Text wird in Renoir auch auf der Ebene der
Materialität verhandelt, wie der folgende Abschnitt zeigen wird.

III.
Der Blick auf einen (künstlerischen) Körper und die ›Übertragung‹ dieses Körpers auf
den Text ist auch von anderen Gedichten Walsers bekannt. In der Forschung wird diese
poetische Technik Walsers mit dem vom Autor selbst stammenden Begriff der ›Gedicht-
körperbildung‹ bezeichnet. Im Brief an Max Rychner vom 18.3.1926 schreibt Walser:

         Das schöne Gedicht hat meiner Ansicht nach ein schöner Leib zu sein, der
         aus den gemessenen, vergeßlich, fast ideenlos auf’s Papier gesetzten Worten
         hervorzublühen habe. Die Worte bilden die Haut, die sich straff um den In-
         halt, d. h. den Körper spannt. Die Kunst besteht darin, nicht Worte zu sagen
         sondern einen Gedicht-Körper zu formen, d. h. dafür zu sorgen, daß die Worte
         nur das Mittel bilden zur Gedichtkörperbildung […]. (GW XII/2, 266)16

16
     Walser: Briefe. Wird im Folgenden mit der Sigle GW XII/2 und Seitenzahl zitiert.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                                11

Als programmatisches Beispiel für diese ›Gedichtkörperbildung‹ gilt Walsers Sonett auf
eine Venus von Tizian (SW 13, 161). In diesem Text aus dem Jahr 1925 geschieht die
Verbindung von (Bild)-Körper und Text- bzw. Gedichtkörper auch mittels der Darstel-
lung einer Blickregie, die den Blick des Betrachters von links nach rechts – und damit in
Leserichtung – wandern lässt.
      In Renoir ergibt sich die Übertragung des Körpers aus dem Bild in den Text, wie
bereits gezeigt wurde, aus der Analogie des vertikalen Frauenkörpers im Bild und dem
vertikalen Blick des Betrachters im Text. Die Übertragung zeigt sich aber auch auf der
Ebene der Farben. In einem Brief an Frieda Mermet vom 27.12.1928 bezieht sich Walser
auf die Darstellung von Farben in Prosastücken:

      Ich machte folgende Erfahrung auf dem Gebiet meiner Schriftstellerei: am
      farbigsten wirken Prosastücke gerade dann, wenn nichts von Farben darin ge-
      sagt wird. [...] Das[,] was man nicht erwähnt, lebt am lebhaftesten, weil jedes
      Erwähnen[,] Andeuten irgend etwas von dem Betreffenden wegnimmt, ihn’s
      [sic] angreift, mithin vermindert. (GW XII/2, 335)

Eine Tilgung von Farben hat also unter Umständen den Effekt, dass eine Verbindung
zwischen Bild und Text intensiviert wird. In Renoir findet eine Reduktion auf die Farben
Schwarz und Weiß – und somit auf die traditionellen Farben der Textproduktion – statt.
Rot (die Schleife im Haar) und Grün, die Farbe, die neben Weiß den meisten Raum im
Bild einnimmt, werden ausgespart. Zudem wird die Farbe Weiß auf der Wortebene ma-
terialisiert, während sie auf der semantischen Ebene getilgt wird. In Vers 9 heißt es:

                Ein niedliches Hütchen bedeckte das Haar,
      10        das von, ich weiß nicht, was für Farbe war.

Durch das Homonym »weiß« wird ein Spiel des Textes mit der Anwesenheit von Farbe
durch seine Abwesenheit in Gang gesetzt. Der Text vollzieht damit in seinem Verhältnis
zum Bild eine ›Entfärbung‹. Indem mit der Homonymie des Wortes »weiß« eine Ver-
schränkung von Text und Bild ermöglicht wird, wird eine weitere mediale Reflexion in-
szeniert.17

17
  Das Wortspiel mit dem Homonym »weiß« ist bei Walser verbreitet. Siehe zu dieser Thematik Groddeck:
›Weiß das Blatt, wie schön es ist?‹.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                                           12

