Psychosoziale Unterstützung für Mädchen mit Fluchterfahrung - Ressourcen- und Bedarfsanalyse in vier Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland Juli ...
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Psychosoziale Unterstützung für Mädchen mit Fluchterfahrung Ressourcen- und Bedarfsanalyse in vier Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland Juli 2019
„Drei Wünsche? Ich würde mir einmal wünschen, dass mein Traum sich erfüllt, Designerin zu werden. Dann würde ich mir wünschen, dass (…) ich ein eigenes Zimmer habe. Dort wären Entwürfe, die ich gezeichnet hätte. Und dass meine Mama meinem Bruder Autos kauft. Mein Bruder (…) spielt gern damit. Und dass mein Bruder glücklich ist – und meine Mama natürlich.“ Mädchen, zehn Jahre, aus Tschetschenien
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Übersicht befragter Sprachgruppen nach Standort und Zielgruppe 15 Tabelle 2: Übersicht Fokusgruppen und Einzelinterviews nach Standort 15 Abbildung 1: Themenwolke Mädchen Einrichtung A 17 Abbildung 2: Ressourcen und Bedarfe Mädchen Einrichtung A 18 Abbildung 3: Storyboard mit drei Fotos, Mädchen, Albanien, 13 Jahre 19 Abbildung 4: Themenwolke Eltern Einrichtung A 20 Abbildung 5: Ressourcen und Bedarfe Eltern Einrichtung A 20 Abbildung 6: Themenwolke Mädchen Einrichtung B 23 Abbildung 7: Ressourcen und Bedarfe Mädchen Einrichtung B 23 Abbildung 8: Storyboard mit drei Fotos, Mädchen, Afghanistan, 10 Jahre 24 Abbildung 9: Themenwolke Eltern Einrichtung B 25 Abbildung 10: Ressourcen und Bedarfe Eltern Einrichtung B 25 Abbildung 11: Themenwolke Mädchen Einrichtung C 27 Abbildung 12: Ressourcen und Bedarfe Mädchen Einrichtung C 28 Abbildung 13: Collage, Mädchen, Tschetschenien, 10 Jahre 29 Abbildung 14: Themenwolke Eltern Einrichtung C 30 Abbildung 15: Ressourcen und Bedarfe Eltern Einrichtung C 30 Abbildung 16: Themenwolke Mädchen Einrichtung D 32 Abbildung 17: Storyboard mit drei Fotos, Mädchen, Iran, 9 Jahre 33 Abbildung 18: Themenwolke Eltern Einrichtung D 34 Abbildung 19: Ressourcen und Bedarfe Eltern Einrichtung D 34 Abbildung 20: Themenwolke Albanisch sprechender Teilnehmer*innen 37 Abbildung 21: Ressourcen und Bedarfe Albanisch sprechender Teilnehmer*innen 38 Abbildung 22: Themenwolke Arabisch sprechender Teilnehmer*innen 39 Abbildung 23: Ressourcen und Bedarfe Arabisch sprechender Teilnehmender 39 Abbildung 24: Themenwolke Farsi / Dari sprechender Teilnehmer*innen 40 Abbildung 25: Ressourcen und Bedarfe Farsi / Dari sprechender Teilnehmer*innen 40 Abbildung 26: Themenwolke Russisch sprechender Teilnehmer*innen 42 Abbildung 27: Ressourcen und Bedarfe Russisch sprechender Teilnehmer*innen 42 Abbildung 28: Themenwolke Türkisch sprechender Teilnehmer*innen 43 Abbildung 29: Ressourcen und Bedarfe Türkisch sprechender Teilnehmer*innen 44
MÄDCHEN.MACHEN.MUT. Psychosoziale Unterstützung für Mädchen mit Fluchterfahrung Inhalt Vorwort von Save the Children 6 Vorwort der Charité 7 1. Einleitung 8 1.1 Rechtslage in Deutschland 9 2. Methodik 12 2.1 Datenerhebung 12 2.2 Qualitative Inhaltsanalyse 15 2.3 Stichprobe und deskriptive Daten 16 3. Ergebnisse der standort- und zielgruppenbezogenen Analyse 17 3.1 Einrichtung A (Nordrhein-Westfalen) 17 3.2 Einrichtung B (Brandenburg) 22 3.3 Einrichtung C (Brandenburg) 27 3.4 Einrichtung D (Nordrhein-Westfalen) 32 4. Ergebnisse der sprachgruppenbezogenen Analyse 37 4.1 Interviews und Fokusgruppen auf Albanisch 37 4.2 Interviews und Fokusgruppen auf Arabisch 38 4.3 Interviews und Fokusgruppen auf Farsi / Dari 41 4.4 Interviews und Fokusgruppen auf Russisch 41 4.5 Interviews und Fokusgruppen auf Türkisch 43 4.6 Zusammenfassung und Vergleich der Sprachgruppen 44 5. Limitationen und Vorzüge der Untersuchung 46 6. Zusammenfassung der Analyseergebnisse 47 7. Relevanz von psychosozialer Versorgung 51 8. Handlungsempfehlungen 52 Danksagung 54 Literaturverzeichnis 55
Vorwort von Save the Children Liebe Leser*innen, und wichtige Entwicklungsschritte machen. Eine För- derung von Fähigkeiten und Ressourcen ist besonders Menschen auf der Flucht sind außergewöhnlichen Bela- in dieser Phase für eine vulnerable und gesellschaftlich stungen und Gefahren ausgesetzt. Dies gilt ganz beson- benachteiligte Randgruppe unerlässlich, um sie in ihrer ders für Frauen und Mädchen, die sowohl weltweit als Selbstwirksamkeit zu stärken und Wege für den eige- auch in Deutschland über die Hälfte aller Geflüchteten nen Einsatz zur Veränderung aufzuzeigen. Denn gerade ausmachen. Geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe, geflüchtete Mädchen verfügen über einzigartige Stär- patriarchische Machtstrukturen und die Einschränkung ken, wichtige Erfahrungswerte und wertvolle Perspek- grundlegender Rechte wie Bildung und Arbeit gehen tiven, die anerkannt und unterstützt werden sollten. für sie oftmals mit signifikanten Gefahren vor, wäh- rend und nach der Flucht einher. Als heranwachsende Mit Blick auf viele nachteilige und belastende Faktoren Frauen bilden geflüchtete Mädchen eine sehr gefähr- liegt der Fokus von Save the Children daher nicht nur dete Gruppe und können schnell zur Zielscheibe von auf der Identifikation von Schwierigkeiten und Bedarfen, sexualisierter Gewalt, Ausbeutung und gesellschaftli- sondern vor allem auch auf einer angemessenen psy- cher Benachteiligung werden. chosozialen Unterstützung und damit einhergehenden Resilienz fördernden Maßnahmen. Es ist unsere Über- Die Wahrscheinlichkeit zur Schule zu gehen, ist für Kin- zeugung, dass mental gestärkte und selbstbewusst her- der auf der Flucht fünfmal geringer als für andere Kin- anwachsende Frauen mit Fluchterfahrung sowohl in der. Besonders alarmierend: Mädchen in von Konflik- Deutschland als auch auf internationaler Ebene einen ten betroffenen Ländern nehmen noch seltener am wichtigen Beitrag leisten können. Das Projekt Mädchen. Unterricht teil als Jungen. Allein diese Einschränkung Machen.Mut. stellt daher ganz bewusst die Mädchen kann massive Auswirkungen auf die späteren Chancen selbst in den Mittelpunkt – nicht zuletzt, da wir in der sowie auf die psychosoziale Entwicklung der Heran- Aufmerksamkeit für eine wenig gesehene Zielgruppe wachsenden haben. Dabei weisen verschiedene Studien bereits erste Veränderungsmöglichkeiten sehen. darauf hin, dass eine gezielte Förderung letztendlich zum Wohl der ganzen Gesellschaft beitragen kann; so Eine Stärkung der Zielgruppe von innen heraus ist uns ist beispielsweise die Mädchenbildung direkt mit wirt- ein großes Anliegen. Doch die entlastende Gestaltung schaftlichem Wachstum verbunden. von umgebungsbezogenen Faktoren mithilfe politischer Entscheidungen, Gesetzgebung und Rechtsanwendung Derzeit ist die Lebenssituation von Mädchen und jungen bedeutet noch viel mehr eine nachhaltige Weichenstel- Frauen in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen von lung für die Zukunft der Heranwachsenden. Vor diesem zahlreichen Verlusten, Anpassungen und geschlechts- Hintergrund soll die vorliegende Studie nicht zuletzt spezifischen Belastungen geprägt. In Ermangelung feh- den Stimmen von Mädchen und jungen Frauen in deut- lender Schutzstrukturen und gemeinschaftlicher Rück- schen Erstaufnahmeeinrichtungen Gehör verschaffen. zugsmöglichkeiten bleiben sie häufig in der Isolation von Privaträumen und haben so weniger Zugang zu Hilfsangeboten, Freizeitaktivitäten und freundschaft lichen Bindungen. Weibliche Rollenbilder unterscheiden sich in verschiedenen Kulturen teilweise gravierend und stellen die Heranwachsenden vor große Herausforde- rungen in der eigenen Identitätsfindung und Selbst- wahrnehmung. Dabei ist besonders die Pubertät eine kritische Zeit, in der Mädchen sich nicht nur mit körper- Susanna Krüger lichen Umstellungen, sondern auch mit ihrer Zukunft Vorstandsvorsitzende als erwachsene Frauen auseinandersetzen müssen Save the Children Deutschland e. V. 6
