Was macht ein gutes Leben aus? - Der Capability Approach im Fortschrittsforum
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Impressum ISBN 978-3-86498-873-8 Lektorat: Sönke Hallmann Druck: Media-Print GmbH, Paderborn Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung Layout: Werbestudio Zum Weissen Roessl 1. Auflage Copyright 2014 by Friedrich-Ebert-Stiftung Fotos: sör alex, kin kohana, PLIM, Tyler Olson – photocase.de Printed in Germany 2014 vege, strixcode, Jakob Jirsák – fotolia.com
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung 6 Jürgen Volkert Der Capability-Ansatz als gesellschaftspolitischer Analyserahmen 8 1. Einleitung 9 2. Grundkonzepte und Anwendungen des CA 10 2.1 Grundlegende Begriffe und Konzepte 10 2.2 Ein Überblick über offizielle Berichte und Anwendungen des CA 10 3. Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen und die Armuts- und Reichtumsbericht- erstattung der Bundesregierung 11 3.1 Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen 11 3.2 Der CA in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung 13 4. W – Konzeption und Indikatoren der Bundestags-Enquete-Kommission 3 „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ 15 5. Allgemeine Weiterentwicklungspotenziale und Perspektiven 17 Sven Rahner Amartya Sens Befähigungsansatz: Kompass für gutes Regieren? 20 1. Einleitung 21 2. Begriffserklärungen und Entstehungszusammenhang 22 3. Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen 23 4. Möglichkeiten und Grenzen des Befähigungsansatzes 24 5. Anwendungsperspektiven und Weiterentwicklung 25 6. Fazit und Ausblick 26 Fabio Guarascio Die Sozialdemokratie und der Befähigungsansatz 29 1. Einleitung 30 2. Grundlagen des Befähigungsansatzes 31 3. Der Dritte Weg und die Rolle des Befähigungsansatzes 31 4. Chancengerechtigkeit in der politischen Praxis 32 5. Der vorsorgende Sozialstaat 33 5.1 Das Hamburger Programm der SPD 33 5.2 Bezüge zum Befähigungsansatz 33 5.3 Die kritische Perspektive des Befähigungsansatzes 34 6. Fazit 35 4
Andrea D. Bührmann und Matthias Schmidt Entwicklung eines reflexiven Befähigungsansatzes für mehr Gerechtigkeit in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften 37 1. Einleitung 38 2. Grundannahmen 39 3. Verfahren zur Orientierung an faktisch gegebenen Werthaltungen 40 4. Befähigung zum guten Leben 42 5. Zum Mehrwert eines Befähigungsansatzes für moderne Gesellschaften 45 Ortrud Leßmann Arbeit und das gute Leben – Erfassung von Verwirklichungschancen im Capability-Ansatz 47 1. Einleitung 48 2. Eine kurze Einführung in den Capability-Ansatz 49 3. Arbeit im Capability-Ansatz 50 4. Erfassung von Verwirklichungschancen 52 4.1 Sekundärdatenanalyse zur Identifizierung freiwilliger Arbeitslosigkeit 52 4.2 Generierung von Primärdaten zur Abschätzung der Entscheidungsfreiheit und ihre Wirkung auf die Arbeitszufriedenheit 54 5. Fazit 56 Fedor Ruhose Der Befähigungsansatz in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – das Beispiel Rheinland-Pfalz 58 1. Die politische Relevanz des Befähigungsansatzes 59 2. Der Befähigungsansatz in der praktischen Politik – das Beispiel der Arbeitsmarktpolitik in Rheinland-Pfalz 60 3. Der Fokus liegt auf den Menschen – weitere Ansätze der Befähigungspolitik in Rheinland-Pfalz 62 4. Die Herausforderungen für den Befähigungsansatz 63 Autorinnen und Autoren 65 5
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum Vorbemerkung Ein gutes Leben zu führen, diese Möglichkeit soll in ei- ner demokratischen Gesellschaft allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen. Was ein gutes Leben ist, misst sich aber nicht allein in materiellen Gütern. Es stellt sich eben- so die Frage, ob Menschen darüber, wie sie leben wollen, selbst entscheiden und ob sie ihre individuellen Potenzi- ale und Fähigkeiten entfalten können. Welche Chancen gibt es, sich in die Gesellschaft einzubringen und an ihr teilzuhaben? Wie befähigen wir alle Menschen unserer Gesellschaft, ihre individuellen Vorstellungen eines guten Lebens zu verwirklichen? Und wie können wir auch öko- logische Faktoren und politische Rahmenbedingungen in unser Verständnis von Wohlstand miteinbeziehen? In der vorliegenden Publikation greift das Fortschrittsforum diese Themen und Fragen auf und setzt sich damit ausei- nander, welche Antworten der Capability Approach auf die Frage geben kann, worin ein gutes Leben heute besteht und wie Gesellschaft und Politik sich über die Bewertung von Wohlstand verständigen können. Mit dem Ziel, einen Dialog zwischen Akteurinnen und Ak- teuren aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Gewerk- schaften und Unternehmen zu ermöglichen, um konkrete Lösungsansätze für die drängenden Herausforderungen un- serer Gesellschaft zu entwickeln, rief die Friedrich-Ebert-Stif- tung gemeinsam mit der Otto Brenner Stiftung, der Hans- Böckler-Stiftung sowie dem Progressiven Zentrum 2011 das Fortschrittsforum ins Leben. In Arbeitsgruppen, Panels, Ex- pertenrunden und öffentlichen Veranstaltungen diskutier- te das Fortschrittsforum zu den Bereichen Arbeit & Leben, Wirtschaft & Wachstum sowie Bildung & Modernisierung. Mit der Veröffentlichung „So wollen wir leben!“ legte das 6
Was macht ein gutes Leben aus? – Vorbemerkung Fortschrittsforum 2011 konzeptionelle Überlegungen und hat, und fragt, welche Bedeutung dem Konzept in Zukunft konkrete Handlungsanweisungen für gesellschaftlichen zukommen kann. Anschließend diskutiert Sven Rahner den Fortschritt vor und lieferte mit dem Materialband „Wie wol- Capability Approach als Grundlage für konkrete politische len wir leben und arbeiten?