Wege aus der europäischen Verteidigungskrise - Christian Mölling SWP-Studie - Stiftung ...
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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Christian Mölling Wege aus der europäischen Verteidigungskrise Bausteine für eine Verteidigungssektorreform S8 April 2013 Berlin
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Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa 8 Europas defizitärer Verteidigungsapparat 10 Der verteidigungsökonomische Imperativ 11 Der Verteidigungssektor reagiert 16 Zwischenfazit: Einsamer, abhängiger, weniger handlungsfähig 19 Vier Szenarien zur Entwicklung der europäischen Verteidigungspolitik 19 Eine entscheidende Phase und vier Szenarien 21 Gute Gründe für ein Europa der Verteidigung 24 Als Europa handeln: Eine umfassende Verteidigungssektorreform 24 Empfehlungen: Bausteine einer Verteidigungssektorreform 30 Die deutsche Rolle in der europäischen Verteidigung 31 Drei Projekte für eine deutsche Rolle 34 Abkürzungsverzeichnis
Dr. Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik
Problemstellung und Empfehlungen Wege aus der europäischen Verteidigungskrise Bausteine für eine Verteidigungssektorreform Europa steckt in einer tiefen Verteidigungskrise. Der rasche und anhaltende Abbau der Verteidigungs- budgets in den europäischen Staaten stellt die ohne- hin geringe militärische Handlungsfähigkeit und deren rüstungsindustrielle Basis bereits heute in Frage. Dies betrifft nicht nur das militärische Krisen- management (angelehnt an den englischen Begriff auch Expeditionsfähigkeit oder Expeditionsaufgaben genannt), sondern auch die Territorialverteidigung. Um nicht in wenigen Jahren außerstande zu sein, ihre verteidigungspolitischen Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen, müssten die EU-Staaten die poli- tischen Voraussetzungen dafür schaffen, sich militä- risch effektiver zu organisieren und ihre Ressourcen effizienter zu nutzen. Die Krise resultiert aus der Kombination zweier Entwicklungen. Weil erstens alle 27 EU-Staaten die politische Entscheidungsfähigkeit über die Belange ihrer Streitkräfte auf nationaler Ebene behalten wollen, sinkt ihre militärische Handlungsfähigkeit. Schon heute können die EU-Staaten weder einzeln noch gemeinsam jene Ziele erreichen, zu denen sie sich in nationalen oder europäischen Strategiedoku- menten bekannt haben. Drastisch sichtbar wurde dies bei der Libyen-Operation 2011. Zwar hatten sich Europas größte Militärmächte Frankreich und Groß- britannien für ein Eingreifen entschieden. Doch ohne die Hilfe anderer, vor allem der USA, waren sie nicht handlungsfähig und konnten den Konfliktverlauf militärisch nicht wesentlich bestimmen. Zweitens leiden die Verteidigungssektoren, also die militärischen Fähigkeiten und deren industrielle Basis, unter den Auswirkungen der Finanzkrise. In der letzten Dekade konnten es die EU-Staaten noch ignorieren, dass ihre Verteidigungsapparate kleiner wurden. Doch der seit 2009 beschleunigte Abbau ver- fügbarer Ressourcen löst einen Paradigmenwechsel aus: Verteidigungshaushalte werden zum strategi- schen Faktor europäischer Sicherheit. Nicht Interessen und Werte der Staaten bestimmen in erster Linie, wel- che militärischen Fähigkeiten sie vorhalten und wel- che sie abschaffen werden. Maßgeblich ist vielmehr, ob diese Fähigkeiten kurzfristig noch bezahlbar sind. Da diese Entwicklung so gravierend und bis auf Weiteres unumkehrbar ist, wird sie die Rahmen- SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 5
Problemstellung und Empfehlungen bedingungen für die Verteidigungspolitik der EU- Einsätzen teilnehmen können. Das schränkt Deutsch- Staaten grundlegend und dauerhaft verändern. Der lands Handlungsoptionen ein. Zum anderen wächst traditionelle Gegensatz zwischen nationaler Entschei- seine Bedeutung als militärisches Rückgrat Europas: dungsfähigkeit und militärischer Effektivität (bis zu Da der deutsche militärische Beitrag langsamer welchem Grad können die vorhandenen Streitkräfte schmilzt als derjenige anderer Länder, wird er wich- politische Ziele erreichen?) erweitert sich zu einem tiger. Deshalb fordern die EU-Partner, dass Deutsch- spannungsgeladenen Dreiecksverhältnis. Als dritter land sich militärisch künftig stärker engagiert. Bestimmungsfaktor tritt die ökonomische Effizienz Um ihre Verteidigungsfähigkeit zu sichern, müss- (wie viele Ressourcen müssen die Staaten für diese ten die EU-Staaten eine neue Balance zwischen den Handlungsfähigkeit aufwenden?) hinzu. drei Polen Verteidigungspolitik, Verteidigungsorgani- Dieses neue Spannungsverhältnis schafft drei sation und Verteidigungsökonomie finden. Sie müss- Herausforderungen für die EU-Staaten und ihre ten gemeinsam Verteidigung ökonomisch effizienter Verteidigungsfähigkeit: und militärisch effektiver gestalten. Zu diesem Zweck Militärische Handlungsfähigkeit erhalten. Die mili- müssten sie die gemeinsame politische Entscheidungs- tärischen Fähigkeiten der EU-Staaten drohen auf fähigkeit auf europäischer Ebene verbessern. ein Niveau zu sinken, mit dem diese selbst bei klei- Dazu empfiehlt sich eine umfassende Verteidi- nen Operationen militärisch oder politisch keinen gungssektorreform, unter anderem mit folgenden Einfluss mehr auf deren Verlauf und Ausgang haben. Bausteinen: Politische Spaltung der Sicherheitsgemeinschaft einem jährlich tagenden Verteidigungssektorrat verhindern. Da die EU-Staaten unterschiedlich von der EU-Staats- und Regierungschefs, der militäri- der Verteidigungskrise betroffen sind und ungleich sche und industrielle Planziele als Eckpfeiler einer darauf reagieren, läuft die Sicherheitsgemeinschaft EU-organisierten Aufgabenverteilung definiert, der EU Gefahr auseinanderzubrechen. Wer weniger Verträgen zur Versicherung gegen die politischen militärische Beiträge leisten kann, wird auch weni- Risiken von Kooperation und Rollenspezialisierung, ger Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben EU-Brigaden als Verbänden, in denen die militäri- können. sche Rollenverteilung praktisch umgesetzt wird, Gleichzeitig sparen und investieren. Wollen die EU- (Re-)Investitionspools als Anreiz für sparsame Staaten in Zukunft mit kleineren Haushalten ver- Gemeinschaftsprojekte, teidigungsfähig sein, müssen sie wirtschaftlicher Preisschildern für alle militärischen Güter und mit ihren Ressourcen umgehen. Wo Fähigkeiten Dienstleistungen, um Kosten transparenter zu jetzt schon fehlen, müssten die Staaten diese machen, und Lücken durch zusätzliche Investitionen schließen. einer Tauschbörse und einer Partneragentur für Weil dafür aber künftig noch weniger Ressourcen europäische Ausrüstung. verfügbar