Vorwort der Charité Aktuell sind rund 71 Millionen Menschen weltweit auf sen wir wenig über die Erfahrungen und die Lebens- der Flucht. Nach Europa und in andere Industrielän- situation der gerade nach Deutschland geflüchteten der gelangen davon lediglich 16 %.1 Etwa 50 % der Men- Menschen. Insbesondere wissen wir nicht genug über schen auf der Flucht sind Frauen und Mädchen.2 Unter die Ressourcen, Wünsche und Vorstellungen von Mäd- denen, die es nach Deutschland schaffen, lag der Anteil chen. Zudem kennen wir ihre realen Unterbringungs- der Frauen und Mädchen kontexte zu wenig. Unkenntnis und Unwissen kön- • 2015 bei 30,8 %,3 nen Vorurteile und Pauschalisierung befördern. Die vorliegende Studie gibt Auskunft über die Lebens- • 2016 bei 34,3 %,4 welten von geflüchteten Mädchen in Erstaufnahme- • 2017 bei 39,5 % und einrichtungen und lässt sie selbst zu Wort kommen. • 2018 bereits bei 43,3 %.5 Das Projekt Mädchen.Machen.Mut. wendet sich den Damit steigt der Anteil an geflüchteten Frauen und besonderen psychosozialen Bedarfen und Ressour- Mädchen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen. cen von Mädchen in Erstaufnahmeeinrichtungen für geflüchtete Menschen in Deutschland zu und erarbei- Vielfach durchleben Mädchen und Frauen im Ver- tet aus den Ergebnissen Empfehlungen für Fachkräfte gleich zu Männern und Jungen deutlich mehr schwer- sowie für Politik und Gesellschaft. wiegende Situationen wie geschlechtsspezifische Trau- matisierungen, sie tragen die Verantwortung für mit- reisende Kinder und sind häufig durch ein traditionel- les Rollenverständnis eingeschränkt. Die Erfahrun- gen in Krisengebieten und auf der Flucht sowie deren Folgen können bei den geflüchteten Frauen und Mäd- chen neben einer Anpassungsstörung auch zu chroni- schen psychiatrischen Störungsbildern wie Angststö- rungen und Depressionen führen.6 Diese Belastun- Prof. Dr. med. Meryam Schouler-Ocak gen können die Mobilität, die Teilnahme an Bildung- Professorin für Interkulturelle Psychiatrie und Psycho sangeboten sowie den Zugang zu medizinischer und therapie; Leiterin des FB Interkulturelle Migrations- psychosozialer Versorgung einschränken. Zudem sind und Versorgungsforschung, Sozialpsychiatrie; Frauen und Mädchen auch in den Unterkünften oft- Leitende Oberärztin Psychiatrische Universitätsklinik mals höheren Stressfaktoren ausgesetzt.Bisher wis- der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus 1 Vgl. UNHCR (2019) 2 Vgl. UNHCR (2019) 3 Vgl. BAMF (2015) 4 Vgl. BAMF (2016) 5 Vgl. BAMF (2019) 6 Vgl. Crumlish et al. (2010); Fazel et al. (2006); Hansson et al. (2012); Jesuthasan et al. (2018); Lindert et al. (2009); Richter et al. (2015); Winkler et al. (2018) 7
1. Einleitung Seit 2015 sind knapp eine halbe Million geflüchtete Kin- bar, ihre psychosozialen Ressourcen und dahingehen- der und Jugendliche nach Deutschland gekommen.7 Die den Bedarfe zu ergründen und entsprechende Förder- Erfahrungen, die Kinder in ihren Herkunftsländern und angebote zu entwickeln. auf der Flucht machen, bedeuten meist eine extreme physische und psychische Belastung. Und auch hier sind Das von Save the Children Deutschland e. V. umge- geflüchtete Kinder vielfältigen Risiken ausgesetzt. So setzte und von der Cummins Foundation geförderte gibt es in Deutschland keine einheitlichen Standards Projekt Mädchen.Machen.Mut. wendet sich den beson- zur Unterbringung und zum Schutz von geflüchteten deren psychosozialen Bedarfen und Ressourcen von Kindern. Viele von ihnen bleiben isoliert und müssen Mädchen in Erstaufnahmeeinrichtungen für geflüchtete beispielsweise lange auf einen Schul- oder Kitaplatz Menschen in Deutschland zu und hat zum Ziel, sie in warten. Sowohl in Unterkünften als auch in Bildungs- ihrer Selbstwirksamkeit und Resilienz zu stärken. Ver- einrichtungen fehlt es oft an geschultem Personal und schiedene psychosoziale Maßnahmen sollen Mädchen Strukturen, um Kinder mit belastenden Erfahrungen nachhaltig dabei unterstützen, ihre eigenen Fähigkei- zu unterstützen. ten zu entwickeln und auszuschöpfen, Lebensbelastun- Die Hälfte der seit 2015 nach Deutschland geflüchteten gen zu bewältigen und sich später aktiv in der Gesell- Kinder sind Mädchen.8 Mädchen und junge Frauen mit schaft betätigen zu können.13 Die angestrebten Inter- Fluchterfahrung sind besonders schutzbedürftig.9 Bela- ventionen wirken dabei präventiv und entwicklungs- stende Erfahrungen vor, während und nach der Flucht, fördernd auf das mentale Wohlbefinden von Mädchen sexualisierte Gewalt, traumatisierende Erlebnisse im Kontext ihrer sozialen Umgebung. Gearbeitet wird sowie geschlechtsspezifische familiäre, gesundheitli- hierbei meist in offenen, niedrigschwelligen Angeboten, che und entwicklungspsychologische Herausforderun- die eine Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen und gen bilden besonders für junge weibliche Geflüchtete individuelle Resilienz bildende Prozesse fördern. ein Konglomerat an psychosozialen Risiken.10 Diese Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit vier Erst- kumulieren in Unterkünften für geflüchtete Menschen, aufnahmeeinrichtungen in Brandenburg und Nordr- wo viele Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen hein-Westfalen (NRW) unter Einbindung und Beteili- Hintergründen und Biografien häufig auf engem Raum gung der mit uns kooperierenden Mädchen, ihrer Fami- zusammenleben. Verschiedene Studien zeigen deutlich, lien sowie Betreiber*innen und Mitarbeiter*innen der dass belastende Erfahrungen in der Kindheit lebens- Unterkünfte im Zeitraum von Februar 2018 bis Januar lange gesundheitliche sowie soziale Folgen nach sich 2020 umgesetzt. ziehen können.11 Zugleich verfügen Mädchen und junge Frauen über Es gliedert sich in die vier Bausteine: individuelle Ressourcen, die es zu unterstützen und zu • Bedarfsanalyse stärken gilt. Kreativität, Selbstwirksamkeitserleben, soziale Einbindung, Selbstwertgefühl – psychosoziale • Mikroprojekte zur psychosozialen Unterstützung Ressourcen sind wesentlich für die Verarbeitung bela- • etzwerk bestehend aus Expert*innen und N stender Erlebnisse sowie die Stärkung von psychischer relevanten Akteur*innen Resilienz und Wohlbefinden.12 Um Mädchen und junge • Werkzeugkoffer zur psychosozialen Unterstützung Frauen mit Fluchterfahrung optimal bei ihrer weiteren Entwicklung zu unterstützen, ist es daher unabding- 7 Vgl. BAMF (2015). S. 21; BAMF (2016). S. 22; BAMF (2017). S. 19 8 Ebd. 9 Vgl. Rabe (2015) 10 Vgl. Schouler-Ocak, Kurmeyer (2017) 11 Vgl. Metzler et al. (2017). S. 141–149; Felitti et al. (1998). S. 245–258 12 Vgl. Hobfoll (2002) 13 Ableitung aus der Definition für mentale Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation: WHO (2014) 8
