Wege aus der europäischen Verteidigungskrise - Christian Mölling SWP-Studie - Stiftung ...

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Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit

                                        Christian Mölling

                                        Wege aus der
                                        europäischen
                                        Verteidigungskrise
                                        Bausteine für eine Verteidigungssektorreform

                                        S8
                                        April 2013
                                        Berlin
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ISSN 1611-6372
Inhalt

5    Problemstellung und Empfehlungen

 7   Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa
 8   Europas defizitärer Verteidigungsapparat
10   Der verteidigungsökonomische Imperativ
11   Der Verteidigungssektor reagiert
16   Zwischenfazit: Einsamer, abhängiger,
     weniger handlungsfähig

19   Vier Szenarien zur Entwicklung der
     europäischen Verteidigungspolitik
19   Eine entscheidende Phase und vier Szenarien
21   Gute Gründe für ein Europa der Verteidigung

24   Als Europa handeln: Eine umfassende
     Verteidigungssektorreform
24   Empfehlungen: Bausteine einer
     Verteidigungssektorreform
30   Die deutsche Rolle in der
     europäischen Verteidigung
31   Drei Projekte für eine deutsche Rolle

34   Abkürzungsverzeichnis
Dr. Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der
   Forschungsgruppe Sicherheitspolitik
Problemstellung und Empfehlungen

Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
Bausteine für eine Verteidigungssektorreform

Europa steckt in einer tiefen Verteidigungskrise.
Der rasche und anhaltende Abbau der Verteidigungs-
budgets in den europäischen Staaten stellt die ohne-
hin geringe militärische Handlungsfähigkeit und
deren rüstungsindustrielle Basis bereits heute in
Frage. Dies betrifft nicht nur das militärische Krisen-
management (angelehnt an den englischen Begriff
auch Expeditionsfähigkeit oder Expeditionsaufgaben
genannt), sondern auch die Territorialverteidigung.
Um nicht in wenigen Jahren außerstande zu sein,
ihre verteidigungspolitischen Ziele mit militärischen
Mitteln zu erreichen, müssten die EU-Staaten die poli-
tischen Voraussetzungen dafür schaffen, sich militä-
risch effektiver zu organisieren und ihre Ressourcen
effizienter zu nutzen.
   Die Krise resultiert aus der Kombination zweier
Entwicklungen. Weil erstens alle 27 EU-Staaten die
politische Entscheidungsfähigkeit über die Belange
ihrer Streitkräfte auf nationaler Ebene behalten
wollen, sinkt ihre militärische Handlungsfähigkeit.
Schon heute können die EU-Staaten weder einzeln
noch gemeinsam jene Ziele erreichen, zu denen sie
sich in nationalen oder europäischen Strategiedoku-
menten bekannt haben. Drastisch sichtbar wurde
dies bei der Libyen-Operation 2011. Zwar hatten sich
Europas größte Militärmächte Frankreich und Groß-
britannien für ein Eingreifen entschieden. Doch ohne
die Hilfe anderer, vor allem der USA, waren sie nicht
handlungsfähig und konnten den Konfliktverlauf
militärisch nicht wesentlich bestimmen.
   Zweitens leiden die Verteidigungssektoren, also
die militärischen Fähigkeiten und deren industrielle
Basis, unter den Auswirkungen der Finanzkrise. In
der letzten Dekade konnten es die EU-Staaten noch
ignorieren, dass ihre Verteidigungsapparate kleiner
wurden. Doch der seit 2009 beschleunigte Abbau ver-
fügbarer Ressourcen löst einen Paradigmenwechsel
aus: Verteidigungshaushalte werden zum strategi-
schen Faktor europäischer Sicherheit. Nicht Interessen
und Werte der Staaten bestimmen in erster Linie, wel-
che militärischen Fähigkeiten sie vorhalten und wel-
che sie abschaffen werden. Maßgeblich ist vielmehr,
ob diese Fähigkeiten kurzfristig noch bezahlbar sind.
   Da diese Entwicklung so gravierend und bis auf
Weiteres unumkehrbar ist, wird sie die Rahmen-

                                                   SWP Berlin
                 Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
                                                    April 2013

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Problemstellung und Empfehlungen

         bedingungen für die Verteidigungspolitik der EU-          Einsätzen teilnehmen können. Das schränkt Deutsch-
         Staaten grundlegend und dauerhaft verändern. Der          lands Handlungsoptionen ein. Zum anderen wächst
         traditionelle Gegensatz zwischen nationaler Entschei-     seine Bedeutung als militärisches Rückgrat Europas:
         dungsfähigkeit und militärischer Effektivität (bis zu     Da der deutsche militärische Beitrag langsamer
         welchem Grad können die vorhandenen Streitkräfte          schmilzt als derjenige anderer Länder, wird er wich-
         politische Ziele erreichen?) erweitert sich zu einem      tiger. Deshalb fordern die EU-Partner, dass Deutsch-
         spannungsgeladenen Dreiecksverhältnis. Als dritter        land sich militärisch künftig stärker engagiert.
         Bestimmungsfaktor tritt die ökonomische Effizienz            Um ihre Verteidigungsfähigkeit zu sichern, müss-
         (wie viele Ressourcen müssen die Staaten für diese        ten die EU-Staaten eine neue Balance zwischen den
         Handlungsfähigkeit aufwenden?) hinzu.                     drei Polen Verteidigungspolitik, Verteidigungsorgani-
            Dieses neue Spannungsverhältnis schafft drei           sation und Verteidigungsökonomie finden. Sie müss-
         Herausforderungen für die EU-Staaten und ihre             ten gemeinsam Verteidigung ökonomisch effizienter
         Verteidigungsfähigkeit:                                   und militärisch effektiver gestalten. Zu diesem Zweck
          Militärische Handlungsfähigkeit erhalten. Die mili-     müssten sie die gemeinsame politische Entscheidungs-
            tärischen Fähigkeiten der EU-Staaten drohen auf        fähigkeit auf europäischer Ebene verbessern.
            ein Niveau zu sinken, mit dem diese selbst bei klei-      Dazu empfiehlt sich eine umfassende Verteidi-
            nen Operationen militärisch oder politisch keinen      gungssektorreform, unter anderem mit folgenden
            Einfluss mehr auf deren Verlauf und Ausgang haben.     Bausteinen:
          Politische Spaltung der Sicherheitsgemeinschaft          einem jährlich tagenden Verteidigungssektorrat
            verhindern. Da die EU-Staaten unterschiedlich von         der EU-Staats- und Regierungschefs, der militäri-
            der Verteidigungskrise betroffen sind und ungleich        sche und industrielle Planziele als Eckpfeiler einer
            darauf reagieren, läuft die Sicherheitsgemeinschaft       EU-organisierten Aufgabenverteilung definiert,
            der EU Gefahr auseinanderzubrechen. Wer weniger         Verträgen zur Versicherung gegen die politischen
            militärische Beiträge leisten kann, wird auch weni-       Risiken von Kooperation und Rollenspezialisierung,
            ger Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben      EU-Brigaden als Verbänden, in denen die militäri-
            können.                                                   sche Rollenverteilung praktisch umgesetzt wird,
          Gleichzeitig sparen und investieren. Wollen die EU-      (Re-)Investitionspools als Anreiz für sparsame
            Staaten in Zukunft mit kleineren Haushalten ver-          Gemeinschaftsprojekte,
            teidigungsfähig sein, müssen sie wirtschaftlicher       Preisschildern für alle militärischen Güter und
            mit ihren Ressourcen umgehen. Wo Fähigkeiten              Dienstleistungen, um Kosten transparenter zu
            jetzt schon fehlen, müssten die Staaten diese             machen, und
            Lücken durch zusätzliche Investitionen schließen.       einer Tauschbörse und einer Partneragentur für
            Weil dafür aber künftig noch weniger Ressourcen           europäische Ausrüstung.
            verfügbar sein werden, erfordert dies intensivere         Deutschland ist stark von seinen Partnern abhängig
            Absprache und Kooperation unter den EU-Staaten.        und daher in besonderer Weise an deren Handlungs-
            Bislang jedoch reagiert Europa mit nationaler Viel-    fähigkeit interessiert. Es sollte deshalb
         falt und europäischer Uneinigkeit und deshalb erfolg-      politische Koordination und Ausgleich durch ein
         los auf die Verteidigungskrise. Mittlerweile entsteht        Führungstrio in der Verteidigungspolitik (zusam-
         sogar der Eindruck, dass die Maßnahmen einiger Staa-         men mit Großbritannien und Frankreich) schaffen,
         ten eher schaden als nutzen, da sie sich auf nationale     militärische Führung übernehmen, und zwar als
         Probleme richten statt auf den Erhalt europäischer           ständige Rahmennation, und
         Handlungsfähigkeit. Auch die Bundeswehrreform              seine Präferenzen für den anstehenden industriel-
         nimmt vor allem die nationalen Gegebenheiten als             len Konsolidierungsprozess klären.
         Ausgangspunkt für Planungen.
            Deutschland ist durch die Schwäche Europas beson-      Konkret könnte Deutschland
         ders gefordert. Zum einen ist es beim Einsatz seiner       eine deutsch-französische Luftwaffe initiieren,
         Armee politisch weitaus abhängiger davon, dass Part-       einen europäischen Pool von Transporthubschrau-
         ner aus der EU mitziehen, als es etwa Frankreich oder       bern bilden,
         Großbritannien sind. Doch diese Partner, überwie-          seine militärischen und industriellen Kapazitäten
         gend kleinere Länder, könnte Berlin verlieren, wenn         bei Kampfpanzern zum Anlass nehmen, einen
         sie aufgrund von Haushaltskürzungen nicht mehr an           zentralen Pool von Panzern aufzubauen.

