Was kommt nach der Rushhour? - Lebenslagen und Lebensverläufe von Frauen und Männern in der Lebensmitte

 
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Was kommt nach
		der Rushhour?

Lebenslagen und Lebensverläufe von
Frauen und Männern in der Lebensmitte

Norbert F. Schneider, Harun Sulak und Ralina Panova

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Was kommt nach
		der Rushhour?

Lebenslagen und Lebensverläufe von
Frauen und Männern in der Lebensmitte

Norbert F. Schneider, Harun Sulak und Ralina Panova
Inhaltsverzeichnis

    Vorwort                                                                                        5

    1 Einleitung: Der Lebenslauf zwischen sozialer Konstruktion und individueller Gestaltung       6

    2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters                                              8

      2.1 Der institutionalisierte Lebensverlauf                                                   9
      2.2 Wandel des Lebenslaufs                                                                  10
      2.3 Spezifizierung der Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters                          13
      2.4 Konkrete Abgrenzung des Lebensabschnitts auf Basis des Eintritts einzelner Ereignisse   16

    3 Lebenslagen im mittleren Erwachsenenalter                                                   19

      3.1 Lebensformen und Familiensituation                                                      21
      3.2 Erwerbssituation                                                                        27
      3.3 Partnerschaftliche Arbeitsteilung                                                       37
      3.4 Einkommenssituation                                                                     39
      3.5 Regionale Disparitäten bei den Lebenslagen                                              41
      3.6 Zusammenfassende Ergebnisse zu Lebenslagen im mittleren Erwach­senenalter               50

    4 Lebensereignisse im mittleren Erwachsenenalter                                              52

      4.1 Familiale Ereignisse                                                                    53
            4.1.1 Heirat, Familiengründung und Auszug der Kinder                                  53
            4.1.2 Scheidung und Wiederheirat                                                      54
            4.1.3 Übernahme von Pflegeaufgaben                                                    56
            4.1.4 Sterblichkeit und Tod des Partners                                              57
            4.1.5 Gesundheitliche Situation                                                       57
      4.2 Erwerbstätigkeit                                                                        58
            4.2.1 Elternzeit                                                                      59
            4.2.2 Wiedereintritt ins Erwerbsleben                                                 60
            4.2.3 Ende der regulären Erwerbstätigkeit                                             60
      4.3 Regionale Disparitäten                                                                  61
      4.4 Zusammenfassende Ergebnisse zu Lebensereignissen im mittleren Erwachsenenalter          64

2
Inhaltsverzeichnis

5 Lebensmuster und Lebensverläufe im mittleren Erwachsenenalter                      66

  5.1 Typische Lebenslaufmuster und ihre Einflussfaktoren                            67
  5.2 Lebenszufriedenheit im Lebensverlauf                                           69

6 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters im europäischen Vergleich          73

  6.1 Lebensformen                                                                   75
  6.2 Erwerbstätigkeit                                                               77
  6.3 Zeitverwendung                                                                 80
  6.4 Lebenszufriedenheit im europäischen Vergleich                                  81

7 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse                                  83

  7.1 Zusammenfassung der wichtigsten Befunde                                        84
  7.2 Konsequenzen für politisches Handeln                                           87

Literatur                                                                            89

Autorinnen und Autoren                                                               95

                                                                                              3
Vorwort

Ein Schwerpunkt der Familienpolitik in Deutsch-     Während Väter nach der Geburt ihrer Kinder
land liegt seit Jahren auf Familien mit Vorschul-   weiterhin voll erwerbstätig bleiben, schrän-
kindern und der besseren Vereinbarkeit von          ken Mütter, vor allem in Westdeutschland, ihre
Familie und Beruf. Diese Lebensphase, die ver-      Erwerbstätigkeit oftmals langfristig stark ein. Im
breitet als Rushhour des Lebens bezeichnet wird,    Vergleich zum Westen Deutschlands zeigt sich
erstreckt sich vielfach auf die Altersspanne zwi-   für Ostdeutschland ein anderes Bild. Besonders
schen dem 25. und 35. Lebensjahr.                   deutlich ist der Unterschied bei der Erwerbs-
                                                    beteiligung von Müttern. Ostdeutsche Frauen
Während die Phase der Rushhour des Lebens           praktizieren eine geringere und kürzere Erwerbs-
wissenschaftlich gut erforscht ist und in viel-     unterbrechung und sie sind in einem erheb-
fältigen politischen Maßnahmen ihren Nieder-        lich höheren Umfang erwerbstätig als Mütter im
schlag gefunden hat, ist die sich daran             Westen. Neben geschlechtstypischen und regio-
anschließende Lebensphase des mittleren             nalen bestehen auch vielfältige sozialstrukturell
Erwachsenenalters zwischen dem 35. und 59.          bedingte Unterschiede bei den Lebensverlaufs-
Lebensjahr bislang wenig wissenschaftlich           mustern.
erforscht. Dabei bildet diese Lebensphase die
längste Periode im Lebensverlauf, in der sich       Was bedeutet dieser Befund für die Familien-
gegenwärtig 36 Prozent der Bevölkerung in           politik? Aufgrund der vorliegenden wissen-
Deutschland befinden.                               schaftlichen Ergebnisse ist es wichtig, den mitt-
                                                    leren Lebensabschnitt verstärkt in den Blick von
Ebenso wie das junge Erwachsenenalter unterliegt    Forschung und Politik zu nehmen. Es zeichnen
das mittlere Erwachsenenalter einem gesellschaft-   sich heute neue Lebensläufe hinsichtlich des
lichen Wandel, der durch eine zunehmende Plu-       Zeitpunktes der Familiengründung, der Lebens-
ralisierung und Destandardisierung der Lebens-      formen und der Bildungs- und Berufsbiografien
verläufe gekennzeichnet ist. Die Vorstellung        ab. In bestimmten Phasen des Lebensverlaufs
eines „Normallebenslaufs“ aus Ausbildung, einer     benötigen Familien eine spezielle Unterstützung
längeren aktiven Lebensmitte und Ruhestand ist      durch finanzielle Transfers, bestimmte Zeitfenster
heute obsolet geworden und einer wachsenden         und Infrastruktur. Diese Phasen sind nicht nur auf
Vielfalt der Lebensverläufe in Familie und Beruf    die Rushhour des Lebens konzentriert, sondern
gewichen. Hinzu kommt, dass klar definierte         umfassen immer stärker das mittlere Lebensalter.
Altersnormen und Geschlechterrollen, die diese      Die folgenden Ausführungen befassen sich aus-
Lebensphasen prägten, an Bedeutung verloren         führlich aus wissenschaftlicher Sicht mit dem mitt-
haben. So spannt sich die Lebensmitte von einer     leren Lebensabschnitt und zeigen darüber hinaus
späten Familiengründung nach dem 35. Lebens-        politischen Handlungsbedarf auf.
jahr über die Familienerweiterung bis zum Aus-
zug der Kinder. Oft mündet sie in der Pflege der
Familienangehörigen.                                Christine Henry-Huthmacher

Trotz der zunehmenden Vielfalt und trotz der
abnehmenden Bedeutung von traditionellen
Geschlechterrollen hat die Familiengründung
weiterhin unterschiedliche Auswirkungen auf das
Leben von Männern und Frauen in der Lebensmitte.