Die Mikroprojekte werden auf Basis der Bedarfs 1.1 Rechtslage in Deutschland: Die Situation analyse von Mitarbeiter*innen der Erstaufnahmeein- geflüchteter Kinder in der Erstaufnahme richtungen gemeinsam mit den Mädchen erarbeitet und in den Unterkünften durchgeführt. Sie stellen konkrete Erstaufnahmeeinrichtungen sind laut Gesetzgebung für Maßnahmen vor Ort zur niedrigschwelligen mittel- bis die vorübergehende Unterbringung geflüchteter Men- langfristigen psychosozialen Unterstützung der Mäd- schen vorgesehen und beherbergen in der Regel meh- chen in den Unterkünften dar. rere Hundert Bewohner*innen. Bundesweit verbindli- che Mindeststandards für die Unterbringung geflüchte- Schließlich fließen die Ergebnisse der Bedarfsanalyse ter Kinder existieren nicht, Unterbringungsbedingun- und Mikroprojekte in die Erstellung eines Werkzeug- gen und Versorgungsleistungen sind abhängig von einer koffers zur psychosozialen Unterstützung. Er enthält Vielzahl an Variablen. Dazu gehören neben den landes- praktische Tipps, Methoden und Hintergrundwissen für gesetzlichen Vorgaben, Infrastruktur und Ausstattung die Mädchen selbst, ihre Eltern sowie Mitarbeiter*innen der Räumlichkeiten viele andere Faktoren. Durch die und Betreiber*innen von Unterkünften, um Mädchen mangelnden verbindlichen Vorgaben sind die Verwirkli- und junge Frauen besser als bislang ressourcenorien- chung der Kinderrechte und die vorrangige Berücksich- tiert fördern zu können. tigung des Kindeswohls nicht dauerhaft und flächen- Ein bundesweites aktives Netzwerk aus Expert*innen deckend sichergestellt. und erfahrenen Fachkräften aus den Bereichen psycho- Für die Unterbringung geflüchteter Menschen sind in soziale Unterstützung, Flucht, Kinder- und Jugendhilfe Deutschland die Länder und Kommunen zuständig. Die sowie Genderarbeit begleitet, unterfüttert und reflek- Landesaufnahmegesetze (LAufnG) der einzelnen Bun- tiert den Prozess und dient der Verbreitung des Toolkits. desländer regeln die Aufnahme, vorläufige Unterbrin- gung und soziale Unterstützung geflüchteter Menschen Im ersten Schritt untersuchte Save the Children in den Landkreisen und kreisfreien Städten, soweit das Deutschland e. V. mithilfe des Kooperationspartners jeweilige Land zur Aufnahme dieser Personen gesetz- Charité – Universitätsmedizin Berlin an den vier Stand- lich verpflichtet ist. Auf der Grundlage der LAufnG wird orten die Situation geflüchteter Mädchen in Erstauf- die Unterbringung in den Bundesländern unterschied- nahmeeinrichtungen. Mädchen und junge Frauen, lich gehandhabt. Eltern und Mitarbeiter*innen der Einrichtungen konn- Mit der Asylantragstellung geht in der Regel die Wohn- ten mithilfe verschiedener Methoden ihre Perspektiven verpflichtung in einer Landesaufnahmeeinrichtung ein- auf psychosoziale Bedarfe ausdrücken. Die so entstan- her. Die Verweildauer in Landesaufnahmeeinrichtun- denen ganzheitlichen Eindrücke von den Lebensreali- gen unterscheidet sich je nach Bundesland; in Bran- täten der Mädchen wurden mithilfe eines qualitativen denburg beträgt sie beispielsweise maximal sechs Analyseverfahrens ausgewertet und sind Grundlage Monate. Nach diesen sechs Monaten sollen geflüch- des vorliegenden Berichts. tete Menschen in Brandenburg auf die Landkreise und Im Folgenden wird die von Save the Children Deutsch- kreisfreien Städte verteilt werden, wo sie in Gemein- land e. V. und der Charité – Universitätsmedizin Berlin schaftsunterkünften, Wohnungsverbünden oder Über- erarbeitete Analyse psychosozialer Bedarfe geflüch- gangswohnformen untergebracht werden. Dies gilt teter Mädchen in Erstaufnahmeeinrichtungen im Zuge allerdings nicht für geflüchtete Menschen mit schlech- des Projekts Mädchen.Machen.Mut. vorgestellt. ter Bleibeperspektive; für sie findet die Frist von sechs Monaten bis zur Umverteilung keine Anwendung.14 In NRW dagegen wurde ein dreistufiges System der Landesaufnahme und -unterbringung geschaffen, das geflüchtete Menschen dazu verpflichtet, die drei Unter- bringungsformen Landeserstaufnahmeeinrichtung, Erstaufnahmeeinrichtung und Zentrale Unterbrin- gungseinrichtung zu durchlaufen. Aus der Zentralen 14 Vgl. Land Brandenburg (2019) 9
Unterbringungseinrichtung werden geflüchtete Men- in Einzelfällen zu einem Schulplatz verhilft.18 schen entweder auf die Kommunen verteilt oder es Auch in Brandenburg setzt die Schulpflicht erst mit erfolgt die Ausreise oder Abschiebung.15 der Zuweisung in eine Kommune ein. Geflüchtete Kin- Der Zeitraum, den Menschen in Erstaufnahmeeinrich- der werden, solange sie in einer Erstaufnahmeeinrich- tungen und Gemeinschaftsunterkünften verbringen, ist tung leben, also nicht beschult. In den Erstaufnahmeein- in den LAufnG unterschiedlich reglementiert. Während richtungen finden allerdings Sprachförderkurse statt, sich die maximale Aufenthaltsdauer in einer Gemein- die Kinder auf den regulären Schulbesuch vorbereiten schaftsunterkunft in NRW auf zwei Jahre beläuft,16 sollen. Die mit einer Regelbeschulung gewährleistete findet sich im LAufnG des Landes Brandenburg für Anbindung an gesellschaftliche Strukturen und die Mög- geflüchtete Menschen keine genauere Angabe hinsicht- lichkeit der Kontaktaufnahme zu gleichaltrigen Kindern lich der maximalen Verweildauer. jenseits der Unterkunft bleibt jedoch aus. Gesetzlichen Für Unterbringung und Schutz geflüchteter Kinder und Anspruch auf einen Kita-Platz haben geflüchtete Kin- ihrer Familien existieren keine bundesweit einheitlichen der in Deutschland mit Vollendung des ersten Lebens- und verbindlichen Standards, wie es sie beispielsweise jahrs wie alle anderen Kinder in Deutschland auch. Die- in der Kinder- und Jugendhilfe gibt.17 ser wird jedoch in der Regel erst umgesetzt, wenn ein So existieren in Unterkünften für geflüchtete Men- gewöhnlicher Aufenthalt besteht, also frühestens nach schen oft keine Rückzugsräume für Frauen und Kin- dem Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung. der, es fehlt an geschlechtsgetrennten abschließbaren Aber selbst wenn geflüchtete Kinder und ihre Eltern die Sanitäranlagen oder geschützten Spielräumen. Des Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen haben und den Weiteren sind Kinder nicht zur Genüge vor gewalt- Kommunen zugewiesen wurden, ist der Anteil derjeni- tätigen Ausschreitungen in den Unterkünften