       Der Verlust von Farben im Text erweist sich als besonders interessant mit einem
Seitenblick auf die zeitgenössische Rezeption des Gemäldes. Im Vergleich zu anderen
Werken dieser Epoche erscheint Renoirs Bild der Lise dem damaligen Publikum »von
einer erstaunlichen Helligkeit«.18 Die Lichteffekte und Farben im Bild galten den zeitge-
nössischen Kritikern als deutlicher Hinweis für dessen besondere Qualität und Moderni-
tät.19 Betont wird in den Rezensionen die auffällige Helligkeit und Dominanz des Kleides.
Der Künstler, so die Kritiker, »verkehrte damit auch die inhaltlichen Schwerpunkte«,
denn im Gegensatz zu einem Porträt, das eine Charakterstudie sein soll, treten die Ge-
sichtszüge in Renoirs Gemälde bewusst in den Hintergrund.20 Dieser Oberflächenästhetik
entspricht nun auch der Text Walsers. Die Beschreibung der Frauenfigur ist eben gerade
nicht ein Porträt im Sinne einer Charakterstudie, sondern die Beschreibung beschränkt
sich auf Äußerliches, auf das »weiße[] Kleid[]«, die »breite, schwarze Schleife«,21 das
»Hütchen« sowie den »Rock« (V 7–11). Auch findet keine Einbettung der Figur in die
Landschaft statt. Die Oberflächenästhetik ist im Text auch auf der Ebene des Klangs
wirksam. Die in den Rezensionen betonte Helligkeit des Gemäldes ist in der auffälligen
Häufung des Diphthongs »ei« vor allem zu Beginn des Gedichts – und damit in der Bild-
beschreibung an sich – umgesetzt: »meinem« (V 1), »einem« (V 2), »ein« (V 2); » [e]in«
(V 5), »weißen Kleide« (V 5) »eine Augenweide« (V 6), »eine breite, [...] Schleife« (V
7); »[e]in« (V 9). Nicht zuletzt ist der Diphthong auch in der Farbe »[W]eiß« (V 10)
enthalten. Gehäuft tritt der Diphthong wieder in den letzten drei Versen des Gedichts auf:

                  passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.
                  Wie käme ich mir fein

18
    Hansen: Camille und ihre ›Schwestern‹, S. 104.
19
    Der französische Kunsthistoriker und -kritiker Théophile Thoré integriert in seine Kritik über das Ge-
mälde Renoirs nach dessen Ausstellung im Salon eine Beschreibung, die sich vor allem dem weißen Kleid
widmet. Dieses strahle »im vollen Licht, aber es wird leicht grünlich verfärbt durch die Reflexe der Blätter
[...]. Der Effekt ist so natürlich und so wahr, dass man ihn für falsch halten könnte, denn man ist es gewohnt,
die Natur in konventionellen Farben darzustellen [...]. Aber hängt nicht die Farbe von dem Umfeld ab, das
sie umgibt?« (Etienne-Joseph-)Théophile Thoré(-Bürger): Salon de 1868, S. 230, zit. nach: Hansen:
Camille und ihre ›Schwestern‹, S. 104.
20
    Hansen, Herzogenrath: Monet und Camille, S. 190. Die Autoren verweisen auch auf das entscheidende
Instrument der Lichtregie, den zierlichen Sonnenschirm, den Lise in der linken Hand hält: »Er wirft einen
Schatten auf Gesicht und Schultern, während das weiße Kleid die hellen Sonnenstrahlen reflektiert.«
21
    Es handelt sich dabei um eine schwarze Seidenschärpe, welche die »hohe Taillenlinie markiert« und
dekorativen Charakter besitzt. Hansen: Camille und ihre ›Schwestern‹ – Ganzfigurige Frauenportraits als
Programmbilder der modernen Malerei, S. 107.
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       30        vor, und wie glücklich würd’ ich darüber sein!

Der Schluss des Textes betont mit dem Temporaladverb »jetzt« die Augenblicklichkeit
der Darstellung, womit auch ein Verweis auf den Beginn des Gedichts und die Wendung
»mit einem Mal« gegeben ist. Somit thematisiert der Text nicht nur mit der Fokussierung
auf die subjektive visuelle Wahrnehmung, sondern auch mit der Betonung des Moment-
haften zwei zentrale Charakteristika der impressionistischen Malerei.22
       Renoirs Lise steht in der Tradition der Ganzfigurenbilder. In den sechziger Jahren
des 19. Jahrhunderts wurde diese Gattung des »ganzfigurigen, lebensgroßen Frauenport-
räts« von zahlreichen jungen, ambitionierten Künstlern wie Éduard Manet, James
McNeill Whistler und Auguste Renoir aufgegriffen und neu interpretiert.23 Ein gemein-
sames Thema dieser Ganzfigurenporträts ist die Abbildung der Frau, die steht und nach
der neuesten Mode gekleidet ist.24 Der Hintergrund der Tradition des Gemäldes erscheint
relevant für die Art der Darstellung der Frauenfigur im Text. Indem das Bild nur einen
Teil des Textes ausmacht, wird gleichzeitig die Literatur als etwas, das über diesen Bild-
bereich hinausgeht, beschrieben. Der Text sprengt mehrfach den Rahmen des Bildes. Der
Schluss des Gedichts lautet:

       25        Wenn’s mir doch gelänge,
                 dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe,
                 vom Gesicht herunter bis zum Schuhe,
                 passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.