“ maßgebliche Impulse für eine Maßnahmen. Im Hinblick auf die jüngste sozialdemokrati- fortschrittliche Arbeitsgesellschaft. sche Reformpolitik und das zentrale Konzept der sozialen Gerechtigkeit befragt Fabio Guarascio in seinem Beitrag In der vorliegenden Publikation setzt sich das Fortschritts- den Capability-Ansatz. Andrea D. Bührmann und Matthias forum mit dem Beitrag auseinander, den der Ansatz der Schmidt wenden das Konzept des Capability Approaches Verwirklichungschancen (Capability Approach) für eine auf die differenzierten Konditionen in westlichen Demokra- progressive Politik bietet. Bis in die 1990er-Jahre hinein tien an. Ortrud Leßmann untersucht, wie der Begriff der Ar- wurde gesellschaftlicher Wohlstand vorrangig anhand des beit bisher im Kontext des Capability Approaches bearbeitet Bruttoinlandsprodukts gemessen. Amartya Sen und Mar- wurde. Abschließend geht Fedor Ruhose der Frage nach, tha Nussbaum, Begründerin und Protagonistin des Ca- wie Arbeitsmarktpolitik konkrete Hilfestellung für junge Be- pability Approaches, rückten andere Faktoren der Wohl- rufseinsteigerinnen und -einsteiger bieten kann. standsbemessung, wie gesellschaftliche Teilhabe, in den Vordergrund. Impulse liefern, Denkanstöße erarbeiten und die Diskussio- nen unserer Gesellschaft immer wieder um neue Perspekti- In mehreren Arbeitsgruppentreffen des Fortschrittsforums ven erweitern, diesen Zielen fühlen sich die Mitglieder des und in zwei öffentlichen Workshops diskutierten Expertin- Fortschrittsforums verpflichtet. Für die konstruktive und en- nen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Verbän- gagierte Beteiligung an diesem Prozess möchten wir uns bei den welche Orientierung und Perspektiven der Capability allen Mitwirkenden herzlich bedanken. Approach für eine nachhaltige und fortschrittliche Politik eröffnet. Wir wünschen eine anregende Lektüre! Einige Beiträge, die während der Treffen und Workshops er- arbeitet und vorgestellt wurden, liegen in dieser Publikation „Was macht ein gutes Leben aus?“ nun gebündelt vor. Sie führen grundlegend in den Capability Approach nach Sen Dr. Philipp Fink Ruth Brandherm und Nussbaum ein und adressieren verschiedene Politikfel- Fortschrittsforum Fortschrittsforum der, in denen er Anwendung findet bzw. finden könnte: Friedrich-Ebert-Stiftung Friedrich-Ebert-Stiftung Jürgen Volkert untersucht, wie sich der Capability Approach auf den Arbeits- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und andere konkrete politische Bemessungen ausgewirkt Weitere Unterlagen zu dem Thema finden Sie online unter http://www.fes.de/wiso/content/veras/v_arbeit_qualifiz.php 7
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilitiy Approach im Fortschrittsforum Der Capability-Ansatz als gesellschaftspolitischer Analyserahmen 1 Jürgen Volkert 1 Die dem Aufsatz zugrunde liegende Forschung wurde maßgeblich durch die Förderung des Projekts GeNECA (Gerechte Nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage des Capability-Ansatzes, www.geneca.ufz.de) ermöglicht, für die ich dem Bundesministerium für Bildung und Forschung zu Dank verpflichtet bin. Ferner danke ich Ortrud Leßmann für ihre hilfreichen Anregungen und Julia Schmidtke für die redaktionelle Überarbeitung. Für etwaige Ungereimtheiten und Fehler übernehme ich die alleinige Verantwortung. 8
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen Dieser Beitrag untersucht ausgehend von einer grundlegenden Einführung in den Capability-Ansatz (kurz: CA; Synonym: Ansatz der Verwirklichungschancen2) die konkreten Anwendungen, die der Ansatz in der Politik gefunden hat. Im Vorder- grund stehen hierbei der zweite und dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bun- desregierung sowie der Vorschlag der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages zur Ermittlung des Wohlergehens in Deutschland. Konzeptionelle Grundlage für die genannten Publikationen ist der CA. Insbesondere die Enquete-Kommission schlägt dabei nicht nur neue Indikatoren vor und entwickelt bestehende Maße weiter, sondern verfolgt auch das Ziel, diese für öffentliche Debatten zugänglich zu machen. Vor diesem Hintergrund befasst sich der folgende Beitrag mit den noch unerschlossenen Potenzialen des CA in Deutsch- land. Er betont insbesondere die Notwendigkeit, künftig genauer zu analysieren, welche Bedeutung die Bevölkerung und ihre einzelnen Gruppen den verschiedenen Dimensionen des Wohlergehens beimessen und wie sich die objektiv und subjektiv wahrgenommenen Entscheidungs- und Handlungsspielräume gestalten. 1. Einleitung In den letzten Jahren wurde der CA vermehrt als konzeptio- neller Rahmen für offizielle gesellschaftspolitische Analysen und Berichte eingesetzt. Dieser Beitrag erläutert zunächst kurz die Grundkonzepte des Ansatzes und gibt einen Über- blick über offizielle Berichte, die auf den CA zurückgreifen. Sodann werden die Bestimmungsfaktoren von Verwirkli- chungschancen erläutert und die Anwendung dieses theo- retischen Rahmens am Beispiel der Armuts- und Reichtums- berichterstattung der Bundesregierung verdeutlicht. Weiter stehen anhand des Vorschlags von Indikatoren zu „Wachs- tum, Wohlstand und Lebensqualität“ der gleichnamigen Bundestags-Enquete-Kommission Potenziale, aber auch Herausforderungen zur Diskussion, um schließlich mögliche Weiterentwicklungen aufzeigen zu können. 2 In diesem Beitrag wird der Begriff „Capability Approach“ auf deutsch als „Ansatz der Verwirklichungschancen“ umschrieben. Diese Übersetzung hat sich seit der deutschen Ausgabe von Amartya Sens zentraler Publikation „Development as Freedom“ etabliert (Sen 2000). Der ebenfalls verwendete Begriff „Befähigungsansatz“ ist stärker passiv konnotiert. Im Vergleich dazu bringt der Begriff der Verwirklichungschancen das Menschenbild des CA deutlicher zum Ausdruck. Es begreift Menschen primär als selbstständig Entscheidende und Handelnde, die ihre Verwirklichungschancen erweitern wollen und darin von der Gesellschaft vorrangig als Akteure, aber – im Bedarfsfall – auch als „Patienten“ (Sen 2013: 280) unterstützt werden sollen. 9
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum 2. Grundkonzepte und Anwendungen Gründen“. Vielmehr ist es nach dem CA auch Aufgabe des CA der Gesellschaft, eine informierte Wahl unter hinreichend wertvollen Alternativen zu ermöglichen. Dies gilt umso 2.1 Grundlegende Begriffe und Konzepte mehr, als der hier vorgestellte Ansatz ein Menschenbild Der CA als Rahmen gesellschaftspolitischer Analysen zugrunde legt, das Menschen als aktiv Entscheidende und stellt die Identifikation, Untersuchung und Erweiterung als Handelnde auffasst, die ihre Ziele selbst wählen, da- realer Freiheiten ins Zentrum. Dabei ist nicht nur wichtig, bei aber nicht allein ihrem Eigeninteresse folgen, sondern dass formale Freiheiten und Chancen gewährt werden, auch die Belange anderer im Blick haben oder sich von all- sondern ebenso, dass diese Freiheiten und Chancen allen gemeinen gesellschaftlichen Zielsetzungen leiten lassen.3 uneingeschränkt zur Verfügung stehen. So geht es nicht allein um die Frage, ob beispielsweise ein prinzipiell freier 2.2 Ein Überblick über offizielle Berichte und Zugang zum Bildungssystem oder zur sozialen Sicherung Anwendungen des CA besteht; vielmehr verlangen reale Chancen ebenso, dass Der CA wird seit mehr als zwei Jahrzehnten als konzep- etwa Schülerinnen und Schüler, unabhängig von ihrer so- tioneller Rahmen für offizielle Analysen und Vergleiche zialen Herkunft, bei