zwi- gen, die eine Kita besuchen, vergleichsweise niedrig.19 schen Bewohner*innen oder mit dem Sicherheitsper- Gründe für die geringen Quoten sind fehlende Kennt- sonal geschützt; besonders deutlich wird dies z. B. im nisse und Erfahrungen von Eltern hinsichtlich staatlicher Zusammenhang mit der Durchsetzung von Abschie- Betreuungs- und Erziehungssysteme. Hinzu kommt der bungen. Auch ist der flächendeckende Personaleinsatz strukturelle Mangel an Kitaplätzen in vielen Regionen von Kinderschutzfachkräften zur Einschätzung von Kin- Deutschlands.20 Sowohl der Kita- als auch der Schul- deswohlgefährdungen in Unterkünften für geflüchtete besuch geflüchteter Kinder sind aber entscheidend, um Menschen nicht sichergestellt. nicht nur das Recht auf Bildung, sondern auch die Betei- ligungsrechte von Kindern zu gewährleisten. Da Bildung Ländersache ist, hängt die Umsetzung des Rechts auf Bildung für geflüchtete Kinder in Deutsch- Die gesundheitliche Versorgung von geflüchteten land davon ab, welchem Bundesland sie zugewiesen Menschen ist in den §§ 4, 6 Asylbewerberleistungs- werden. gesetz (AsylblG) geregelt. Eine medizinische Versor- In Bezug auf die Schulbildung wird in den Schulgesetzen gung ist bei akuten Erkrankungen und Schmerzzustän- der einzelnen Bundesländer zwischen Schulpflicht und den mit ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung zu Schulbesuchsrecht unterschieden. So greift in NRW die gewährleisten, „einschließlich der Versorgung mit Arz- Schulpflicht für begleitete geflüchtete Kinder erst nach nei- und Verbandmitteln, sowie sonstiger zur Genesung, der Zuweisung in eine Kommune (was, wie oben dar- zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder gelegt, bis zu 24 Monate dauern kann). Das bedeutet, Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen.“ Zudem dass die in einer Landesaufnahmeeinrichtung lebenden sind die amtlich empfohlenen Schutzimpfungen inbe- Kinder lediglich ein Schulbesuchsrecht haben, das nur griffen, ebenso wie alle Leistungen bei Schwangerschaft 15 Vgl. Flüchtlingsrat NRW (2019) 16 Vgl. Landesaufnahmegesetz (LAufG) NRW §4 (2) 17 Vgl. Save the Children Deutschland (2018a). S. 24 18 Vgl. Schulgesetz NRW §34 (6) 19 Vgl. Save the Children Deutschland (2018b). S. 44 20 Vgl. Bogumil, Hafner & Kastilan (2017). S. 60 10
© Save the Children und Geburt. Da sich § 4 lediglich auf die Akut- und Not- den in ihrem Fall jedoch auch stark von der psychischen versorgung beschränkt, kommt § 6 AsylbLG als Auf- Situation der Eltern, deren Unterstützung und Bewälti- fangklausel eine wichtige Bedeutung zu. Danach erhal- gung von Belastungen beeinflusst. ten geflüchtete Kinder „sonstige Leistungen“, wenn diese zur „Sicherung der Gesundheit“ oder „Deckung Beteiligungsrechte für geflüchtete Menschen werden besonderer Bedürfnisse“ notwendig sind. Hierbei han- in den LAufnG generell nur begrenzt berücksichtigt. In delt es sich jedoch weitgehend um Ermessensnormen, Brandenburg wird darauf aufmerksam gemacht, dass was in vielen Fällen eine Ablehnung von Psychothera- die Bereitstellung von Unterkünften für geflüchtete pien zur Folge hat. In dieser Hinsicht stehen die Rege- Menschen bedeutet, „den Bewohnerinnen die Teilhabe lungen des AsylblG im Widerspruch zu den Vorgaben am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen“ und „sozi- der UN-Kinderrechtskonvention sowie zur EU-Aufnah- ale Beratung und Betreuung (Migrationssozialarbeit)“ merichtlinie. Die sogenannte EU-Aufnahmerichtlinie 14 zu gewährleisten. Außerdem wird auf die Sicherung sieht vor, dass asylsuchende Menschen mit besonderen der Leistungen für Teilhabe nach dem AsylbLG hinge- Bedürfnissen – wie etwa psychischen Störungsbildern wiesen, was zum größten Teil lediglich die Übernahme – bei Bedarf psychologische Unterstützung erhalten. von Schulkosten beinhaltet, sofern die Möglichkeit des „Den Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen bei Schulbesuchs besteht. In NRW werden die Leistungen der Aufnahme soll die erforderliche medizinische oder wenig bis nicht weiter ausdifferenziert beschrieben. In sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer der Praxis haben Kinder sehr eingeschränkten Einfluss geeigneten psychologischen Betreuung gewährleistet auf ihre Beteiligung und Teilhabe. werden“ (siehe Artikel 19, Abs. 2). Minderjährige gel- Das Recht auf Partizipation bedeutet den Einbezug von ten generell als besonders schutzbedürftige Personen, Menschen und Kindern in alle sie betreffenden Ange- deren Wohl eine vorrangige Berücksichtigung erfährt. legenheiten. Eine ganz grundlegende Verletzung des Es soll demnach ein Lebensstandard gewährleistet wer- Rechts auf Partizipation stellt dabei die Essensversor- den, der „der körperlichen, geistigen, seelischen, sittli- gung in Unterkünften für geflüchtete Menschen dar: chen und sozialen Entwicklung des Kindes“ entspricht Bewohner*innen können nicht selbst kochen, sondern (siehe Artikel 23, Abs. 1). Im aktuellen Versorgungs- müssen zu fest reglementierten Zeiten Kantinenessen bericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der zu sich nehmen. psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folterop- fer (BAfF) wird darauf hingewiesen, dass geflüchtete Das Konglomerat dieser gesetzlichen Regelungen bil- Kinder generell ähnlichen Belastungsfaktoren ausge- det den Hintergrund, vor dem diese Studie und ihre setzt sind wie Erwachsene. Die Bewältigung schwieri- Ergebnisse zu lesen sind. ger Erfahrungen und der Umgang mit Ressourcen wer- 11
2. Methodik 2.1 Datenerhebung erfahrungen und geschlechtsspezifischer Traumatisie- rungen ein bestmöglichstes Vertrauensverhältnis her- Die Daten für die Ressourcen- und Bedarfsanalyse wur- zustellen, wurden ausschließlich Frauen als Projektmit- den in allen vier Einrichtungen jeweils auf verschiedenen arbeiterinnen eingesetzt. Wegen erhoben, um ein möglichst umfassendes Bild der Als Bindeglied zwischen Projektteam und Einrichtung für jeweiligen Situation zu gewinnen. Zum einen wurden den Zeitraum der Datenerhebung wirkten zwei lokale in speziell entwickelten muttersprachlichen Leitfaden Mitarbeiterinnen von Save the Children. Diese Prozess- interviews und Fokusgruppen mit den Mädchen und jun- begleiterinnen waren mit den Einrichtungsstrukturen gen Frauen sowie deren Eltern die individuellen Perspek- vertraut und sorgten für eine erfolgreiche Vorberei- tiven der Bewohner*innen in den Mittelpunkt gerückt. tung und Koordination des Projekts. Sie waren eben- Ergänzend zu den Interviews konnten die Mädchen falls während der Durchführung der Erhebungen vor außerdem an Workshops unter Anwendung der Photo- Ort und unterstützten einen reibungslosen Ablauf sowie voice-Methode teilnehmen. Dies stellte eine zusätzliche die Kommunikation zwischen ortsansässigen Teams und Möglichkeit zum kreativen und nonverbalen Ausdruck den angereisten Projektmitarbeiterinnen. Das Projekt der eigenen Ressourcen und Bedarfe dar. Darüber hin- wurde