                                                                                                          5
Einleitung:
    Der Lebenslauf zwischen
sozialer Konstruktion und
individueller Gestaltung
1 Einleitung

Im Fokus dieser Arbeit steht die Lebensphase           strukturelle Restriktionen und Opportunitäten
des mittleren Erwachsenenalters. Was kommt             (z. B. die Verfügbarkeit an Kinderbetreuungs-
nach der oftmals ereignisreichen und zeitin­           plätzen oder das Angebot an Teilzeitarbeits-
tensiven Rushhour des Lebens, also nachdem             plätzen). Das Timing und die Reihenfolge von bio-
wichtige Lebensentscheidungen über Berufsle­           grafischen Ereignissen, die Lage und Dauer von
ben, Wohnort und Familiengründung getroffen            Lebensphasen, die Wahrscheinlichkeit, mit der
wurden? Wie gestalten sich Lebensverläufe              bestimmte Ereignisse überhaupt auftreten (z. B.
und Lebenswelten von Männern und Frauen,               die Geburt eines zweiten Kindes) sind vielfach
von Müttern und Vätern in der Lebensmitte? In          nicht allein das Ergebnis freier individueller Ent-
welchen Lebensformen leben sie, wie glücklich          scheidungen, sondern auch in hohem Maße kul-
und zufrieden sind sie in dieser Lebensphase,          turell und gesellschaftlich beeinflusst. Dabei sind
welche Ressourcen und Restriktionen prägen             regionale und sozialstrukturelle Differenzierun-
ihr Leben? In dieser Arbeit sollen diese Fragen        gen weiterhin in erheblicher Form zu beobachten.
diskutiert werden, indem eine Darstellung der          Beispiele sind die bildungsspezifische Wirkung
Lebensverläufe und Lebenslagen der Men­                von Elterngeld auf Fertilität (Bujard und Passet
schen in der Lebensmitte vorgenommen wird.             2013) und auf die Erwerbsbeteiligung von Müttern
Betrachtet wird die Lebensphase zwischen               (Bujard 2013) sowie die regional stark variierende
35 und 59 Jahren, also die Phase, die für die          Inanspruchnahme von Elternzeit durch Väter
Mehrheit der Menschen in Deutschland als               (Huebener et al. 2016). Regionale und sozialstruk-
Familienphase mit kleinen Kindern beginnt,             turelle Differenzen sind also bei der Analyse von
bei einigen aber auch die Familiengründung             Lebensläufen stets mit zu berücksichtigen. Vor
und Familienerweiterung umfasst. Der Auszug            diesem Hintergrund wird von einer Vielfalt der
der Kinder aus dem Elternhaus markiert die             Lebensläufe und ihrer typischen Muster aus-
späte Phase dieses Lebensabschnitts, der durch         gegangen. Neben dieser Vielfalt existieren auch
eine hohe Erwerbsbeteiligung charakterisiert           allgemeine Trends, die einen Großteil der Lebens-
ist. Für Kinderlose wird hingegen die mittlere         läufe in der Gegenwart kennzeichnen. Bezogen
Lebensphase durch die intensive Erwerbsbetei­          auf die Familienentwicklung lassen sich etwa fol-
ligung definiert und endet mit dem nahenden            gende Charakteristika feststellen: Die Verbreitung
Übergang in den Ruhestand.                             nichtehelicher Familienformen, der Wandel der
                                                       Eltern-Kind-Beziehungen von autoritären hin zu
Der Lebenslauf hat aus soziologischer Perspektive      partnerschaftlichen Beziehungen sowie der bio-
stets einen doppelten Charakter: Er ist eine indivi-   grafische Aufschub der Familiengründung prägen
duell gestaltete Biografie und zugleich eine soziale   heute individuelle Lebensläufe ebenso wie die
Institution, da Lebensläufe stets überindividuell      fortbestehende hohe Bedeutung des partner-
in ähnlicher Weise durch gesellschaftliche Nor-        schaftlichen Zusammenlebens und die weiter-
men und soziale Regelmäßigkeiten geprägt               hin im Kern sehr stabile soziale Konstruktion
werden (Elder 2000). Regionale und milieu-             von Geschlechter- und insbesondere von Eltern-
typische Opportunitätsstrukturen und normative         rollen, bei der der Mutter weiterhin die Hauptver-
Erwartungen prägen und formen den Lebenslauf           antwortlichkeit für die Pflege und Erziehung der
differenziell, sodass Entwicklungsverläufe über        Kinder zugeschrieben wird (Schneider 2015: 24).
Raum und Zeit und über verschiedene Gesell-            Eingebettet in übergeordnete gesellschaftliche
schaftsschichten hinweg oftmals stark variieren        Wandlungsprozesse wie Bildungsexpansion, Ver-
(Müller 2012). Im Hinblick auf die gesellschaftliche   änderungen des Arbeitsmarkts, zunehmende Indi-
Prägung der Lebensverläufe können drei Formen          vidualisierung sowie wachsende Buntheit sozialer
von Restriktionen und Opportunitätsstrukturen          Milieus und Lebensstile haben sich die Rahmen-
unterschieden werden: kulturelle (z. B. Leit-          bedingungen verändert, in denen Lebensläufe
bilder und Geschlechterrollen), normativ-recht-        und Biografien entstehen und sich entfalten.
liche (gesetzliche Regelungen zum Arbeitsmarkt
oder familienpolitische Regelungen) sowie infra-

                                                                                                                7
Die Lebensphase
		des mittleren
Erwachsenenalters
2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters

2.1 Der institutionalisierte                         lauf also primär nicht als Individualphänomen
Lebensverlauf                                        gesehen, sondern als ein kollektiver Tatbestand,
                                                     der individuelles Verhalten prägt und beeinflusst
Um die Lebensphase des mittleren Erwachsenen-        (Mayer und Diewald 2007).
alters und seine typischen Merkmale theoretisch
einzuordnen, wird zunächst das soziologische         Neben der Perspektive der Differenzierung des
Konzept des Lebensverlaufs betrachtet. Danach        Lebensverlaufs nach Statusgruppen ist auch die
hat zwar jeder Mensch eine einzigartige Biografie    Entwicklung des Lebensverlaufs im sozialen Wan-
und Lebensgeschichte, aber Biografien folgen viel-   del bedeutsam. Der Lebensverlauf als Institution
fach eben auch bestimmten Mustern und sind           ist durch die historischen Umstände geprägt und
auf den zweiten Blick oft weniger individuell als    seine Standardmuster variieren zwischen Gesell-
sie zunächst erscheinen. Der Lebensverlauf kann      schaften. Der Zusammenhang zwischen dem indi-
als Abfolge von Lebensereignissen und Lebens-        viduellen Lebenslauf und dem zeitgeschichtlichen
phasen begriffen werden, die gesellschaftlich        Kontext lässt sich an den aufeinanderfolgenden
mehr oder weniger stark institutionalisiert sind.    Generationen festhalten: „Sozialer Wandel
Im Alter von sechs Jahren beginnt die Schulpflicht   lässt sich durch das Ausmaß, in dem sukzessive
und sie hat eine genau bestimmte Mindestdauer.       Geburtskohorten unterschiedlichen Lebens-
Im siebten Lebensjahrzehnt endet für die meis-       laufmustern folgen, bestimmen.“ (Huinink und
ten die Phase aktiver Erwerbstätigkeit, selbst       Konietzka 2007: 42). So können die Lebensläufe
dann, wenn manche noch weiter arbeiten möch-         von bestimmten Geburtskohorten, die in Zeiten
ten. Dies sind Beispiele, dass die Entwicklung des   von forciertem und abruptem gesellschaftlichen
Lebensverlaufs gesellschaftlich geformt wird,        Wandel eingebettet sind, neuen bzw. anders-
auch wenn die individuellen Lebenswege den           artigen Mustern folgen. Die komplexe Struktur
eigenen Entwicklungs- und Erfahrungsraum prä-        des Lebenslaufs lässt sich durch die folgenden
gen. Unabhängig von institutionalisierten Regeln     drei Prägungsmerkmale beschreiben:
weist die Gestaltung des Lebensverlaufs oftmals
typische Muster und soziale Regelmäßigkeiten         1.   ,,Interdependenz zwischen den handelnden
auf, wobei nicht selten erhebliche Unterschiede           Menschen und sozialen Strukturen sowie den
zwischen sozialen Gruppen bestehen. Denn kul-             Lebensläufen anderer Menschen, mit denen
turelle und ökonomische Gegebenheiten stellen             man in sozialen Beziehungen verbunden ist“
sich in jeder Lebensphase für unterschiedliche            (Mehrebenenbezug)
Statusgruppen verschieden dar und bestimmen
maßgeblich die individuellen Lebensläufe (Clau-      2.   „Interdependenz zwischen den verschiedenen
sen 1986; Elder 2000). Aus der soziologischen             Lebensbereichen im Leben eines Menschen“
Lebensverlaufsperspektive folgt die menschliche           (Mehrdimensionalität)
Entwicklung nicht nur der Biologie, sondern ist
auch gesellschaftlich organisiert und besteht aus    3.   „Interdependenz zwischen Lebensgeschichte
bestimmten zeitlich normierten Lebensphasen               und Lebenszukunft’’ (Zeitdimension)
oder Übergängen. Ereignisse und Zustände im               (Huinink und Konietzka 2007: 45).
Leben sind oft am Lebensalter orientiert. Der
Lebenslauf wird im Kern durch den Zeitpunkt          In der Soziologie wird zwischen Lebenslauf und
(Timing), den Abstand (Spacing) und die Reihen-      Lebensverlauf unterschieden. Der Begriff des
folge von Ereignissen in der Lebenszeit sozial       Lebenslaufs bezeichnet dabei die individuellen
strukturiert (Elder 1978: 21). Dadurch entstehen     Merkmale des menschlichen Lebens, während der
Lebensphasen unterschiedlicher Dauer und Lage        Begriff des Lebensverlaufs sich auf institutiona-
im Lebensverlauf. Die Gesamtheit dieser Über-        lisierte Lebensläufe und seine kollektiven Merk-
gänge, Ereignisse, Statuspassagen und Lebens-        male bezieht. Der Lebenslaufperspektive zufolge
phasen bildet das Lebensverlaufsmuster. In der       bewegen sich Individuen im Lebensverlauf durch
soziologischen Forschung wird der Lebensver-         eine Abfolge von altersspezifischen Ereignissen,