vergleichbarer Begabung dieselben menschlichen Wohlergehens eingesetzt. So beruht der Kompetenzen und Bildungsabschlüsse erreichen können. Human Development Approach, den die Vereinten Na- Zugleich sind die Freiheiten eines Menschen untrennbar tionen ihren jährlichen Berichten über die menschliche verbunden mit den Chancen, die sie oder er realisiert hat. Entwicklung zugrunde legen, auf dem Ansatz der Ver- So bestimmt unser bereits bis heute erreichter Bildungs- wirklichungschancen. Das Ziel einer Erweiterung der stand über unsere künftigen Chancen. Im CA werden Verwirklichungschancen wird in den Berichten auch als diese realisierten Chancen als (realisierte) Functionings „Expanding People‘s Choices“ bezeichnet. An diesem bezeichnet. Demgegenüber lassen sich Verwirklichungs- Ziel der Erweiterung von Wahlmöglichkeiten richten sich chancen (Capabilities) definieren als „Möglichkeiten oder die entwicklungs- und gesellschaftspolitischen Analysen umfassende Fähigkeiten von Menschen, ein Leben führen von Auswirkungen und darauf aufbauende handlungs- zu können, für das sie sich mit guten Gründen entschei- leitende Schlussfolgerungen aus; diese bilden, über die den konnten und das die Grundlagen der Selbstachtung Bestimmung mehrdimensionalen Wohlergehens hinaus, nicht in Frage stellt“ (Bundesregierung 2005: 9, Sen einen Schwerpunkt der Anwendungen des Human Deve- 2000: 29-31, 2009: 231-232). lopment Approaches. Vom CA leitet sich ferner die Beto- nung der Multidimensionalität menschlichen Wohlerge- Entscheidend ist somit, aus welcher Auswahlmenge an hens ab. Sie kommt in den 24 Dimensionen menschlichen wertvollen Verwirklichungschancen ein Mensch wählen Wohlergehens zum Ausdruck, die in den Berichten zur kann. Gleichwohl gilt dabei nicht alles, was Menschen menschlichen Entwicklung allein in den ersten zwei Jahr- freiwillig wählen, auch als eine Entscheidung aus „guten zehnten zwischen 1990 und 2010 thematisiert wurden Gründen“. Wenn zum Beispiel Jugendliche aus bildungs- (Alkire 2010: 9). Der Human Development Index (HDI), fernen Haushalten nach einigen Jahren ihre eigenen Ziele mit dem für Indikatoren der Bildung, Lebenserwartung und Ansprüche soweit an eine prekäre Situation angepasst und Pro-Kopf-Einkommen ein jährliches Ranking fast aller haben, dass sie sich mit eigener Deprivation freiwillig ab- Staaten weltweit erstellt wird, hat den Human Develop- finden, so gilt dies im CA nicht als eine „Wahl aus guten ment Approach und den CA in der weltweiten Öffent- 3 Siehe zum „Agency-Konzept“ in Amartya Sens Ansatz der Verwirklichungschancen beispielsweise Sen (2009: 215-19 sowie 286-290). 10
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen lichkeit und Politik bekannt gemacht. Der HDI zeigt regel- Auf nationaler Ebene legt der erste Gleichstellungsbericht mäßig, dass Einkommen oft kein guter Indikator ist, um der Bundesregierung (2011: 46f.) den CA in Verbindung menschliches Wohlergehen in seiner Mehrdimensionalität mit einer Lebensverlaufsperspektive als Leitbild einer lang- zu erfassen. Gleichwohl stößt der Index auf wissenschaft- fristigen institutionellen Neuausrichtung zugrunde. Damit liche Kritik, etwa wegen seiner Verkürzung menschlicher soll gewährleistet werden, dass Bürgerinnen und Bürger Entwicklung auf wenige Teilaspekte (Fukuda-Parr 2007). nicht allein über formale, sondern über tatsächliche Wahl- Die verengte Perspektive des HDI ist auch ein Grund, wes- möglichkeiten im gesamten Lebensverlauf verfügen. Nicht halb er speziell für OECD-Länder nur sehr grobe Hinweise zuletzt ermöglicht es diese Herangehensweise, eine kon- auf das Wohlergehen liefern kann und durch eine umfas- zeptionelle Brücke zwischen Chancen- und Ergebnisgleich- sendere, mehrdimensionale Analyse vertieft werden muss heit zu schlagen. (Ranis et al. 2006). Bereits im zweiten und dritten Armuts- und Reichtumsbe- Eine weiter gehende Analyse von Wirtschaftsleistung und richt der Bundesregierung (2005, 2008) wurde der CA als gesellschaftlichem Fortschritt aus einer OECD-Länderper- konzeptionelle Grundlage ausgewählt. Im Folgenden wer- spektive wurde von Joseph Stiglitz, Amartya Sen sowie den am Beispiel der Armuts- und Reichtumsberichte die Jean-Paul Fitoussi (2009) und deren Commission on the Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen in der Measurement of Economic Performance and Social Pro- notwendigen Kürze skizziert. Ferner wird der Vorschlag gress im Auftrag des französischen Staatspräsidenten der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages vorgelegt. Darin wird eine mehrdimensionale Messung „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- empfohlen, die subjektive Wohlfahrtsmaße (etwa Zufrie- haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt denheit), ebenso wie Capabilities als objektive Indikato- in der Sozialen Marktwirtschaft“ skizziert. Sie hat den CA ren der Lebensqualität einbezieht. unlängst als Referenzkonzept für die Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators In ihrer Expertise „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität empfohlen (Enquete-Kommission 2013a, b). und Nachhaltige Entwicklung“ haben auch der deutsche Sachverständigenrat zur Gesamtwirtschaftlichen Ent- wicklung (SVR) und der französische Conseil d’Analyse 3. Bestimmungsfaktoren von Économique (CAE) den CA zur Analyse der Lebensqua- Verwirklichungschancen und die lität empfohlen. Ungeachtet der damit verbundenen He- rausforderungen sei es sinnvoll, dem Beispiel von Sens Armuts- und Reichtumsbericht- Ansatz zu folgen und sich auf Möglichkeiten und die Frei- erstattung der Bundesregierung heit der Menschen zu konzentrieren. Anders als Stiglitz, Sen und Fitoussi (2009) lehnen sie subjektive Wohlfahrts- 3.1 Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungs- maße jedoch ab (SVR/CAE 2011: 65-71). Als Gründe für chancen ihre Ablehnung führen sie systematische Abweichungen Dieser Abschnitt gibt einen beispielhaften Überblick über des faktischen Wohlergehens von der subjektiven Wahr- Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen. Damit nehmung an. Sie verhinderten eine aussagefähige direk- lassen sich Grundkonzepte des CA wie auch Ansatzpunk- te Messung subjektiven Wohlbefindens ebenso wie eine te einer Gesellschaftspolitik zur Erweiterung von Verwirkli- daraus folgende Ableitung politischer Handlungsempfeh- chungschancen verdeutlichen; zudem baut die konzeptio- lungen. Über die Ergebnisse von Stiglitz, Sen und Fitoussi nelle Grundlage des zweiten und insbesondere des dritten (2009) hinaus erarbeiten die Sachverständigenräte auch Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (2005, Indikatoren zur ökonomischen Nachhaltigkeit (SVR/CAE 2008) auf einer solchen Perspektive auf, deren Möglichkei- 2011 sowie SVR 2013: 483). ten und Grenzen im Anschluss diskutiert werden. 11