von jeweils einer Prozessbegleiterin in Branden- aus wurden auch Mitarbeiter*innen der Einrichtungen burg und NRW unterstützt. durch Anwendung von Leitfadeninterviews befragt. Ziel war auch hier, einen Einblick in die verschiedenen Per- 2.1.2 Leitfadeninterviews und Fokusgruppen spektiven der in den Einrichtungen tätigen Akteur*innen und ein besseres Verständnis der zusammenwirkenden Vor Durchführung der Einzelinterviews und Fokusgrup- Kräfte an den jeweiligen Standorten zu erhalten. pen wurden die Studienteilnehmer*innen von den Pro- Die Zustimmung der Ethikkommission der Charité jektmitarbeiterinnen von Save the Children zu Inhalten, (EA2/167/18) und der Datenschutzbeauftragten der Abläufen und Freiwilligkeit sowie Schutzmechanismen Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie von Save aufgeklärt. Die Einverständniserklärungen wurden bei the Children Deutschland e. V. lag für die Studie Mäd den minderjährigen Mädchen von entsprechenden Erzie- chen.Machen.Mut. vor. Zudem erfolgten alle Schritte hungsberechtigten mitunterschrieben. Zwischen der der Studie in enger Zusammenarbeit mit der Kinder- Aufklärung und der Durchführung der Interviews und schutzbeauftragten von Save the Children. Die Daten Fokusgruppen lagen mindesten 24 Stunden. Die Inter- erhebung fand im Zeitraum zwischen Oktober und views erfolgten an bestimmten Stichtagen, die vorher Dezember 2018 in allen vier Einrichtungen statt. Dabei zufällig festgelegt wurden. wurden 83 Beteiligte (43 Mädchen, 33 Elternteile und 17 Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen wurden zuvor Mitarbeiter*innen) über Interviews, Fokusgruppen und zu Child Safeguarding21 und kindersensiblem Interview- kreative Workshops erreicht. setting geschult und während der Interviews engma- schig supervidiert. In individuell von muttersprachlichen wissenschaftli- 2.1.1 O rganisation, Analyse und Zusammen chen Mitarbeiterinnen der Charité – Universitätsme- arbeit mit den Einrichtungen dizin Berlin durchgeführten Interviews wurden Res- Federführend für die Umsetzung des Projekts und die sourcen und Bedarfe von Mädchen zwischen zehn und Kooperation mit den Unterkünften ist Save the Child- 14 Jahren anhand eines Leitfadens erfragt. Fokusgrup- ren Deutschland e. V. pendiskussionen fanden mit älteren Mädchen (15 bis 20 Die muttersprachliche Erhebung, Aufbereitung und Jahre) statt. Während die Einzelinterviews vom persön- Analyse der Interview-Daten wurde von einem multi- lichen Face-to-Face-Setting profitierten, lag die Stärke kulturellen, psychosozial geschulten Team der Charité – der Fokusgruppendiskussionen in der Möglichkeit, auch Universitätsmedizin Berlin durchgeführt. Um angesichts Interaktionen sowie die Entwicklung von Themenfel- möglicherweise vorliegender sexualisierter Gewalt dern und Ideen in der Gruppe zu erfassen.22 Beide Set- 21 Vgl. Save the Children Deutschland (2017) 22 Vgl. Smithson (2007) 12
tings waren hilfreich zur Untersuchung der im Projekt- kern enthaltenen Fragestellungen: Die Interview- und • önnen Sie sich noch an Ihre Ankunft hier K Fokusgruppenfragen kreisten um die Themenfelder erinnern? Wie haben Sie sich gefühlt? • edürfnisse und Ressourcen im Alltag in B • as hat sich in der Zwischenzeit geändert? W der Unterkunft Wie geht es Ihnen jetzt? • Selbstwirksamkeit und persönliche Ressourcen • enn Sie die Möglichkeit hätten, etwas in W • Veränderungswünsche und der Unterkunft zu verändern, was würden Sie machen? • Empfehlungen für gleichaltrige Mädchen. • nd was sollte sich aus Ihrer Sicht für U Der Ressourcenbegriff adressiert hier psychische, sozi- Ihre Tochter/Töchter in dieser Unterkunft ale und materielle Bewältigungspotenziale in den Lebens- ändern? realitäten der Mädchen und jungen Frauen; Interview- • as brauchen Sie als Mutter/Vater, um W fragen hierzu wurden entsprechend in kindgerechter Ihre Tochter/Töchter zu unterstützen? Sprache entwickelt. Die Fragen des Interviewleitfadens • önnten Sie berichten, ob sich in Ihrer K für Mädchen von zehn bis 14 Jahren lauteten wie folgt: Rolle als Mutter/Vater seit Ihrer Ankunft etwas verändert hat? • annst du dich noch an deine Ankunft hier K • enn Sie sich für die Zukunft drei Dinge W erinnern? Wie hast du dich gefühlt? wünschen könnten, was würden Sie sich für • ab es etwas, das du gerne anders gehabt G sich und Ihre Tochter/Töchter wünschen? hättest? • un bist du schon ein bisschen hier. Wie N geht es dir jetzt? Die Interviews und Diskussionen dauerten in der Regel zwischen 20 und 60 Minuten. Die wissenschaftlichen • Was gefällt dir hier am meisten? Mitarbeiterinnen der Charité – Universitätsmedizin • Was machst du, wenn es dir nicht gut geht? Berlin waren Muttersprachlerinnen der jeweiligen Inter- • enn du die Möglichkeit hättest, etwas in W viewsprache. Dadurch und aufgrund der psychosozialen der Unterkunft zu verändern, was würdest professionellen Hintergründe aller Interviewerinnen war du machen? es möglich, die Mädchen und Eltern auch bei belasten- den Themen empathisch, kultursensibel und der Situa- • enn es eine gute Fee gäbe, die dir drei W tion angemessen durch das Interview zu führen. Dies Wünsche erfüllen würde, was würdest du war insbesondere wichtig, um im engen zeitlichen Rah- dir von ihr wünschen? men des Interviews mit einer bis dato unbekannten Per- • ibt es etwas, das du gleichaltrigen G son ein vertrauensvolles und sicheres Gesprächsklima zu Mädchen sagen oder empfehlen möchtest? generieren.23 Zusätzlich war das Projektteam gemein- sam mit Save the Children im Rahmen einer Schulung auf Aspekte der kinderspezifischen und traumasensib- Ebenso fanden Einzelinterviews und Fokusgruppen- len Interviewführung vorbereitet worden. diskussionen mit den Eltern der Mädchen und jungen Frauen statt. Auch hier standen die individuellen Per- Mitarbeiter*innen der jeweiligen Standorte wurden spektiven auf Ressourcen der Mädchen, aber auch der von der Projektleiterin von Save the Children in Ein- Eltern selbst mit ihren spezifischen Aufgaben und Rol- zelinterviews befragt. Die Leitfäden zu diesen Inter- len im Fokus. Analog zu den Interviews und Fokusgrup- views gliederten sich in jeweils einen fachspezifischen pen der Mädchen wurden hier Veränderungswünsche und einen allgemeinen Teil. Auch hier lag der Fokus und Bedarfe erfragt: auf Ressourcen, Bedarfen und Problemen von Kin- 23 Vgl. Mey & Mruck (2010) 13