Am Ende des Textes wird die Idee des Ganzkörperporträts in der Wendung »vom Gesicht
herunter bis zum Schuhe« genannt. Dem Text ist als Ziel gegeben, »passenden Ausdruck
jetzt zu verleihn«. Das Thema der Ekphrasis, mittels Sprache Bilder zu erzählen, wird
dabei im Konjunktiv genannt.25 Im Bereich der Kunst wird der ›Ausdruck‹ für mimeti-
sche Vorgänge verwendet und ist bei Winckelmann definiert als »nachahmung des

22
   Vgl. die Beschreibung des Impressionismus im Lexikon der Kunst: »Die Impressionisten erschlossen der
Kunst neue Realitätsbereiche und Aspekte. Ihre Bilder veranschaulichten auf sensualist. und spontane, aber
reflektierte Weise nur die von ihnen selbst gesehene Umwelt [...].« Olbrich et al. (Hg.): Lexikon der Kunst,
Bd. III, S. 406.
23
   Hansen: Das Porträt als Kunstwerk, S. 20. Zum Ganzfigurenbild siehe im selben Band auch der Aufsatz
von Fleckner: In voller Lebensgröße, S. 42–51.
24
   Hansen: Das Porträt als Kunstwerk, S. 20.
25
   Zur Definition der Ekphrasis siehe Boehm: Bildbeschreibung.
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wirkenden und leidenden zustandes unserer seele und unseres körpers und der leiden-
schaften sowol als der handlungen«.26 Dem »passenden Ausdruck« innerhalb der Rheto-
rik entspricht das Aptum, die Kategorie der ›Angemessenheit‹, die eine der vier Stilqua-
litäten der sprachlichen Gestalt der Rede bildet.27 In diese Thematik des »passenden Aus-
druck[s]« integriert der Text Walsers nun einen Wechsel in der Metrik. Während in den
anderen Versen des Gedichts hauptsächlich Jamben vorkommen, verhält es sich mit die-
sem Vers anders: Der Vers

        — ‿ ‿ — — — ‿ ‿—
       passenden Ausdruck jetzt zu verleihn (V 28)

besteht aus zwei Daktylen, dazwischen liegt ein Trochäus; der Vers besitzt eine männli-
che Kadenz. Dieser Wechsel in der Metrik lässt sich als eine weitere Reflexion der Dif-
ferenz von harmonischem Ausdruck des Bildes und disharmonischer Darstellung des Ge-
schauten im Text verstehen.
       Auf dieselbe Art und Weise, wie sich das Gesicht der Abgebildeten im Gemälde im
Schatten befindet, womit ein Zurücktreten der Individualität verdeutlicht wird, bekennt
sich somit auch der Text zu einer Ästhetik der Oberfläche. Das Verschwinden des Ichs
im Bild zeigt sich aber nicht nur durch die Umsetzung einer Oberflächenästhetik, sondern
unter anderem auch durch das Verschwinden des Namens ›Lise‹ im Text. In Walsers
Gedicht ist dieser durch den Namen des Produzenten ersetzt. An die Stelle des Namens
tritt im Gedicht lediglich die saloppe Bezeichnung der Figur als einer »Süßen«.

Walsers prägnante Beschreibung der Lise integriert somit die Wirkung des Bildes und
dessen Charakterisierung im Kontext der zeitgenössischen Rezeptionen. Dass Walsers
Kunstbetrachter-Figuren nicht nur als unbeteiligte Museumsbesucher fungieren, sondern
stark in den Kunstdiskurs der jeweiligen Zeit eingebunden sind, ist in den letzten Jahren
zunehmend in den Blick der Walser-Forschung geraten. Auch im Gedicht Renoir ist der
Kunstbetrachter als eine Figur dargestellt, die dem Leser nicht nur das Gesehene anhand
einer Bildbeschreibung mitteilt, sondern die sich vor allem durch ein spezifisches Wissen

26
   Winckelmann: Werke I–VIII, Bd. IV, S. 55, zit. in: Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 846.
27
   Groddeck: Reden über Rhetorik, S. 57 u. 103. Traditionellerweise werden vier Stilqualitäten als Kriterien
für die sprachliche Gestalt einer Rede angeführt: Neben dem Aptum (vierte Stilqualität) sind dies Puritas
(Reinheit), Perspicuitas (Klarheit) und Ornatus (Schmuck) (ebd., S. 103).
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                  15