                                                                                                          9
Was kommt nach der Rushhour?

      Situationen und sozialen Rollen (Elder 1977),        2.2 Wandel des Lebenslaufs
      wobei Auftreten und Timing von Lebensereig-
      nissen durch normative Erwartungen und durch         Für die Nachkriegszeit in Westdeutschland lassen
      institutionelle Rahmenbedingungen geprägt wer-       sich zwei Phasen des Wandels der Lebensver-
      den (Elder 1977; Mayer 2001, 2003). Individuelle     läufe und der Biografien unterscheiden: Erstens
      Lebensverläufe sind eng mit der Dynamik der          eine Phase der Institutionalisierung und Standar-
      sozialen Gruppe verbunden, zu der die Personen       disierung bis etwa 1970 und danach eine Phase
      gehören (Mayer 2003). Auf der einen Seite variie-    der De-Institutionalisierung, Pluralisierung und
      ren die institutionellen Arrangements von Gesell-    Entstandardisierung der Lebensverläufe (Müller
      schaft zu Gesellschaft, wodurch interkulturelle      2012). Bis in die 1980er Jahre hinein dominierte
      Unterschiede in den institutionalisierten Pfaden     in Deutschland ebenso wie in den meisten west-
      und Lebensverlaufsmustern entstehen. Anderer-        lichen Gesellschaften die Vorstellung von einem
      seits variieren die Lebensverläufe über Status-      „Normallebenslauf“. Er stellt eine durch die Gesell-
      gruppen innerhalb einer Gesellschaft hinweg, bei-    schaft institutionalisierte Form eines typischen
      spielsweise in Abhängigkeit vom Bildungsniveau       Lebensverlaufs aus drei sequentiellen Abschnitten
      (Elder 1977; Mayer 2003). Der individuelle Lebens-   dar. Das so genannte Drei-Phasen-Modell beginnt
      verlauf entwickelt sich in verschiedenen Lebens-     mit einer kurzen Phase des Aufwachsens, Lernens
      bereichen wie Beruf und Familie, wobei zwischen      und der Ausbildung, woran sich eine längere
      diesen Bereichen mehrere Interdependenzen            aktive mittlere Lebensphase anschließt, die in
      bestehen (Mehrdimensionalität) (Mayer 2003).         die inaktive Alters- und Ruhestandsphase mündet.
      Dabei implizieren die verschiedenen Lebens-          Klar definierte Altersnormen und Geschlechter-
      bereiche konkurrierende Anforderungen, für die       rollen prägten diese Lebensphasen in erheblicher
      nur sehr begrenzte Zeit und Ressourcen zur Ver-      Form einheitlich. Eine Dominanz dieses „Lebens-
      fügung stehen (Elder 1977).                          zyklusmodells“ kann für die Zeit zwischen 1955
                                                           und 1975 behauptet werden (Huinink 2008). Es
                                                           hat aber auch heute noch nicht vollständig an
                                                           Bedeutung verloren. Gegen Ende des 20. Jahr-
                                                           hunderts wurden schnell wechselnde soziale und
                                                           kulturelle Bedingungen, die mit unterschiedlichen
                                                           Anforderungen an individuelle Lebensläufe ein-
                                                           hergehen, bedeutsamer. Dadurch entsteht eine
                                                           wachsende Vielfalt und zunehmende Brüchigkeit
                                                           von Lebenswegen und Lebensläufen. Schlagworte
                                                           wie „De-Institutionalisierung“, „De-Standardisie-
                                                           rung von Lebensverläufen“ und „Entstrukturierung
                                                           des Lebenslaufs“ (Hurrelmann 2003) beschreiben
                                                           diesen Prozess des sozialen Wandels. Mayer (1998)
                                                           fasst drei Aspekte der Auflösung der früheren
                                                           Standardisierung des Lebensverlaufs zusammen:

                                                           ››   Die Aufteilung des Lebensverlaufs in drei klar
                                                                voneinander differenzierte Phasen wurde
                                                                durch häufigere Wechsel zwischen Aus-
                                                                bildung, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosig-
                                                                keit bzw. Nicht-Erwerbstätigkeit, vorgezogene
                                                                Freizeitphasen im mittleren Lebensalter sowie
                                                                häufigere zweite berufliche Karrieren „flexibili-
                                                                siert“. In den Sozialwissenschaften werden oft
                                                                sechs oder mehr Phasen des Lebenslaufs dif-

10
2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters

     ferenziert. Zudem sind die Übergangsphasen        leicht zwischenzeitlich einmal oder mehrmals
     zwischen Ausbildung und Beruf einerseits          wieder zurück in den Elternhaushalt oder leben
     und zwischen Arbeit und Ruhestand anderer-        sogar in zwei Haushalten. Insgesamt hat das Hin
     seits häufig differenzierter, ausgedehnter        und Her zwischen verschiedenen Lebensformen
     und prekärer. Daher gibt es neben der Ver-        zugenommen, so Huinink (2008). Paarbeziehungen
     abschiedung vom „Drei-Phasen-Modell“ eine         halten immer häufiger nicht für das ganze Leben,
     Tendenz weg von der Sequenzierung hin zur         auch wenn man geheiratet und/oder gemeinsame
     Synchronisierung von Lebensphasen.                Kinder hat (ebenda). Auch eine gewisse Ent-
                                                       kopplung zwischen Ehe und Elternschaft mar-
››   Zweitens fand innerhalb der Bildungs-             kiert den Wandel von Lebensläufen in den letz-
     expansion ab Ende der 1960er Jahre ein            ten ca. 50 Jahren. So stellt die Ehe nicht zwingend
     Wandel des weiblichen Lebenslaufs statt. Für      eine Voraussetzung für die Geburt der Kinder
     viele Frauen trat die Berufskarriere in Konkur-   dar und eine Elternschaft wird immer seltener
     renz zum Familienleben, womit eigenständige       als ein Anlass zur Eheschließung gesehen. Beim
     Lebensentwürfe die biografische Selbstver-        Anteil nichtehelicher Geburten ist ein beständiger
     ständlichkeit der Mutterschaft zunehmend          Anstieg zu beobachten. Diesbezüglich bestehen
     verdrängen.                                       jedoch beträchtliche regionale Disparitäten. Kinder
                                                       werden insbesondere in Ostdeutschland vielfach
››   Drittens sind die Verläufe innerhalb der          in nichtehelichen Lebensgemeinschaften geboren.
     Lebensbereiche von Arbeit und Familie             Neben der Vielfalt und Verbreitung von Lebens-
     weniger altersnormiert, weniger ziel- und         formen hat sich auch das Timing und Spacing der
     aufwärtsgerichtet und weniger einheitlich         Geburt der Kinder (Engelhardt 2014) geändert und
     geworden.                                         somit auch das Alter, in dem Menschen bestimmte
                                                       Lebensabschnitte erleben. Das Alter, in dem das
Seit den 1970er Jahren ist ein kontinuierlicher        erste Kind in einer Ehe geboren wird, hat sich von
Rückgang der durchschnittlichen Haushalts-             27,6 Jahren in 1996 auf 30,4 Jahre in 20161 erhöht
größe von 2,7 Personen Ende der 1970er Jahre           (Abbildung 1), wobei hier große Unterschiede
über 2,2 in 2000 bis zu 2,0 im Jahr 2016 ebenso        zwischen den Bildungsschichten und Regionen
zu beobachten wie ein ausgeprägter Wandel der          bestehen. So weisen die empirischen Befunde
Familien- und Lebensformen, in den, wie eingangs       beispielsweise eine hohe Altersdifferenz bei
geschildert, die Entwicklungen von Lebensläufen        der Erstgeburt nach Bildungsniveau auf, die mit
eingebettet sind. Zum einen gab es in den letz-        erheblichen Folgen für die anschließend erlebten
ten ca. 50 Jahren eine Pluralisierung der Lebens-      Lebensphasen einhergeht. Die Geburt von Kindern
formen (Schneider 2012). Sie ist durch eine gleich-    erfolgt hingegen nach wie vor relativ konzentriert
mäßigere Verteilung der schon vorhandenen              innerhalb eines nicht zu großen Altersintervalls,
Lebensformen (Nichteheliche Lebensgemein-              wobei der Durchschnitt bei ca. vier Jahren zwi-
schaften, Alleinerziehende und Alleinlebende)          schen der ersten und zweiten Geburt liegt (Sta-
sowie die Etablierung einiger weniger neu ent-         tistisches Bundesamt 2015). In der Gruppe der
standener Lebensformen wie gleichgeschlechtliche       Hochqualifizierten ist eine Heirat oder Familien-
Partnerschaften, Fernbeziehungen und gewollt           gründung im Alter von 35 Jahren und mehr heute
kinderlose Ehen gekennzeichnet. So gibt es heute       nicht mehr außergewöhnlich, während Gering-
in Deutschland im Unterschied zu den 1950er und        gebildete im Durchschnitt mit Mitte 20 eine Familie
1960er Jahren häufiger längere Phasen des Allein-      gründen. Darüber hinaus hat sich die Dauer der
lebens, man lebt vorübergehend oder aber auch          einzelnen Lebensphasen verändert. Die Menschen
langfristig in einer Partnerschaft mit getrennten      in Deutschland leben heute nicht nur länger, sie
Haushalten, wohnt unverheiratet in einer Paar-         leben auch länger in besserer Gesundheit in den
beziehung mit oder ohne Kinder zusammen oder           „gewonnenen Jahren“, sodass sich Männer und
lebt in Wohngemeinschaften. Nach dem Aus-              Frauen länger im mittleren Erwachsenenalter
zug aus dem Elternhaus ziehen die Kinder viel-         befinden.