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum Abbildung 1: Überblick über die Bestimmungsfaktoren von Verwirklichungschancen 1 Instrumentelle Freiheiten/ Gesellschaftlich bedingte Chancen 2 3 Individuelle Potenziale Transparenzgarantien g Finanzielle Mittel n l tu ah Governance- er sw • Einkommen und w Systeme Au Soziale Be 1 Vermögen Umwandlungsfaktoren Natürlich Güterausstattung Capability Set Functionings Zufrieden- • Soziale Chancen Verwirk- Realisierte heit Politisch Persönliche • Zugang zu Bildung lichungs- Lebens- Glück Ökonomisch Umwandlungsfaktoren • Zugang zu Gesund- chancen wirklichkeit 1 heitsversorgung Sozial • Bildung • Gesundheit • Öff. Infrastruktur • Geschlecht • Soziale Netze • Alter • ... • Etc. Ökonomische Chancen • Zugang zu Arbeit • Zugang zu Kapital • ... 1 Sozialer Schutz • Soziale Sicherung • Schutz vor Gewalt Politische Chancen Individuelle Potenziale Quelle: Eigene Darstellung und Natürliche Umwand- Erweiterung in Anlehnung an lungsfaktoren Instrumentelle Freiheiten/ Volkert 2013, 2009. • Ökologische Sicherheit Gesellschaftlich bedingte Chancen Wie Abbildung 1 veranschaulicht, lassen sich die Bestim- sellschaftliche Gruppen und Unternehmen4, positiv oder mungsfaktoren der Verwirklichungschancen unterscheiden negativ beeinflusst werden. Solche Bestimmungsfaktoren in „individuelle Potenziale“, die die Verwirklichungschan- menschlichen Wohlergehens, auf die gesellschaftliche Ak- cen eines Menschen unabhängig von der Gesellschaft prä- teure direkten Einfluss haben, können als gesellschaftlich gen. Jedoch können beispielsweise die Auswirkungen indi- bedingte Chancen (instrumentelle Freiheiten) bezeichnet vidueller Potenziale auf das Wohlergehen eines Menschen werden. Governance-Systeme wirken auf individuelle Po- durch gesellschaftliche Akteure, z. B. durch den Staat, ge- tenziale wie auch auf gesellschaftlich bedingte Chancen ei- 4 Siehe etwa die Analyse der Wirkungen von Unternehmensstrategien auf nachhaltige menschliche Entwicklung am Beispiel der Bayer CropScience AG in Volkert/Strotmann/Moczadlo (2014). 12
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen nes Menschen ein: zum Beispiel wenn ein unzureichendes Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen individuellen Umwelt-Governance-System durch ökologische Schäden Potenzialen und gesellschaftlich bedingten Chancen er- krank macht oder wenn politische Governance-Systeme möglicht es, den direkten Wirkungsbereich gesellschafts- den Zugang zu einer leistungsfähigen Gesundheitsversor- politischer Akteure abzugrenzen. Zwar beeinflusst ein gung verbessern oder Umweltgesetze ermöglichen. gesellschaftlicher Akteur wie der Staat direkt soziale Chan- cen wie etwa den Zugang zum Gesundheitssystem; ob Zwar betrachtet der CA Einkommen, Vermögen und Gü- dies am Ende tatsächlich zu besseren Gesundheitschancen terausstattung als wichtige Bestimmungsfaktoren der Ver- führt, hängt jedoch ebenso von individuellen Potenzialen wirklichungschancen. In welchem Maße diese Mittel aber ab, etwa von der individuellen (Vor-)Bildung und Risiko- am Ende in Verwirklichungschancen umgewandelt werden bereitschaft in gesundheitlichen Fragen. Somit lassen sich können, hängt von persönlichen, sozialen und umweltbe- die Stellen leichter identifizieren, an denen eine Politik zur dingten Umwandlungsfaktoren ab (Robeyns 2005). Sie alle Erweiterung von Verwirklichungschancen ansetzen kann entscheiden über die Auswahlmenge an Verwirklichungs- (Arndt/Volkert 2011; Volkert 2014). chancen (Capability Set), aus der ein Mensch wählen kann. Die subjektive Auswahl aus diesen Verwirklichungschancen Die Freiheitsorientierung des CA spiegelt sich nicht zuletzt in bestimmt die von einem Individuum realisierte Lebenswirk- dem hohen Stellenwert wider, den er den Verwirklichungs- lichkeit (Functionings) und hat ihrerseits Rückwirkungen auf chancen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger beimisst – die Governance-Systeme.5 Je nach subjektiver Bewertung statt nur die tatsächlich realisierte Lebenswirklichkeit (Func- dieser realisierten Lebenswirklichkeit, wird eine Situation zu- tionings) zu betrachten. Eine solche Perspektive ermöglicht frieden oder unzufrieden machen. Hieraus können sich wei- es, die Freiheit auch jener Menschen zu respektieren, die mit tere Rückwirkungen auf die Governance-Systeme ergeben.6 weniger Einkommen, materiellem Konsum und Ressourcen- verbrauch ein gutes Leben führen wollen. Entscheidend ist Das Konzept der Transparenzgarantien (Sen 2000) inner- schließlich nicht das Ausmaß, in dem Chancen verwirklicht halb der gesellschaftlich bedingten Chancen ist zentral für werden, sondern ob ein Verzicht Ausdruck informierter, die Gewährleistung realer Freiheiten. Transparenzgaranti- freiwilliger Entscheidungen oder Ergebnis unzureichender en sind gegeben, wenn gesellschaftlich bedingte Chancen Chancen ist.7 Ein solcher Fokus kann zum Beispiel für die in einer Weise gewährleistet werden, dass sie wirklich alle Analyse von Nachhaltigkeitsstrategien hilfreich sein. Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen können. Verletzt werden Transparenzgarantien dagegen zum Beispiel durch 3.2 Der CA in der Armuts- und Reichtumsbericht- komplexe Bürokratie oder Korruption und einer daraus erstattung folgenden geringeren Inanspruchnahme von gesellschaft- Die Bundesregierung (2008, 2005) hat sich in ihrem drit- lich bedingten Chancen. Fehlt es an Transparenzgarantien, ten, wie bereits im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht kann es nicht gelingen, die übrigen, zunächst nur forma- für Amartya Sens Konzept der Verwirklichungschancen so- len, gesellschaftlich bedingten Chancen, als reale Chancen wie für den Lebenslagenansatz als konzeptionelle Grund- und Freiheiten zu eröffnen (Volkert 2014). lagen der Berichterstattung entschieden. 5 Zum Beispiel erzeugt die Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil Rückwirkungen auf das natürliche Governance-System. 6 Etwa wenn Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu Kritik und zur Forderung nach einer Änderung von Governance-Systemen und Lebensbedingungen führt. 7 So gilt im CA ein sehr geringer Kalorienverbrauch noch nicht als gesellschaftspolitisches Problem, solange er sich aus freiwilligem Fasten und nicht aus einem Mangel an Chancen in einer Hungersnot ergibt (Sen 2009). 13