über das Gesehene, über eine charakteristische Art des Schauens und eine Auseinander-
setzung mit dem kunstgeschichtlichen Kontext auszeichnet. Mit dieser Interpretation
wurde versucht, dem Text Walsers auch methodisch gerecht zu werden, indem der Blick
– wie auch im Gedicht selbst – erweitert und auf Aspekte gelenkt wurde, die über den
Text hinausgehen. Dabei sollte die Aufmerksamkeit weniger auf Tendenzen Walsers zu
einem bestimmten Stil oder einer bestimmten Kunstgattung gelenkt werden, wie dies in
der bisherigen Forschung zur bildenden Kunst in Walsers Werk häufig vorgenommen
wurde, sondern vielmehr die vielfältigen Beziehungen zwischen Text und Bild herausge-
arbeitet werden.
      Das Gedicht Renoir, dessen komplexes Verhältnis von Bild und Text hier nur in
Ansätzen aufgezeigt werden konnte, stellt das Dichten bzw. die Dichterfigur und dessen
Wahrnehmung ins Zentrum. Mit dieser Zentrierung des Künstlersubjekts ist der Text ein
programmatisches Beispiel für eine Dichtung, in der die Auseinandersetzung der Sprache
mit dem Wahrnehmungsdiskurs der Moderne zum Ausdruck kommt.
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Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis
Zitate aus den folgenden Walser-Ausgaben werden unter der Verwendung einer Sigle und
unter Angabe der jeweiligen Bandnummer und der Seitenzahl direkt in Klammer im lau-
fenden Text nachgewiesen:

GW Walser, Robert: Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. 12 Bde. Genf und Ham-
      burg: Verlag Helmut Kossodo 1966–1975.
SW Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven.
      20 Bde. Frankfurt am Main und Zürich: Suhrkamp 1985–1986.

Primärliteratur
Goethe, Johann Wolfgang von: Scherz, List und Rache. Ein Singspiel. In: Ders.: Sämtli-
      che Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. I. Abteilung, Bd. 5: Dra-
      men 1776–1790. Hg. von Dieter Borchmeyer, unter Mitarbeit von Peter Huber.
      Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1988, S. 369–412.
Walser, Robert: Renoir. In: Prager Presse (17.7.1927).
Walser, Robert: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort
      versehen von Bernhard Echte. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2006,
      S. 103–117.

Sekundärliteratur
Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen
      Mundart. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Bd. 1. Leipzig: Breitkopf &
      Comp. 1793.
Baier, Lothar: Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers. In: Text + Kri-
      tik. Zeitschrift für Literatur 12 (1966), S. 22–27.
Boehm, Gottfried: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In: Gott-
      fried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschrei-
      bung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Wilhelm Fink 1995,
      S. 23–40.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                   17

Echte, Bernhard: Nachwort. In: Walser, Robert: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte.
      Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. Frankfurt am Main und
      Leipzig: Insel Verlag 2006, S. 103–113.
Evans, Tamara: Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen. Zu Robert Walsers Kunst-
      rezeption in der Berliner Zeit. In: Anna Fattori und Margit Gigerl (Hg.): Bilder-
      sprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Mün-
      chen: Wilhelm Fink 2008, S. 107–116.
Fleckner, Uwe: In voller Lebensgröße. Claude Monet und die Kunst des ganzfigurigen
      Porträts. In: Dorothee Hansen und Wulf Herzogenrath (Hg.): Monet und Camille.
      Frauenportraits im Impressionismus. München: Hirmer Verlag 2005, S. 42–51.
Greven, Jochen: Poetik der Abschweifungen. Zu Robert Walsers Prosastück Die Ruine.
      In: Wolfram Groddeck et al. (Hg.): Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge
      zur Forschung. München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 177–186.
Grimm, Jacob, Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1954, Nach-
      druck, 33 Bde. München: 1984.
Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frankfurt
      am Main: Stroemfeld 1995.
Groddeck, Wolfram: ›Weiß das Blatt, wie schön es ist?‹ Prosastück, Schriftbild und Po-
      esie bei Robert Walser. In: TEXT. Kritische Beiträge 3 (1997), S. 23–41.
Groddeck, Wolfram: Liebesblick. Robert Walsers Sonett auf eine Venus von Tizian. In:
      Konstanze Fliedl (Hg.): Kunst im Text. Unter Mitarbeit von Irene Fußl. Basel,
      Frankfurt am Main: Stroemfeld 2005, S. 53–66. (Nexus; 72)
Hansen, Dorothee und Herzogenrath, Wulf (Hg.): Monet und Camille. Frauenportraits
      im Impressionismus. München: Hirmer 2005.
Hansen, Dorothee: Camille und ihre ›Schwestern‹ – Ganzfigurige Frauenportraits als
      Programmbilder der modernen Malerei. In: Dorothee Hansen und Wulf Herzogen-
      rath (Hg.): Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus. München:
      Hirmer Verlag 2005, S. 94–111.
Hansen, Dorothee: Das Porträt als Kunstwerk – Monets Camille und das Ganzfiguren-
      bild in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Dorothee Hansen und
      Wulf Herzogenrath (Hg.): Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionis-
      mus. München: Hirmer Verlag 2005, S. 16–20.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                      18