         SWP Berlin
         Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
         April 2013

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Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

Tabelle 1
Dimensionen der Verteidigung

Dimension                                  Fragestellung                                     Idealtypisches Ziel
Verteidigungspolitik (politisch-           Wozu dient Verteidigung? Wer bestimmt             Politische Entscheidungsfähigkeit
konzeptionelle Dimension)                  darüber und über die beiden anderen               im Hinblick auf den Einsatz
                                           Dimensionen?                                      militärischer Gewalt
Verteidigungsorganisation                  Wie wird Verteidigung organisiert, also           Militärische Effektivität
(institutionelle Dimension)                Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz
                                           militärischer Fähigkeiten?
Verteidigungsökonomie                      Welche Ressourcen benötigt                        Ökonomische Effizienz
(materielle Dimension)                     Verteidigung?

Quelle: eigene Darstellung.

Der Begriff Verteidigung umfasst in dieser Studie                         Europa steckt in einer Verteidigungskrise, weil es
Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz militärischer                    sich in allen drei Dimensionen am Scheideweg be-
Fähigkeiten im internationalen militärischen Krisen-                   findet. Zudem verstärken sich die Probleme aus den
management (im Folgenden analog zum englischen                         drei Bereichen gegenseitig. Als Reaktion auf den
Begriff Expeditionsaufgaben genannt) und in der                        langfristig anhaltenden Abbau ihrer Verteidigungs-
Landes- oder Bündnisverteidigung. 1 Verteidigung lässt                 budgets reduzieren die EU-Staaten seit 2010 rasch
sich mit drei Dimensionen erfassen (Tabelle 1). 2                      und unkoordiniert militärische Fähigkeiten.
                                                                          Die Krise hat einen verteidigungspolitischen Para-
   1 In dieser Studie wird Verteidigung nicht in Landesverteidi-
                                                                       digmenwechsel hervorgerufen. Die Staaten stellen
   gung und Expeditionsaufgaben unterteilt, denn für die
                                                                       nicht mehr die Ziele, sondern die verfügbaren Mittel
   wesentlichen Elemente der Streitkräftestruktur europäischer
   Armeen hat diese Trennung immer weniger Bedeutung.                  an den Anfang ihrer Überlegungen: Am Beginn der
   Konzeptionell stellen die Armeen Europas auf Beiträge zu            Verteidigungsreformen in Deutschland, Frankreich
   Friedensoperationen um oder wollen zusätzlich noch                  und Großbritannien stand der Ressourcenmangel.
   Landesverteidigung betreiben können. Praktisch bedeutet             Diese Entwicklung untergräbt die ohnehin geringe
   Landes- oder Bündnisverteidigung für die meisten Staaten
                                                                       militärische Handlungsfähigkeit Europas und deren
   Europas heute, expeditionsfähig zu sein, da die Verteidigung
   nicht auf ihrem eigenen Territorium stattfinden würde.              rüstungsindustrielle Basis.
   Institutionell werden Landesverteidigung und Expeditions-              Aus diesen Gründen wird Europa nicht umhin
   aufgaben in NATO und EU aus dem gleichen nationalen                 kommen, sich militärisch effektiver zu organisieren
   Truppenpool bedient. Dafür werden Armeen in kleinen                 und seine Ressourcen effizienter zu nutzen, wenn es
   Verbänden modular aufgebaut. Ihre Spezialisierung findet
                                                                       militärisch handlungsfähig bleiben will. Dafür gilt es
   erst in der Vorbereitung auf konkrete Missionen statt. Diese
                                                                       die politischen Voraussetzungen zu schaffen. Andern-
   Armeen werden aus dem gleichen Topf bezahlt und nutzen
   weitgehend das gleiche Gerät für Landesverteidigung und             falls ist Europa möglicherweise bald nicht mehr in
   Expeditionsaufgaben. Zusammenfassend hierzu Anthony                 der Lage, seine verteidigungspolitischen Ziele mit
   King, The Transformation of Europe’s Armed Forces. From the Rhine   militärischen Mitteln zu erreichen.
   to Afghanistan, Cambridge 2011. Die Überschrift dieses
   Studienkapitels ist angelehnt an Nick Witney, How to Stop
   the Demilitarisation of Europe, London: European Council on           und die Rolle internationaler Organisationen«, in: Andreas
   Foreign Relations (ECFR), November 2011 (Policy Brief).               Wenger/Victor Mauer/Daniel Trachsler (Hg.), Bulletin 2008 zur
   2 Zu den drei Dimensionen in der Fähigkeitsentwicklung                schweizerischen Sicherheitspolitik, Zürich: Center for Security
   siehe Christian Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung            Studies (CSS), 2008, S. 89–122.

                                                                                                                             SWP Berlin
                                                                                           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
                                                                                                                              April 2013