sein werden, erfordert dies intensivere Deutschland ist stark von seinen Partnern abhängig Absprache und Kooperation unter den EU-Staaten. und daher in besonderer Weise an deren Handlungs- Bislang jedoch reagiert Europa mit nationaler Viel- fähigkeit interessiert. Es sollte deshalb falt und europäischer Uneinigkeit und deshalb erfolg- politische Koordination und Ausgleich durch ein los auf die Verteidigungskrise. Mittlerweile entsteht Führungstrio in der Verteidigungspolitik (zusam- sogar der Eindruck, dass die Maßnahmen einiger Staa- men mit Großbritannien und Frankreich) schaffen, ten eher schaden als nutzen, da sie sich auf nationale militärische Führung übernehmen, und zwar als Probleme richten statt auf den Erhalt europäischer ständige Rahmennation, und Handlungsfähigkeit. Auch die Bundeswehrreform seine Präferenzen für den anstehenden industriel- nimmt vor allem die nationalen Gegebenheiten als len Konsolidierungsprozess klären. Ausgangspunkt für Planungen. Deutschland ist durch die Schwäche Europas beson- Konkret könnte Deutschland ders gefordert. Zum einen ist es beim Einsatz seiner eine deutsch-französische Luftwaffe initiieren, Armee politisch weitaus abhängiger davon, dass Part- einen europäischen Pool von Transporthubschrau- ner aus der EU mitziehen, als es etwa Frankreich oder bern bilden, Großbritannien sind. Doch diese Partner, überwie- seine militärischen und industriellen Kapazitäten gend kleinere Länder, könnte Berlin verlieren, wenn bei Kampfpanzern zum Anlass nehmen, einen sie aufgrund von Haushaltskürzungen nicht mehr an zentralen Pool von Panzern aufzubauen. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 6
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Tabelle 1 Dimensionen der Verteidigung Dimension Fragestellung Idealtypisches Ziel Verteidigungspolitik (politisch- Wozu dient Verteidigung? Wer bestimmt Politische Entscheidungsfähigkeit konzeptionelle Dimension) darüber und über die beiden anderen im Hinblick auf den Einsatz Dimensionen? militärischer Gewalt Verteidigungsorganisation Wie wird Verteidigung organisiert, also Militärische Effektivität (institutionelle Dimension) Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz militärischer Fähigkeiten? Verteidigungsökonomie Welche Ressourcen benötigt Ökonomische Effizienz (materielle Dimension) Verteidigung? Quelle: eigene Darstellung. Der Begriff Verteidigung umfasst in dieser Studie Europa steckt in einer Verteidigungskrise, weil es Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz militärischer sich in allen drei Dimensionen am Scheideweg be- Fähigkeiten im internationalen militärischen Krisen- findet. Zudem verstärken sich die Probleme aus den management (im Folgenden analog zum englischen drei Bereichen gegenseitig. Als Reaktion auf den Begriff Expeditionsaufgaben genannt) und in der langfristig anhaltenden Abbau ihrer Verteidigungs- Landes- oder Bündnisverteidigung. 1 Verteidigung lässt budgets reduzieren die EU-Staaten seit 2010 rasch sich mit drei Dimensionen erfassen (Tabelle 1). 2 und unkoordiniert militärische Fähigkeiten. Die Krise hat einen verteidigungspolitischen Para- 1 In dieser Studie wird Verteidigung nicht in Landesverteidi- digmenwechsel hervorgerufen. Die Staaten stellen gung und Expeditionsaufgaben unterteilt, denn für die nicht mehr die Ziele, sondern die verfügbaren Mittel wesentlichen Elemente der Streitkräftestruktur europäischer Armeen hat diese Trennung immer weniger Bedeutung. an den Anfang ihrer Überlegungen: Am Beginn der Konzeptionell stellen die Armeen Europas auf Beiträge zu Verteidigungsreformen in Deutschland, Frankreich Friedensoperationen um oder wollen zusätzlich noch und Großbritannien stand der Ressourcenmangel. Landesverteidigung betreiben können. Praktisch bedeutet Diese Entwicklung untergräbt die ohnehin geringe Landes- oder Bündnisverteidigung für die meisten Staaten militärische Handlungsfähigkeit Europas und deren Europas heute, expeditionsfähig zu sein, da die Verteidigung nicht auf ihrem eigenen Territorium stattfinden würde. rüstungsindustrielle Basis. Institutionell werden Landesverteidigung und Expeditions- Aus diesen Gründen wird Europa nicht umhin aufgaben in NATO und EU aus dem gleichen nationalen kommen, sich militärisch effektiver zu organisieren Truppenpool bedient. Dafür werden Armeen in kleinen und seine Ressourcen effizienter zu nutzen, wenn es Verbänden modular aufgebaut. Ihre Spezialisierung findet militärisch handlungsfähig bleiben will. Dafür gilt es erst in der Vorbereitung auf konkrete Missionen statt. Diese die politischen Voraussetzungen zu schaffen. Andern- Armeen werden aus dem gleichen Topf bezahlt und nutzen weitgehend das gleiche Gerät für Landesverteidigung und falls ist Europa möglicherweise bald nicht mehr in Expeditionsaufgaben. Zusammenfassend hierzu Anthony der Lage, seine verteidigungspolitischen Ziele mit King, The Transformation of Europe’s Armed Forces. From the Rhine militärischen Mitteln zu erreichen. to Afghanistan, Cambridge 2011. Die Überschrift dieses Studienkapitels ist angelehnt an Nick Witney, How to Stop the Demilitarisation of Europe, London: European Council on und die Rolle internationaler Organisationen«, in: Andreas Foreign Relations (ECFR), November 2011 (Policy Brief). Wenger/Victor Mauer/Daniel Trachsler (Hg.), Bulletin 2008 zur 2 Zu den drei Dimensionen in der Fähigkeitsentwicklung schweizerischen Sicherheitspolitik, Zürich: Center for Security siehe Christian Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung Studies (CSS), 2008, S. 89–122. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 7
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Die Staaten wehren sich gegen die Auswirkungen keiten jeweils für sich ineffektiv und miteinander der Verteidigungskrise. Sie sparen national und kür- unvereinbar organisieren. zen in ihren Verteidigungsapparaten. International Autonomiezentriertes Souveränitätsverständnis. wollen sie mit mehr Kooperationsprojekten ihre Alle Regierungen wollen eigenständig über militä- Sicherheitsgemeinschaft 3 stärken. Doch die meisten rische Angelegenheiten entscheiden, vom Kleinst- Aktivitäten sind von dem Wunsch getrieben, militä- staat Malta bis zur militärischen Mittelmacht risch und politisch unabhängig zu bleiben. Deshalb Frankreich. Doch sämtliche Länder sind in ihrer erreichen die Staaten das Gegenteil von dem, was sie Verteidigungspolitik schon lange von ihren euro- beabsichtigen: Weil sie nationale militärische Fähig- päischen Partnern abhängig. Sie sind also zur keiten verlieren, steigt die gegenseitige Abhängigkeit. Zusammenarbeit gezwungen, um ihre Interessen Mehr noch: Schrittweise kommen den