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchges. und
      erw. Aufl. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin und New York: De Gruyter 2002.
Olbrich, Johann Harald u. a. (Hg.): Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, an-
      gewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. III. Leipzig: 1991.
Paret, Peter: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen
      Deutschland. Übersetzt von D. Jacob. Berlin: Severin und Siedler 1981.
Pfefferkorn, Rudolf: Die Berliner Secession. Eine Epoche deutscher Kunstgeschichte.
      Berlin: Haude & Spener 1972.
Prusák, Mariana: Visuelle Wahrnehmung als Poetologie. Ekphrasis in Robert Walsers
      später Lyrik. Unpubl. Lizenziatsarbeit. Universität Zürich 2011.
Renoir, Jean: Mein Vater Auguste Renoir. Übersetzt von Sigrid Stahlmann. München:
      Piper Verlag 1962.
Simon, Hans-Ulrich: Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst.
      Stuttgart: Metzler 1976 (Metzler Studienausgabe).
Thoré(-Bürger), (Etienne-Joseph-)Théophile: Salon de 1868. In: L’Indépendence belge,
      29. Juni 1868, übersetzt nach Rodolphe Walter: Critique d’art et vérité: Emile Zola
      en 1868. In: Gazette des Beaux-Arts 73 (1969), S. 225–234.
Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ›Jetztzeitstil‹. Frankfurt am Main:
      Suhrkamp 1998.
Weber, Werner: Robert Walser vor Bildern. II. Harmonie im Gedränge. In: Neue Zürcher
      Zeitung (30.7.1972).
Winckelmann, Johann Joachim: Werke I–VIII. Bd. IV. Hg. von Carl Ludwig Fernow,
      Heinrich Meyer und Johann Schulze. Dresden 1808–1820.

Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Pierre-Auguste Renoir: Lise, 1867. Öl auf Leinwand, 184 x 115 cm, Museum
      Folkwang, Essen.
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Walser gecovert
Zu Robert Walsers Buchtitelseiten und Illustrierungen1
von Kay Wolfinger (München)

Bild und Text und Text und Bild
Es ist keine neue Erkenntnis, zu postulieren, dass das Verhältnis von Text und Bild bei
Robert Walser eine besondere Rolle spielt. Zu offensichtlich sind die Querverbindungen
zwischen Malerei und Literatur, zwischen der Kunst und der Welt des Schriftstellers. In
vielen Texten Walsers spielen Bildbeschreibungen eine Rolle oder das Verhältnis eines
Schreibenden zu einem Maler.2 Auf der positivistischen Ebene von Walsers Erstveröf-
fentlichungen spielt das Verhältnis der Bilder zum Text für den Rezipienten insofern eine
besondere Rolle, da Walsers Bücher sowohl durch die Gestaltung der Titelbilder als auch
mit Binnenillustrierungen den Lese- und Verständnisakt beeinflussen und da in den meis-
ten Fällen mit einer vom Autor (und vom jeweiligen Illustrator) intendierten Wirkung zu
rechnen ist.3 Einige Beispiele möchte dieser Aufsatz pointieren und Hinweise zur Funk-
tion und zur Verschränkung von Text und Bild bei Robert Walser geben.
       Dies alles soll unter dem Stichwort ›Walser gecovert‹ geschehen. Im Bereich der
Popmusik ist der Begriff des Covers ein durchaus gebräuchlicher. Er bezeichnet zum ei-
nen die Hülle einer Platte, aber auch das Bild und den Schriftzug auf der Vorderseite der