                                                                                                                                           7
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

              Die Staaten wehren sich gegen die Auswirkungen                           keiten jeweils für sich ineffektiv und miteinander
           der Verteidigungskrise. Sie sparen national und kür-                        unvereinbar organisieren.
           zen in ihren Verteidigungsapparaten. International                         Autonomiezentriertes Souveränitätsverständnis.
           wollen sie mit mehr Kooperationsprojekten ihre                              Alle Regierungen wollen eigenständig über militä-
           Sicherheitsgemeinschaft 3 stärken. Doch die meisten                         rische Angelegenheiten entscheiden, vom Kleinst-
           Aktivitäten sind von dem Wunsch getrieben, militä-                          staat Malta bis zur militärischen Mittelmacht
           risch und politisch unabhängig zu bleiben. Deshalb                          Frankreich. Doch sämtliche Länder sind in ihrer
           erreichen die Staaten das Gegenteil von dem, was sie                        Verteidigungspolitik schon lange von ihren euro-
           beabsichtigen: Weil sie nationale militärische Fähig-                       päischen Partnern abhängig. Sie sind also zur
           keiten verlieren, steigt die gegenseitige Abhängigkeit.                     Zusammenarbeit gezwungen, um ihre Interessen
           Mehr noch: Schrittweise kommen den Staaten ihre                             durchzusetzen.
           Kooperationsgegenstände abhanden, so dass die Chan-
           cen für internationale Zusammenarbeit schwinden.
              Beim Abbau der Verteidigungsfähigkeiten sind                           Libysche Symptome
           weniger die Mengen von Material und Truppen das
           Problem, sondern vor allem die immer brüchiger                            Die Operation Unified Protector in Libyen 2011 war
           werdende Fähigkeitsarchitektur. Dieses Gefüge 4 von                       nicht nur für die NATO ein Lackmustest, sondern auch
           Know-how, Führungsinstitutionen sowie Ausrüstung                          für die militärischen Fähigkeiten der EU. Die meisten
           und Infrastruktur für Militäroperationen können die                       EU-Staaten sind auch NATO-Mitglieder und stellen ihr
           Staaten mittlerweile nur noch gemeinsam zusam-                            die gleichen Kräfte zur Verfügung (single set of forces).
           menhalten. Ihre Beiträge dazu verändern die EU-Staa-                         Der Libyen-Einsatz ist zum Symbol europäischer
           ten jedoch ohne Absprache mit den Partnern und                            Handlungsunfähigkeit geworden: Weder ein Staat
           ohne langfristige Überlegungen, wie diese Architektur                     Europas allein noch die EU insgesamt kann sicher-
           in Zukunft aussehen soll. Sie drohen militärisch hand-                    heitspolitische Interessen mittels militärischer Macht
           lungsunfähig zu werden, weil sie bereits bestehende                       über eine Entfernung von nicht einmal 1000 Kilo-
           Fähigkeitslücken nicht schließen können und zudem                         metern durchsetzen.
           neue entstehen. So rutschen die EU-Staaten in immer                          Die teilnehmenden Europäer konnten den Einsatz
           mehr Bereichen unter das Niveau, das sie benötigen,                       nur schwer durchhalten und steuern. Die beiden
           um militärisch noch eine Rolle spielen zu können.                         größten europäischen Militärmächte Frankreich und
                                                                                     Großbritannien hatten zwar die politische und mili-
                                                                                     tärische Führung der Operation übernommen, waren
           Europas defizitärer Verteidigungsapparat                                  aber nicht imstande, die militärische Entscheidung
                                                                                     zu erzwingen. Dazu fehlten ihnen die Kräfte und
          Die Verteidigungskrise entstand aufgrund dreier                            Reserven, nachdem sich die USA nach drei Tagen aus
          Probleme im europäischen Verteidigungssektor:                              den unmittelbaren Angriffen zurückgezogen hatten. 5
           Abnehmende militärische Handlungsfähigkeit.                                 Damit haben die EU-Staaten ihre militärischen
            Symptomatisch für den defizitären Verteidigungs-                         Planziele weitgehend verfehlt, die sie in Form des
            apparat ist der NATO-Einsatz in Libyen. Die teil-                        Headline Goal 2010 und des Level of Ambition 2008 gemein-
            nehmenden Europäer verfügten weder über die                              sam vereinbart hatten. Nicht nur bestehen Europas
            erforderliche Ausrüstung noch über ausreichend                           Fähigkeitslücken fort, sie sind sogar größer geworden.
            einsetzbare Kräfte, um diese Operation in ver-                           Dabei handelt es sich sowohl um altbekannte Defizite
            gleichbarer Weise auch ohne die USA zustande                             bei Aufklärungsmitteln und Flugzeugen als auch um
            zu bringen.                                                              neue, überraschende Lücken bei Munition und Ersatz-
           Unzureichende Organisation. Die militärische                             teilen. 6 Viele Staaten konnten an der Operation nicht
            Handlungsfähigkeit schrumpft, weil die EU-Staaten                        teilnehmen, weil sie schlicht nicht über die Ausrüs-
            Rüstung sowie Generierung militärischer Fähig-

                                                                                        5 Michael Clarke u.a., Accidental Heroes. Britain, France and the
               3 Der Begriff stammt ursprünglich aus Karl W. Deutsch u.a.,              Libya Operation, London: Royal United Services Institute (RUSI),
               Political Community and the North Atlantic Area. International           September 2011 (RUSI Interim Libya Campaign Report).
               Organization in the Light of Historical Experience, Princeton 1957.      6 International Institute for Strategic Studies (IISS), The
               4 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2].               Military Balance 2012, Oxford 2012, S. 73ff.

           SWP Berlin
           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
           April 2013

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Europas defizitärer Verteidigungsapparat

tung verfügten. 7 Schwedische Kampfflugzeuge konn-               also Staaten und Industrien, beide Phasen aufeinander
ten zwar aufklären, aber keine Präzisionsangriffe auf            abstimmen. Das bedeutet, dass sie möglichst gleiche
Bodenziele fliegen, weil sie die Waffen hierfür nicht            Zielvorstellungen besitzen, alle Beteiligten die zur
besitzen und ihre Besatzungen die Manöver nicht                  Koordination geschaffenen Institutionen und Prozesse
beherrschen. 8                                                   nutzen und die Staaten Ressourcen gemeinsam
   Vor allem aber fehlte den Europäern das elektroni-            bereitstellen. Zudem können Staaten Gerät, das sie
sche Rückgrat, mit dem Sensoren und Waffensysteme                gemeinsam entwickeln und bauen, auch einfacher
vernetzt werden. Ohne diese globale Schnittstelle, die           zusammen bedienen, einsetzen und warten.
derzeit nur die USA bereitstellen können, ist Europa                In der EU ist das Gegenteil der Fall. Europa setzt
militärisch weitgehend blind und taub. In der NATO               zwar seit 20 Jahren gemeinsam seine Streitkräfte ein,
geht man davon aus, dass rund 90% der Militäraktio-              doch Rüstung und Fähigkeitsgenerierung finden
nen in Libyen ohne Washingtons Hilfe nicht möglich               weitestgehend national statt: 12
gewesen wären. 9                                                  Für die Fähigkeitsgenerierung in der EU haben die
                                                                    Staaten zwar viele EU-Institutionen (EU-Militärstab,
                                                                    EU-Militärausschuss, Europäische Verteidigungs-
Fähigkeitsentwicklung: Effektiv versus europäisch                   agentur) und Prozesse (Capability Development
                                                                    Plan, Headline Goal) entwickelt. Darin haben sie
Der Grund für diese operativen Schwächen liegt in                   eine gemeinsame Problemwahrnehmung und zahl-
den Defiziten der europäischen Fähigkeitsentwick-                   reiche allgemeine Zielvorstellungen formuliert
lung. Diese lässt sich grundsätzlich in zwei Phasen                 (Helsinki Headline Goal, Headline Goal 2010, Level
unterteilen. 10                                                     of Ambition 2008). Inkohärent aber bleiben bis
                                                                    heute die Antworten auf die konzeptionelle Frage,
In der Rüstungsphase 11 wird durch Forschung, Entwick-              welche Streitkräfte für welche Einsätze die Staaten
lung, Tests und Produktion neue Ausrüstung geschaf-                 in der Praxis vorhalten sollten.
fen. Hier spielt die verteidigungsindustrielle Basis eine           Die EU-Staaten haben sich bemüht, gemeinsame
große Rolle. Sie besteht aus Labors, Firmen, Wissen,                Fähigkeiten bereitzustellen, bislang jedoch weit-
Werkstoffen und anderem. Durch technologische                       gehend ohne Erfolg. Ausnahmen sind EU-Battle-
Innovation, Rüstung, aber auch Wartung trägt die                    groups, Planungsfähigkeiten und strategischer
verteidigungsindustrielle Basis zur militärischen                   Lufttransport. Es bleiben erhebliche Fähigkeits-
Handlungsfähigkeit bei.                                             lücken. Der EU ist es bisher nicht gelungen, ihre
Die Fähigkeitsgenerierung umfasst Planung, Aufstellung,             Mitglieder zu Beiträgen jenseits ihrer nationalen
Organisation und Betrieb von Streitkräften. Dies                    Fähigkeitsbedarfe zu bewegen.
beinhaltet die Ausbildung der Soldaten ebenso wie                 Die Staaten organisieren Rüstung überwiegend
Dienstleistungen an Gerät.                                          außerhalb des EU-Rahmens. Maßgeblich sind dabei
                                                                    nicht so sehr gemeinsame sicherheitspolitische
Fähigkeitsentwicklung ist umso effektiver und                       Bedürfnisse, sondern vielmehr nationale Industrie-,
effizienter, je besser die beteiligten Akteursgruppen,              Technologie- und Strukturpolitiken. Letztere stehen
                                                                    im Widerspruch zu einer internationalisierten
  7 Karen DeYoung/Greg Jaffe, »NATO Runs Short on Some              Markt- und Industriestruktur. Mit Hilfe von Artikel
  Munitions in Libya«, in: The Washington Post, 15.4.2011,          346 im Vertrag über die Funktionsweise der EU
   (Zugriff       Staaten den Druck abgewehrt, ihre nationalen
  am 29.5.2012).
                                                                    Beschaffungsverfahren und Marktregeln zu euro-
  8 Paul Smyth, »Libya: Is NATO Doing Enough?«, RUSI Analysis,
  15.4.2011,  (Zugriff am 29.5.2012).                              ihre Rüstungsgüter vom Wettbewerb auf dem EU-
  9 Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab,               Binnenmarkt auszuschließen, wenn sie dadurch
  24.6.2011; Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab,      ihre nationale Sicherheit bedroht sehen. Juste
  27.11.2011.
  10 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2].
  11 Zur Rüstung allgemein und als Prozess siehe Michael            12 Tomas Valasek, Surviving Austerity. The Case for a New
  Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860–1980, Frankfurt am Main      Approach to EU Military Collaboration, London: Centre for
  1984, S. 9–23.                                                    European Reform (CER), April 2011, S. 1.

