"Was wissen Medien?" Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft, 2 - 4. Oktober 2008, Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität ...
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»Was wissen Medien?« Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft, 2. – 4. Oktober 2008, Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Alle Rechte liegen bei den Autorinnen und Autoren. Bei Verwendung bitte Quellennachweis angeben: »Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft "Was wissen Medien?" 2. – 4. Oktober 2008, Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum« http://redax.gfmedienwissenschaft.de/ webcontent/files/2008-abstracts/Bartz_Finanzmarktmechanismen_GfM2008.pdf Christina Bartz Charles H. Dow und das Wissen über Finanzmarktmechanismen Die Abkürzungen DAX oder Dow Jones stellen heute alltagsweltlich kaum noch einen kommunikativen Fremdkörper dar. Das gleiche gilt für deren Darstellung in Form einer Verlaufskurve, die die Kursentwicklung anzeigt, indem sie die Indexstände auf einer Zeitachse anordnet. Die Verlaufskurve des DAX, also des Deutschen Aktienindex, ist durch die Anzeigetafel im Gebäude der Frankfurter Börse täglich im Fernsehprogramm der Nachrichtensender präsent und damit auch das Logo der Aktiengesellschaft Deutsche Börse, das direkt darunter angebracht ist und das in reduzierter und abstrakter Form eine positive Kursentwicklung symbolisiert. 1
Die Darstellungsweise scheint insofern gleichermaßen allgemein bekannt wie auch plausibel, denn – so Niklas Luhmann – plausibel "sind Ideen, wenn sie unmittelbar einleuchten und im Kommunikationsprozeß nicht weiter begründet werden müssen."1 Indizes sowie deren Verlaufskurven weisen eine solche scheinbare Selbstverständlichkeit auf. Es handelt sich um ein gesellschaftsweit zirkulierendes Wissen, an das jeder mehr oder weniger anschließen kann. Massenmedien – allen voran Fernsehen und Zeitungen wie Zeitschriften – operieren täglich damit und fungieren so als Verbreitungsinstanz für dieses Wissen und die Form, in der es präsent ist. Diese Selbstverständlichkeit und Plausibilität überdeckt aber, dass sowohl die vorgestellte Repräsentationsweise als auch der Index hoch voraussetzungsreiche Konstrukte sind, die sich in einem Logo wie dem der Deutschen Börse in verdichteter Weise zeigen. Um dabei vorweg Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir um zwei verschiedene Gegenstandsbereiche, nämlich zum einen um Aktienindizes, wie den genannten DAX oder Dow Jones, und zum anderen um deren Darstellung durch sog. Charts, also der beschriebenen Verlaufskurve. Solche Charts werden nicht nur für Aktienindizes angefertigt, sondern für alle handelbaren Wertpapiere und Rohstoffe. D.h. Chart und Index hängen nicht zwingend zusammen, sondern der Index ist nur ein Objekt, das im Chart abgebildet werden kann. Auch wenn man Chart und Index klar unterscheiden muss, sind sie dennoch miteinander verbunden, und zwar weil es sich erstens bei beiden um Instrumente der Finanzmarktbeobachtung handelt. Und zweitens hängen sie eng mit der Person Charles H. Dow zusammen. Seine Bedeutung wird deutlich anhand des bis heute aufgelegten Index Dow Jones, der die Namen seiner Konstrukteure trägt. Welche Rolle Dow bzgl. Index und Chart genau spielt, werde ich im Folgenden detaillierter konturieren und mich daher der Person Dow zuwenden. Dows Vermächtnis – das sei vorweg geschickt – besteht darin, einen innovativen Umgang mit Finanzmarktinstrumenten propagiert und popularisiert zu haben. Er hat Analysemethoden geschaffen, die in weiterentwickelter Form bis heute angewandt oder doch zumindest diskutiert werden. Die Analysen dienen der Prognose zukünftiger Kursentwicklungen und sollen Kauf- und Verkaufentscheidungen im Sinne ökonomischer Effektivität steuern. Mit Dow geht es im Folgenden um die Frage nach der Organisation der Finanzmarktbeobachtung. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zu Dow ist eine Konzeption des Wissens, das dieses in Abhängigkeit von Medien konturiert, denn Wissen besteht in Form seiner medialen Inszenierung. Darüber wird Wissen produziert, konturiert, zugänglich gemacht und gehalten. Medien machen – so lässt sich in Anlehnung Lorenz Engell und Joseph Vogl formulieren – wahrnehmbar, also hörbar und sichtbar, sowie lesbar. Dabei stehen mit Dows Werk zwei Arten von Medien im Mittelpunkt. Erstens werden mit Bezug auf den Chart grafische Darstellungs- und Visualisierungsformen betrachtet und der Frage nachgegangen, was machen die Verlaufskurven sichtbar und lesbar. Dabei ist die Kategorie des Lesens insofern zentral, als die Chartdiagramme auch auf einen Beobachter angewiesen sind, für den sie überhaupt informativ sind, d.h. der sie lesen kann. Mit Dow, der eben neue Analysemethoden schafft, kann man verfolgen, wie sich die Betrachtung der Charts verändert und identische Charts neue Informationen generieren. Zweitens geht es um Medien im Sinne von Massenmedien und damit um eine gesellschaftsweite Zirkulation des Wissens um Charts und Indizes. Im Zentrum steht dabei die Frage, welchen Unterschied es macht, ob Charts massenmedial verbreitet werden oder im exklusiven Kreis von Finanzmarktexperten und Börsenhändlern zirkulieren. Mit Dow steht die Instituierungsphase eines finanzmarkttechnischen Wissens und seiner Darstellungsformen im Fokus. Sowohl beim Aktienindex als auch bei der Verlaufskurve handelt es sich um einen Wissenskomplex, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildet und in dieser Zeit seine weltweite Karriere antritt, die bis heute ungebrochen ist. Der Beginn ihrer Entwicklung fällt damit in eine allgemeine Phase der Rekonfiguration des ökonomischen Diskurses, wie sie – laut einer neueren Studie von Urs Stäheli – in der Zeit zwischen 1870 und 1930 stattfindet. Diese Rekonfiguration bezieht sich u.a. auf eine zunehmende Popularisierung des Spekulationsgeschehens: "In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nimmt die Spekulation in der öffentlichen 1 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 548. 2
Diskussion noch keinen großen Stellenwert ein, während sie Ende der 1920er Jahre zum festen Gegenstand öffentlicher Debatten und der Populärkultur geworden ist."2 Im Hintergrund dieser Popularisierung steht u.a. der Wunsch nach Erhöhung der Liquidität des Finanzmarktes, die durch den Zufluss neuen Kapitals erreicht werden soll. Dieses Kapital soll zum Ende des 19. Jahrhunderts der Privatanleger liefern, der daher als potentieller Spekulant adressiert wird. Das Auftauchen dieser neuartigen Adressierung forciert eine Debatte um die Figur des Spekulanten, die sich auch mit den spezifischen spekulativen Kompetenzen sowie dem entsprechenden Wissen befasst, und nimmt die Form eines Kampfes um die finanzmarkttechnische Artikulationshoheit an, in den sich auch Dow einschreibt, und zwar ungemein erfolgreich. Dow ist nämlich vor allem eines: der Gründer und Herausgeber des Wall Street Journals, also einer inzwischen international renommierten Wirtschaftszeitung. Die Zeitung erscheint 1889 erstmals als Fortführung des auflagenstarken Börsenbriefs der Agentur Dow Jones & Company, die Dow 1880 gemeinsam mit Davis Edward Jones als unabhängige Nachrichtenagentur für Broker und Banker gegründet hat. Mit dem Wall Street Journal weiten sie den Adressatenkreis aus und richten sich mit ihren Wirtschafts- und Finanznachrichten nicht nur an die kleine Gruppe der Großinvestoren, die direkt an der Wall Street vertreten sind, sondern an ein breites Publikum. Die Gründung des Wall Street Journals gehört also genau zu den Popularisierungstendenzen, die Stäheli für die Zeit ab 1870 konstatiert. Die Zeitung ist dabei nicht nur das Organ, in dem ab 1896 der auch aktuell wichtige Dow Jones Index publiziert wird, sondern auch der Ort, an dem Dow seine theoretischen Überlegungen zur Beobachtung des Finanzmarktes anhand der Berichterstattung des Tagesgeschehens ausbreitet. Dows Werk – wenn man es denn so nennen will – liegt also zunächst allein als tagesaktuelle Zeitungsartikel vor, bevor es 1902/3 als Dow Theorie bekannt wird, indem Samuel A. Nelson – selbst Journalist des Wall Street Journals – einige der von Dow verfassten Zeitungstexte unter dem Titel The