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum Dementsprechend liegt den Berichten eine mehrdimensi- dieses Beitrags illustrierten Schema der Bestimmungs- onale Perspektive zugrunde. Sie begreift Armut als einen faktoren von Verwirklichungschancen. Allerdings decken Mangel, Reichtum als ein besonders hohes Maß an Ver- die im Bericht verwendeten Indikatoren nicht alle kon- wirklichungschancen. Gesellschaftliche Ausgrenzungsphä- zeptionell wichtigen Dimensionen des Wohlergehens in nomene lassen sich als mangelnde, Privilegien dagegen als einer wünschenswerten Weise ab. So konzentriert sich sehr umfangreiche, die realen Freiheiten anderer einschrän- der Bericht im Bereich der ökonomischen Chancen auf kende, gesellschaftlich bedingte Chancen interpretieren. den Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Arbeitslosigkeit, während die Bedeutung der Arbeitsbedingungen für die Die Analyse des Reichtums auf der Grundlage des CA Verwirklichungschancen weniger Beachtung findet. Im stellt, auch in der internationalen Forschung, eine Weiter- Rahmen der Reichtumsanalyse vermisst man im Bereich entwicklung dar (Volkert 2014; Arndt/Volkert 2011). Das der Transparenzgarantien und sozialen Sicherung eine Verständnis des Reichtums geht dabei über finanzielle As- Auseinandersetzung mit Fragen von Korruption und Steu- pekte hinaus und umfasst auch Reichtum im Sinne eines erhinterziehung. Nicht zuletzt wurden umweltbedingte hohen Maßes an persönlichen, sozialen oder umweltbe- Umwandlungsfaktoren kaum erfasst. dingten Umwandlungsfaktoren. Diese mehrdimensionale Interpretation des Reichtums ist einerseits hilfreich, um Eine an den Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungs- das Ziel einer Erweiterung von Verwirklichungschancen chancen ansetzende Armuts- und Reichtumsdokumen- über das gesamte soziale Spektrum hinweg zu analy- tation ist prinzipiell vorteilhaft, wenn eine umfassende sieren. Andererseits gelingt es besser, gesellschaftliche Berichterstattung angestrebt wird. Allerdings hat die Barrieren sozialer Mobilität zu identifizieren und hieraus Bundesregierung in den bisherigen Berichten die Poten- Rückschlüsse auf Handlungsbedarfe zu ziehen, wenn es ziale einer solchen Herangehensweise nur zu einem klei- gilt, gesellschaftliche Barrieren zu überwinden, um reale nen Teil genutzt. So wurden, aufbauend auf dem CA, in Freiheiten Nicht-Privilegierter zu stärken. Insofern ver- der Vergangenheit überwiegend empirisch deskriptive deutlich ein mehrdimensionales Konzept die Ambivalenz Querschnittsuntersuchungen in Auftrag gegeben. Wei- des Reichtums: Einerseits ist Reichtum an umfassenden ter gehende multivariate Analysen würden es ermögli- Verwirklichungschancen ein wünschenswertes Ziel, an- chen, Erkenntnisse über Zusammenhänge und zentrale dererseits kann er Privilegien und Machtasymmetrien Einflussgrößen im Bereich von Mittelausstattung, persön- beinhalten, die die Chancen anderer Bürgerinnen und lichen, sozialen und umweltbedingten Umwandlungs- Bürger einschränken. Vielversprechend ist ein solches faktoren zu erzielen, die andere Bestimmungsfaktoren mehrdimensionales Reichtumskonzept nicht zuletzt für der Verwirklichungschancen maßgeblich beeinflussen. die künftige Fundierung einer Neukonzeption der Ar- Mithilfe von Längsschnittanalysen könnte es zudem ge- muts- und Reichtumsberichterstattung, wie sie im vierten lingen, jene Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren näher zu Armuts- und Reichtumsbericht begonnen wurde. So er- ermitteln, die in Deutschland die soziale Mobilität und möglicht es ein auf dem CA beruhendes mehrdimensio- kritische Übergänge im Lebensverlauf bestimmen. Diese nales Armuts- und Reichtumskonzept auch, Erfolgs- und weiteren Schritte sind prinzipiell bereits mit den heute Misserfolgsfaktoren in verschiedenen Dimensionen des verfügbaren Daten möglich und erlauben die Ableitung menschlichen Wohlergehens zu bestimmen, die die Be- konkreter handlungsleitender Schlussfolgerungen und wältigung kritischer Übergänge im Lebensverlauf (etwa Maßnahmen. bei Schuleintritt, Übergang von der Schule in Ausbildung oder Beruf etc.) prägen. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht folgt in seiner Gliederungsstruktur grundsätzlich dem in Abbildung 1 14
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen 4. W3 – Konzeption und Indikatoren faktoren der Verwirklichungschancen wider. Leitindikato- der Bundestags-Enquete-Kommission ren des Vorschlags der Enquete-Kommission (2013a: 28- 30) sind danach mindestens jährlich auszuweisen und zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ diskutieren. Warnlampen sollen (nur) dann aufscheinen, wenn der jeweilige Indikator für eine Dimension negati- Im Jahr 2010 hat der Deutsche Bundestag die Enquete- ve Entwicklungen oder die Verletzung von Grenzwerten Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität anzeigt. – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaft- lichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ beauf- Die Enquete-Kommission (2013a: 29) schlägt eine regel- tragt, einen Vorschlag zur umfassenden Bestimmung und mäßige Analyse und Kommentierung aktueller W3-Er- Messung des Wohlstands zu erarbeiten. Die Kommissi- gebnisse durch die Sachverständigenräte zur Begutach- on ist hierzu von einer liberalen, pluralistischen Grund- tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie für position ausgegangen. Mit dem CA teilt die Kommissi- Umweltfragen vor. Ihre Einschätzungen sollen dann in on die Auffassung, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, regelmäßige Stellungnahmen der Bundesregierung ein- zu entscheiden, was Menschen als Wohlstand ansehen fließen. Insgesamt erhofft sich die Enquete-Kommission oder was sie zufrieden und glücklich machen sollte. Wohl von ihrem Vorschlag Anstöße für eine informierte öffent- aber wird eine politische Verpflichtung gesehen, die Vo- liche Diskussion über Veränderungen und Handlungsbe- raussetzungen zu schaffen, die es jedem Menschen er- darf in einzelnen Wohlstandsbereichen (Enquete-Kom- möglichen, Wohlstand und Lebensqualität nach eigenen mission 2013b). Vorstellungen zu verwirklichen. Als Ziel der Politik gilt daher, den Menschen den Umfang der ihnen offenste- Der W3-Vorschlag der Enquete-Kommission wurde in de- henden Chancen und Freiheiten so weit wie möglich zu ren Berichten (Enquete-Kommission 2013a, b) diskutiert