                                                                                                                        SWP Berlin
                                                                                      Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
                                                                                                                         April 2013

                                                                                                                                 9
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

            Retour bedeutet, dass Aufträge in internationalen   Staaten zusammen über 190 Milliarden Euro an Mili-
            Rüstungsprojekten nicht an den besten Anbieter      tärbudgets. Stattdessen verwalten 27 Verteidigungs-
            vergeben werden, sondern an die Firmen der betei-   ministerien von Malta bis Frankreich 27 Armeen mit
            ligten Staaten, prozentual entlang der Kaufanteile, 3000 bis 300 000 Soldaten.
            die die Staaten in dem Projekt haben.                  Damit nicht genug: Diese Praxis und ihre Folgen
            Aus diesen Gründen bleiben internationale Rüs-      untergraben den eigenen Souveränitätsanspruch.
            tungskooperation und Beschaffung intergouverne-     Dieser leitet sich auch im traditionellen Verständnis
            mental organisiert. EU-Gemeinschaftsinstrumente     daraus ab, nicht nur entscheiden, sondern auch
                                           13
            wie die Beschaffungsdirektive spielen de facto      effektiv handeln zu können, um Probleme zu lösen. 15
            bislang keine Rolle. Daher ist der europäische      Kein Staat in Europa aber besitzt derzeit eine solche
            Rüstungssektor von 27 einzelstaatlichen Regel-      autonome militärische Handlungsfähigkeit. Libyen
            werken für Ordnungs-, Industrie- und Technologie-   war 2011 der jüngste Nachweis dafür. Schon länger
            politik gekennzeichnet. So entstehen unter ande-    sind die wenigsten Länder in der Lage, mehr als 1000
            rem beträchtliche Überkapazitäten in der Produk-    Mann jenseits ihrer Grenzen zu verlegen und zu
            tion, die die Erzeugnisse verteuern und die Nach-   versorgen. 16
            frage des europäischen Marktes weit übersteigen.       Der nationale Entscheidungsvorbehalt verhindert
            Kosten, die die Unternehmen nicht über den Export zugleich, dass sich die Staaten auf die gemeinschaft-
            auffangen können, geben sie an die Staaten wei-     liche Stärkung militärischer Handlungsfähigkeit ein-
            ter. 14                                             lassen. Sie fürchten, dass ein Partner aus einer Koope-
           Die Phasen Rüstung und Fähigkeitsgenerierung        ration jederzeit aussteigen könnte und sie deshalb 17
            werden in der EU nicht aufeinander abgestimmt. In  in einem Einsatz allein gelassen werden, weil ein
            beiden Bereichen sind weder die jeweiligen Institu-    Partner seine Truppen zurückzieht,
            tionen der EU und der Staaten miteinander ver-       nicht in den Einsatz gehen können, weil ein Partner
            bunden noch die Konzepte für Fähigkeitsentwick-        mit wichtigen Fähigkeiten sich nicht beteiligt,
            lung und Ausrüstung. Auch intergouvernemental        auf ihre Kosten einem Partner Sicherheit verschaf-
            ist es die Ausnahme, dass Ausrüstung gemeinsam         fen, ohne dass er eigene Beiträge liefert (Trittbrett-
            konzipiert wird und sich so die Chance eröffnet,       fahren).
            dass Streitkräfte diese Produkte gemeinsam kaufen
            und nutzen. In der Regel entwickeln und beschaf-
            fen die Staaten parallel und konkurrierend.         Der verteidigungsökonomische Imperativ

                                                                                            Die Probleme der europäischen Verteidigungsfähig-
           Grundproblem Souveränität:                                                       keit verschmelzen seit 2009 mit jenen, die aus der
           Entscheidungsfähigkeit vor Handlungsfähigkeit                                    Finanzkrise erwachsen. Aus der schnellen, starken
                                                                                            und für die Zukunft anhaltenden Reduzierung in den
           Die Ineffizienzen in der europäischen Fähigkeits-                                öffentlichen Haushalten entsteht für die meisten EU-
           entwicklung sind die Kehrseite des Souveränitäts-                                Staaten ein verteidigungsökonomischer Imperativ:
           anspruchs aller EU-Staaten, also des Bestrebens, in                              Die EU-Staaten müssen ihre Verteidigungshaushalte
           militärischen Angelegenheiten national autonom                                   kürzen, dürfen dies aber nicht unkontrolliert tun,
           entscheidungsfähig zu sein.                                                      sondern sollten gleichzeitig eine gemeinsame Verteidi-
              Eine Folge davon ist militärische Kleinstaaterei in
           Europa. Sie verhindert, dass die Staaten von Effektivi-
                                                                                              15 Advisory Council on International Affairs (Hg.), European
           tätsgewinnen profitieren, die sie durch mehr Koope-
                                                                                              Defence Cooperation. Sovereignty and the Capacity to Act, Nr. 78,
           ration erzielen könnten. Immerhin verfügen die EU-                                 Den Haag, Januar 2012, S. 11ff; Philipp Genschel/Bernhard
                                                                                              Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität
                13 Directive 2009/81/EC of the European Parliament and of the                 des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2007) 20–21, S.
                Council of 13 July 2009 on the Coordination of Procedures for the             10–16.
                Award of Certain Works Contracts, Supply Contracts and Service                16 European Defence Agency (EDA), Defence Data: EDA Partici-
                Contracts by Contracting Authorities or Entities in the Fields of Defence     pating Member States in 2010, Brüssel 2012, S. 34–39.
                and Security, Brüssel, 13.7.2009.                                             17 Claudia Major/Christian Mölling/Tomas Valasek, Smart but
                14 Keith Hartley, The Economics of Defence Policy. A New Perspec-             Too Cautious. How NATO Can Improve Its Fight against Defence
                tive, Abingdon/New York 2011.                                                 Austerity, London: CER, Mai 2012 (Policy Brief).