Staaten ihre durchzusetzen. Kooperationsgegenstände abhanden, so dass die Chan- cen für internationale Zusammenarbeit schwinden. Beim Abbau der Verteidigungsfähigkeiten sind Libysche Symptome weniger die Mengen von Material und Truppen das Problem, sondern vor allem die immer brüchiger Die Operation Unified Protector in Libyen 2011 war werdende Fähigkeitsarchitektur. Dieses Gefüge 4 von nicht nur für die NATO ein Lackmustest, sondern auch Know-how, Führungsinstitutionen sowie Ausrüstung für die militärischen Fähigkeiten der EU. Die meisten und Infrastruktur für Militäroperationen können die EU-Staaten sind auch NATO-Mitglieder und stellen ihr Staaten mittlerweile nur noch gemeinsam zusam- die gleichen Kräfte zur Verfügung (single set of forces). menhalten. Ihre Beiträge dazu verändern die EU-Staa- Der Libyen-Einsatz ist zum Symbol europäischer ten jedoch ohne Absprache mit den Partnern und Handlungsunfähigkeit geworden: Weder ein Staat ohne langfristige Überlegungen, wie diese Architektur Europas allein noch die EU insgesamt kann sicher- in Zukunft aussehen soll. Sie drohen militärisch hand- heitspolitische Interessen mittels militärischer Macht lungsunfähig zu werden, weil sie bereits bestehende über eine Entfernung von nicht einmal 1000 Kilo- Fähigkeitslücken nicht schließen können und zudem metern durchsetzen. neue entstehen. So rutschen die EU-Staaten in immer Die teilnehmenden Europäer konnten den Einsatz mehr Bereichen unter das Niveau, das sie benötigen, nur schwer durchhalten und steuern. Die beiden um militärisch noch eine Rolle spielen zu können. größten europäischen Militärmächte Frankreich und Großbritannien hatten zwar die politische und mili- tärische Führung der Operation übernommen, waren Europas defizitärer Verteidigungsapparat aber nicht imstande, die militärische Entscheidung zu erzwingen. Dazu fehlten ihnen die Kräfte und Die Verteidigungskrise entstand aufgrund dreier Reserven, nachdem sich die USA nach drei Tagen aus Probleme im europäischen Verteidigungssektor: den unmittelbaren Angriffen zurückgezogen hatten. 5 Abnehmende militärische Handlungsfähigkeit. Damit haben die EU-Staaten ihre militärischen Symptomatisch für den defizitären Verteidigungs- Planziele weitgehend verfehlt, die sie in Form des apparat ist der NATO-Einsatz in Libyen. Die teil- Headline Goal 2010 und des Level of Ambition 2008 gemein- nehmenden Europäer verfügten weder über die sam vereinbart hatten. Nicht nur bestehen Europas erforderliche Ausrüstung noch über ausreichend Fähigkeitslücken fort, sie sind sogar größer geworden. einsetzbare Kräfte, um diese Operation in ver- Dabei handelt es sich sowohl um altbekannte Defizite gleichbarer Weise auch ohne die USA zustande bei Aufklärungsmitteln und Flugzeugen als auch um zu bringen. neue, überraschende Lücken bei Munition und Ersatz- Unzureichende Organisation. Die militärische teilen. 6 Viele Staaten konnten an der Operation nicht Handlungsfähigkeit schrumpft, weil die EU-Staaten teilnehmen, weil sie schlicht nicht über die Ausrüs- Rüstung sowie Generierung militärischer Fähig- 5 Michael Clarke u.a., Accidental Heroes. Britain, France and the 3 Der Begriff stammt ursprünglich aus Karl W. Deutsch u.a., Libya Operation, London: Royal United Services Institute (RUSI), Political Community and the North Atlantic Area. International September 2011 (RUSI Interim Libya Campaign Report). Organization in the Light of Historical Experience, Princeton 1957. 6 International Institute for Strategic Studies (IISS), The 4 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2]. Military Balance 2012, Oxford 2012, S. 73ff. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 8
Europas defizitärer Verteidigungsapparat tung verfügten. 7 Schwedische Kampfflugzeuge konn- also Staaten und Industrien, beide Phasen aufeinander ten zwar aufklären, aber keine Präzisionsangriffe auf abstimmen. Das bedeutet, dass sie möglichst gleiche Bodenziele fliegen, weil sie die Waffen hierfür nicht Zielvorstellungen besitzen, alle Beteiligten die zur besitzen und ihre Besatzungen die Manöver nicht Koordination geschaffenen Institutionen und Prozesse beherrschen. 8 nutzen und die Staaten Ressourcen gemeinsam Vor allem aber fehlte den Europäern das elektroni- bereitstellen. Zudem können Staaten Gerät, das sie sche Rückgrat, mit dem Sensoren und Waffensysteme gemeinsam entwickeln und bauen, auch einfacher vernetzt werden. Ohne diese globale Schnittstelle, die zusammen bedienen, einsetzen und warten. derzeit nur die USA bereitstellen können, ist Europa In der EU ist das Gegenteil der Fall. Europa setzt militärisch weitgehend blind und taub. In der NATO zwar seit 20 Jahren gemeinsam seine Streitkräfte ein, geht man davon aus, dass rund 90% der Militäraktio- doch Rüstung und Fähigkeitsgenerierung finden nen in Libyen ohne Washingtons Hilfe nicht möglich weitestgehend national statt: 12 gewesen wären. 9 Für die Fähigkeitsgenerierung in der EU haben die Staaten zwar viele EU-Institutionen (EU-Militärstab, EU-Militärausschuss, Europäische Verteidigungs- Fähigkeitsentwicklung: Effektiv versus europäisch agentur) und Prozesse (Capability Development Plan, Headline Goal) entwickelt. Darin haben sie Der Grund für diese operativen Schwächen liegt in eine gemeinsame Problemwahrnehmung und zahl- den Defiziten der europäischen Fähigkeitsentwick- reiche allgemeine Zielvorstellungen formuliert lung. Diese lässt sich grundsätzlich in zwei Phasen (Helsinki Headline Goal, Headline Goal 2010, Level unterteilen. 10 of Ambition 2008). Inkohärent aber bleiben bis heute die Antworten auf die konzeptionelle Frage, In der Rüstungsphase 11 wird durch Forschung, Entwick- welche Streitkräfte für welche Einsätze die Staaten lung, Tests und Produktion neue Ausrüstung geschaf- in der Praxis vorhalten sollten. fen. Hier spielt die verteidigungsindustrielle Basis eine Die EU-Staaten haben sich bemüht, gemeinsame große Rolle. Sie besteht aus Labors, Firmen, Wissen, Fähigkeiten bereitzustellen, bislang jedoch weit- Werkstoffen und anderem. Durch technologische gehend ohne Erfolg. Ausnahmen sind EU-Battle- Innovation, Rüstung, aber auch Wartung trägt die groups, Planungsfähigkeiten und strategischer verteidigungsindustrielle Basis zur militärischen Lufttransport. Es bleiben erhebliche Fähigkeits- Handlungsfähigkeit bei. lücken. Der EU ist es bisher nicht gelungen, ihre Die Fähigkeitsgenerierung umfasst Planung, Aufstellung, Mitglieder zu Beiträgen jenseits ihrer nationalen Organisation und Betrieb von Streitkräften. Dies Fähigkeitsbedarfe zu bewegen. beinhaltet die Ausbildung der Soldaten ebenso wie Die Staaten organisieren Rüstung überwiegend Dienstleistungen an Gerät. außerhalb des EU-Rahmens. Maßgeblich sind dabei nicht so sehr gemeinsame sicherheitspolitische Fähigkeitsentwicklung ist umso effektiver und Bedürfnisse, sondern vielmehr nationale Industrie-, effizienter, je besser die beteiligten Akteursgruppen, Technologie- und Strukturpolitiken. Letztere stehen im Widerspruch zu einer internationalisierten 7 Karen DeYoung/Greg Jaffe, »NATO Runs Short on Some Markt- und Industriestruktur. Mit Hilfe von Artikel Munitions in Libya«, in: The Washington Post, 15.4.2011, 346 im Vertrag über die Funktionsweise der EU (Zugriff Staaten den Druck abgewehrt, ihre nationalen am 29.5.2012). Beschaffungsverfahren und Marktregeln zu euro- 8 Paul Smyth, »Libya: Is NATO Doing Enough?