dern, Eltern, ebenso aber der Mitarbeiter*innen in der Die Workshops wurden jeweils von einer Mitarbeite- jeweiligen Einrichtung, bei denen die Einzelinterviews je rin von Save the Children Deutschland – einer psycho- nach Ausführlichkeit der Antworten zwischen 20 und dynamisch ausgebildeten Kunsttherapeutin – durchge- 40 Minuten dauerten. führt. Unterstützend begleitet wurden die Workshops von der jeweiligen Prozessbegleiterin und verschiede- nen Sprachmittlerinnen. Alle Workshops waren einige • Welche Rolle haben Sie in der Einrichtung? Tage nach den muttersprachlichen Interviews für einen • elche psychosozialen Unterstützungs W Zeitraum von jeweils 10:00 bis 16:30 Uhr angesetzt. angebote gibt es in der Einrichtung? Zu Beginn eines jeden Workshops wurden alle Anwe- • S ind diese Angebote für alle zugänglich, senden zunächst gebeten, sich innerhalb eines Stuhl- auch für Kinder? kreises mithilfe von Bildkarten vorzustellen. Jede Teil- nehmerin gab dabei ihren Namen, ihr Alter und ihre • ibt es spezifische Angebote für Mädchen G Herkunft an und erläuterte kurz, warum sie die von und junge Frauen? ihr gewählte Karte ausgesucht hatte. Ziel dieser Akti- • S ehen Sie Versorgungs- oder vität war ein erstes Kennenlernen aller Beteiligten Betreuungslücken? sowie die Einleitung einer ersten gemeinsamen Refle- • Ist das Essensangebot in der xion über die potenzielle Bedeutung von Bildern in Einrichtung nach Ihrer Meinung für unserem Leben. Im Anschluss daran wurden die Mäd- alle Bewohner*innen geeignet? chen eingeladen, Collagen zum Thema „Das bin ich“ zu gestalten. Hierfür wurden ihnen verschiedene Materi- • S ind Mitarbeiter*innen geschult, alien wie Kleber, buntes Papier, Filzstifte, Glitzerarti- psychosoziale Belastungen zu erkennen? kel, verschiedene Zeitschriften und Aufkleber bereit- gestellt. Für die Aktivität waren einschließlich einer gemeinsamen Besprechung der entstandenen Kunst- Alle Interviews und Fokusgruppen wurden mithilfe von werke jeweils 90 Minuten angesetzt. Zu Beginn der Audioaufnahmegeräten gesichert. Im Vorfeld der Ana- hierauf folgenden zweistündigen Mittagspause erhiel- lyse wurden die Texte nach Standards der qualitativen ten die Teilnehmerinnen Digitalkameras und konnten Sozialforschung transkribiert und von Mitarbeiterin- im Sinne der Photovoice-Methode jeweils drei Fotos nen der Charité – Universitätsmedizin Berlin, die beide zur Thematik „Was ich anderen Menschen über mein Sprachen fließend beherrschen, ins Deutsche übersetzt. Leben zeigen und erzählen möchte“ schießen. Diese Alle Daten wurden anonym erhoben. Personenbezo- Fotos wurden bei ihrer Rückkehr im Format 10x14 cm gene Daten wurden nicht erhoben, um eine Reidentifi- ausgedruckt und die Mädchen wurden gebeten, sie auf kation unmöglich zu machen. sogenannte „Storyboards“ zu montieren, die sie dann mit schriftlichen Untertiteln oder Zeichnungen wei- 2.1.3 Photovoice ter ausgestalten konnten. Die in verschiedenen Spra- chen angefertigten Sätze und Beschreibungen wurden Zusätzlich zur verbalen Datenerhebung wurden den für nach Angaben der jeweiligen Sprachmittlerin vor Ort Interviews und Fokusgruppen infrage kommenden Mäd- übersetzt. Einschließlich einer weiteren gemeinsamen chen und jungen Frauen kreative Workshops angebo- Besprechung und Reflexion der entstandenen Werke ten, in denen nach der Photovoice-Methode gearbeitet wurden hierfür am Nachmittag insgesamt 150 Minu- wurde. Photovoice ist eine community-basierte partizi- ten eingeplant. Zu Beginn der fotografischen Aktivität pative Forschungsmethode. Sie ist hervorragend geeig- wurden die Mädchen darauf hingewiesen, dass sie auf- net, um nonverbal und über Sprachbarrieren hinweg grund der Anonymisierung der Bilder weder ihre eige- Perspektiven und Lebenswelten der (häufig aus mar- nen Gesichter noch diejenigen anderer Menschen foto- ginalisierten Gruppen stammenden) Teilnehmer*innen grafieren durften. Hinzu kamen individuelle Einschrän- zu rekonstruieren.24 kungen der jeweiligen Erstaufnahmeeinrichtungen. 24 Vgl. Migliorini & Rania, 2017; Sutton-Brown (2014) 14
Albanisch Arabisch Farsi / Dari Russisch Türkisch Kind Eltern Kind Eltern Kind Eltern Kind Eltern Kind Eltern ges. Einrichtung A 9 13 1 — — — — — — — 23 Einrichtung B — — 3 2 3 8 — — — — 16 Einrichtung C — — 1 — — — 3 4 — — 8 Einrichtung D — — — — — 2 — — 1 4 7 ges. 9 13 5 2 3 10 3 4 1 4 54 Tabelle 1: Übersicht befragter Sprachgruppen nach Standort und Zielgruppe Einzelinterviews Fokusgruppen Kinder Eltern Mitarbeiter*innen Kinder Eltern Einrichtung A 7 — 5 1 2 Einrichtung B 3 2 4 1 2 Einrichtung C 5 4 4 — — Einrichtung D 1 6 4 — — ges. 16 6 17 2 4 Tabelle 2: Übersicht Fokusgruppen und Einzelinterviews nach Standort Die so entstandenen Kunstwerke und verbalen Äuße- up, ausgehend von den Perspektiven der befragten rungen wurden von der zuständigen Workshop-Lei- Personen untersucht, welche Ressourcen und Bedarfe terin visuell und deskriptiv zusammengefasst und um bei jungen Mädchen und Frauen in Unterkünften für eigene fachliche Beobachtungen und Analysen ergänzt. geflüchtete Menschen vorliegen. Die in Form von Inter- Diese Workshop-Ergebnisse wurden im Anschluss viewtranskripten und der Ergebnisse aus den kreati- ebenfalls auf Themencluster und inhaltliche Besonder- ven Workshops vorliegenden Daten wurden mithilfe heiten untersucht und in Ergänzung zu den Befragungs- der qualitativen Inhaltsanalyse betrachtet. Bei einer daten qualitativ inhaltsanalytisch bearbeitet. solchen Betrachtung können Textbestandteile kodiert und dann systematisch und regelgeleitet in ein sich stets weiterentwickelndes Kategorienschema einge- 2.2 Qualitative Inhaltsanalyse ordnet werden. So können auch größere Datenmen- gen auf klare und überprüfbare Weise analysiert wer- Als weitverbreitetes Instrument sozialwissenschaftli- den.26 Mithilfe der so durchgeführten Aufbereitung der cher Datenanalyse25 ist die qualitative Inhaltsanalyse erhobenen Daten werden wiederkehrende Themenbe- sehr gut geeignet, um mit offenen, explorativen Frage- reiche deutlich und können im Anschluss auch quantita- stellungen in komplexen Zusammenhängen zu arbei- tiv-deskriptiv in Bezug auf die Fragestellung ausgewer- ten. Im Falle des vorliegenden Berichts wurde bottom- tet werden. Hierzu werden im Falle der vorliegenden 25 Vgl. Mayring (2010) 26 Vgl. Hsieh & Shannon (2005) 15
Untersuchung Häufigkeiten der genannten Bedarfe jungen Frauen wurden sowohl in Einzelinterviews als und Ressourcenfaktoren bestimmt und miteinander auch im Fokusgruppensetting befragt (siehe Tab. 2). verglichen. Dies erlaubt eine Aussage über besonders Die Zielgruppe der kreativen Workshops waren Mäd- relevante und dringende Bedarfe und daraus abgelei- chen im Alter von zehn bis 14 Jahren, wobei die Alters- tete Handlungsempfehlungen. spanne aufgrund individueller Anfragen bei der Durch- führung teilweise auf acht bis 14 Jahre erweitert wurde. Die Grundlage für den vorliegenden Bericht bildet eine Ein Workshop wurde von insgesamt 14 Mädchen qualitative Inhaltsanalyse mit der Analysesoftware besucht, während die anderen drei lediglich zwei bis MAXQDA 2018. vier Teilnehmerinnen hatten. Insgesamt wurden die vier kreativen Workshops von 22 Mädchen besucht. Die Zusammensetzung der endgültigen Stichprobe war 2.3 Stichprobe und deskriptive Daten bis zum jeweiligen Erhebungstag unklar. Dies ist auf die zum Teil hohe und nicht immer vorhersehbare Fluk- Im Rahmen der Mädchen.Machen.Mut.