1
  Diese Ausführungen wurden zuerst als Vortrag gehalten im Oktober 2012 anlässlich der Jahrestagung der
Robert Walser-Gesellschaft im Fotomuseum Winterthur unter der Überschrift Bild, Schrift, Text. Eine An-
lehnung an die mündliche Vortragssituation wurde beibehalten. Einige Stellen wurden erweitert. – Im No-
vember 2012 habe ich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar ebenfalls einen Vortrag gehal-
ten, der sich unter dem Titel Buchdeckelinterpretationen der Frage widmete, inwiefern man durch Buch-
deckel zu produktiven Deutungen des Buchinhalts gelangen kann. Den Terminus Buchdeckel verwende
ich in einem erweiterten Sinn, um den Ort des Bildes auf der Vorderseite eines Buches zu bezeichnen. In
einem engeren Sinn ist der Buchdeckel bei einem Hardcover ein »Teil der Buchdecke bzw. des äußeren
Bucheinbandes. Jeder Einband hat einen Vorder- und einen Rückdeckel.« Rautenberg: Reclams Sachlexi-
kon des Buches, S. 88.
2
  Vgl. Echte, Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser.
3
  Hierbei ist natürlich der biografische Positivismus (Was wollte Walser selbst?) von einem interpretativen
Verständnisakt zu unterscheiden, der gar nicht den Anspruch erhebt, die Absicht des Autors zu treffen.
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Plattenverpackung, und in diesem Sinne wird er mittlerweile auch für einen Bucheinband
und die Titelgestaltung verwendet. Zum anderen meint der Begriff Cover eine Neuinter-
pretation eines bereits bestehenden Musikstückes. Beide Begriffsdimensionen sollen bei
Robert Walser zur Anwendung kommen, weshalb eine schlaglichthafte Einführung in die
Buchdeckel Walsers gegeben und gezeigt werden soll, inwieweit verschiedene Bebilde-
rungen zu den Covern der Walsertexte beitragen, also zur Reinterpretation eines zugrun-
deliegenden Textes. Derselbe Inhalt wird durch ein anderes Gewand gecovert.4
       Wenn man in den Bereich von Robert Walsers Texten und Textchen blickt, in seine
Romane, seine Prosastückliwerkstatt und sein Bleistiftgebiet, dann sind die Verknüpfun-
gen und Querverstrebungen zwischen seinen Arbeiten und den Bildern seines Bruders,
dann ist das Verhältnis von Schriftstellerleben und Malerschaffen so vielfältig, dass man
es nicht ohne weiteres aufzuzählen vermag: Prosastücke, die Robert unter Inspiration der
Bilder seines Bruders geschrieben hat5, sprachliche Anreize von Robert, die Karl mit dem
Pinsel visualisiert hat6. Bildbände und Überblicksdarstellungen stellen sich diesem ufer-
losen Meer aus Fakten und Zusammenhängen, zählen auf, stellen dar und führen vor Au-
gen.7 Eine Übersicht über die Bücher Walsers, deren Erscheinungsbild in Zusammenar-
beit mit seinem Bruder Karl entstand, sähe folgendermaßen aus:

Von Karl Walser gestaltete Titelbilder und illustrierte Bücher Robert Walsers:
    - Fritz Kochers Aufsätze (1904)
    - Gedichte (1908)
    - Aufsätze (1913)
    - Geschichten (1914)
    - Seeland (1919)
Von Karl Walser gestaltete Titelbilder Robert Walsers:

4
  Gewiss bildet gerade seit dem 20. Jahrhundert die Tradition der Buchcover ein eigenes weites Forschungs-
thema. Man denke nur an Gestalter und Typographen wie Kurt Weidermann oder die Cover eines Peter-
Andreas Hassiepen. Dem markanten dtv-Designer Celestino Piatti wurde beispielsweise ein eigener Fest-
band gewidmet: Weber: Celestino Piatti.
5
  Vgl. z. B. Leben eines Malers (SW 7, 7) oder Damenbildnis (SW 16, 339).
6
  Siehe z. B. die textnahen Illustrationen zum Band Gedichte (1909).
7
  Vgl. die Walser-Bildbände von Jürg Amann und Bernhard Echte (Amann: Robert Walser; Echte: Robert
Walser; Echte, Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser). In den Geisteswissenschaften hat sich unter
Betonung einer Dominanz der Bilder in den letzten Jahren die theoretische Richtung des Iconic Turn etab-
liert.
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      - Geschwister Tanner (1907)
      - Der Gehülfe (1908)
      - Jakob von Gunten (1909)
      - Kleine Dichtungen (1914)
      - Prosastücke (1916)
      - Die Rose (1925)
Dass nicht zuletzt für Robert Walser als Autor die Gestaltung seiner Bücher höchste Pri-
orität hatte, ist durch biographische Zeugnisse belegt. Beispielsweise schreibt Walser
über die Gestaltung seines Buches Geschichten in einem Brief an den Kurt Wolff Verlag:

         Was den übrigen Inhalt Ihres Schreibens anbelangt, so teile ich Ihnen mit, daß
         Karl Walser für das Geschichtenbuch Federzeichnungen machen wird. Die
         Geschichten (alles gedruckte) sind vom Künstler sorgfältig, als für die Illust-
         ration am besten geeignet, ausgewählt worden. (Br, S. 59; Nr. 65)