«, RUSI Analysis, 15.4.2011, (Zugriff am 29.5.2012). ihre Rüstungsgüter vom Wettbewerb auf dem EU- 9 Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab, Binnenmarkt auszuschließen, wenn sie dadurch 24.6.2011; Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab, ihre nationale Sicherheit bedroht sehen. Juste 27.11.2011. 10 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2]. 11 Zur Rüstung allgemein und als Prozess siehe Michael 12 Tomas Valasek, Surviving Austerity. The Case for a New Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860–1980, Frankfurt am Main Approach to EU Military Collaboration, London: Centre for 1984, S. 9–23. European Reform (CER), April 2011, S. 1. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 9
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Retour bedeutet, dass Aufträge in internationalen Staaten zusammen über 190 Milliarden Euro an Mili- Rüstungsprojekten nicht an den besten Anbieter tärbudgets. Stattdessen verwalten 27 Verteidigungs- vergeben werden, sondern an die Firmen der betei- ministerien von Malta bis Frankreich 27 Armeen mit ligten Staaten, prozentual entlang der Kaufanteile, 3000 bis 300 000 Soldaten. die die Staaten in dem Projekt haben. Damit nicht genug: Diese Praxis und ihre Folgen Aus diesen Gründen bleiben internationale Rüs- untergraben den eigenen Souveränitätsanspruch. tungskooperation und Beschaffung intergouverne- Dieser leitet sich auch im traditionellen Verständnis mental organisiert. EU-Gemeinschaftsinstrumente daraus ab, nicht nur entscheiden, sondern auch 13 wie die Beschaffungsdirektive spielen de facto effektiv handeln zu können, um Probleme zu lösen. 15 bislang keine Rolle. Daher ist der europäische Kein Staat in Europa aber besitzt derzeit eine solche Rüstungssektor von 27 einzelstaatlichen Regel- autonome militärische Handlungsfähigkeit. Libyen werken für Ordnungs-, Industrie- und Technologie- war 2011 der jüngste Nachweis dafür. Schon länger politik gekennzeichnet. So entstehen unter ande- sind die wenigsten Länder in der Lage, mehr als 1000 rem beträchtliche Überkapazitäten in der Produk- Mann jenseits ihrer Grenzen zu verlegen und zu tion, die die Erzeugnisse verteuern und die Nach- versorgen. 16 frage des europäischen Marktes weit übersteigen. Der nationale Entscheidungsvorbehalt verhindert Kosten, die die Unternehmen nicht über den Export zugleich, dass sich die Staaten auf die gemeinschaft- auffangen können, geben sie an die Staaten wei- liche Stärkung militärischer Handlungsfähigkeit ein- ter. 14 lassen. Sie fürchten, dass ein Partner aus einer Koope- Die Phasen Rüstung und Fähigkeitsgenerierung ration jederzeit aussteigen könnte und sie deshalb 17 werden in der EU nicht aufeinander abgestimmt. In in einem Einsatz allein gelassen werden, weil ein beiden Bereichen sind weder die jeweiligen Institu- Partner seine Truppen zurückzieht, tionen der EU und der Staaten miteinander ver- nicht in den Einsatz gehen können, weil ein Partner bunden noch die Konzepte für Fähigkeitsentwick- mit wichtigen Fähigkeiten sich nicht beteiligt, lung und Ausrüstung. Auch intergouvernemental auf ihre Kosten einem Partner Sicherheit verschaf- ist es die Ausnahme, dass Ausrüstung gemeinsam fen, ohne dass er eigene Beiträge liefert (Trittbrett- konzipiert wird und sich so die Chance eröffnet, fahren). dass Streitkräfte diese Produkte gemeinsam kaufen und nutzen. In der Regel entwickeln und beschaf- fen die Staaten parallel und konkurrierend. Der verteidigungsökonomische Imperativ Die Probleme der europäischen Verteidigungsfähig- Grundproblem Souveränität: keit verschmelzen seit 2009 mit jenen, die aus der Entscheidungsfähigkeit vor Handlungsfähigkeit Finanzkrise erwachsen. Aus der schnellen, starken und für die Zukunft anhaltenden Reduzierung in den Die Ineffizienzen in der europäischen Fähigkeits- öffentlichen Haushalten entsteht für die meisten EU- entwicklung sind die Kehrseite des Souveränitäts- Staaten ein verteidigungsökonomischer Imperativ: anspruchs aller EU-Staaten, also des Bestrebens, in Die EU-Staaten müssen ihre Verteidigungshaushalte militärischen Angelegenheiten national autonom kürzen, dürfen dies aber nicht unkontrolliert tun, entscheidungsfähig zu sein. sondern sollten gleichzeitig eine gemeinsame Verteidi- Eine Folge davon ist militärische Kleinstaaterei in Europa. Sie verhindert, dass die Staaten von Effektivi- 15 Advisory Council on International Affairs (Hg.), European tätsgewinnen profitieren, die sie durch mehr Koope- Defence Cooperation. Sovereignty and the Capacity to Act, Nr. 78, ration erzielen könnten. Immerhin verfügen die EU- Den Haag, Januar 2012, S. 11ff; Philipp Genschel/Bernhard Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität 13 Directive 2009/81/EC of the European Parliament and of the des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2007) 20–21, S. Council of 13 July 2009 on the Coordination of Procedures for the 10–16. Award of Certain Works Contracts, Supply Contracts and Service 16 European Defence Agency (EDA), Defence Data: EDA Partici- Contracts by Contracting Authorities or Entities in the Fields of Defence pating Member States in 2010, Brüssel 2012, S. 34–39. and Security, Brüssel, 13.7.2009. 17 Claudia Major/Christian Mölling/Tomas Valasek, Smart but 14 Keith Hartley, The Economics of Defence Policy. A New Perspec- Too Cautious. How NATO Can Improve Its Fight against Defence tive, Abingdon/New York 2011. Austerity, London: CER, Mai 2012 (Policy Brief). SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 10