-Bedarfsanalyse tuation an den Standorten aufgrund von Transfer in konnten durch muttersprachliche Interviewerinnen und andere Einrichtungen zurückzuführen. Ebenso ist auch Sprachmittlerinnen fünf Sprachgruppen abgedeckt wer- die geringe Verbindlichkeit der – selbstverständlich den: Albanisch, Arabisch, Farsi/Dari, Russisch und Tür- freiwilligen – Teilnahmezusagen ein möglicher Grund, kisch. An allen Standorten wurden die dort jeweils am obwohl während der Informationsveranstaltungen zu häufigsten vorkommenden Sprachgruppen durch die den Erhebungen mit großem Engagement für die Teil- Interviews und Fokusgruppen abgedeckt (siehe Tab. 1). nahme geworben wurde. Mitarbeiter*innen der Standorte wurden nach Mög- Zielgruppe der Einzelinterviews waren Mädchen zwi- lichkeit aus unterschiedlichen fachlichen Bereichen und schen zehn und 14 Jahren, Fokusgruppeninterviews fan- Ebenen für die Befragung herangezogen. So konnten den überwiegend mit Mädchen zwischen 15 und 20 Jah- von der Psychologin oder Ersthelferin über den Sozi- ren statt. Aufgrund teilweise geringer Teilnehmerinnen- aldienst bis zur Leitungsebene ganz unterschiedliche zahlen wurden auch einzelne Interviews mit Mädchen strukturelle und professionelle Perspektiven berück- ab 15 Jahren durchgeführt. Die Eltern der Mädchen und sichtigt werden. 16 © Bastian Strauch / Save the Children
3. Ergebnisse der standort- und zielgruppenbezogenen Analyse 3.1 Einrichtung A (Nordrhein-Westfalen) Im Folgenden werden im Hinblick auf Häufigkeit und besondere Dringlichkeit nur Themen aufgeführt, die In der ersten Einrichtung konnten insgesamt 28 Perso- an mindestens vier Stellen in den Gesprächen genannt nen für die Erhebung gewonnen werden – zehn Mäd- wurden (siehe Abb. 2). chen, 13 Elternteile und fünf Mitarbeiter*innen. Die Interviews fanden im Oktober 2018 statt, der kreative Am häufigsten wurden der Wunsch nach Schulbesuch Workshop eine Woche nach der Befragung. Ein Groß- genannt und die Unzufriedenheit damit, dass dieser teil der befragten Mädchen und deren Eltern stammte aufgrund des derzeitigen Aufenthaltsstatus nicht mög- aus Albanien und dem Kosovo, außerdem wurde ein lich ist. Auch wurden Lernen und Schule als wichtige Mädchen aus Somalia auf Arabisch befragt. Ressourcen erwähnt. Dies geschah insbesondere in Verbindung mit einem starken Wunsch nach Kenntnis- 3.1.1 Mädchen sen der deutschen Sprache – mehrfach wurde auch ein positives Verhältnis zu Deutschland und deutscher Kul- Interviews und Fokusgruppendiskussionen tur beschrieben. Ebenso benannten Mädchen den Auf- Die befragten Mädchen in Unterkunft A äußerten sich enthalt in der Natur – z. B. bei Ausflügen, Spaziergän- besonders häufig zu den Themen Bildung, Wohnsitua- gen und Sport an der frischen Luft – als wichtige Frei- tion, Gesundheit, soziale und individuelle Ressourcen zeitaktivität und Coping-Strategie bei negativen Gefüh- und zum Aufenthalt in Deutschland (für einen Über- len, auch gemeinsam mit gleichaltrigen Freund*innen blick siehe Abb. 1). aus der Unterkunft. Als problematisch wurde sehr häu- fig die Hygiene in der Einrichtung benannt. Die allge- Abbildung 1: Themenwolke Mädchen Einrichtung A Probleme Ressourcen Wünsche 17
Hygiene Unterkunft Probleme Familientrennung Medizinische Versorgung Schulbesuch nicht möglich Psychosoziale Versorgung Natur Ressourcen Sport Wohlfühlen in Deutschland Freund*innen / Gleichaltrige Selbsthilfestrategien Schule Eigene Wohnung Wünsche Gesicherter Aufenthalt Deutsch lernen Gesundheit Familie Privatsphäre Häufigkeit der Nennung 0 2 4 6 8 10 12 14 16 Abbildung 2: Ressourcen und Bedarfe Mädchen Einrichtung A Probleme Ressourcen Wünsche meine Sauberkeit in den gemeinsam genutzten Sanitär- allerdings gab es Kritik an der medizinischen Versor- anlagen wurde trotz regelmäßiger professioneller Rei- gung. In den Augen der Mädchen sind in der Vergan- nigung als unzureichend beschrieben. Ekel und Angst genheit kranke Personen nicht ernstgenommen wor- vor Erkrankungen wurden häufig erwähnt. Außerdem den, so seien zum Beispiel Krankenwagen zu spät geru- wünschten sich die Mädchen, insbesondere aufgrund fen oder Symptome als nicht ausreichend schwerwie- der einsetzenden Pubertät und der damit einhergehen- gend eingestuft worden. Aufgrund von Sprachbarrie- den Veränderungen im Umgang mit dem eigenen Kör- ren sei eine Verständigung nicht möglich gewesen. In per, mehr Rückzugsmöglichkeiten in den Sanitäranla- den Interviews wurde deutlich, dass die Mädchen sich gen (Zitat: „Einmal haben die auf den Fliesen, da wo die häufig Sorgen um ihre kranken Angehörigen machen. Dusche ist, den Abfall der Tage (benutzte Binden) ein- fach hingeworfen. Da kommen auch kleine Jungs (…), Kreativer Workshop mit Photovoice-Methode das ist peinlich. [flüstert:] Ich habe auch die Tage bekom- Am Workshop nahmen insgesamt 14 Mädchen teil. Bei men.“ (Mädchen, Albanien, 12 Jahre). Auch berichtete der Auswertung der Ergebnisse fiel auf, dass vor allem ein Mädchen, dass die Toiletten sich auf einem anderen Schönheit und Ästhetik eine wichtige Rolle für die teil- Stockwerk befinden und sie nachts Angst habe, diese nehmenden Mädchen spielen. Negatives oder Hässli- alleine aufzusuchen. In Zusammenhang damit wurde ches wurden kaum dargestellt, stattdessen insbeson- ebenfalls häufig der Wunsch nach mehr Rückzugsmög- dere bei den Collagen zur eigenen Identität viel mit lichkeiten für die Familien in der Einrichtung und per- Glitzer und ästhetisch anmutenden Elementen im Sinne spektivisch nach einer eigenen Wohnung geäußert. der westeuropäischen Schönheitsideale gearbeitet. Mit Die psychosoziale Versorgung in Einrichtung A wurde Blick auf die identitätsbezogenen Entwicklungsaufga- als überwiegend positiv und hilfreich beschrieben, ben der Pubertät kann dies als Hinweis darauf gedeutet 18
werden, dass sich die Mädchen mit der eigenen Rolle und dem Platz in der neuen deutschen Umgebung aus- einandersetzen. In der fotografischen Darstellung der Umgebung spielte laut den Beschreibungen der Mädchen das Sichern von Erinnerungen mehrfach eine Rolle. Dies könnte einen Hinweis auf die Auseinandersetzung mit drohender Abreise und Rückführung ins Herkunftsland, zumindest aber dem Transfer an einen anderen Ort, enthalten (Albanien gilt zur Zeit als sogenannter „sicherer Her- kunftsstaat“ und geflüchtete Menschen von dort haben daher eine schlechte Bleibeperspektive). Vergänglich- keit und Instabilität sowie die Auseinandersetzung mit einem sich ständig verändernden sozialen Umfeld sind Abbildung 3: Storyboard mit drei Fotos, ebenfalls mögliche Deutungsarten. Mädchen, Albanien, 13 Jahre, 50 × 70cm Die Teilnehmerinnen setzten sich schließlich in ihrer Insgesamt war der Themenbereich physische/psychi- Gestaltung der Storyboards und den Erläuterungen sche Gesundheit für die Eltern von großer Bedeutung. dazu häufig mit Herkunfts- und Aufnahmeland ausein- Eigene körperliche Erkrankungen sowie psychosoziale ander, so z. B. durch die Darstellung von Flaggen und Belastungen aufgrund der Fluchtumstände und/oder deutschen Symbolen. Dies könnte ebenfalls