                                                                                                             11
Was kommt nach der Rushhour?

1         Abb. 1: Durchschnittliches Alter der Mütter bei       einen Teil der Mütter, erfolgte (Kirner und Schulz
          der Geburt des ersten Kindes, 1996 bis 2016           1993). Heute sind Lebensformen, die den Wunsch
                                                                beider Partner, erwerbstätig zu sein, gefährden
           Alter in Jahren
                                                                könnten, unattraktiv geworden. Obwohl die
           31
                                                                Ernährer-Hausfrauen-Ehen als dominante Option
                                                                der Lebensgestaltung in den 1950er und 1960er
                                                                Jahren in Westdeutschland im 21. Jahrhundert
           30
                                                                sehr selten geworden sind, findet heute weiter-
                                                                hin eine ausgeprägte Retraditionalisierung der
           29
                                                                Geschlechterverhältnisse nach der Familien-
                                                                gründung statt. In der ehemaligen DDR war in der
                                                                Nachkriegszeit hingegen das durch den Staat auf-
           28                                                   gesetzte Modell der parallelen Vollerwerbstätig-
                                                                keit dominant, bei dem Männer und Frauen beide
                                                                vollerwerbstätig waren und gemeinsam zum
           27                                                   Familieneinkommen beitrugen, während Frauen
            1996        2000     2004      2008   2012   2016   die Hauptverantwortung für Kinder und Haushalt
                                                                übernahmen (Doppelbelastung). Das Doppelver-
                1. Kind in der bestehenden Ehe
                                                                diener-Modell ist heute in den neuen Bundes-
                alle erstgeborenen Kinder
                                                                ländern weiterhin dominant bei fortschreitender
          Datenquelle: Statistisches Bundesamt,                 traditioneller Aufgabenteilung zwischen den
          eigene Berechnungen                                   Geschlechtern.

                                                                Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass
          Die Lebensverlaufsperspektive betont die Annahme      Lebensläufe in Deutschland sich vielfältig und
          von „linked lives“ (Elder 1994), die auf die gegen-   milieuspezifisch gestalten, wobei insbesondere
          seitige Abhängigkeit der einzelnen Lebensver-         ihre ausgeprägte Abhängigkeit von der Bildungs-
          läufe hinweisen. So sind die Lebensverläufe von       beteiligung hervorzuheben ist (Schneider 2015a).
          Ehepartnern, Eltern und Kindern sowie von Eltern      „Es lassen sich also wieder sehr verschiedene
          und Großeltern verknüpft und beeinflussen sich        in der Bevölkerung etablierte, heute aber in der
          gegenseitig. In dieser Hinsicht können das Timing     Regel freiwillig gewählte Muster von Lebens-
          und Spacing der Geburten nicht nur den Lebens-        läufen beobachten, unter denen der traditionelle
          verlauf von Müttern, sondern auch den von Vätern,     Familienzyklus nur noch ein Modell unter anderen
          Geschwistern und Großeltern beeinflussen.             darstellt.“ (Huinink 2008)

          Infolge des Individualisierungsschubs ab Ende
          der 1960er Jahre und des damit einhergehenden
          Wandels der Geschlechterrollen ist das Verhält-
          nis zwischen dem familialen und dem beruflichen
          Bereich komplizierter geworden und vor allem für
          die Frauen im Vergleich zu früher weniger vorher-
          bestimmt (Huinink 2008). In der Nachkriegszeit
          war für Mütter in Westdeutschland eine Phasen-
          erwerbstätigkeit typisch, bei der nach einer kur-
          zen Phase der Erwerbstätigkeit (direkt nach der
          Ausbildung) mit der Geburt des ersten Kindes
          eine Familienphase mit längerer Erwerbsunter-
          brechung eingeleitet wurde und anschließend
          eine Rückkehr in den Beruf, allerdings nur für

    12
2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters

2.3 Spezifizierung der Lebensphase des                       Teilnahme am Produktions- und Erwerbs-
mittleren Erwachsenenalters                                  leben einher, was weitreichende Konsequen-
                                                             zen für die Lebenssituation mit sich bringt.
Von wann bis wann die Lebensphase des mitt-
leren Erwachsenenalters andauert, unterliegt            ››   Familie: Im familiären Bereich gilt, ähnlich
gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sowie kul-             wie im beruflichen Bereich, eine Etablierung
turellen und strukturellen Variationen. Meist wird           und Stabilisierung als maßgebend für die
für die Spezifizierung ein Kriterienbündel heran-            Lebensphase des mittleren Erwachsenen-
gezogen, das eine grobe Einteilung des Lebens-               alters. Als ein zentrales Kriterium für den
laufs in Lebensphasen erlaubt (Freund und Nikitin            Endpunkt des mittleren Erwachsenenalters
2012). Dazu gehören das chronologische Alter,                wird der Auszug des letzten Kindes aus dem
biologische Faktoren und Ereignisse (z. B. sexuelle          Elternhaus angesehen. Dieser Übergang geht
Reifung; Familiengründung und -erweiterung),                 meist mit einer Neuorientierung innerhalb
Übergänge (z. B. Eintritt in das oder Austritt aus           der (Ehe-)Beziehung einher.
dem Berufsleben) und die Bewältigung von Ent-
wicklungsaufgaben. Das mittlere Erwachsenen-            Die Lebensphase des mittleren Erwachsenen-
alter ist biologisch nicht klar abgegrenzt und wird     alters stellt neben der Kindheit, Adoleszenz und
deshalb stärker anhand sozialer Erwartungen,            dem Alter einen bedeutsamen Abschnitt dar,
Normen und Übergänge definiert. Da jedoch               der durch soziokulturelle Altersnormen und leit-
berufliche und familiäre Übergänge wie bei-             bildhafte Standardverlaufsmuster geprägt wird.
spielsweise die Geburt der Kinder, der Eintritt ins     Andererseits unterliegt diese Altersphase der oben
Berufsleben oder der Auszug des letzten Kindes          angesprochenen Entstrukturierung des Lebensver-
aus dem Elternhaus von einer Vielzahl unter-            laufs. Chronologisch folgt sie der in der Familien-
schiedlicher individueller und gesellschaftlicher       forschung gut dokumentierten und vielfach in
Faktoren abhängig sind (z. B. Bildungsniveau,           der öffentlichen Debatte diskutierten Phase der
Partnermarkt oder wirtschaftliche Lage), bestehen       „Rushhour des Lebens“ (u. a. Deutscher Bundes-
große individuelle, regionale und milieuspezi-          tag 2006). Rindfuss (1991: 494) beschreibt das
fische Unterschiede in den Entwicklungsverläufen.       junge Erwachsenenalter als eine Zeit, die „demo-
In Anlehnung an Freund und Nikitin (2012) lassen        grafisch dicht“ ist, was bedeutet, dass dann mehr
sich die zentralen Kriterien zur Definition des mitt-   entscheidungsintensive demografische Ereig-
leren Erwachsenenalters zusammenfassen:                 nisse als in jedem anderen Stadium des Lebens
                                                        stattfinden. Die Rushhour des Lebens umfasst im
››   Mitte des Lebens: Geht man von einer durch-        Allgemeinen das Alter zwischen 25 und 35 oder
     schnittlichen Lebenserwartung von rund             40 Jahren, in dem für viele Menschen eine über-
     82 Jahren in westlichen Industrienationen aus,     proportionale Arbeitsbelastung und eine Häufung
     ist die Mitte des Lebens mit 41 Jahren erreicht.   an biografischen Entscheidungen auftreten. Dabei
     Mit anderen Worten befinden sich Menschen          lassen sich zwei Varianten unterscheiden, die
     mit 41 im mittleren Erwachsenenalter.              jeweils unterschiedliche Gruppen, Lebensphasen
                                                        und Überlastungsmechanismen betreffen (Bujard
››   Erwerbsbereich: In der ersten Phase des mitt-      und Panova 2014): „Rushhour der Lebensent-
     leren Erwachsenenalters erfolgt in der Regel       scheidungen“ und „Rushhour im Lebensverlauf“.
     die berufliche Etablierung und das Erreichen       Die erste ist vor allem für die Lebensverläufe von
     des Karrierehöhepunktes. In der zweiten            Akademikern und insbesondere Akademikerin-
     Hälfte des mittleren Erwachsenenalters steht       nen charakteristisch, und damit für eine Minder-
     dagegen die Stabilisierung im Vordergrund.         heit der Bevölkerung, die während eines recht
     Die Verrentung gilt als ein Kriterium für den      kurzen Lebensabschnitts langfristige Lebensent-
     Endpunkt des mittleren Erwachsenenalters.          scheidungen treffen müssen. Hierbei findet eine
     Mit dem Übergang in den Ruhestand geht in          Verdichtung von wichtigen biografischen Ereig-
     der Regel das Ausscheiden aus der aktiven          nissen auf eine kurze Zeitspanne von fünf bis