Der Verteidigungssektor reagiert19F gungsstruktur erhalten. Weniger ihre Interessen und werden, indem sie Haushalte, Betriebskosten und Werte, sondern ihre Finanzen bestimmen darüber, Beschaffungen kürzen. Auf internationaler Ebene welche militärischen Fähigkeiten vorhanden sind, wollen sie seit 2009 mit Pooling und Sharing militäri- welche abgeschafft werden und welche militärischen sche Fähigkeiten bündeln sowie Aufgaben und Aus- Ziele verfolgt werden sollen. rüstung teilen. Dieser theoretisch richtige Ansatz Mittelfristig, so die Annahme, wird kein Staat wird bislang jedoch nicht in die Praxis umgesetzt: seinen Verteidigungssektor vor einer Senkung der Statt mit Pooling und Sharing die Verteidigung öko- Verteidigungsausgaben schützen können. Der Grund nomisch effizienter und militärisch effektiver zu dafür liegt im langfristigen Sparzwang für Europas gestalten, bleiben die Staaten bei der klassischen öffentliche Haushalte. Ihre Schuldenstände stellen Form von Verteidigungskooperation, in welcher der eine dauerhafte Belastung dar. Zudem wächst die nationale Entscheidungsvorbehalt zentraler Bestim- Neuverschuldung Europas zunächst krisenbedingt mungsfaktor ist. So vergrößern sie die bereits be- weiter. Damit steigen die Überschuldungsrisiken stehenden Unterschiede zwischen zunehmend ent- für die öffentlichen Haushalte und Finanzsysteme. militarisierten und militärisch noch handlungsfähi- Weiterer Schuldenabbau ist also unumgänglich. gen Staaten. Der Sicherheitsgemeinschaft droht die Neben dieser allgemeinen Notwendigkeit zu sparen Spaltung. erhöhen die Folgen des demographischen Wandels und die potentiell sinkende Legitimation für Streit- kräfte den Druck, Mittel aus dem Verteidigungsbudget Sparen und reformieren: in andere Haushalte umzuverteilen, etwa weil die Die Ineffizienz nationaler Alleingänge alternde Bevölkerung mehr Geld im Gesundheits- sektor beansprucht. 18 Seit 2009 sind auch die Verteidigungsbudgets von Das Schuldenproblem verlagert sich in die Zukunft: Einschnitten in die öffentlichen Haushalte betroffen. 20 Jahre müssten die EU-Staaten sparen, um wieder Die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Verteidi- das Schuldenniveau von vor der Finanzkrise 2008 gungssektoren und auch die Maßnahmen, die die zu erreichen, so eine Simulation der Europäischen Staaten ergreifen, variieren jedoch erheblich. Kommission. Über diesen Zeitraum müssten die Das liegt an den jeweiligen finanziellen Reserven Staaten 1% ihres BIP, derzeit 120 Milliarden Euro pro der Länder, den unterschiedlichen wirtschaftlichen Jahr, allein zur Tilgung der Schulden aufwenden. 19 Traditionen im Umgang mit Staatsschulden und der Priorität, die Staaten der Verteidigung einräumen. Darüber hinaus sind die Staaten an längerfristige Der Verteidigungssektor reagiert 20 Verträge gebunden, etwa bei Rüstung und Personal. Wenn überhaupt, lassen sich diese nur mit hohen Als die Finanzkrise Europas Verteidigungshaushalte zusätzlichen Kosten auflösen. erreichte, reagierten die Staaten überrascht. Auf natio- Die größten Einsparungen in den Verteidigungs- naler Ebene versuchen sie der roten Zahlen Herr zu haushalten 2010 und 2011 haben mit 30% derzeit vor allem kleinere Mitgliedstaaten geplant oder um- 18 Christian Mölling/Sophie-Charlotte Brune, The Impact of the gesetzt. Die meisten mittleren EU-Staaten haben Kür- Financial Crisis on European Defence, Brüssel: Directorate-General zungen um etwa 10 bis 15% beschlossen. Die großen fro External Policies, April 2011, S. 34–37. EU-Staaten kommen bislang mit Minderungen unter 19 European Commission, Annual Growth Survey. Macro 8% davon, wie Deutschland und Großbritannien. Economic Report, Annex 2, COM(2011) 11 final, Brüssel, Ausnahmen von der Regel waren bis 2011 zum Bei- 12.1.2011. Der Simulation liegen zwei Annahmen zugrunde, spiel Polen, Finnland und Frankreich, deren Budgets nämlich dass zum einen sofort und in hinreichender Höhe mit dem Sparen begonnen und zum anderen es keine zunächst entweder wuchsen oder wenigstens nicht weiteren Schocks geben wird. Einiges deutet darauf hin, dass nennenswert sanken. Dieses Bild änderte sich 2012: diese beiden Annahmen nicht realistisch sind. Striktes Finnland beschloss Streichungen um 30% bis 2015, für Sparen fällt vielen Ländern schwer. Aus den prognostizierten Frankreich werden Reduzierungen um 3 bis 5% pro 20 Jahren für den Schuldenabbau könnten so auch 25 Jahre Jahr diskutiert. oder mehr werden. 20 Dieses Kapitel baut auf Forschungsergebnissen des Autors Trotzdem halten die EU und die Mehrzahl ihrer auf, siehe Mölling/Brune, The Impact of the Financial Crisis [wie Mitglieder an ihren militärischen Ambitionsniveaus fest. Fn. 18]. Nach wie vor würden die größeren Staaten gern das SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 11
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa gesamte Spektrum der militärischen Fähigkeiten, lange Frist geschlossen. Zwar könnten sich auf Dauer auch für konventionelle Kriege, auf dem jetzigen Abfindungen für diejenigen rechnen, die bereit sind, Niveau vorhalten. Doch dafür reichen die Budgets ihren Vertrag eher aufzulösen. Das verursacht aber nicht. Daher haben zwei der drei größten Truppen- kurzfristig zusätzliche Kosten. steller, Deutschland und Großbritannien, ihre Ambi- Fast alle Staaten kürzen beim Betrieb der Streit- tionen gesenkt. Sie wollen in Zukunft etwa ein Drittel kräfte. In einer ersten Reaktion legten sie altes Gerät weniger Soldaten einsatz- und durchhaltefähig halten still und schränkten den Betrieb ein, um dessen Kos- und auch an weniger Plätzen gleichzeitig kämpfen ten zu reduzieren. Wo dies nicht reicht, stellen sie können. Frankreich dürfte 2013 folgen, nachdem es auch modernes Gerät außer Dienst, wie deutsche Pan- sein neues Verteidigungsweißbuch veröffentlicht hat. zer, britische Flugzeugträger oder dänische U-Boote. Allen dreien dürfte es künftig schwerer fallen, ihre Nach dieser ersten sichtbaren Welle geht der Abbau Verbände durchhaltefähig und ökonomisch effizient nun in kleinen, unspektakulären Schritten weiter. zu betreiben. Spanien musterte 2012 seinen Flugzeugträger aus Die kleinen und einige mittlere EU-Staaten stellen und auch die Seemacht Großbritannien nimmt Schiffe zunehmend auf Nischenbeiträge zu Stabilisierungs- aus dem aktiven Dienst. operationen um. 21 Offiziell jedoch lehnen die meisten Einsparungen bei laufenden Beschaffungen, etwa europäischen Staaten diese Rollenspezialisierung (also dem Transportflugzeug A400M oder dem Eurofighter, das Aufgeben bestimmter Fähigkeiten und die Kon- böten sich an, denn deren Stückzahlen sind über- zentration auf einige wenige Nischen) ab, weil sie die dimensioniert. Als tückisch erweist sich jedoch, wenn damit verbundene gegenseitige Abhängigkeit nicht Staaten versuchen, diese Kosten zu vermeiden oder akzeptieren wollen. zu kompensieren, indem sie das Gerät sofort weiter- De facto findet aber bereits seit Jahren Rollenspezia- verkaufen. Wenn Länder laufende Verträge kündigen, lisierung unter den EU-Staaten statt. Damit wachsen müssen sie Strafen bezahlen, die so hoch sind wie die die gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Finanzkrise hat möglichen Einsparungen. Beim Verkauf machen sich die von den Staaten national ins Auge gefasste Spezia- die Staaten gegenseitig Konkurrenz auf den Export- lisierung nicht gerade beschleunigt. Anstatt entlang märkten. Außerdem kommen sie den europäischen militärischer Zielvorgaben kürzen die Staaten nun Rüstungsindustrien ins Gehege, die auf diesen Märk- dort, wo sie schnell Gelder freisetzen können. ten direkt verkaufen wollen. Es entspinnt sich ein Dabei nehmen sie wenig Rücksicht darauf, dass sie Unterbietungswettlauf wie etwa beim Eurofighterdeal in einem System kollektiver Sicherheit handeln und in Indien. 