ABC of Stock Speculation zusammenstellt und kommentiert. In diesem Kommentar spricht er von der sogenannten Dow Theorie, und zwar u.a. als eine Methode zum Lesen des Marktes. Die Artikelserie und ihr Inhalt wird zumindest von nun als Dow Theorie bezeichnet und reflektiert – u.a. von Robert Rhea und Richard Russel, die beide jeweils eine eigene Monografie dazu verfassen und darüber eine Art von Interpretationshoheit zur Dow-Theorie erhalten, weil diese eben nicht als eigenständiges Werk, sondern lediglich als Zeitungsartikel vorliegt. Das publizistische Aktualitätsgebot, dem zu folge nichts so alt wie die Zeitung von gestern ist, macht Dows Ausführungen nachhaltig unzugänglich, wodurch seine Interpreten ein um so größeres Gewicht erhalten. Einer der wichtigsten Kommentatoren von Dows Theorie wird William P. Hamilton mit seinem 1922 erschienenen Buch The Stock Market Barometer, das in der deutschen Übersetzung den Titel Der ultimative Börsenkompass trägt, wohl weil es den Weg durch die Unwägbarkeiten des Finanzmarktes weisen soll. Die Barometer-Metapher, die den Titel des englischen Originals prägt, erläutert Hamilton dagegen durch einen Vergleich mit einem Thermometer: "Das Thermometer misst die aktuelle Temperatur – so wie der Ticker die aktuellen Kurse angibt. Die maßgebliche Aufgabe eines Barometers dagegen ist die Prognose. Genau darin liegt sein besonderer Wert und auch der Wert der Dow'schen Theorie. Der Aktienmarkt ist das Barometer der Volks- und sogar der Weltwirtschaft, und die Theorie zeigt auf, wie es abzulesen ist."3 Auch hier geht es also wieder – wie schon bei Nelson – um das Lesen. Dow bietet eine Theorie der Analyse der Finanzmarktdaten, die in engem Zusammenhang mit der Gesamtwirtschaft stehen, um daraus auf zukünftige Entwicklungen schließen zu können, die dann eben Kauf- und Verkaufentscheidungen im Hinblick auf mögliche künftige Gewinne steuern. Die Finanzmarktdaten, aus denen die Prognosen gewonnen werden sollen, sind nun u.a. als Chart und Index gegeben. Sie sind Repräsentationsweisen des komplexen Börsengeschehens, das Dow lesbar macht, indem er eine neue Methode des Umgangs mit Chart und Index entwickelt. Dows Analysen bringen darin ein neues und vor allem auch prognostisches Wissen zum Vorschein. 2 Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 12. 3 William Peter Hamilton: Der ultimative Börsenkompass."The Stock Market Barometer, Rosenheim: Börsenverlag 1999 (1922), S. 65. 3
Ausgangspunkt ist dabei Dows Entwicklung einer Theorie der Komplexitätsreduktion, die sich auf Indizes, aber auch auf Einzelwerte bezieht. Das Kernstück von Dows Überlegungen ist, dass sich im Kurs eines Wertpapiers nicht nur sein gehandelter Wert zeigt, d.h. auf welchen Preis sich Käufer und Verkäufer in Anbetracht von Angebot und Nachfrage geeinigt haben. Stattdessen manifestieren sich darin alle diesbezüglichen Daten, also nicht nur fundamentale Zahlen zum Unternehmen, das in einer Aktie abgebildet wird, sondern auch Kauf- und Verkaufentscheidungen der Händler und alle Elemente, worauf diese Entscheidungen beruhen und beruhen können. Ebenso gehen psychologische Überlegungen zu den Akteuren des Finanzmarktes mit ein. D.h. auch, dass alle Nachrichten ungeachtet ihres Wahrheitswertes – also inklusive Gerüchte – im Kurs abgebildet sind. Damit formuliert Dow für die Beobachtung des Finanzmarktes, was Dirk Baecker für jede Beobachtung konstatiert: Es gibt keine Unterscheidung zwischen Information und Desinformation. "Jede Desinformation ist zunächst einmal nicht anderes als eine Information. Man braucht einen externen Beobachter oder eine Möglichkeit der Beobachtung des Systems im System, um die Unterscheidung zwischen Information und Desinformation treffen zu können und auf diese Weise bestimmte Informationen als falsch wieder zu entwerten."4 Doch diese Entwertung ist in Dows Theorie nicht vorgesehen, denn jede Information geht in das Handeln der Akteure ein. Der Kurs einer Aktie, der eigentlich nicht mehr als ihren gehandelten Wert wiedergibt, vereinigt also gemäß Dows Theorie alle 'relevanten' Informationen. Wenige Zahlenwerte geben