                                                                                                              13
Was kommt nach der Rushhour?

      sieben Jahren statt. Durch eine verlängerte Aus-       erst nach der Einschulung des letzten Kindes
      bildungsphase, späteren Berufseinstieg, oftmals in     spürbar ab (Deutscher Bundestag 2006: 242).
      befristeten Arbeitsverhältnissen, wird erst später     Neuere Daten aus der Zeitverwendungserhebung
      im Lebenslauf eine ökonomische Selbstständig-          2013 (Panova et al. 2017) zeigen, dass die Rush-
      keit erreicht, die in der Regel die Grundlage für      hour im Lebensverlauf insbesondere in der Klein-
      eine Familiengründung darstellt. Auch die Partner-     kindphase eines zweiten Kindes auffällig ist: Hier
      findung und Gründung eines gemeinsamen                 liegt die Gesamtarbeitsbelastung von Frauen bei
      Haushalts sind meist auf diese kurze Zeitspanne        63 und bei Männern bei 62 Wochenstunden.2
      konzentriert. Somit tritt die Familienplanung bei
      Hochgebildeten erst später in den Fokus als bei        Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters
      Menschen, die mit Anfang 20 bereits ökonomisch         ist, ähnlich wie die Rushhour des Lebensverlaufs,
      unabhängig sind und einen Partner gefunden             durch die Mehrdimensionalität der Handlungs-
      haben. Eine Folge dieses kurzen Zeitfensters für       muster gekennzeichnet. Erwachsene Personen
      die wichtigen Lebensentscheidungen kann die Auf-       im Alter zwischen 35 und 59 sind in mehrere
      schiebung von Kinderwünschen und sogar dauer-          Bereiche der Erwachsenentätigkeit involviert –
      hafte Kinderlosigkeit sein.                            Erwerbsarbeit und zivile Verantwortung, Ehe und
                                                             Elternschaft und am Ende dieser Lebensphase
      Die zweite Variante der Rushhour – die „Rushhour       zunehmend auch pflegerische Aufgaben für die
      im Lebensverlauf“ – betrifft alle Eltern von kleinen   alten Eltern. Der individuelle Lebensverlauf in
      Kindern – also heutzutage knapp vier Fünftel der       dieser Lebensphase entwickelt sich hauptsäch-
      zwischen 1960 und 1980 geborenen Frauen und            lich in den Lebensbereichen Beruf und Familie,
      Männer, die durch die Verbindung von Beruf und         wobei der Fokus sowie die inhaltliche Ausrichtung
      Familie eine sehr hohe Arbeitsbelastung erfahren.      in Abhängigkeit vom Vorhandensein von Kindern
      Das Alter der Eltern ist dabei in der Regel nach-      sehr unterschiedlich sein können. Die Bildungs-
      rangig. Diese Situation kann bei Männern und           karriere ist weitgehend, wenn auch nicht end-
      Frauen Anfang Zwanzig ebenso auftreten wie bei         gültig abgeschlossen (lebenslanges Lernen). Der
      „späten“ Eltern Ende Dreißig. Beginn und Ende          Einstieg in das Erwerbsleben sowie die Etablie-
      der Phase leiten sich also nicht vom Alter der         rung im Beruf sind bei den meisten Menschen in
      Eltern ab, sondern von dem des jüngsten Kindes         dieser Altersphase bereits erfolgt. Das Erreichen
      (Deutscher Bundestag 2006). Die Phase beginnt          des Karrierehöhepunktes sowie die berufliche
      mit der Geburt des ersten Kindes, wenn der             Stabilisierung sind markante Kennzeichnen der
      Arbeitsaufwand in allen Lebensbereichen enorm          Lebensmitte. Jedoch sind angesichts von wett-
      ansteigt. Nicht nur die Arbeitsintensität des All-     bewerbsorientierten Marktstrukturen und damit
      tags mit einem Baby oder Kleinkind, sondern auch       einhergehenden unsicheren und teilweise pre-
      die Planung und Koordination des Familien- und         kären Arbeitsbedingungen berufliche Neuorien­
      Berufsalltages stellt hier eine Herausforderung        tierungen sowie Phasen von Arbeitslosigkeit nicht
      dar. Junge Eltern sind oft mit Kinderbetreuung,        auszuschließen (brüchige Erwerbsbiografien).
      beruflichen Pflichten, beruflich veranlasstem Pen-     Die Mehrheit der Männer und Frauen in diesem
      deln sowie Organisieren des Haushaltes belastet.       Alter hat die Gründung eines gemeinsamen Haus-
      Sie sind einerseits vom Arbeitgeber, andererseits      halts mit dem Lebenspartner, die Heirat und die
      von Öffnungszeiten der Kinderbetreuungsein-            Familiengründung bereits hinter sich. Im Alter
      richtungen fremdbestimmt (Bujard und Panova            von 35 Jahren lebt die Mehrheit in einer festen
      2014). Und auch wenn der Alltag einigermaßen           Partnerschaft bzw. Ehe und das letzte Kind ist im
      geregelt abläuft, wirft zum Beispiel eine Krank-       Durchschnitt geboren. Im Lebensalter zwischen
      heit des Kindes die ganze Struktur wieder durch-       35 und 59 sind somit die meisten Menschen in
      einander. Der intensive Abschnitt der „Rushhour        einer Struktur von mehrdimensionalen Abhängig-
      im Lebensverlauf“ dauert etwa bis das jüngste          keiten eingebettet, für die die Weichen bereits
      Kind das Kindergartenalter von drei Jahren             im jüngeren Alter gestellt wurden. Personen, die
      erreicht hat. Die Arbeitsbelastung flacht jedoch       keine Kinder haben, sind hingegen in dieser