So unterstreicht ein Hinweis von Walser selbst, welche Bedeutung er der Bebilderung
und Gestaltung seiner Bücher gegeben hat. Die Gestaltung von Büchern hat auch Eingang
in Walsers Erzählungen genommen; sein Prosastück Der Buchdeckel formuliert beiläufig
humoristisch eine (mutmaßlich auf einer wahren Begebenheit beruhende) Anekdote, in
der ein Bekannter des Dichters nur den Buchdeckel lobte:

         Jeder Autor hat seinen Bekanntenkreis, und so sandte ich das Buch an eine
         Persönlichkeit, die mir schrieb, sie danke mir, könne aber zunächst nur dem
         Buchdeckel ein Lob spenden. Das andere wolle sie sich gelegentlich zu Ge-
         müte führen. / Fühle mir nach, was ich empfand; ich war paff und blieb ein
         Weilchen völlig konfus. Die eigentümliche Art, Werke der Feder zu würdi-
         gen, machte auf mich den Eindruck eines Erlebnisses, das sich mir einprägte
         und ich dir deshalb hier auftische. (SW 16, 271)8

Ausgangspunkt: Der Räuber
Der unvergessliche Walser-Herausgeber Jochen Greven gibt in seiner von Walser inspi-
rierten Forschungsautobiographie einen Hinweis zur Buchgestaltung, bei der er – ganz
im Gegensatz zum Buchdeckel-Prosastück – sehr genau auf die passenden Bilder zu ei-
nem vorliegenden Walser-Text achtete:

8
    Vgl. auch die Betonung der Buchdeckel in diesem Prosastück und in Abhandlung (SW 17, 144).
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                          22

         1998 begann der Suhrkamp Verlag, die zwanzig Taschenbuchbände der
         ›Sämtlichen Werke in Einzelausgaben‹ Robert Walsers bei Gelegenheit von
         Nachdrucken mit neuen farbigen Umschlägen auszustatten. Dafür verwen-
         dete man Motive aus Bildern des Schweizer Malers Felix Valloton [sic!], ei-
         nes ungefähren Zeitgenossen Walsers, eine originelle, attraktive und nicht un-
         passende Wahl, auch wenn sich aus ihr im Einzelnen einige etwas kuriose
         Assoziationen ergaben, etwa wenn sich Walsers ›Räuber‹, der doch zweifels-
         frei in Bern daheim ist, nun mit einem St. Petersburger Newa-Panorama il-
         lustriert sieht, oder der natürlich in und bei Biel stattfindende ›Spaziergang‹
         mit fremdartigen Bretagne-Anmutungen daherkommt.9

                        Abbildung 1: Robert Walser: Der Räuber (SW 12).

In seiner humorvollen, kenntnisreichen und historiografischen Nacherzählung der post-
humen Werkgenese Walsers und der Wiederentdeckung des einst vergessenen Autors
schildert Greven dieses Kuriosum und weist am Beispiel des Räuber-Romans, den
Walser nie veröffentlicht hat und nicht mit einer von ihm geplanten Gestaltung versehen
konnte, darauf hin, dass er mit einem Coverbild ausgestattet wird, das nicht recht zum
Inhalt des Buches passt. Mittlerweile viel zitiert und reproduziert ist hingegen jenes be-
rühmte Aquarell, das Karl Walser von seinem jugendlichen Bruder Robert im Räuber-
kostüm anfertigte und das Walser im Räuber-Roman beschreibt; seither ziert es viele
Buchausgaben und auch Übersetzungen des Räuber-Romans.

9
    Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker, S. 245f.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                     23

         Abbildung 2: Karl Walser: Nach Natur [Robert Walser als Karl Moor]

Da das biografisch fundierte Räuberaquarell einem fiktionalen Text beigeordnet wird,
konkretisiert sich seine Funktion: Gewissermaßen schließt das Räuber-Aquarell den bio-
grafischen Kreis und scheint aufzuzeigen, dass Robert Walser selbst sich in der Verklei-
dung seines Berner Räubers befindet, während das Vallotton-Motiv von diesem Akzent
Abstand nimmt und als Umschlagsbild die Handlung des Romans örtlich verfremdet, wo-
bei Greven die zu große Nähe zum russischen Erscheinungsbild unterstreicht. Man kann
also feststellen, dass die Interpretation eines Dichterwerkes durch ein Buchcover durch
strukturelle Äquivalenzen, Strukturähnlichkeiten und Parallelismen geschieht, welche
wir deuten und einordnen. Das Bild des Buchdeckels gibt uns bereits durch seine Stim-
mung eine Lesart vor oder modelliert die Hauptfigur oder ein wichtiges Handlungsele-
ment heraus. Wir können gar nicht anders, als im Titelbild die Gemeinsamkeit mit dem
Schrifttext selbst zu suchen.