           SWP Berlin
           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
           April 2013

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Der Verteidigungssektor reagiert19F

gungsstruktur erhalten. Weniger ihre Interessen und                    werden, indem sie Haushalte, Betriebskosten und
Werte, sondern ihre Finanzen bestimmen darüber,                        Beschaffungen kürzen. Auf internationaler Ebene
welche militärischen Fähigkeiten vorhanden sind,                       wollen sie seit 2009 mit Pooling und Sharing militäri-
welche abgeschafft werden und welche militärischen                     sche Fähigkeiten bündeln sowie Aufgaben und Aus-
Ziele verfolgt werden sollen.                                          rüstung teilen. Dieser theoretisch richtige Ansatz
   Mittelfristig, so die Annahme, wird kein Staat                      wird bislang jedoch nicht in die Praxis umgesetzt:
seinen Verteidigungssektor vor einer Senkung der                       Statt mit Pooling und Sharing die Verteidigung öko-
Verteidigungsausgaben schützen können. Der Grund                       nomisch effizienter und militärisch effektiver zu
dafür liegt im langfristigen Sparzwang für Europas                     gestalten, bleiben die Staaten bei der klassischen
öffentliche Haushalte. Ihre Schuldenstände stellen                     Form von Verteidigungskooperation, in welcher der
eine dauerhafte Belastung dar. Zudem wächst die                        nationale Entscheidungsvorbehalt zentraler Bestim-
Neuverschuldung Europas zunächst krisenbedingt                         mungsfaktor ist. So vergrößern sie die bereits be-
weiter. Damit steigen die Überschuldungsrisiken                        stehenden Unterschiede zwischen zunehmend ent-
für die öffentlichen Haushalte und Finanzsysteme.                      militarisierten und militärisch noch handlungsfähi-
Weiterer Schuldenabbau ist also unumgänglich.                          gen Staaten. Der Sicherheitsgemeinschaft droht die
   Neben dieser allgemeinen Notwendigkeit zu sparen                    Spaltung.
erhöhen die Folgen des demographischen Wandels
und die potentiell sinkende Legitimation für Streit-
kräfte den Druck, Mittel aus dem Verteidigungsbudget                   Sparen und reformieren:
in andere Haushalte umzuverteilen, etwa weil die                       Die Ineffizienz nationaler Alleingänge
alternde Bevölkerung mehr Geld im Gesundheits-
sektor beansprucht. 18                                                 Seit 2009 sind auch die Verteidigungsbudgets von
   Das Schuldenproblem verlagert sich in die Zukunft:                  Einschnitten in die öffentlichen Haushalte betroffen.
20 Jahre müssten die EU-Staaten sparen, um wieder                      Die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Verteidi-
das Schuldenniveau von vor der Finanzkrise 2008                        gungssektoren und auch die Maßnahmen, die die
zu erreichen, so eine Simulation der Europäischen                      Staaten ergreifen, variieren jedoch erheblich.
Kommission. Über diesen Zeitraum müssten die                              Das liegt an den jeweiligen finanziellen Reserven
Staaten 1% ihres BIP, derzeit 120 Milliarden Euro pro                  der Länder, den unterschiedlichen wirtschaftlichen
Jahr, allein zur Tilgung der Schulden aufwenden. 19                    Traditionen im Umgang mit Staatsschulden und der
                                                                       Priorität, die Staaten der Verteidigung einräumen.
                                                                       Darüber hinaus sind die Staaten an längerfristige
Der Verteidigungssektor reagiert 20                                    Verträge gebunden, etwa bei Rüstung und Personal.
                                                                       Wenn überhaupt, lassen sich diese nur mit hohen
Als die Finanzkrise Europas Verteidigungshaushalte                     zusätzlichen Kosten auflösen.
erreichte, reagierten die Staaten überrascht. Auf natio-                  Die größten Einsparungen in den Verteidigungs-
naler Ebene versuchen sie der roten Zahlen Herr zu                     haushalten 2010 und 2011 haben mit 30% derzeit
                                                                       vor allem kleinere Mitgliedstaaten geplant oder um-
  18 Christian Mölling/Sophie-Charlotte Brune, The Impact of the
                                                                       gesetzt. Die meisten mittleren EU-Staaten haben Kür-
  Financial Crisis on European Defence, Brüssel: Directorate-General   zungen um etwa 10 bis 15% beschlossen. Die großen
  fro External Policies, April 2011, S. 34–37.                         EU-Staaten kommen bislang mit Minderungen unter
  19 European Commission, Annual Growth Survey. Macro                  8% davon, wie Deutschland und Großbritannien.
  Economic Report, Annex 2, COM(2011) 11 final, Brüssel,               Ausnahmen von der Regel waren bis 2011 zum Bei-
  12.1.2011. Der Simulation liegen zwei Annahmen zugrunde,
                                                                       spiel Polen, Finnland und Frankreich, deren Budgets
  nämlich dass zum einen sofort und in hinreichender Höhe
  mit dem Sparen begonnen und zum anderen es keine                     zunächst entweder wuchsen oder wenigstens nicht
  weiteren Schocks geben wird. Einiges deutet darauf hin, dass         nennenswert sanken. Dieses Bild änderte sich 2012:
  diese beiden Annahmen nicht realistisch sind. Striktes               Finnland beschloss Streichungen um 30% bis 2015, für
  Sparen fällt vielen Ländern schwer. Aus den prognostizierten         Frankreich werden Reduzierungen um 3 bis 5% pro
  20 Jahren für den Schuldenabbau könnten so auch 25 Jahre
                                                                       Jahr diskutiert.
  oder mehr werden.
  20 Dieses Kapitel baut auf Forschungsergebnissen des Autors
                                                                          Trotzdem halten die EU und die Mehrzahl ihrer
  auf, siehe Mölling/Brune, The Impact of the Financial Crisis [wie    Mitglieder an ihren militärischen Ambitionsniveaus fest.
  Fn. 18].                                                             Nach wie vor würden die größeren Staaten gern das

                                                                                                                           SWP Berlin
                                                                                         Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
                                                                                                                            April 2013

                                                                                                                                   11
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

           gesamte Spektrum der militärischen Fähigkeiten,                      lange Frist geschlossen. Zwar könnten sich auf Dauer
           auch für konventionelle Kriege, auf dem jetzigen                     Abfindungen für diejenigen rechnen, die bereit sind,
           Niveau vorhalten. Doch dafür reichen die Budgets                     ihren Vertrag eher aufzulösen. Das verursacht aber
           nicht. Daher haben zwei der drei größten Truppen-                    kurzfristig zusätzliche Kosten.
           steller, Deutschland und Großbritannien, ihre Ambi-                     Fast alle Staaten kürzen beim Betrieb der Streit-
           tionen gesenkt. Sie wollen in Zukunft etwa ein Drittel               kräfte. In einer ersten Reaktion legten sie altes Gerät
           weniger Soldaten einsatz- und durchhaltefähig halten                 still und schränkten den Betrieb ein, um dessen Kos-
           und auch an weniger Plätzen gleichzeitig kämpfen                     ten zu reduzieren. Wo dies nicht reicht, stellen sie
           können. Frankreich dürfte 2013 folgen, nachdem es                    auch modernes Gerät außer Dienst, wie deutsche Pan-
           sein neues Verteidigungsweißbuch veröffentlicht hat.                 zer, britische Flugzeugträger oder dänische U-Boote.
           Allen dreien dürfte es künftig schwerer fallen, ihre                 Nach dieser ersten sichtbaren Welle geht der Abbau
           Verbände durchhaltefähig und ökonomisch effizient                    nun in kleinen, unspektakulären Schritten weiter.
           zu betreiben.                                                        Spanien musterte 2012 seinen Flugzeugträger aus
               Die kleinen und einige mittlere EU-Staaten stellen               und auch die Seemacht Großbritannien nimmt Schiffe
           zunehmend auf Nischenbeiträge zu Stabilisierungs-                    aus dem aktiven Dienst.
           operationen um. 21 Offiziell jedoch lehnen die meisten                  Einsparungen bei laufenden Beschaffungen, etwa
           europäischen Staaten diese Rollenspezialisierung (also               dem Transportflugzeug A400M oder dem Eurofighter,
           das Aufgeben bestimmter Fähigkeiten und die Kon-                     böten sich an, denn deren Stückzahlen sind über-
           zentration auf einige wenige Nischen) ab, weil sie die               dimensioniert. Als tückisch erweist sich jedoch, wenn
           damit verbundene gegenseitige Abhängigkeit nicht                     Staaten versuchen, diese Kosten zu vermeiden oder
           akzeptieren wollen.                                                  zu kompensieren, indem sie das Gerät sofort weiter-
               De facto findet aber bereits seit Jahren Rollenspezia-           verkaufen. Wenn Länder laufende Verträge kündigen,
           lisierung unter den EU-Staaten statt. Damit wachsen                  müssen sie Strafen bezahlen, die so hoch sind wie die
           die gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Finanzkrise hat                möglichen Einsparungen. Beim Verkauf machen sich
           die von den Staaten national ins Auge gefasste Spezia-               die Staaten gegenseitig Konkurrenz auf den Export-
           lisierung nicht gerade beschleunigt. Anstatt entlang                 märkten. Außerdem kommen sie den europäischen
           militärischer Zielvorgaben kürzen die Staaten nun                    Rüstungsindustrien ins Gehege, die auf diesen Märk-
           dort, wo sie schnell Gelder freisetzen können.                       ten direkt verkaufen wollen. Es entspinnt sich ein
               Dabei nehmen sie wenig Rücksicht darauf, dass sie                Unterbietungswettlauf wie etwa beim Eurofighterdeal
           in einem System kollektiver Sicherheit handeln und                   in Indien. 23
           deshalb ihre Sparmaßnahmen unmittelbare Folgen                          Überdies entsteht in Europa ein Graben zwischen
           für ihre NATO- und EU-Partner haben. Indem sie ihre                  den Modernisierern und den Zurückbleibenden.
           Kampfpanzer abschafften, haben die Niederlande                       Neben den Vertragsstrafen fürchten vor allem die
           nicht nur sich selbst auf ihre verbleibenden Fähig-                  großen Staaten die drohende Modernisierungslücke
           keiten spezialisiert. Auch Deutschland und Frankreich                und die sinkenden Investitionen in ihre Rüstungs-
           sind unfreiwillig zu Rollenspezialisten geworden, weil               firmen. Deshalb fahren große Staaten mit eigener
           sie nun die einzigen sind, die nennenswerte Arsenale                 Rüstungsindustrie fort, ihre Arsenale zu erneuern,
           von Kampfpanzern besitzen. 22                                        zwar langsamer als geplant, aber kontinuierlich.
               Die EU-Staaten wählen sehr unterschiedliche Wege,                Dagegen sind viele mittlere und kleinere Länder
           um die Kürzungen auf ihre Verteidigungsapparate                      gezwungen, Beschaffungs- oder Modernisierungs-
           zu übertragen. In einer ersten Reaktion haben viele                  projekte zu verschieben oder sogar aufzugeben.
           Staaten weitreichende Einschnitte bei Personal, Be-                     Im Rüstungsbereich driften die Strategien der
           trieb und Beschaffung angekündigt.                                   Regierungen und die der Rüstungsindustrien immer
               Personalkosten beanspruchen einen großen Anteil in               weiter auseinander. Die großen Rüstungskonzerne
           den EU-Militärhaushalten, doch große Einsparungen                    in Europa schauen sich verstärkt auf den Märkten in
           sind hier kaum zu erwarten. Verträge sind oft auf                    Asien und im Nahen Osten um, denn Europas Ver-