14
2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters

Lebensphase nicht mit der Vereinbarkeits-             Darüber hinaus wissen wir sehr wenig über
problematik, zumindest in Hinblick auf Kinder-        die Lebensphase des mittleren Erwachsenen-
pflege und Beruf, konfrontiert. Manche holen in       alters, denn sie stellt keinen eigenständigen
einem Alter ab 35 Jahre ihre Kinderwünsche nach       Gegenstand der soziologischen Forschung dar.
und bekommen noch Kinder. Andere suchen               Zudem gibt es keine eindeutigen biologischen
Unterstützung für die Erfüllung nicht realisier-      Altersgrenzen und kaum soziale Konventionen,
ter Kinderwünsche in Kinderwunschzentren. Ein         die diese Lebensphase klar abgrenzen. Einige
Teil von ihnen bleibt dauerhaft kinderlos und         Definitionsvorschläge für diese Lebensphase
erlebt die Phase des mittleren Erwachsenen-           finden sich in der Entwicklungspsychologie
alters ohne Kinder. Es handelt sich also um einen     (Übersicht in Pinquart 2012: 31–37). Staudinger
sehr vielfältigen Lebensabschnitt, der sich je nach   (1996) entwickelte Muster des Lebensinvest-
Familienstand sehr unterschiedlich darstellt und      ments zwischen 20 und 105 Jahren und definiert
unterschiedliche Lebenssituationen einschließt.       das mittlere Erwachsenenalter als die Alters-
                                                      phase zwischen 35 und 54 Jahren (Abbildung 2).
Das mittlere Erwachsenenalter kann kaum an            Die Aufteilung des Lebenslaufs in fünf über die
einem zentralen Ereignis festgemacht werden,          Lebensspanne verteilte Altersgruppen zeigt, dass
sondern widerspiegelt einerseits die Vielfalt der     in der ersten Phase des jungen Erwachsenen-
Lebensentwürfe in modernen Gesellschaften             alters Beruf, gefolgt von Freunden, Familie und
und bündelt andererseits eine Reihe von teils         Unabhängigkeit die bedeutendsten Lebens-
selbstbestimmten, teils fremdbestimmten Ereig-        inhalte darstellen. Im mittleren Erwachsenen-
nissen. Ereignisse, die bei der Mehrheit der Per-     alter tritt Familie an die erste Stelle. Es folgen
sonen in der mittleren Lebensphase mit höherer        Beruf, Freunde und kognitive Leistungsfähig-
Wahrscheinlichkeit auftreten, sind Trennungen         keit. In der nächsten Lebensphase des höheren
bzw. Scheidungen, Wiederheirat, Auszug der            Erwachsenenalters zwischen 55 und 65 Jahren
Kinder aus dem gemeinsamen Haushalt sowie             bleibt Familie weiterhin an der Spitze. In dieser
das Eintreten von Pflegeaufgaben für Familien-        Altersgruppe wird Gesundheit immer wichtiger
angehörige. Allerdings kann auch in einem Alter       und tritt an die zweite Stelle anstelle des Berufs.
ab 35 aufwärts die Erstheirat, Familiengründung       Freunde und kognitive Leistungsfähigkeit sind
und/oder -erweiterung stattfinden. Die Über-          weiterhin zentrale Lebensinhalte. Insgesamt
gänge, die in dieser Altersphase typischerweise       rücken mit zunehmendem Alter die Gesundheit
auftreten, sind im Vergleich zu den Übergängen        und das Nachdenken über das eigene Leben
im jungen Erwachsenenalter (wie beispielsweise        mehr in den Vordergrund.
Heirat oder die Geburt eines Kindes) weniger
institutionell gerahmt. Soziokulturell können sie
teilweise als weniger folgenreich bezeichnet wer-
den, da die wichtigen Entscheidungen des Lebens
meist bereits getroffen sind und die Festlegungen
im mittleren bzw. höheren Lebensalter selten
rückgängig gemacht werden können (Scher-
ger 2007: 181). Die für das mittlere und höhere
Erwachsenenalter typischen Ereignisse haben
mehr (Tod der Eltern) oder weniger (Auszug der
Kinder) die Bedeutung von Verlusten und unter-
liegen in den meisten Fällen nicht der individuel-
len Kontrolle (ebenda: 181).

                                                                                                            15
Was kommt nach der Rushhour?

      Abb. 2: Muster des Lebensinvestments zwischen 20 und 105 Jahren (Staudinger 1996)

       Junges                 Mittleres          Höheres             Hohes                Sehr hohes
       Erwachsenenalter       Erwachsenenalter   Erwachsenenalter    Erwachsenenalter     Erwachsenenalter
       25–34 Jahre            35–54 Jahre        55–65 Jahre         70–84 Jahre          85 Jahre +

       ›› Beruf               ›› Familie         ›› Familie          ›› Familie           ›› Gesundheit
       ›› Freunde             ›› Beruf           ›› Gesundheit       ›› Gesundheit        ›› Familie
       ›› Familie             ›› Freunde         ›› Freunde          ›› Kognitive         ›› Nachdenken
       ›› Unabhäng­­ig­keit   ›› Kognitive       ›› Kognitive           Leistungs­          über das Leben
                                Leistungs­         Leistungs­           fähigkeit         ›› Kognitive
                                fähigkeit          fähigkeit         ›› Freunde             Leistungs­
                                                                                            fähigkeit

      2.4 Konkrete Abgrenzung des                          Im Jahr 2016 waren Frauen bei der Geburt ihres
      Lebensabschnitts auf Basis des                       ersten Kindes im Durchschnitt 29,6 und bei der
      Eintritts einzelner Ereignisse                       Geburt des dritten Kindes rund 33 Jahre alt. Der
                                                           in Abb. 3 dargestellte Anteil der Frauen mit Kin-
      Die konkrete Abgrenzung des mittleren                dern im Haushalt nach dem Alter der Frau für die
      Erwachsenenalters nach Lebensjahren wurde            Jahre 1996 und 2016 verdeutlicht auch die Rän-
      in Anlehnung an die im Kapitel 2.3 dargestellten     der dieser Lebensphase für die Frauen. Im Alter
      zentralen Kriterien zur Spezifizierung des mittle-   von 35 Jahren liegt der Anteil der Frauen mit Kin-
      ren Erwachsenenalters und auf Basis der aktu-        dern3 im Haushalt bei knapp 69 % (1996: 76 %),
      ellen Daten zum jeweiligen Durchschnittsalter        im Alter von 59 Jahren sind es noch knapp 19 %
      der Personen bei den relevanten Ereignissen          (1996: 20 %) aller Frauen. Am höchsten ist der
      im Lebenslauf vorgenommen. Für Personen mit          Anteil bei Frauen im Alter von 40 Jahren mit 75 %
      Kindern sind dies der Abschluss der Familien-        (1996: 80 %). Dieses Alter markiert die Grenze
      gründungsphase als Beginn sowie der Auszug der       zwischen den jüngsten Müttern, bei denen die
      Kinder aus dem Elternhaus als Ende des mitt-         ersten Kinder schon wieder ausziehen und den
      leren Erwachsenenalters. Bei Personen ohne           ältesten Müttern, die erst in diesem Alter das
      Kinder sind die Etablierung im Beruf sowie das       erste Mal Mutter werden. Der Vergleich der Jahre
      Ende der Phase der regulären Erwerbstätigkeit        1996 und 2016 verdeutlicht, dass Frauen heute
      bzw. der Erwerbsaustritt als relevante Ereig-        später und seltener Mütter werden und durch
      nisse zur Abgrenzung dieses Lebensabschnitts zu      den früheren (aus Sicht der Kinder) Auszug der
      betrachten.                                          Kinder aus dem elterlichen Haushalt einen etwas
                                                           kürzeren Lebensabschnitt mit Kindern im Haus-
                                                           halt verbringen.

16
2 Die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters

Abb. 3: Frauen mit Kindern im Haushalt nach Alter, 1996 und 2016
Anteil an allen Frauen im jeweiligen Alter in Prozent
100

 80

 60

 40

 20

  0
      25           30            35             40              45          50          55         60
                                                        Altersjahre
   1996
   2016

Datenquelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen

Der Auszug des letzten Kindes                                  oder mixed living (Zinnecker et al. 1996; Nave-
Der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus                       Herz 1997) bekannt. Diese Begriffe bezeichnen
stellt einen typischen Übergang im mittleren                   das Wohnmuster junger Erwachsener mit zwei
Erwachsenenalter dar. Aus familiensoziologischer               Wohnsitzen – einem eigenen und dem Eltern-
und entwicklungspsychologischer Sicht markiert                 haus. Es kann davon ausgegangen werden, dass
dieser Übergang den Beginn der so genannten                    das letztgenannte Wohnmuster hauptsächlich von
empty-nest-Phase, die die nachelterliche Lebens-               denjenigen jungen Erwachsenen gewählt wird, die
spanne der Eltern erwachsener Kinder beschreibt.               sich noch in der Ausbildung befinden (Nave-Herz
Der Auszug des letzten Kindes vollzieht sich häu-              1997). Demzufolge hat die in den letzten Jahr-
fig nicht abrupt, sondern erfolgt fließend, z. B.              zehnten des 20. Jahrhunderts deutlich gestiegene
indem das Kind noch eine Weile die Wäsche nach                 Zahl von Studierenden nicht zu einem verzögerten
Hause bringt und für das Wochenende kommt.                     Verlassen des Elternhauses geführt, sondern
Wenn man mehrere Kinder hat, kann der Auszug                   zu einer größeren Verbreitung von mixed living
der Kinder einen längeren Prozess darstellen bis               (ebenda: 684).
schließlich die empty nest-Phase eintritt. Frauen
sind im Durchschnitt knapp unter 55 Jahren,                    Der Prozess des Auszugs der Kinder ist in
wenn das letzte Kind das Elternhaus endgültig                  den meisten Fällen nach ein bis zwei Jahren
verlässt und damit jünger als Männer (Scherger                 abgeschlossen. Während sich die Wohnsituation
2007: 185). Bei den Vätern geht der Median des                 für die Eltern nach dem Auszug verbessert, sind
Alters beim Auszug des letzten Kindes Richtung                 die finanziellen Folgen nicht eindeutig. Es kön-
60 Jahre (ebenda). Eigene Berechnungen auf Basis               nen Vorteile entstehen, wenn z. B. der Auszug
des aktuellen Mikrozensus 2016 kommen auf                      mit einer ökonomischen Selbstständigkeit der
vergleichbare Ergebnisse (vgl. Kap. 4.1.1). Zudem              Kinder einhergeht, aber auch Nachteile, wenn
gibt es Fälle, in denen die Kinder nach einem Aus-             die Mietkosten für die Kinder übernommen wer-
zug in den elterlichen Haushalt zurückkehren.                  den. Ursprünglich wurde die empty-nest-Phase als
Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft als                    eine Lebensphase mit Entwicklungsproblemen
crowded nest (Schnaiberg und Goldenberg 1989)                  und Krisen von Müttern (u. a. Depressionen) ver-