23 deshalb ihre Sparmaßnahmen unmittelbare Folgen Überdies entsteht in Europa ein Graben zwischen für ihre NATO- und EU-Partner haben. Indem sie ihre den Modernisierern und den Zurückbleibenden. Kampfpanzer abschafften, haben die Niederlande Neben den Vertragsstrafen fürchten vor allem die nicht nur sich selbst auf ihre verbleibenden Fähig- großen Staaten die drohende Modernisierungslücke keiten spezialisiert. Auch Deutschland und Frankreich und die sinkenden Investitionen in ihre Rüstungs- sind unfreiwillig zu Rollenspezialisten geworden, weil firmen. Deshalb fahren große Staaten mit eigener sie nun die einzigen sind, die nennenswerte Arsenale Rüstungsindustrie fort, ihre Arsenale zu erneuern, von Kampfpanzern besitzen. 22 zwar langsamer als geplant, aber kontinuierlich. Die EU-Staaten wählen sehr unterschiedliche Wege, Dagegen sind viele mittlere und kleinere Länder um die Kürzungen auf ihre Verteidigungsapparate gezwungen, Beschaffungs- oder Modernisierungs- zu übertragen. In einer ersten Reaktion haben viele projekte zu verschieben oder sogar aufzugeben. Staaten weitreichende Einschnitte bei Personal, Be- Im Rüstungsbereich driften die Strategien der trieb und Beschaffung angekündigt. Regierungen und die der Rüstungsindustrien immer Personalkosten beanspruchen einen großen Anteil in weiter auseinander. Die großen Rüstungskonzerne den EU-Militärhaushalten, doch große Einsparungen in Europa schauen sich verstärkt auf den Märkten in sind hier kaum zu erwarten. Verträge sind oft auf Asien und im Nahen Osten um, denn Europas Ver- 21 Finnland, Schweden und Griechenland halten an der 23 Marcel Dickow/Detlef Buch, Europäische Rüstungsindustrie: Landesverteidigung als Kernaufgabe fest. Kein Heil im Export. Der gescheiterte Eurofighter-Deal verdeutlicht die 22 Christian Mölling, Pooling and Sharing in the EU and NATO, Notwendigkeit zur Zusammenarbeit und Konsolidierung, Berlin: Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2012 (SWP Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2012 (SWP-Aktuell Comments 18/2012). 12/2012). 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Der Verteidigungssektor reagiert19F teidigungsmarkt werden magere Jahre prophezeit. Dezember 2010 haben sie Pooling und Sharing zum Schätzungen sagen einen Marktrückgang bis 2016 um wichtigen Instrument zur Verbesserung ihrer militä- 3% voraus. Andere Märkte, zum Beispiel in Asien oder rischen Fähigkeiten erklärt. Pooling und Sharing Südamerika, werden hingegen im selben Zeitraum bedeutet, dass die Staaten militärische Fähigkeiten voraussichtlich um 4 bis 6% wachsen. 24 Die meisten bündeln oder Aufgaben und Ausrüstung teilen. Da- großen Rüstungsunternehmen sind ohnehin weit- hinter steht die plausibel klingende Annahme, dass gehend internationalisiert und haben so ihre Abhän- die Staaten vom geplanten Zusammenlegen militäri- gigkeit vom europäischen Markt reduziert. 25 Doch scher Fähigkeiten ökonomisch profitieren. 26 In der mittlerweile schlägt die rückläufige Nachfrage nach Praxis jedoch etikettieren die Staaten bestehende Rüstungsgütern in Europa sich in einem Rückgang Verteidigungskooperationen zumeist nur um, behal- der Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten nieder. ten aber die alten Kooperationsprojekte bei. Der darin Gelingt es den großen Firmen, sich weiter zu enthaltene Vorrang nationaler Entscheidungsfähigkeit internationalisieren, verlieren die EU-Staaten mit blockiert das geplante Zusammenlegen militärischer ihren schrumpfenden Märkten stetig an Bedeutung Fähigkeiten und damit eine erhöhte Wirtschaftlich- für sie. Für die Europäer wiederum wird es noch keit. Wirklich neu ist nur die Gent-Initiative. schwerer, ausreichend Rüstungsgüter national zu beschaffen. Was ist Pooling und Sharing? Die EU-Staaten wollen diese Effekte jedoch bisher Sharing nicht wahrhaben. Stattdessen versuchen sie immer Ein oder mehrere Länder stellen den Partnern eine noch, Verteidigungsindustrien, die im eigenen Land Fähigkeit oder Ausrüstung (etwa Transportflugzeuge) Produktionsstätten betreiben, als nationale Industrien zur Verfügung oder übernehmen eine Aufgabe für zu definieren und zu erhalten. Die Staaten denken andere. Geschieht dies dauerhaft, müssen die Partner nicht darüber nach, im EU-Rahmen die Überkapazi- diese Fähigkeit nicht mehr selbst vorhalten. Ein Bei- täten in der Produktion zu beseitigen. Nach wie vor spiel ist der Schutz des baltischen Luftraums, den die verhindern sie auch, dass die Nachfrage gebündelt NATO-Staaten abwechselnd übernehmen (Air Policing), wird. All dies hat zur Folge, dass kostensparende, weil so dass die baltischen Staaten die Kosten für eine Luft- größere Produktionslose (also Stückzahlen eines waffe sparen. bestimmten Rüstungsguts) nicht möglich werden. Die Finanzkrise beeinträchtigt zunehmend inter- Pooling nationale Einsätze und bewirkt, dass Staaten ihre Auch beim Pooling werden nationale Fähigkeiten Truppen eher als geplant zurückbeordern. Ab 2009 anderen zur Verfügung gestellt. Dafür wird eigens eine reorganisierten die EU-Staaten ihre Beiträge zu Ein- multinationale Struktur eingerichtet, die diese Beiträge sätzen zunächst stärker entlang nationaler Prioritä- zusammenfasst und ihren Einsatz koordiniert. Ein Bei- ten. Bis 2010 blieb der Rückzug von Truppen oder spiel ist das European Air Transport Command (EATC). Ausrüstung die Ausnahme. Seit 2011 aber ziehen die Pooling kann bei Entwicklung, Beschaffung und Staaten, beispielsweise Italien oder Griechenland, späterem Betrieb gemeinsamer Geräte greifen. So lassen immer mehr Soldaten und Material aus laufenden sich entweder größere Stückzahlen erreichen oder Einsätzen ab. Staaten beschaffen eine Fähigkeit gemeinsam, die einer allein aufgrund hoher Kosten nicht bereitstellen könn- te. Beispiele für gemeinsame Anschaffung und Betrieb Pooling und Sharing: Internationaler Königsweg? sind die AWACS-Radarflugzeuge. Nachdem die EU-Staaten zunächst rein national reagierten, bemühen sie sich seit 2010 um internatio- 26 Stellvertretend für die Debatte siehe Bastian Giegerich/ nale Zusammenarbeit. Mit dem Ratsbeschluss im Alexander Nicoll, »The Struggle for Value in European Defence«, in: Survival: Global Politics and Strategy, 54 (2012) 1, 24 Guy Anderson, Major Defence Markets in an Age of Austerity – S. 53–82; Sven Biscop/Jo Coelmont, Military Capabilities: From Trends and Developments, IHS Jane’s Report, London, Oktober Pooling & Sharing to a Permanent and Structured Approach, Brüssel: 2011. Egmont Royal Institute for International Relations, Septem- 25 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) ber 2012 (Security Policy Brief Nr. 37); Dick Zandee, »How (Hg.), SIPRI Yearbook 2012. Armaments, Disarmament and Internatio- Governments Should Compensate for Defence Spending nal Security, Oxford 2011, S. 232f. Cuts«, in: Europe’s World, Frühjahr 2010, S. 30–33. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 13