Die Illustration und das Thema Schule
Ich habe bereits kurz angedeutet, dass die für Robert Walser so typische Räuberfigur, die
er in seinem großen Roman geradezu magisch auflädt, unter Hinzudenken von Walsers
jugendlicher Räuberbegeisterung auch mit der Figur des Schülers und dem jugendlichen
Schreiber zusammenhängt. Bereits Walsers erste Buchveröffentlichung, die Geschichten-
sammlung Fritz Kochers Aufsätze (1904) gliedert sich lückenlos ein in einen zeithistori-
schen Diskurs von Schulstoffen, Schülergeschichten und Schülerromanen. Eine Illustra-
tion Karl Walsers für Roberts Text Die Schulklasse zeigt eine zeittypische Schulklasse,
die allerdings im Schrifttext existentiell überhöht und zu einem Konstrukt für die
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                                24

Befindlichkeit der Gesellschaft wird, deren Keimzelle bereits im Mikrokosmos der
Schule angelegt scheint.

      Abbildung 3: Die Schulstube. Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze (1904)

Robert Walser schreibt:

      Unsere Schulstube ist die verkleinerte, verengte Welt. Unter dreißig Men-
      schen können doch gewiß ebensogut alle Empfindungen und Leidenschaften
      vorkommen, wie unter dreißigtausend. Unter uns spielen Liebe und Haß, Ehr-
      und Rachsucht, edle und niedere Gesinnung eine bedeutende Rolle.
      (SW 1, 47)

Dieser Topos der Schulklasse in Form eines negativen Bildungsromans, oft verbunden
mit problematischer Sozialisation, Kritik an Autoritätshörigkeit und Unterdrückungs-
mentalität befindet sich fest im kollektiven Empfinden der Autoren zu Beginn des
20. Jahrhunderts nach der Décadence-Epoche am Fin de siècle im Militär- und Diener-
staat. Rainer Maria Rilke schreibt seine Geschichte Die Turnstunde (1902), eine Adoles-
zenzerzählung, die für die Hauptfigur in den Tod führt; Franz Werfel konstruiert in sei-
nem Roman Der Abiturientag (1928) die Schule als Ausgangspunkt für ein scheiterndes
Leben, und Emil Strauß verfasst seinen Roman Freund Hein (1902). Bei Betrachtung von
Jakob von Guntens Kleidern, den Covern, werden wir noch näher mit diesem Schülerro-
man-Diskurs um 1900 konfrontiert werden.10

10
  Zur weiteren Vertiefung des Genres der Schüler- bzw. gleichsam Adoleszenzromane verweise ich auf:
Lange: Adoleszenzroman, S. 6–20 und Gansel: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literatur-
wissenschaftlicher Forschung, S. 130–149.
Vorträge der Robert Walser-Gesellschaft 13 (2012)                                     25

Robert Walsers (Bilder-) Geschichten (1914)
Da das Beispiel der ›Räuber-Roman‹-Gestaltung ganz der späten Veröffentlichungsge-
schichte von Walsers Werk entstammt und der Schuldiskurs im nächsten Abschnitt an-
hand von Jakob von Gunten verdeutlicht werden soll, sei nun zunächst noch ein Blick in
das Zusammenspiel von Bild und Text gewagt, wie Robert Walser mit ihm zu Lebzeiten
konfrontiert war. Besonders auffällig ist hier ein von Karl Walser etablierter Bildtypus,
der sich durch Interpretation der Bildmotive auf den Gestus von Walsers Texten über-
trägt: der des melancholischen, nachsinnenden Dichters. Besonders deutlich wird dies
angesichts von Walsers Textsammlung Geschichten aus dem Jahr 1914. Bereits das Ti-
telcover zeigt uns die Urszene, die zur Entstehung der Textsammlung nötig zu sein
scheint: den an seinem Schreibtisch vor sich hinbrütenden, in den Texten des Buches
selbst immer auch als melancholisch charakterisierten Dichter.

                    Abbildung 4: Robert Walser: Geschichten (1914).
                                  Museum Neuhaus Biel

So schreibt Walser in der Zusammenstellung seiner Texte unter dem Titel Sechs kleine
Geschichten neben diesem Band Von einem Dichter: »Ein Dichter beugt sich über seine
Gedichte« (SW 2, 7). Und: »Eins aber ist sicher, der Dichter, der sie gemacht hat, weint
noch immer, über das Buch gebeugt« (SW 2, 8). Die konzentrierte Textproduktion und
das Weinen sind miteinander verbunden, wie uns auch die Illustrierung Karl Walsers ver-
deutlicht.
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