als Hinweis der Lebensumstände in Deutschland standen stark im auf Identitätsfindung und das Bemühen um Ankom- Fokus der Interviews. In Verbindung mit häufig dro- men in der neuen Kultur gewertet werden. Vielfach hender Abschiebung oder unklarem Aufenthaltssta- betonten die Mädchen ihren Wunsch nach korrektem tus beschäftigten sich die Befragten mit ihrer Rolle als Beherrschen der deutschen Sprache. Eltern und dem Wunsch nach einer besseren Zukunft für die Kinder. Hier wurde auch häufig der Wunsch 3.1.2 Eltern nach Schulbildung für die Kinder genannt. Die Eltern der Mädchen in Einrichtung A beschäf- In Bezug auf das Leben in der Einrichtung wurde Kri- tigten sich besonders häufig mit gesundheitlichen tik am Verhalten einiger Mitarbeiter*innen geübt; zum Themen (medizinische Versorgung, Krankheiten, einen in Verbindung mit der erwähnten mangelhaften Stresssymptome), Familiensorgen, dem Wunsch nach Vermittlung zur medizinischen Versorgung, zum ande- Bildung für die Kinder sowie dem Thema Aufenthalt ren aber auch im persönlichen Umgang, der als schroff und einer möglicherweise drohenden Abschiebung (für und diskriminierend beschrieben wurde. Psychischer einen Überblick siehe Abb. 4). Druck durch das Androhen von polizeilichen und auf- enthaltsrechtlichen Sanktionen, unter anderem durch Am häufigsten wurde die medizinische Versorgung am Dolmetscher*innen und leitende Mitarbeiter*innen, Standort als ausbaufähig beschrieben. Viele der befrag- wurde erwähnt. Weiterhin wurde auch das Leben in ten Eltern schilderten lange Wartezeiten und für sie der Unterkunft als sehr beengt (mehrere Familien in unverständliche Prozesse bei der Terminvergabe. Auch einem Raum) und von strikten Regeln, insbesondere fühlten sie sich häufig mit ihren Beschwerden oder den bezüglich des Aufenthalts außerhalb der Einrichtung Beschwerden ihrer Kinder nicht ernstgenommen und und der Essensausgabezeiten, beschrieben. Ebenso wie falsch behandelt (was möglicherweise mit der nicht die Mädchen äußerten auch die Eltern Ausbaubedarf immer zu gewährleistenden Sprachmittlung zusam- beim Thema Hygiene in der Unterkunft (Zustand der menhängt). Problematisch seien darüber hinaus die Duschen und Toiletten), auch hier wurden Ängste vor fehlende finanzielle Unterstützung bei Medikamenten Krankheiten geschildert. Nicht zuletzt äußerten einige und ein allgemeiner Mangel an finanziellen Ressour- der Eltern auch einen starken Wunsch nach Arbeit und cen (siehe Abb. 5). finanzieller Selbstbestimmung, zumindest aber einer sinnvollen Tätigkeit. 19
Abbildung 4: Themenwolke Eltern Einrichtung A Medizinische Versorgung Krankheit Sorge um Familie / Kinder Drohende Abschiebung Umgang der MA negativ Stress Probleme Hygiene Unterkunft Finanzieller Mangel Strikte Regeln Beengter Raum Schulbesuch nicht möglich Essensversorgung Diskriminierung Schule Wünsche Gutes Leben Arbeit Häufigkeit der Nennung 0 2 4 6 8 10 12 14 Abbildung 5: Ressourcen und Bedarfe Eltern Einrichtung A Probleme Ressourcen Wünsche 20
3.1.3 Mitarbeiter*innen benannt. Zuletzt wurde auch die zu geringe Selbstbe- Die Beschäftigten in Einrichtung A hatten an diversen stimmung der erwachsenen Bewohner*innen (zum Bei- Stellen der Leitfadeninterviews die Möglichkeit, offene spiel in Bezug auf die Essenszeiten) thematisiert. Bedarfe der relevanten Gruppen zu formulieren, aber auch positive Erfahrungen und bereits gut funktionie- Positive Erfahrungen: Als wichtige Ressource wurde rende Prozesse zu benennen. die gute Anbindung der Unterkunft an die lokale Infra- struktur benannt. Außerdem wurden vielfältige Ange- Mädchenspezifische Bedarfe: Häufig wurde benannt, bote wie Exkursionen, Sportangebote, eine Koch- dass speziell auf Mädchen zugeschnittene Angebote gruppe sowie ein Frauen- und ein Männercafé als ausbaufähig seien, die vorhandenen jedoch bereits gut erfolgreiche Modelle geschildert. genutzt würden. Insbesondere für ältere Mädchen gäbe es noch Lücken. Als Thema wurde beispielsweise die 3.1.4 Zusammenfassung interkulturelle Auseinandersetzung mit Geschlechter- Alle Perspektiven der befragten Gruppen zusammenge- rollen genannt. Auch die mangelnde Privatsphäre der nommen ergeben folgende besonders dringliche Bedarfs- heranwachsenden jungen Frauen in den Räumlichkeiten bereiche und Ressourcenquellen in Einrichtung A: der Unterkunft wurde als problematisch gesehen. Dar- über hinaus thematisierten auch die Mitarbeiter*innen • wichtiger Bedarf eines Ausbaus von Schul das Fehlen von Schulbildung, besonders für Mädchen unterricht oder schulähnlichen Angeboten sowie und junge Frauen, als Problem, auch durch die kultu- von Sprachförderung rell bedingte versorgende Rolle und damit Doppelbe- • Bedarf nach Rückzugsräumen und Maßnahmen/ lastung der Töchter in vielen Familien. An psychosozi- Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre, alen Bedarfen wurde der Ausbau von psychotherapeu- insbesondere heranwachsender Mädchen tischen Angeboten und Gesprächsgruppen angeregt. • Bedarf nach Verbesserung der hygienischen Zustände in der Unterkunft Schutz vor Gewalt und Ausbeutung: Als schwie- rig wurde die häufige Verletzung der Aufsichtspflicht • Verbesserung der medizinischen Versorgung durch die Eltern benannt. Außerdem sorge die beengte und der bereits vorhandenen Koordination mit Wohnsituation für unmittelbare Konfrontation mit externen Akteur*innen belastenden Situationen wie gewalttätigen Auseinan- • Ausbau der psychosozialen, insbesondere dersetzungen zwischen Bewohner*innen in der Unter- psychologischen, Versorgung von Eltern und kunft. Auch ein ungeregelter Tagesablauf, fehlender Kindern als wichtige Ressource Zugang zu Schulbildung sowie mangelnde Spielmög- • Entlastung der Eltern durch stärkende psycho lichkeiten und kindgerechte Räume waren hier Themen. soziale Angebote und Kinderbetreuung Elternspezifische Bedarfe: Die Befragten äußer- • ufrechterhaltung und Ausbau der Ressourcen- A ten vielfach, dass die Eltern meist selbst stark bela- quellen Sport und Bewegung sowie Natur stet durch die Fluchterfahrungen seien und daher (naturpädagogische Angebote, Erlebnispädagogik) mehr Unterstützung in der pädagogischen Versor- • E rmöglichung der Auseinandersetzung mit gung ihrer Kinder benötigten. Auch die fehlenden Per- entwicklungsspezifischen Themen wie Identitäts- spektiven wurden hier als lähmender Faktor benannt. findung, Ästhetik und Zugehörigkeit in Form von Aus diesen psychischen Belastungen ergäben sich häu- Gruppenangeboten (für Gleichaltrige) fig Probleme bei der Kinderbetreuung und kindgerech- • stärkere Anbindung an kulturelle und Freizeit ten Aktivitäten mit der Familie, was einen dringenden angebote der nahegelegenen städtischen Bedarf nach besserer psychosozialer Versorgung für Umgebung die Eltern erkennen lässt. Auch die Tatsache der feh- lenden Mittel zur besseren, kulturell gewohnten Essens- versorgung der Kinder wurde als elterlicher Bedarf 21
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