demgemäß also Auskunft über das gesamte Börsengeschehen, das in ihm sichtbar wird. Diese Sichtbarkeit und damit auch Beobachtbarkeit ist aber das Resultat eines gezielten nicht Sichtbarwerdens von detaillierten Informationen. Diese werden gerade aus der Beobachtung ausgeschlossen. In Frage steht also bei den Kursdaten ein Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarmachung bzw. Sichtbarkeit und dem gezielten nicht zur Sichtbarkeit Bringen, d.h. Ausblenden. Dies ist auch noch mal im Hinblick auf Stähelis These von der Popularisierung der Finanzmärkte um 1900 von Interesse: Wenn wenige Zahlenwerte ausreichen, um den Finanzmarkt und die Wirtschaft zu beurteilen, so geht es hier nicht um eine exklusive Kompetenz weniger ausgebildeter Börsenexperten, sondern um ein allgemein zugängliches Wissen, das der täglichen Zeitung – also u.a. dem Wall Street Journal – zu entnehmen ist. Dies wird vor allem im Hinblick auf die die Einpreisung von Gerüchten deutlich. Gerüchte gelten einerseits als Gegenüber der 'wahren' Information – was immer nun darunter zu verstehen ist – und implizieren andererseits einen exklusiven Zugang zu Information. Sie kursieren in einem ausgewählten Kreis von Eingeweihten, hier auf dem Börsenparkett. Geht man aber wie Dow davon aus, dass sie bereits im Kurs verarbeitet sind, scheinen Ausschlüsse von Kleinanlegern, die eben nicht an der Wall Street handeln, überwunden. Der Kurs selber erhält so massenmediale Qualitäten, insofern er unbegrenzt adressiert. Es geht dann um ein Aufbrechen des interaktiven Kommunikationssystems, das die Börse darstellt, und dessen Umorganisation für die Massenmedien. Kurse sind allerdings nicht allein in Form von Zahlenwerten gegeben, sondern werden ebenso in Verlaufskurven überführt. Dabei werden die Kursangaben einer historischen Betrachtung unterzogen: Es wird nicht allein der aktuelle Tageskurs, sondern der Verlauf des Kurses in der Vergangenheit beobachtet – dargestellt in einer Verlaufskurve bzw. einem Diagramm bestehend aus den beiden Achsen Zeit und Maßeinheit, eben dem Chart. Der Chart gibt nun Auskunft darüber, ob in der Vergangenheit ein Wertpapier oder ein Index gestiegen oder gefallen ist und damit auch über Gewinne und Verluste. Gemäß Dow lässt er sich aber auch als Prognoseinstrumentarium nutzen, denn er macht einen sogenannten Trend sichtbar und es ist genau dieser Trend, der die eigentliche Erfindung Dows darstellt. Der Trend zeigt zukünftige Entwicklungen eines börsengehandelten Wertpapiers. Aus der Analyse des vergangenen Kursgeschehens sollen zukünftige Kursverläufe prognostiziert und damit Entscheidungen – buy, hold, sell – generiert werden. Diese Analyse besteht jedoch nicht in dem Versuch, den Kurs in ein imaginäres Realgeschehen zu übersetzen, wie es bspw. mit ebenfalls in Diagrammen wiedergegebenen demografischen Statistiken geschieht. Es geht nicht darum zu ergründen, was sich genau im Chart niederschlägt, sondern es sollen lediglich Trends – Aufwärts, Abwärts, Seitwärts – sichtbar werden. Verwirrende Linien, die sich ohne erkennbares Muster zeigen, werden durch gerade 4 Dirk Baecker: Organisation als System, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 51. 4
Linien, die den Trend abbilden, ersetzt und die Verlängerung dieser graden Linien zeigt die Zukunft an. Der Chart kann als ein Verfahren aufgefasst werden, das Marktmechanismen handhabbar macht, die sich schon allein aufgrund ihrer Komplexität und Pluralität als 'undurchschaubar' und unberechenbar geben. Aus Dows Konzept des Trends hat sich eine ganze Theorie der Chartanalyse, auch technische Analyse genannt, entwickelt. Diese erkennt in den Verlaufslinien Muster und Formationen, die als Entscheidungsvorgaben dienen und heute in jeder Tageszeitungen abgebildet werden. Dabei bezieht sich die Chartanalyse nicht nur auf einzelne Wertpapiere und Rohstoffe, sondern auch auf Indizes, die selber wieder als Instrumente des Finanzmarktes dienen, deren Handhabung Dow ebenfalls neu konzipiert hat. Dow entwickelt in Gemeinschaftsarbeit mit dem Statistiker Edward Davis Jones und Charles Milford Bergstresser einige der