erweitern, um daraus geeignete Möglichkeiten zu wählen und begründet; hieran kann eine öffentliche Diskussion und das jeweils persönlich angestrebte Leben führen zu unschwer anknüpfen. Eine weitere Stärke des Vorschlags können. Vermutlich auch aufgrund der deutlichen Paral- ist die Erweiterung des Spektrums der Kernindikatoren auf lelen ihrer Grundauffassungen zum CA sowie nach einer die ökologische Dimension, wodurch alle Grundelemen- öffentlichen Anhörung Martha Nussbaums in der Kom- te der Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen mission, hat sich die Enquete-Kommission (2013b: 13) erfasst werden. Vor dem Hintergrund dieser notwendi- für den CA als konzeptionelles Fundament ihrer weiteren gen Erweiterung des Analysespektrums um relevante Di- Arbeit entschieden. mensionen des Wohlergehens ist es hilfreich, dass sich die Enquete-Kommission auch mit der effizienten Kom- Basierend auf den ebenfalls auf dieser Herangehenswei- munikation eines solch umfassenden mehrdimensiona- se beruhenden Vorarbeiten von Stiglitz, Sen und Fitoussi len Konzepts auseinandergesetzt hat. Die Verwendung (2009) und SVR/CAE (2011) hat die Enquete-Kommission von Warnlampen, die nur in besonders negativen Fällen (2013a, b) einen Indikatorenvorschlag W3 erarbeitet und aufscheinen, erscheint als eine Neuerung, die die Span- mit breiter Mehrheit beschlossen, der von der Bundesre- nung zwischen notwendiger Breite und Differenzierung gierung diskutiert und verabschiedet sowie gesetzlich ver- einerseits und einfacher Kommunizierbarkeit der Bericht- ankert werden soll. Als Dimensionen des Wohlergehens erstattung andererseits in zufriedenstellender Weise ver- umfassen die W3-Indikatoren die drei Wohlstands-Dimen- mindern könnte (Volkert 2014). sionen materieller Wohlstand, Soziales/Teilhabe sowie Ökologie. In ihnen spiegeln sich ökonomische Mittel und Umwandlungsfaktoren, letztlich also die in Abbildung 1 näher beschriebenen Grundelemente der Bestimmungs- 15
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum Abbildung 2: Die W3-Indikatoren der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages1 Materieller Wohlstand Soziales und Teilhabe Ökologie Leitindikatoren Bruttoinlandsprodukt Beschäftigung Treibhausgase BIP pro Kopf Beschäftigungsquote nationale Emissionen Veränderungsrate des BIP pro Kopf (Rang des absoluten BIP global)2 Bildung Sekundärabschluss-II-Quote Stickstoff Einkommensverteilung nationaler Überschuss P80/P20 Gesundheit Lebenserwartung Staatsschulden Freiheit Artenvielfalt Weltbank-Indikator nationaler Vogelindex Schuldenstandquote (Tragfähigkeitslücke)3 „Voice & Accountability“ Warnlampen Nettoinvestitionen Qualität der Arbeit Treibhausgase Nettoinvestitionsquote Unterbeschäftigungsquote gobale Emissionen Vermögensverteilung P90/P50 Weiterbildung Stickstoff Teilnahmequote an globaler Überschuss Finanzielle Nachhaltig- Fort- und Weiterbildung keit des Privatsektors Kreditlücke in Relation zum BIP Gesundheit Artenvielfalt reale Aktienkurslücke globaler Vogelindex gesunde Lebensjahre reale Immobilienpreislücke 1) Neben den Leitindikatoren und Warnlampen umfasst das W3-Indikatorensystem in der ersten Säule, dem materiellen Wohlstand, noch die sogenannte Hinweislampe „nicht-marktvermittelte Produktion“. Zu dieser gehören etwa Hausarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten. 2) Angegeben wird hier zusätzlich der Rang, den die jeweils betrachtete Volkswirtschaft in der Rangliste aller Volkswirtschaften bezogen auf das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (in Kaufkraftparitäten) einnimmt. 3) Die Tragfähigkeitslücke gibt als zusätzliche Information an, um wie viel die Primärsalden ab dem Betrachtungszeitraum dauerhaft höher sein müssten, damit die öffentlichen Haushalte langfristig tragfähig sind. Quelle: SVR 2013: 485., Enquete-Kommission, 2013. 16
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen Der SVR (2013: 488) hat die mangelnde Auseinanderset- 5. Allgemeine Weiterentwicklungs- zung mit Fragen der Ressourcenproduktivität im Rahmen potenziale und Perspektiven des W3-Vorschlags kritisiert. Informationen zur Ressour- cenproduktivität geben zweifelsohne wichtige Hinweise Angeregt durch den Bericht von Stiglitz, Sen und Fitoussi über Erfolg und Handlungsbedarf von Nachhaltigkeits- (2009) haben der Sachverständigenrat zur Begutachtung strategien. Besonders in einer ganzheitlichen Untersu- der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR/CAE 2011, chung von materiellem Wohlstand, sozialer Teilhabe und SVR 2013) ebenso wie die Enquete-Kommission (2013a, b) Ökologie sollten die instrumentellen Beiträge oder Defizi- „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ den CA für te von Ressourceneffizienz, aber auch von Lebensstil und Anwendungen in Deutschland konkretisiert. Diese Beiträ- Suffizienz für eine nachhaltige Entwicklung diskutiert ge können, gemeinsam mit jenen in Armuts- und Reich- werden. Nicht jeder bedeutende instrumentelle Beitrag tumsberichten der Bundesregierung (2008, 2005) eine kann aber in einem hinreichend übersichtlichen Indikator- Grundlage für Weiterentwicklungen bilden, die das Poten- set aufscheinen. Vielmehr ist zu entscheiden, ob und in zial dieses Ansatzes stärker als bisher erschließen. welcher Weise allgemeine instrumentelle Entwicklungen, etwa der Ressourceneffizienz, die sich auf verschiedenste Sowohl die Arbeiten der Armuts- und Reichtumsberichter- Weise auf menschliches Wohlergehen auswirken, in ein stattung als auch der Enquete-Kommission hatten und ha- Tableau aufgenommen werden – oder ob sie stattdessen ben zum Ziel, politische Stakeholder in einen handlungslei- auf der Grundlage des Tableaus weiter diskutiert wer- tenden Diskurs über jene Dimensionen des Wohlergehens den sollen. Für den CA ist entscheidend, wie sich ma- einzubinden, die in unserer Gesellschaft als besonders we- terielle, soziale oder ökologische Veränderungen auf das sentlich angesehen werden. Für die politische Legitimation menschliche Wohlergehen auswirken. Diese potenziellen offizieller Berichterstattungen und Analysen sind solche Effekte auf das menschliche Wohlergehen sind äußerst Stakeholder-Diskussionen unerlässlich. vielfältig und können je nach Bevölkerungsgruppe sehr unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise interessiert aus Über diese politischen Diskurse hinaus ist in Deutschland einer CA-Perspektive weniger der in den W3-Indikatoren von offizieller Seite allerdings noch nicht untersucht wor- erfasste CO2-Ausstoß an sich. Vielmehr