                21 Finnland, Schweden und Griechenland halten an der              23 Marcel Dickow/Detlef Buch, Europäische Rüstungsindustrie:
                Landesverteidigung als Kernaufgabe fest.                          Kein Heil im Export. Der gescheiterte Eurofighter-Deal verdeutlicht die
                22 Christian Mölling, Pooling and Sharing in the EU and NATO,     Notwendigkeit zur Zusammenarbeit und Konsolidierung, Berlin:
                Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2012 (SWP         Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2012 (SWP-Aktuell
                Comments 18/2012).                                                12/2012).

           SWP Berlin
           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
           April 2013

           12
Der Verteidigungssektor reagiert19F

teidigungsmarkt werden magere Jahre prophezeit.                        Dezember 2010 haben sie Pooling und Sharing zum
Schätzungen sagen einen Marktrückgang bis 2016 um                      wichtigen Instrument zur Verbesserung ihrer militä-
3% voraus. Andere Märkte, zum Beispiel in Asien oder                   rischen Fähigkeiten erklärt. Pooling und Sharing
Südamerika, werden hingegen im selben Zeitraum                         bedeutet, dass die Staaten militärische Fähigkeiten
voraussichtlich um 4 bis 6% wachsen. 24 Die meisten                    bündeln oder Aufgaben und Ausrüstung teilen. Da-
großen Rüstungsunternehmen sind ohnehin weit-                          hinter steht die plausibel klingende Annahme, dass
gehend internationalisiert und haben so ihre Abhän-                    die Staaten vom geplanten Zusammenlegen militäri-
gigkeit vom europäischen Markt reduziert. 25 Doch                      scher Fähigkeiten ökonomisch profitieren. 26 In der
mittlerweile schlägt die rückläufige Nachfrage nach                    Praxis jedoch etikettieren die Staaten bestehende
Rüstungsgütern in Europa sich in einem Rückgang                        Verteidigungskooperationen zumeist nur um, behal-
der Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten nieder.                   ten aber die alten Kooperationsprojekte bei. Der darin
   Gelingt es den großen Firmen, sich weiter zu                        enthaltene Vorrang nationaler Entscheidungsfähigkeit
internationalisieren, verlieren die EU-Staaten mit                     blockiert das geplante Zusammenlegen militärischer
ihren schrumpfenden Märkten stetig an Bedeutung                        Fähigkeiten und damit eine erhöhte Wirtschaftlich-
für sie. Für die Europäer wiederum wird es noch                        keit. Wirklich neu ist nur die Gent-Initiative.
schwerer, ausreichend Rüstungsgüter national zu
beschaffen.                                                            Was ist Pooling und Sharing?
   Die EU-Staaten wollen diese Effekte jedoch bisher
                                                                       Sharing
nicht wahrhaben. Stattdessen versuchen sie immer
                                                                       Ein oder mehrere Länder stellen den Partnern eine
noch, Verteidigungsindustrien, die im eigenen Land
                                                                       Fähigkeit oder Ausrüstung (etwa Transportflugzeuge)
Produktionsstätten betreiben, als nationale Industrien
                                                                       zur Verfügung oder übernehmen eine Aufgabe für
zu definieren und zu erhalten. Die Staaten denken
                                                                       andere. Geschieht dies dauerhaft, müssen die Partner
nicht darüber nach, im EU-Rahmen die Überkapazi-
                                                                       diese Fähigkeit nicht mehr selbst vorhalten. Ein Bei-
täten in der Produktion zu beseitigen. Nach wie vor
                                                                       spiel ist der Schutz des baltischen Luftraums, den die
verhindern sie auch, dass die Nachfrage gebündelt
                                                                       NATO-Staaten abwechselnd übernehmen (Air Policing),
wird. All dies hat zur Folge, dass kostensparende, weil
                                                                       so dass die baltischen Staaten die Kosten für eine Luft-
größere Produktionslose (also Stückzahlen eines
                                                                       waffe sparen.
bestimmten Rüstungsguts) nicht möglich werden.
   Die Finanzkrise beeinträchtigt zunehmend inter-                     Pooling
nationale Einsätze und bewirkt, dass Staaten ihre                      Auch beim Pooling werden nationale Fähigkeiten
Truppen eher als geplant zurückbeordern. Ab 2009                       anderen zur Verfügung gestellt. Dafür wird eigens eine
reorganisierten die EU-Staaten ihre Beiträge zu Ein-                   multinationale Struktur eingerichtet, die diese Beiträge
sätzen zunächst stärker entlang nationaler Prioritä-                   zusammenfasst und ihren Einsatz koordiniert. Ein Bei-
ten. Bis 2010 blieb der Rückzug von Truppen oder                       spiel ist das European Air Transport Command (EATC).
Ausrüstung die Ausnahme. Seit 2011 aber ziehen die                         Pooling kann bei Entwicklung, Beschaffung und
Staaten, beispielsweise Italien oder Griechenland,                     späterem Betrieb gemeinsamer Geräte greifen. So lassen
immer mehr Soldaten und Material aus laufenden                         sich entweder größere Stückzahlen erreichen oder
Einsätzen ab.                                                          Staaten beschaffen eine Fähigkeit gemeinsam, die einer
                                                                       allein aufgrund hoher Kosten nicht bereitstellen könn-
                                                                       te. Beispiele für gemeinsame Anschaffung und Betrieb
Pooling und Sharing: Internationaler Königsweg?                        sind die AWACS-Radarflugzeuge.