wichtigsten Aktienindizes weltweit, und zwar erstens den 1896 erstmals veröffentlichten Dow Jones Industrial Average, der heute allgemein unter der Abkürzung Dow Jones bekannt ist. Des weiteren legt Dow bereits ab 1889 den Railroad Average, später Dow Jones Transportation Average auf, der aber – wie der Name schon sagt – hauptsächlich Transportunternehmen erfasst. Interessant am Railroad Average wie auch am späteren Dow Jones Industrial Average ist ihre theoretische Konturierung als Beobachtungsinstrument des Marktes. Indizes dienen vor allem zur Kontrolle, und zwar in einem höchst normalistischen Sinne. Sie beschreiben einen Durchschnitt aus einer Anzahl von ausgewählten Wertpapieren oder Rohstoffen, wobei die Selektion wie auch die Durchschnittsberechnung zwischen den verschiedenen Indizes differieren. Anhand dieses Durchschnitts lässt sich in Form eines Vergleichs beobachten, wie eine einzelne Aktie im Verhältnis zum Durchschnitt 'performt'. Ein Index bietet somit einen Richtwert für Aktienschwankungen. Er gibt also das Normalmaß der Gewinne und Verluste, mit dem sich ein Wertpapier messen muss. Es handelt sich um ein normalistisches Orientierungswissen. Der von Dow entworfene Eisenbahn-Index ist nun gleichsam noch einmal die Kontrolle der normalistischen Kontrolle, indem er zunächst nicht mehr angibt als den Stand der Aktien von Eisenbahnwerten und damit der Unternehmen, die zum Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich für den Transport von Waren zuständig sind. Der Wert dieser Aktien gibt für Dow Auskunft über die Menge der transportierten Güter und der Transport verweist wiederum auf die Produktivität und den Konsum im Land. D.h. wenn viel produziert und konsumiert wird, wird 5
auch viel transportiert und das lässt die Eisenbahn-Aktien steigen, die so zum Indikator für die marktwirtschaftliche Lage werden. Die marktwirtschaftliche Lage, so die Theorie, hat nun auch Einfluss auf die Entwicklung der Aktienwerte – zumindest wenn diese Entwicklung solide und eine Aufwärts- oder Abwärtsbewegung keine flüchtige Erscheinung sein soll. Index und Trend, wie er im Chart in Erscheinung treten soll, dienen also dazu, das komplexe Geschehen am Finanzmarkt in wenigen und vor allem sehr einfach handhabbaren Instrumenten ansichtig zu machen. Es erhält eine Form, die es überhaupt der Beobachtung zuführt. Diese Form und die damit verbundene Möglichkeit ihrer Beobachtung unterscheidet nicht zwischen Börsenparkett und Öffentlichkeit, d.h. zwischen professionellen Händlern mit ihrem ausgedehnten Zugang zu Informationen des Finanzmarktes und dem Privatanleger, dem allein die Tageszeitung als Informationsquelle zugänglich ist. Seine Beobachtungsinstrumente und die Theorie ihrer Analyse beruhen nicht auf dem umständlichen und zeitaufwendigen Sammeln von vielen einzelnen Informationen, sondern auf der Präsentation weniger Zahlen und Kurven, die auch in einer Tageszeitung Platz haben. So ist es auch nur konsequent, dass Dow seine Überlegungen als Zeitungsartikel verbreitet und nicht als Fachliteratur publiziert. Es geht um allgemeine Zugänglichkeit von Finanzmarktwissen. So ist Dows Theorie also nicht allein Wissen über den Finanzmarkt, sondern auch eines über Medien eingeschrieben. Dies betrifft auch noch einmal die Charts, die er auf neuartige Weise liest. Grafische Darstellungen, wie der Chart, produzieren ihr Wissen nur im Zusammenhang mit einem Beobachter, der sie auf spezifische Weise analysiert bzw. liest und darin neuartige Informationen wie eben den Trend entdeckt. Dow gibt mit seiner Erfindung des Trends eine neue Leseanweisung für diese Diagramme – eine Leseanweisung, die er selber massenmedial über das Wall Street Journal verbreitet und die heute in jeder Tageszeitung vorgestellt wird. Zugespitzt lässt sich daher formulieren: Das Auftauchen des Charts im Massenmedium Zeitung bedingt auch eine neuartige Sichtweise auf ihn. Und es ist diese neuartige Sichtweise, die seinen Erfolg hervorbringt, d.h. dass der Chart heute zum plausiblen und verständlichen Logo für die Börse wird. 6
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