                                                                                                                    17
Was kommt nach der Rushhour?

      standen. Allerdings kommen Zinnecker et al. 1996                      Ende der regulären Erwerbsphase
      zu dem Ergebnis, dass das empty-nest-Syndrom,                         Für Personen ohne Kinder markiert insbesondere
      wenn überhaupt, nur für Hausfrauen ein Pro-                           das Ende der regulären Erwerbsphase das Ende
      blem darstellt, die nicht erwerbstätig sind und                       des mittleren Erwachsenenalters. Dies ist nicht
      mit dem Auszug der Kinder ihre Identität und                          in erster Linie das gesetzliche Renteneintritts-
      Zuständigkeit verlieren können. Mittlerweile wird                     alter, zumal dieses ohnehin nur für einen kleine-
      der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus als                          ren Anteil der Erwerbstätigen den tatsächlichen
      ein für Mutter und Vater ambivalenter Prozess                         Erwerbsaustritt markiert. Faktoren wie Vorruhe-
      gesehen, der mit neuen Freiräumen und Rollenzu-                       stand, Altersteilzeit, Reduzierung der Arbeitszeit
      schreibungen, aber auch Trauergefühlen einher-                        u. a. beeinflussen diese Phase des Ausstiegs aus
      geht. Auch die Paarbeziehung zwischen den Eltern                      dem Erwerbsleben. Trotz steigender Erwerbs-
      muss neu organisiert werden und ist vor neue                          tätigenquoten in den höheren Altersgruppen ist
      Herausforderungen gestellt. So kommt es auch                          heute deutlich weniger als jeder zweite zwischen
      in lang bestehenden Ehen nicht selten zu Schei-                       60 und 64 Jahren sozialversicherungspflichtig
      dungen. Die Ergebnisse von Klein und Rapp (2010)                      beschäftigt (38,3 %).4 In der Altersgruppe der
      zeigen, dass der Eintritt in die empty-nest-Phase                     55- bis 59-Jährigen sind es 59,2 %. Zwischen dem
      das Trennungsrisiko der Eltern erhöht. Dabei ist                      35. und 49. Lebensjahr liegen die Anteile zwischen
      die Risikosteigerung im Vergleich zu den Paaren,                      65 % und 68 %. Anhand dieser Zahlen beginnt
      deren Kinder noch nicht ausgezogen sind, dauer-                       Ende des sechsten Lebensjahrzehnts die Phase
      haft. Der empty-nest-Effekt auf die Beziehungs-                       des Erwerbsausstiegs und markiert somit auch
      stabilität ist im Verlust ehespezifischen Kapitals                    das Ende des mittleren Erwachsenenalters.
      und/oder in einer Reduktion der wechselseitigen
      Abhängigkeit der Eltern sowie in Anpassungs-
      und/oder Nachholeffekten begründet. Zudem
      weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die all-
      gemein höhere Beziehungsstabilität von Eltern
      im Vergleich zu kinderlosen Paaren tatsächlich auf
      einem Kausaleffekt durch die Kinder beruht – d. h.
      Kinder beeinflussen die Beziehungsstabilität der
      Eltern kausal positiv. Ein reiner Selektionseffekt
      der höheren Beziehungsstabilität von Eltern, der
      dadurch zustande kommt, dass Kinder eher in
      stabilen Partnerschaften geboren werden, konnte
      hingegen nicht bestätigt werden.

      1   Bis zum Jahr 2008 konnten das Alter der Mutter bei der            3   Es werden hierbei alle ledigen Kinder im Haushalt ohne
          Geburt und die Geburtenfolge nur für Kinder berechnet                 Altersbegrenzung berücksichtigt.
          werden, die in einer bestehenden Ehe geboren wurden. Erst
                                                                            4   Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Beschäftigungs­
          seit 2009 sind diese Zahlen für alle Kinder der Frau verfügbar.
                                                                                statistik der Bundesagentur für Arbeit und Daten der Bevöl­
          In diesem Vergleichszeitraum betrug die Differenz des
                                                                                ker­ungsfortschreibung.
          Alters zwischen den beiden Berechnungsmethoden rund
          ein Jahr.

      2   Gesamtarbeitsbelastung beinhaltet Zeiten für Erwerbs­
          arbeit, Bildung, Haushalt, Betreuung und berufsbedingtes
          Pendeln.

18
Lebenslagen
		im mittleren
Erwachsenenalter
Was kommt nach der Rushhour?

      Die theoretischen Überlegungen und Abgrenz­un­        Die Personengruppe im mittleren Erwachsenen-
      gen zur Lebensphase des mittleren Erwachsenen­        alter macht heute etwa 36 % der Bevölkerung
      alters, wie sie in Kapitel 2 dargestellt und erläu­   in Deutschland aus. Die Bevölkerung innerhalb
      tert wurden, bedürfen insbesondere vor dem            dieser Lebensphase ist aufgrund unterschiedlich
      Hintergrund des starken Wandels der betrach­          stark besetzter Jahrgänge – insbesondere durch
      teten Lebensphase in den letzten Jahrzehnten          die sogenannte Babyboomergeneration der heute
      der Überprüfung anhand aktueller empirischer          etwa 50- bis 59-Jährigen – etwas ungleichmäßig
      Befunde. Die Theorien im Hinblick auf Lebens­         zugunsten der älteren Altersgruppen verteilt.
      formen und Erwerbstätigkeit können nur dann           Diese Ungleichverteilung gilt es bei der Inter-
      weiterhin belastbare Thesen liefern, wenn sie         pretation der Befunde sowie bei Vergleichen im
      sich mit der aktuellen Datenlage decken. In           Zeitverlauf zu berücksichtigen. Die Verteilung
      diesem Kapitel werden daher einerseits die            nach Geschlecht unterscheidet sich mit einem
      Lebenslagen im mittleren Erwachsenenalter mit         Verhältnis von 51:49 zugunsten von Männern bei
      aktuellen Zahlen dargestellt und andererseits         dieser Personengruppe dagegen kaum.
      die Veränderungen im Zeitverlauf aufgezeigt.
      Auf Basis regionaler Daten werden zusätzlich          Insgesamt weist die Bevölkerung im mittle-
      bestehende Unterschiede zwischen einzelnen            ren Erwachsenenalter heute ein deutlich höhe-
      Regionen erläutert. Die verwendeten Daten             res Bildungsniveau auf als jene früherer Jahre
      und ausgewählten Untersuchungsmerkmale                (Abb. 4). In den letzten 20 Jahren ist eine durch-
      orientieren sich hierbei an dem theoretischen         gehende Zunahme des Bildungsniveaus der Per-
      Rahmen aus Kapitel 2, in dem die möglichen Ein­       sonen in dieser Lebensphase zu beobachten, bei
      flussfaktoren auf die Lebensphase des mittleren       Frauen ungleich stärker als bei Männern. Durch
      Erwachsenenalters aufgeführt und erläutert            die Bildungsexpansion besitzen insbesondere in
      wurden. Mögliche Einflussfaktoren und deren           den jüngeren Altersgruppen immer mehr Frauen
      Zusammenspiel in den einzelnen Lebenssituatio­        einen Realschulabschluss oder das Abitur. Kon-
      nen des mittleren Erwachsenenalters in Bezug          kret haben rund drei Viertel aller Frauen im mitt-
      auf Partnerschaft, Familie und Erwerbstätigkeit       leren Erwachsenenalter mindestens einen Real-
      und die möglichen Hintergründe stehen dabei im        schulabschluss, rund ein Drittel sogar Abitur. In
      Mittelpunkt. In diesem Kapitel erfolgt zunächst       der Altersgruppe 35 bis 44 Jahre besitzen sogar
      die Darstellung der Lebenslagen im mittleren          rund 43 % der Frauen die (Fach-)Hochschulreife.
      Erwachsenenalter, differenziert nach Geschlecht       Damit haben in dieser jüngsten Altersgruppe
      und Bildung/Qualifikation. In Kapitel 4 werden        inzwischen mehr Frauen als Männer ein Abitur.
      die während der Phase des mittleren Erwachse­
      nenalters eintretenden Ereignisse und ihr Ein­
      fluss auf den Lebenslauf thematisiert.