Nachdem die EU-Staaten zunächst rein national
reagierten, bemühen sie sich seit 2010 um internatio-                    26 Stellvertretend für die Debatte siehe Bastian Giegerich/
nale Zusammenarbeit. Mit dem Ratsbeschluss im                            Alexander Nicoll, »The Struggle for Value in European
                                                                         Defence«, in: Survival: Global Politics and Strategy, 54 (2012) 1,
  24 Guy Anderson, Major Defence Markets in an Age of Austerity –        S. 53–82; Sven Biscop/Jo Coelmont, Military Capabilities: From
  Trends and Developments, IHS Jane’s Report, London, Oktober            Pooling & Sharing to a Permanent and Structured Approach, Brüssel:
  2011.                                                                  Egmont Royal Institute for International Relations, Septem-
  25 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)            ber 2012 (Security Policy Brief Nr. 37); Dick Zandee, »How
  (Hg.), SIPRI Yearbook 2012. Armaments, Disarmament and Internatio-     Governments Should Compensate for Defence Spending
  nal Security, Oxford 2011, S. 232f.                                    Cuts«, in: Europe’s World, Frühjahr 2010, S. 30–33.

                                                                                                                              SWP Berlin
                                                                                            Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
                                                                                                                               April 2013

                                                                                                                                        13
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

           Lehren aus bisherigen Verteidigungskooperationen           Weimar, Gent und Co.: Neuer Aktivismus,
                                                                      wenig Ergebnisse
          Verteidigungskooperation praktizieren die EU- und
          NATO-Staaten schon lange. Doch die rund 100 Pro-            Als Reaktion auf die wachsenden Probleme bei der
          jekte, die seit den 1950er Jahren entstanden, haben         Finanzierung ihrer Militärapparate haben die Mit-
          weniger gemein, als die Bezeichnung vermuten lässt.         gliedstaaten seit 2009 eine Reihe bi- und multilatera-
          Vor allem verfolgen diese traditionellen Kooperatio-        ler Initiativen angeregt (Tabelle 2). Neu im Wortsinne
          nen keinen gemeinsamen Spar- oder Effektivitäts-            ist jedoch nur die Gent-Initiative (Tabelle 3). Alle
          gedanken, sondern individuelle, teilweise divergieren-      anderen bauen auf bestehenden Kooperationsbezie-
          de Ziele.                                                   hungen auf.
             Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Teilnehmer,         Die Finanzkrise hat also vor allem alten Formen
          Auslöser und Kooperationsgegenstände. Um die 20%            der Zusammenarbeit neuen Auftrieb gegeben.
          aller Initiativen sind bilaterale Kooperationen; 60%        Gemeinsam mit den neuen Initiativen entsteht ein
          der Kooperationen weisen nicht mehr als fünf Partner        noch komplexeres, unübersichtlicheres Netz aus
          auf. Mit Ausnahme der NATO-Führungsstrukturen gibt          überlappenden Kooperationen. Die Anzahl der Teil-
          es derzeit keine Projekte, in denen alle EU- oder NATO-     nehmer variiert stark, die Ziele sind oft nur vage
          Partner gleichzeitig zusammenarbeiten.                      formuliert. Tatsächlich können bis heute nur wenige
             Für solche Kooperationen gibt es vielfältige Aus-        dieser Initiativen über den neuen Aktivismus hinaus
          löser. Zum Beispiel tun sich Nutzer gleicher Ausrüs-        Ergebnisse vorweisen.
          tung zusammen, etwa bei Torpedos oder Flugzeugen,              Zwar fällt positiv auf, dass einige Kooperations-
          oder die Staaten können nur mit vereinten Kräften           gruppen jetzt untereinander kooperieren möchten.
          eine Lücke schließen, die alle betrifft, wie beim stra-     Die Beneluxstaaten wollen mit Partnern aus der
          tegischen Lufttransport.                                    Nordic-Baltic Defence Cooperation zusammenarbei-
             Diese Diversität erklärt sich daraus, dass die Staaten   ten, die Länder der Nordic Defence Cooperation
          sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber haben,          (NORDEFCO) mit den baltischen Staaten. Doch bisher
          was Gegenstand von Kooperation sein kann. Faktoren          fügen all diese neuen Initiativen dem vorhandenen
          für deren Zustandekommen und Erfolg sind wenig              Flickenteppich von Kooperationen nur weitere Flicken
          untersucht. Dennoch lassen sich einige Charakteristi-       hinzu. Die Projekte spiegeln nicht das Engagement
          ka derzeitiger Kooperationen skizzieren:                    für eine gemeinsame Verteidigungsfähigkeit wider,
           Die Projekte kommen regelmäßig von unten nach             sondern den Wunsch der Staaten, deren jeweilige
             oben (bottom up) zustande. Initiatoren sind also die     nationale Vorstellung von europäischer Verteidigung
             Staaten, nicht EU oder NATO. Mit Erfolg unter-           möge durch andere unterstützt beziehungsweise
             stützen internationale Organisationen einige Initia-     finanziert werden. Selbst die Befürworter von Pooling
             tiven. So hat die EU den Aufbau der EU-Battlegroups      und Sharing unter den Staaten Europas versuchen,
             koordiniert, und die Europäische Verteidigungs-          mit so wenig Wandel wie möglich auszukommen.
             agentur (EVA) organisiert das gemeinsame Hub-               Insgesamt lassen sich drei Gruppen von Staaten
             schrauberpilotentraining und die gemeinsamen             mit unterschiedlichen Sichtweisen zu Pooling und
             Investitionsprogramme.                                   Sharing identifizieren: Die Aktivisten, wie die Nieder-
           Projekte entstehen zumeist dann, wenn mehrere             lande und Deutschland, bemühen sich um weiter-
             Faktoren zusammenwirken, wie ähnliche strategi-          gehende Kooperation im Verteidigungsbereich, die
             sche Kultur, bestehende politische Kooperation,          Pessimisten, wie Großbritannien, sind nicht überzeugt,
             regionale Nähe, ähnliche Größe des Landes und der        dass Zusammenarbeit allgemein substantielle Vorteile
             Streitkräfte, gleiches Verständnis der Kooperations-     bringt, und die Spezialisten, wie Tschechien und Slo-
             ziele, Vertrauen und Solidarität unter den Partnern      wenien, wollen ihre Nischenfähigkeiten durch diese
             sowie gleiche Wettbewerbsbedingungen für die             Kooperation erhalten.
             Verteidigungsindustrien. 27                                 Zu Beginn der neuen Kooperationswelle war nicht
                                                                      klar, ob sie Vorbote eines neuen gemeinsamen politi-
                                                                      schen Ansatzes auf EU-Ebene sein oder vielmehr den
                                                                      politischen und militärischen Rahmen der Gemein-
                                                                      samen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
                27 Valasek, Surviving Austerity [wie Fn. 12].         schwächen würde. Nun aber verstärkt sich der

           SWP Berlin
           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
           April 2013

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Tabelle 2
                                                     Wichtige multilaterale Initiativen zu Pooling und Sharing (2009–2012)