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Lehren aus bisherigen Verteidigungskooperationen Weimar, Gent und Co.: Neuer Aktivismus, wenig Ergebnisse Verteidigungskooperation praktizieren die EU- und NATO-Staaten schon lange. Doch die rund 100 Pro- Als Reaktion auf die wachsenden Probleme bei der jekte, die seit den 1950er Jahren entstanden, haben Finanzierung ihrer Militärapparate haben die Mit- weniger gemein, als die Bezeichnung vermuten lässt. gliedstaaten seit 2009 eine Reihe bi- und multilatera- Vor allem verfolgen diese traditionellen Kooperatio- ler Initiativen angeregt (Tabelle 2). Neu im Wortsinne nen keinen gemeinsamen Spar- oder Effektivitäts- ist jedoch nur die Gent-Initiative (Tabelle 3). Alle gedanken, sondern individuelle, teilweise divergieren- anderen bauen auf bestehenden Kooperationsbezie- de Ziele. hungen auf. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Teilnehmer, Die Finanzkrise hat also vor allem alten Formen Auslöser und Kooperationsgegenstände. Um die 20% der Zusammenarbeit neuen Auftrieb gegeben. aller Initiativen sind bilaterale Kooperationen; 60% Gemeinsam mit den neuen Initiativen entsteht ein der Kooperationen weisen nicht mehr als fünf Partner noch komplexeres, unübersichtlicheres Netz aus auf. Mit Ausnahme der NATO-Führungsstrukturen gibt überlappenden Kooperationen. Die Anzahl der Teil- es derzeit keine Projekte, in denen alle EU- oder NATO- nehmer variiert stark, die Ziele sind oft nur vage Partner gleichzeitig zusammenarbeiten. formuliert. Tatsächlich können bis heute nur wenige Für solche Kooperationen gibt es vielfältige Aus- dieser Initiativen über den neuen Aktivismus hinaus löser. Zum Beispiel tun sich Nutzer gleicher Ausrüs- Ergebnisse vorweisen. tung zusammen, etwa bei Torpedos oder Flugzeugen, Zwar fällt positiv auf, dass einige Kooperations- oder die Staaten können nur mit vereinten Kräften gruppen jetzt untereinander kooperieren möchten. eine Lücke schließen, die alle betrifft, wie beim stra- Die Beneluxstaaten wollen mit Partnern aus der tegischen Lufttransport. Nordic-Baltic Defence Cooperation zusammenarbei- Diese Diversität erklärt sich daraus, dass die Staaten ten, die Länder der Nordic Defence Cooperation sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, (NORDEFCO) mit den baltischen Staaten. Doch bisher was Gegenstand von Kooperation sein kann. Faktoren fügen all diese neuen Initiativen dem vorhandenen für deren Zustandekommen und Erfolg sind wenig Flickenteppich von Kooperationen nur weitere Flicken untersucht. Dennoch lassen sich einige Charakteristi- hinzu. Die Projekte spiegeln nicht das Engagement ka derzeitiger Kooperationen skizzieren: für eine gemeinsame Verteidigungsfähigkeit wider, Die Projekte kommen regelmäßig von unten nach sondern den Wunsch der Staaten, deren jeweilige oben (bottom up) zustande. Initiatoren sind also die nationale Vorstellung von europäischer Verteidigung Staaten, nicht EU oder NATO. Mit Erfolg unter- möge durch andere unterstützt beziehungsweise stützen internationale Organisationen einige Initia- finanziert werden. Selbst die Befürworter von Pooling tiven. So hat die EU den Aufbau der EU-Battlegroups und Sharing unter den Staaten Europas versuchen, koordiniert, und die Europäische Verteidigungs- mit so wenig Wandel wie möglich auszukommen. agentur (EVA) organisiert das gemeinsame Hub- Insgesamt lassen sich drei Gruppen von Staaten schrauberpilotentraining und die gemeinsamen mit unterschiedlichen Sichtweisen zu Pooling und Investitionsprogramme. Sharing identifizieren: Die Aktivisten, wie die Nieder- Projekte entstehen zumeist dann, wenn mehrere lande und Deutschland, bemühen sich um weiter- Faktoren zusammenwirken, wie ähnliche strategi- gehende Kooperation im Verteidigungsbereich, die sche Kultur, bestehende politische Kooperation, Pessimisten, wie Großbritannien, sind nicht überzeugt, regionale Nähe, ähnliche Größe des Landes und der dass Zusammenarbeit allgemein substantielle Vorteile Streitkräfte, gleiches Verständnis der Kooperations- bringt, und die Spezialisten, wie Tschechien und Slo- ziele, Vertrauen und Solidarität unter den Partnern wenien, wollen ihre Nischenfähigkeiten durch diese sowie gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Kooperation erhalten. Verteidigungsindustrien. 27 Zu Beginn der neuen Kooperationswelle war nicht klar, ob sie Vorbote eines neuen gemeinsamen politi- schen Ansatzes auf EU-Ebene sein oder vielmehr den politischen und militärischen Rahmen der Gemein- samen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) 27 Valasek, Surviving Austerity [wie Fn. 12]. schwächen würde. Nun aber verstärkt sich der SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 14