richtet sich das den, welche Bedeutung die Bevölkerung insgesamt oder Augenmerk auf dessen, durch den Klimawandel ent- auch einzelne Gruppen verschiedenen Dimensionen des stehende, vielfältige Auswirkungen für das menschliche Wohlergehens beimessen. Als notwendig erscheint eine Wohlergehen (Gesundheit, Einkommen etc.). Eine Brü- solche breite Beteiligung zum einen, da die Bewertungen cke von diesen und weiteren instrumentellen Faktoren zu politischer Stakeholder durchaus von denen anderer Be- menschlichem Wohlergehen zu schlagen, vor allem aber völkerungsteile abweichen können. Zum anderen kann es Letztere dann auch ins Zentrum zu stellen, ist unabding- auf einen Bedarf an gesellschaftspolitischer Sensibilisie- bar für eine auf dem CA aufbauende Wohlstandsanalyse rung und Aufklärung verweisen, wenn objektiv bedeut- und -diskussion.8 same Dimensionen des Wohlergehens (z. B. Bildung und 8 Darüber hinaus erscheint es als notwendig, nachhaltige Entwicklung aus einer Perspektive zu diskutieren, die über einen anthropozentrischen Blick- winkel hinausreicht; siehe hierzu zum Beispiel Nussbaum (2010). 17
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capability Approach im Fortschrittsforum Gesundheit) subjektiv als von nur geringer Bedeutung ein- Auswirkungen einer gläsernen Decke auf die Bedeutung geschätzt oder objektiv bestehende Defizite von den Ein- von objektiven und subjektiv wahrgenommenen Restrik- zelnen unterschätzt werden (Volkert 2014). tionen sowie Entscheidungs- und Handlungsspielräumen für die ökonomischen Chancen von Frauen. Ebenso sind Es kann damit auch gelingen, Verwirklichungschancen wahrgenommene und wertgeschätzte Spielräume eines selbst ebenso wie den daraus folgenden gesellschaftspoli- nachhaltigen Lebensstils mit ausschlaggebend für den tischen Handlungsbedarf ins Blickfeld zu rücken. Weitere Erfolg von gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsstrategien. Schritte in diese Richtung sind schon jetzt mit vorhande- Nicht zuletzt lassen sich Verwirklichungschancen durch nen Sekundärdaten möglich. So lassen sich multivariate eine spürbar bessere Behandlung und Betreuung, etwa Zusammenhänge zwischen materiellen Mitteln, Umwand- von Sozialleistungsempfängern, verbessern, die diesen lungsfaktoren sowie Capabilities und Functionings näher den Zugang zu ihren Rechten und damit mehr reale Frei- analysieren. Dies erlaubt Rückschlüsse auf Erfolgsfaktoren, heiten oft erst ermöglicht. Solche weiteren Faktoren sind die beispielsweise Personen trotz starker persönlicher ma- zumindest teilweise bereits heute in Sekundärdatensätzen terieller oder gesundheitlicher Einschränkungen ein breites verfügbar, etwa im SOEP-Innovationssample, das einen Spektrum an Verwirklichungschancen oder ein relativ gu- eigenen Fragenblock zum CA enthält, der ebenfalls eine tes Leben eröffnen. Längsschnittdaten wie die des Sozio- Basis für weitere künftige Anwendungen des Ansatzes in ökonomischen Panels (SOEP) ermöglichen es außerdem, Deutschland bilden kann. langfristige Zusammenhänge und Auswirkungen von ge- ringen oder umfangreichen Mitteln und Umwandlungs- Bereits die hier, keineswegs vollständig, benannten Mög- faktoren auf spätere Chancen zu analysieren. Hierdurch lichkeiten verweisen auf ein vielversprechendes, bislang lassen sich unter anderem soziale Mobilität sowie Erfolgs- unerschlossenes Potenzial des CA für gesellschaftspoli- und Misserfolgsfaktoren in kritischen Lebensphasen näher tisch handlungsleitende Analysen in Deutschland. Die- bestimmen. Zwar ist subjektives Wohlergehen, so auch der ses Potenzial zu erschließen, ist, in den Worten des SVR, SVR/CAE (2011), als zentraler Maßstab für Lebensqualität, „sinnvoll, aber nicht einfach“ (SVR/CAE 2011: 68). Es Wohlergehen und eine daran ansetzende Gesellschaftspo- steht außer Frage, dass die Anwendung einer differen- litik methodisch nicht geeignet. Jedoch ermöglicht es die zierten gesellschaftspolitischen Konzeption wie die des konstruktive Auseinandersetzung des CA mit subjektiven CA anspruchsvoll ist und dass deren politische Umset- Wohlfahrtsmaßen, politische Aussagekraft sowie Gren- zung einen intensiven Austausch mit der Wissenschaft zen, etwa von Zufriedenheitsmaßen, zu analysieren, die in nahelegt und zum Teil auch voraussetzt. Offener wis- den vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesre- senschaftlicher Beratungsbedarf und Zeitrestriktionen gierung (2013) aufgenommen wurden. könnten auch ursächlich dafür gewesen sein, dass die Bundesregierung (2013) die Operationalisierung des CA im Rahmen ihrer aufwendigen Verlagerung des Bericht- Verwirklichungschancen rücken weiter in den gesell- erstattungsschwerpunkts auf Fragen sozialer Mobilität im schaftspolitischen Mittelpunkt, wenn persönliche Zielset- vierten Armuts- und Reichtumsbericht ausgesetzt hat. Es zungen und Aspirationsniveaus, objektive und subjektiv sollte hier jedoch deutlich geworden sein, dass der CA wahrgenommene Handlungs- und Entscheidungsspiel- über erhebliche Potenziale verfügt, die zu erschließen für räume sowie persönliche Einschätzungen der Behandlung die Gesellschaftspolitik im Allgemeinen wie auch für die durch andere Personen und gesellschaftliche Institutionen Armuts- und Reichtumsberichterstattung im Besonderen berücksichtig werden. Die folgenden Beispiele sollen dies sinnvoll und vielversprechend ist. verdeutlichen. So beeinflussen unterschiedliche Bildungs- ziele und -erwartungen von Eltern die Bildungschancen ihrer Kinder. Darüber hinaus verweist die Diskussion um 18
Was macht ein gutes Leben aus? – Der Capabilty-Ansatz als gesellschaftlicher Analyserahmen Literatur Sen, Amartya 2000: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Alkire, Sabina 2010: Human Development: Definitions, Cri- München; Wien. tiques, and Related Concepts. Background Paper for the 2010 Human Development Report, OPHI Working Paper Sen, Amartya 2009: The Idea of Justice, London. 