20
3 Lebenslagen im mittleren Erwachsenenalter

4

    Abb. 4: Höchster Schulabschluss der 35- bis 59-jährigen Männer und Frauen, 1996 bis 2016

                              Männer                                                    Frauen

    Anteil in Prozent
    100                                                        100

                                  Abitur                                                 Abitur
     80                                                         80

     60                                                         60                 Realschulabschluss
                            Realschulabschluss

     40                                                         40

     20                 Haupt-/Volksschulabschluss              20
                                                                               Haupt-/Volksschulabschluss

                           Ohne Schulabschluss                                     Ohne Schulabschluss
      0                                                          0
          1996    2000        2004     2008      2012   2016         1996   2000     2004     2008       2012   2016

    Datenquelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen

    3.1 Lebensformen und Familiensituation                     gewonnen. Das steigende Heiratsalter, das höhere
                                                               Alter bei der Geburt der Kinder, die Zunahme
    Wie leben Männer und Frauen im mittleren                   des Anteils nichtehelich geborener Kinder sowie
    Erwachsenenalter? Zwar stellen Partnerschaft               zunehmende Scheidungs- und Trennungshäufig-
    und Kind(er) in diesem Lebensabschnitt weiterhin           keiten sind Faktoren, die zu einer fortschreitenden
    zentrale Merkmale dar, jedoch sind die Lebens-             Ausdifferenzierung der Lebensformen führen.
    formen heute insgesamt deutlich vielfältiger als           In zunehmendem Maße werden heute Partner-
    noch vor einigen Jahrzehnten und Lebensläufe               schaften als nichteheliche Lebensgemeinschaften
    sind häufiger nicht mehr nur geradlinig. Meh-              sowohl als Vorstufe als auch als Alternative zur
    rere Brüche und häufigere Wechsel von Lebens-              Ehe eingegangen.
    formen kennzeichnen heute den Lebensverlauf.
    Auch haben sich zeitliche Abläufe und die Dauer            Zustand, Entwicklung und soziostrukturelle
    der einzelnen Lebensformen deutlich verändert.             Differenzierung der Lebensformen
    Das Zusammenleben in einer Ehe ist zwar nach               Im Folgenden werden die einzelnen Lebens-
    wie vor die häufigste Lebensform im mittleren              formen im mittleren Erwachsenenalter, ihre
    Erwachsenenalter, doch hat sich ihr Anteil in den          aktuelle Verbreitung sowie die Veränderung
    letzten 20 Jahren erheblich reduziert. Darunter            im Zeitverlauf dargestellt. Differenziertere
    ist auch der Anteil der traditionellen Lebensform          Betrachtungen nach Geschlecht, Bildung oder
    „Ehepaar mit Kindern“ rückläufig. Andere Lebens-           Elternschaft werden vorgenommen, um die ent-
    formen wie Alleinstehende ohne Partner (im                 sprechenden Unterschiede zwischen den einzel-
    Haushalt) oder auch Alleinerziehende sowie nicht-          nen Teilgruppen zu verdeutlichen. Haushaltüber­
    eheliche Lebensgemeinschaften hingegen haben               greifende Paarbeziehungen werden bei den
    im Laufe der Zeit zunehmend an Bedeutung                   dargestellten Lebensformen nicht berücksichtigt.1

                                                                                                                       21
Was kommt nach der Rushhour?

                       Abb. 5: Lebensform der 35- bis 59-Jährigen,                Abb. 6: Lebensform der 35- bis 39-Jährigen
                       1996 und 2016                                              im Vergleich zu den 55- bis 59-Jährigen,
        55                                                                        nach Geschlecht

                       Anteil in Prozent
                         Anteil  in Prozent                        66             Anteil
                                                                                    Anteil
                                                                                         in in
                                                                                             Prozent
                                                                                               Prozent
                       100
                         100                                                      100
                                                                                    100

                        8080

                                                                                   8080
                        6060

Prozent
                        4040                                                       6060

                        2020

                                                                                   4040
                         0 0
                                 1996
                                   1996        2016
                                                 2016

                          Alleinstehende
                             Alleinstehende
                          Nichteheliche  Lebensgemeinschaften
                             Nichteheliche                     ohne
                                            Lebensgemeinschaften ohneKind
                                                                        Kind       2020
                          Ehepaare
                             Ehepaareohne  Kind
                                        ohne  Kind
                          Alleinerziehende
                             Alleinerziehende
                          Nichteheliche  Lebensgemeinschaften
                             Nichteheliche                     mitmit
                                            Lebensgemeinschaften   Kind(ern)
                                                                      Kind(ern)
                          Ehepaare
                             Ehepaaremitmit
                                         Kind(ern)
                                            Kind(ern)                                0 0
                                                                                           35–39
                                                                                             35–39 55–59
                                                                                                     55–59            35–39
                                                                                                                        35–39   55–59
                                                                                                                                  55–59
 1996             2016 Datenquelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen                                     Altersgruppen
                                                                                                           Altersgruppen

stehende                                                                                     Männer
                                                                                              Männer                       Frauen
                                                                                                                             Frauen
eheliche Lebensgemeinschaften ohne Kind
 are ohne Kind      Trotz rückläufigem Anteil ist in der Phase des mitt-             Alleinstehende
                                                                                       Alleinstehende
erziehende          leren Alters weiterhin die Lebensform Ehepaar mit                  Nichteheliche
                                                                                     Nichteheliche    Lebensgemeinschaften
                                                                                                    Lebensgemeinschaften   ohne
                                                                                                                         ohne    Kind
                                                                                                                               Kind
eheliche Lebensgemeinschaften
                    Kind(ern) mit
                              amKind(ern)
                                  stärksten verbreitet. So leben heute                 Ehepaare
                                                                                     Ehepaare     ohne
                                                                                                ohne    Kind
                                                                                                      Kind
 are mit Kind(ern)                                                                     Alleinerziehende
                                                                                     Alleinerziehende
                       in der betrachteten Lebensphase noch rund 40 %
                                                                                       Nichteheliche
                                                                                     Nichteheliche    Lebensgemeinschaften
                                                                                                    Lebensgemeinschaften   mit
                                                                                                                         mit   Kind(ern)
                                                                                                                             Kind(ern)
                       der Bevölkerung in dieser Lebensform. Deutlich                Ehepaare
                                                                                       Ehepaare mit
                                                                                                  mit
                                                                                                    Kind(ern)
                                                                                                      Kind(ern)
                       zugenommen haben im Vergleich zu 1996 die
                       Anteile der Alleinerziehenden und vor allem der            Datenquelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen
                       Alleinstehenden. Frauen sind in dieser Lebens-
                       phase häufiger verheiratet als Männer, aber auch
                       häufiger alleinerziehend. Männer hingegen leben            Eine differenziertere Betrachtung der Lebens-
                       zu einem größeren Anteil als Alleinstehende.               formen in den einzelnen Abschnitten des mittle-
                       Alleinstehend bedeutet in diesem Zusammen-                 ren Erwachsenenalters, wie sie in Abb. 6 dar-
                       hang nicht unbedingt, dass die Person auch alleine         gestellt ist, verdeutlicht die Unterschiede zwischen
                       im Haushalt lebt. So können dies auch Personen             den einzelnen Teilgruppen zu Beginn und zum
                       sein, die etwa in einer Wohngemeinschaft oder              Ende des mittleren Erwachsenenalters. So leben
                       in einem Mehrgenerationenhaushalt leben. Über              heute zu Beginn der betrachteten Lebensspanne
                       80 % der Alleinstehenden in der betrachteten               die Menschen zu mehr als 60 % mit Kindern im
                       Altersgruppe lebten 2016 jedoch in einem Ein-              Haushalt, darunter vier Fünftel als Ehepaare.
                       personenhaushalt. Unter den Männern ist es jeder           Am Ende dieser Lebensspanne sind es nur noch
                       Vierte, der ohne Partner und Kind im Haushalt              etwa 25 %, bei denen Kinder im Haushalt leben,
                       lebt, bei Frauen ist es weniger als jede Sechste.          bei den meisten sind die Kinder hier schon aus

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