Tabelle 2 Wichtige multilaterale Initiativen zu Pooling und Sharing (2009–2012) Initiative Partner Ziele Stand (Mai 2012) Weimarer Dreieck (seit 1992) Deutschland, Frankreich, Im militärischen Bereich: Battlegroups, Weimar Battlegroups 2013 (waren schon vor Revitalisie- Polen (mit Italien und Fähigkeitsentwicklung, ständige zivil- rung des Weimarer Dreiecks geplant). Frankreich hatte Spanien: »Weimar plus«) militärische Planungs- und Führungsfähigkeit. während der polnischen Ratspräsidentschaft 2011 das Interesse an der Initiative verloren. Keines der gesetzten Ziele ist bislang erreicht worden. Initiative wurde 2012 revitalisiert, um Italien und Spanien erweitert und auf zivile Fähigkeiten ausgedehnt. Nordic Defence Cooperation Dänemark, Finnland, Gemeinsames Training, Ausrüstungs- Gemeinsame Beschaffung neuer Haubitzen (Norwegen, (NORDEFCO) (seit 2009) Norwegen, Schweden beschaffung, Übungen, Rollenteilung. Schweden) und eines gemeinsamen Transportflugzeugs, Gespräche über Nutzung des finnischen Luftraums für Training schwedischer Piloten. Französisch-britischer Vertrag Frankreich, Maßnahmenpakete für 13 Felder, u.a. Expeditionsverband wurde aufgebaut und trainiert (Lancaster House Treaty) Großbritannien Expeditionsverband unter wechselndem zusammen, Kooperation bei Nuklearwaffen und Flugzeug- (November 2010) Kommando, gemeinsame Nutzung von trägern hat begonnen, offensichtliche Probleme bei Flugzeugträgern und Nuklearforschungs- Drohnen und Rüstungsprojekten. einrichtungen, Pilotenausbildung und Wartung für A400M, Entwicklung von UAVs. Visegrád-Vier (V4) (seit 1991) Polen, Ungarn, Kooperation im Verteidigungsbereich. Die V4 stellen im Jahr 2016 eine Battlegroup. Gespräche Tschechien, Slowakei über gemeinsame Beschaffung von Maschinengewehren, vereinbarte Kooperation bei Luftoperationen, Kooperation bei Logistik und bei Flugzeugen. Deutsch-französische Kooperation Deutschland, Frankreich Vertiefung der Kooperation im Erklärung vom 6.2.2012: Kooperation bei CSAR und Wege aus der europäischen Verteidigungskrise im Verteidigungsbereich (seit 1963) Verteidigungsbereich. schweren Hubschraubern geplant. Verteidigungsministerieller Prozess Bulgarien, Griechenland, Kooperation im Verteidigungsbereich. Gespräche über Übungen, Pilotenausbildung, in Südosteuropa (seit Oktober 2009) Rumänien, Zypern Luftraumüberwachung, industrielle Kooperation. Nordic-Baltic Defence Cooperation Deutschland, Polen, Gemeinsames Training, Ausrüstungs- Treffen der baltischen Staaten mit NORDEFCO, (seit 2010) Großbritannien, Island, beschaffung, Übungen. gemeinsame Übungen der Luftwaffen. Niederlande, baltische Der Verteidigungssektor reagiert Staaten, NORDEFCO-Staaten Deutsch-italienisches Abkommen Deutschland, Italien Kooperation bei U-Boot-Entwicklung, Keine Aktivitäten bekannt. (2011) Präzisionsmunition und Pilotentraining. SWP Berlin April 2013 Quelle: eigene Darstellung nach Interviews im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), März und April 2012, 15 und in der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA), März und Mai 2012.
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Eindruck, dass die EU-Staaten mit diesen Vorstößen Seite. Die EVA versucht ihr politisches Profil mit Hilfe neue Probleme schaffen. Manche ihrer Initiativen der Gent-Initiative zu schärfen und schlägt selbst erzeugen unnötige Dopplungen oder blockieren Projekte vor. Doch die Staaten akzeptieren diese einander. Der französisch-britische Verteidigungspakt Vorschläge nicht immer. Sie wollen der EVA nicht zu dupliziert ein Projekt der Europäischen Verteidi- viele Kompetenzen zugestehen, denn dies brächte die gungsagentur zur Minenbekämpfung. Um den Pakt Staaten in Zugzwang oder würde die EVA zu stark nicht zu gefährden, unterstützte Paris seit 2011 nicht machen. 29 mehr den Aufbau eines EU-Hauptquartiers, den alle Es kommt auch vor, dass die EU-Staaten Projekte ins anderen EU-Staaten befürworteten. Als Reaktion auf Gespräch bringen, die bestehende EU-Einrichtungen denselben Pakt schloss Italien ein bilaterales Abkom- unterminieren könnten. Bei der Geospatial Support men mit Deutschland, um bei unbemannten Luftfahr- Group etwa, die vor allem auf deutsche Strukturen zeugen (Unmanned Aerial Vehicle, UAV) den industri- zurückgreift und zum Beispiel geografische und ellen Anschluss nicht zu verlieren. meteorologische Informationen bereitstellt, besteht das Risiko, dass sie die Aufgaben des bereits existie- renden EU-Satellitenzentrums dupliziert. Gent: Die einzige EU-Initiative Künftig könnten die EU-Staaten sogar alte Fehler noch einmal begehen. Sie wollen innerhalb der Gent- Die Bundesrepublik hat die Gent-Initiative gemeinsam Initiative Lücken identifizieren und diese zusammen mit Schweden 2010 ins Leben gerufen und auf EU- unter Leitung einer Führungsnation schließen, doch Ebene eingebracht. Noch im selben Jahr haben die Sanktionsmechanismen oder Anreize für Beiträge gibt europäischen Partner die Initiative europäisiert und es nicht. Dieses Vorgehen erinnert an die 2001 gegrün- die EU-Institutionen (EU-Militärausschuss, EU-Militär- deten ECAP-Gruppen. Sie funktionierten nach dem stab und EVA) mit der Unterstützung beauftragt. Die gleichen Schema und wurden nach erfolglosen Jahren Staaten sollten Projekte vorschlagen, die sich für Poo- in die EVA überführt. ling und Sharing eignen könnten. Der EU-Militärstab hat aus den 300 Vorschlägen etwa 40 ausgesucht. Nach der letzten Auswahlrunde 2012 verfolgen die Zwischenfazit: Einsamer, abhängiger, Staaten nur 13 Initiativen weiter. weniger handlungsfähig Die meisten Vorschläge sind keine Reaktionen auf neue, sondern auf alte Probleme. Sie lassen sich Die erste Welle der Reaktionen auf die Finanzkrise von zurückverfolgen bis zu den Fähigkeitsinitiativen aus 2009 bis 2012 vermittelt den Eindruck, dass die EU- den Anfangsjahren der GSVP, etwa dem European Staaten mit Ausnahme Frankreichs und Großbritan- Capability Action Plan (ECAP) 28 (siehe grau unterlegte niens sich noch nicht bewusst sind, wie gravierend das Projekte in Tabelle 3). Schon damals hatten die EU- Problem und seine wahrscheinlichen langfristigen Staaten versucht, Fähigkeitslücken gemeinsam zu Folgen sind. schließen. 1. Der verteidigungsökonomische Imperativ ist noch nicht Neue Projekte haben einen Schwerpunkt im Be- in der Problemsicht der Staaten angekommen. Zumeist ver- reich Training und Ausbildung. Hier lassen sich zwar suchen die Staaten, ihre Kosten zu senken, vermeiden schnelle Erfolge erzielen, aber die Einsparpotentiale aber strukturelle Reformen. Die Verteidigungsappa- sind gering. Nur für einen Teil der Projekte gibt es rate werden so zwar kleiner und damit billiger, aber Führungsnationen, was auf mangelnde Bereitschaft nicht effizienter. Zudem schrumpft die militärische der Staaten hindeutet, die von allen anerkannten Handlungsfähigkeit. Das macht zusätzliche Investitio- Probleme anzugehen. nen dringender und zugleich weniger möglich. Die beiden parallelen Projekte (Nr. 9 und 10 in Tabelle 3) zur Satellitenkommunikation sind Beispiele für das Kompetenzgerangel zwischen den EU-Institu- 29 Interview mit Mitarbeitern der EVA, Berlin, April 2012. tionen auf der einen und den Staaten auf der anderen Mittlerweile hat es erste Fortschritte bei der Koordinierung der unterschiedlichen Initiativen gegeben. Siehe European Defence Agency, EDA Facilitates Access to Commercial SatCom 28 Burkard Schmitt, The European Union and Armaments. Getting Services for Member States, Brüssel, 28.9.2012, . SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 16
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