36, Oxford. Stiglitz, Joseph E.; Sen, Amartya; Fitoussi, Jean-Paul 2009: Arndt, Christian; Volkert, Jürgen 2011: The Capability Approach Report by the Commission on the Measurement of Eco- as a Framework for Official German Poverty and Wealth nomic Performance and Social Progress, Paris. Reporting, Journal of Human Development and Capabili- SVR; CAE 2011: Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge- ties, 12(3), S. 311–37. samtwirtschaftlichen Entwicklung und Conseil d’Analyse Bundesregierung 2005: Deutscher Bundestag, Zweiter Armuts- économique: Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und und Reichtumsbericht, Bundestagsdrucksache 15/5015, Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem, Berlin. Expertise im Auftrag des Deutsch-Französischen Minister- rates, Paris; Wiesbaden. Bundesregierung 2008: Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 16/9915, SVR Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- Berlin. wirtschaftlichen Entwicklung 2013: Jahresgutachten 2013/14: Gegen eine rückwärtsgewandte Politik, Wies- Bundesregierung 2011: Bundesministerium für Familien, Senio- baden 2013. ren, Frauen und Jugend: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensver- Volkert, Jürgen 2005: Das Capability-Konzept als Basis der lauf: Erster Gleichstellungsbericht, Bundestagsdruck- deutschen Armuts- und Reichtumsberichterstattung, in: sache 17/6240, Berlin. Volkert, Jürgen (Hrsg.): Armut und Reichtum an Ver- wirklichungschancen. Amartya Sens Capability-Konzept Bundesregierung 2013: Vierter Armuts- und Reichtumsbericht als Grundlage der Armuts- und Reichtumsberichterstat- der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 17/12650, tung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Berlin. S. 119–48. Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Volkert, Jürgen 2014: Capability Approach Applications in Ger- Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftli- many: Official Poverty and Wealth Reporting and Beyond, chem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ 2013a: erscheint in: Solava Ibrahim; Meera Tivari (Hrsg.): The Ca- Schlussbericht, Bundestagsdrucksache 17/13300, Berlin. pability Approach: From Theory to Practice, London, i.E. Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ Volkert, Jürgen; Strotmann, Harald; Moczadlo, Regina (2014): 2013b: Abschlussbericht Projektgruppe 2 „Entwicklung Potential Corporate Impacts on Sustainable Human De- eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindika- velopment. The Case of Bayer CropScience’s Cotton Seed tors“, Bundestagsdrucksache 17(26)87, Berlin. Production in Rural Karnataka (India), UFZ Discussion Pa- Fukuda-Parr, Sakiko 2007: The Human Development Paradigm. pers, 5/2014 – GeNECA 11, im Rahmen des Projekts „Ge- Operationalizing Sen‘s Ideas on Capabilities, in: Capabi- rechtigkeit und Nachhaltige Entwicklung auf der Grund- lities, Freedom, and Equality. Amartya Sen‘s Work from a lage des Capability-Ansatzes (GeNECA)“ im Auftrag des Gender Perspective, ed. Bina Agarwal, Jane Humphries, Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Leipzig: Ingrid Robeyns and Amartya Sen, S. 328–346, New Delhi; Helmholtz Zentrum für Umweltforschung UFZ. New York: Oxford University Press. Nussbaum, Martha 2010: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Be- hinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin. Ranis, Gustav; Stewart, Frances; Samman, Emma 2006: Human Development: Beyond the Human Development Index, Journal of Human Development, 7(3): S. 323–358. Robeyns, Ingrid 2005: The capability approach. A theoretical survey, Journal of Human Development, 6(1), S. 93–114. 19
Amartya Sens Ansatz der Verwirklichungs- chancen: Kompass für gutes Regieren? Sven Rahner 20
Was macht ein gutes Leben aus? – Amartya Sens Ansatz der Verwirklichungschancen: Kompass für gutes Regieren? Der hier vorliegende Text weist ausführlich in die Grundüberlegungen des Ansat- zes der Verwirklichungschancen (Capability Approach) nach Amartya Sen ein und diskutiert die wesentlichen konzeptuellen Erweiterungen durch Martha Nussbaum. Dabei wird deutlich, dass der Ansatz mit seiner Erweiterung der Bemessung mensch- lichen Wohlstands um Faktoren der Entscheidungsfreiheit, individueller Potenziale und gesellschaftlich bedingter Möglichkeiten einen Paradigmenwechsel sowohl im Verständnis von Wohlstand als auch dessen Bemessung einleiten konnte. Dank sei- ner Verbindung ethischer Grundüberlegungen mit ökonomischen Faktoren sowie der Versachlichung von Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen hat der Capability Approach zudem Eingang in die Politik- und Gesellschaftsberatung der Bundesrepu- blik sowie einiger Nachbarländer gefunden. Diskutiert werden in diesem Beitrag die Möglichkeiten und Beschränkungen des Ansatzes der Verwirklichungschancen als konkretem Bezugspunkt für politische Maßnahmen. Dazu werden zwei Fallbeispie- le herangezogen: die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen und die politische Zielsetzung lebensbegleitender Bildungs- und Qualifizierungsbe- ratung sowie der Finanzierung entsprechender Weiterbildungsbedarfe. 1. Einleitung hang zwischen Qualifikationsniveau und dem Risiko, ar- beitslos zu werden, ist frappierend: Jeder Fünfte ohne Be- Mit Beginn des 21. Jahrhunderts sieht sich unsere Gesell- rufsabschluss ist arbeitslos. Unter Akademikerinnen und schaft mit beachtlichen Herausforderungen konfrontiert: Akademikern sind gerade einmal 3 von 100 Personen von Auf ökonomischer und ökologischer Ebene verdeutlichen Arbeitslosigkeit betroffen (Weber/Weber 2013: 4). die immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972; Darüber hinaus führen die Megatrends Flexibilisierung, Schellnhuber et al. 2012). Auf sozialer Ebene stellt das Digitalisierung und Höherqualifizierung als Triebkräfte „Dauerphänomen der aufklaffenden sozialen Ungleich- des Strukturwandels der Arbeit dazu, dass sowohl Fach- heit“ ein Problem dar, das zunehmend die Legitimitäts- kräfteengpässe (Helmrich/Zika et al. 2012) als auch ein grundlage des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells Anstieg atypischer Beschäftigungsformen (Allmendinger aufweicht (Wehler 2013: 9). Die Ungleichheit wächst et al. 2012: 5) zu beobachten sind. Letztere sind mit hö- dabei nicht nur bei den Einkommen, sondern auch bei heren Risiken, beispielsweise dem Verlust des Arbeitsplat- der Verteilung von Chancen, die über den Zugang zu Bil- zes oder Niedrigentlohnung, verbunden. Häufig verfügen dung und Arbeit entscheiden. Exemplarisch hierfür sind befristet oder in Teilzeit Beschäftigte zudem über gerin- die Spaltungstendenzen am Arbeitsmarkt, die sich insbe- gere Aufstiegschancen und weniger Angebote zur beruf- sondere an den unterschiedlich verteilten Arbeitsmarktri- lichen Weiterbildung als Beschäftigte, die sich in einem siken sowie den auseinanderdriftenden Flexibilitäts- und unbefristeten Arbeitsverhältnis von wöchentlich mindes- Mobilitätsanforderungen ablesen lassen. Der Zusammen- tens 35 Stunden befinden (Gundert/Hohendanner 2011). 21
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