                                                     Initiative                            Partner                      Ziele                                           Stand (Mai 2012)
                                                     Weimarer Dreieck (seit 1992)          Deutschland, Frankreich,     Im militärischen Bereich: Battlegroups,       Weimar Battlegroups 2013 (waren schon vor Revitalisie-
                                                                                           Polen (mit Italien und       Fähigkeitsentwicklung, ständige zivil-        rung des Weimarer Dreiecks geplant). Frankreich hatte
                                                                                           Spanien: »Weimar plus«)      militärische Planungs- und Führungsfähigkeit. während der polnischen Ratspräsidentschaft 2011 das
                                                                                                                                                                      Interesse an der Initiative verloren. Keines der gesetzten
                                                                                                                                                                      Ziele ist bislang erreicht worden. Initiative wurde 2012
                                                                                                                                                                      revitalisiert, um Italien und Spanien erweitert und auf
                                                                                                                                                                      zivile Fähigkeiten ausgedehnt.
                                                     Nordic Defence Cooperation            Dänemark, Finnland,          Gemeinsames Training, Ausrüstungs-              Gemeinsame Beschaffung neuer Haubitzen (Norwegen,
                                                     (NORDEFCO) (seit 2009)                Norwegen, Schweden           beschaffung, Übungen, Rollenteilung.            Schweden) und eines gemeinsamen Transportflugzeugs,
                                                                                                                                                                        Gespräche über Nutzung des finnischen Luftraums für
                                                                                                                                                                        Training schwedischer Piloten.
                                                     Französisch-britischer Vertrag        Frankreich,                  Maßnahmenpakete für 13 Felder, u.a.             Expeditionsverband wurde aufgebaut und trainiert
                                                     (Lancaster House Treaty)              Großbritannien               Expeditionsverband unter wechselndem            zusammen, Kooperation bei Nuklearwaffen und Flugzeug-
                                                     (November 2010)                                                    Kommando, gemeinsame Nutzung von                trägern hat begonnen, offensichtliche Probleme bei
                                                                                                                        Flugzeugträgern und Nuklearforschungs-          Drohnen und Rüstungsprojekten.
                                                                                                                        einrichtungen, Pilotenausbildung und
                                                                                                                        Wartung für A400M, Entwicklung von UAVs.
                                                     Visegrád-Vier (V4) (seit 1991)        Polen, Ungarn,               Kooperation im Verteidigungsbereich.            Die V4 stellen im Jahr 2016 eine Battlegroup. Gespräche
                                                                                           Tschechien, Slowakei                                                         über gemeinsame Beschaffung von Maschinengewehren,
                                                                                                                                                                        vereinbarte Kooperation bei Luftoperationen, Kooperation
                                                                                                                                                                        bei Logistik und bei Flugzeugen.
                                                     Deutsch-französische Kooperation      Deutschland, Frankreich      Vertiefung der Kooperation im                   Erklärung vom 6.2.2012: Kooperation bei CSAR und
     Wege aus der europäischen Verteidigungskrise

                                                     im Verteidigungsbereich (seit 1963)                                Verteidigungsbereich.                           schweren Hubschraubern geplant.
                                                     Verteidigungsministerieller Prozess   Bulgarien, Griechenland,     Kooperation im Verteidigungsbereich.            Gespräche über Übungen, Pilotenausbildung,
                                                     in Südosteuropa (seit Oktober 2009)   Rumänien, Zypern                                                             Luftraumüberwachung, industrielle Kooperation.
                                                     Nordic-Baltic Defence Cooperation     Deutschland, Polen,       Gemeinsames Training, Ausrüstungs-                 Treffen der baltischen Staaten mit NORDEFCO,
                                                     (seit 2010)                           Großbritannien, Island,   beschaffung, Übungen.                              gemeinsame Übungen der Luftwaffen.
                                                                                           Niederlande, baltische

                                                                                                                                                                                                                                   Der Verteidigungssektor reagiert
                                                                                           Staaten, NORDEFCO-Staaten
                                                     Deutsch-italienisches Abkommen        Deutschland, Italien         Kooperation bei U-Boot-Entwicklung,             Keine Aktivitäten bekannt.
                                                     (2011)                                                             Präzisionsmunition und Pilotentraining.
                                       SWP Berlin
                                        April 2013

                                                     Quelle: eigene Darstellung nach Interviews im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), März und April 2012,
15

                                                     und in der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA), März und Mai 2012.
Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa

           Eindruck, dass die EU-Staaten mit diesen Vorstößen                       Seite. Die EVA versucht ihr politisches Profil mit Hilfe
           neue Probleme schaffen. Manche ihrer Initiativen                         der Gent-Initiative zu schärfen und schlägt selbst
           erzeugen unnötige Dopplungen oder blockieren                             Projekte vor. Doch die Staaten akzeptieren diese
           einander. Der französisch-britische Verteidigungspakt                    Vorschläge nicht immer. Sie wollen der EVA nicht zu
           dupliziert ein Projekt der Europäischen Verteidi-                        viele Kompetenzen zugestehen, denn dies brächte die
           gungsagentur zur Minenbekämpfung. Um den Pakt                            Staaten in Zugzwang oder würde die EVA zu stark
           nicht zu gefährden, unterstützte Paris seit 2011 nicht                   machen. 29
           mehr den Aufbau eines EU-Hauptquartiers, den alle                           Es kommt auch vor, dass die EU-Staaten Projekte ins
           anderen EU-Staaten befürworteten. Als Reaktion auf                       Gespräch bringen, die bestehende EU-Einrichtungen
           denselben Pakt schloss Italien ein bilaterales Abkom-                    unterminieren könnten. Bei der Geospatial Support
           men mit Deutschland, um bei unbemannten Luftfahr-                        Group etwa, die vor allem auf deutsche Strukturen
           zeugen (Unmanned Aerial Vehicle, UAV) den industri-                      zurückgreift und zum Beispiel geografische und
           ellen Anschluss nicht zu verlieren.                                      meteorologische Informationen bereitstellt, besteht
                                                                                    das Risiko, dass sie die Aufgaben des bereits existie-
                                                                                    renden EU-Satellitenzentrums dupliziert.
           Gent: Die einzige EU-Initiative                                             Künftig könnten die EU-Staaten sogar alte Fehler
                                                                                    noch einmal begehen. Sie wollen innerhalb der Gent-
           Die Bundesrepublik hat die Gent-Initiative gemeinsam                     Initiative Lücken identifizieren und diese zusammen
           mit Schweden 2010 ins Leben gerufen und auf EU-                          unter Leitung einer Führungsnation schließen, doch
           Ebene eingebracht. Noch im selben Jahr haben die                         Sanktionsmechanismen oder Anreize für Beiträge gibt
           europäischen Partner die Initiative europäisiert und                     es nicht. Dieses Vorgehen erinnert an die 2001 gegrün-
           die EU-Institutionen (EU-Militärausschuss, EU-Militär-                   deten ECAP-Gruppen. Sie funktionierten nach dem
           stab und EVA) mit der Unterstützung beauftragt. Die                      gleichen Schema und wurden nach erfolglosen Jahren
           Staaten sollten Projekte vorschlagen, die sich für Poo-                  in die EVA überführt.
           ling und Sharing eignen könnten. Der EU-Militärstab
           hat aus den 300 Vorschlägen etwa 40 ausgesucht.
           Nach der letzten Auswahlrunde 2012 verfolgen die                         Zwischenfazit: Einsamer, abhängiger,
           Staaten nur 13 Initiativen weiter.                                       weniger handlungsfähig
              Die meisten Vorschläge sind keine Reaktionen
           auf neue, sondern auf alte Probleme. Sie lassen sich                     Die erste Welle der Reaktionen auf die Finanzkrise von
           zurückverfolgen bis zu den Fähigkeitsinitiativen aus                     2009 bis 2012 vermittelt den Eindruck, dass die EU-
           den Anfangsjahren der GSVP, etwa dem European                            Staaten mit Ausnahme Frankreichs und Großbritan-
           Capability Action Plan (ECAP) 28 (siehe grau unterlegte                  niens sich noch nicht bewusst sind, wie gravierend das
           Projekte in Tabelle 3). Schon damals hatten die EU-                      Problem und seine wahrscheinlichen langfristigen
           Staaten versucht, Fähigkeitslücken gemeinsam zu                          Folgen sind.
           schließen.                                                                  1. Der verteidigungsökonomische Imperativ ist noch nicht
              Neue Projekte haben einen Schwerpunkt im Be-                          in der Problemsicht der Staaten angekommen. Zumeist ver-
           reich Training und Ausbildung. Hier lassen sich zwar                     suchen die Staaten, ihre Kosten zu senken, vermeiden
           schnelle Erfolge erzielen, aber die Einsparpotentiale                    aber strukturelle Reformen. Die Verteidigungsappa-
           sind gering. Nur für einen Teil der Projekte gibt es                     rate werden so zwar kleiner und damit billiger, aber
           Führungsnationen, was auf mangelnde Bereitschaft                         nicht effizienter. Zudem schrumpft die militärische
           der Staaten hindeutet, die von allen anerkannten                         Handlungsfähigkeit. Das macht zusätzliche Investitio-
           Probleme anzugehen.                                                      nen dringender und zugleich weniger möglich.
              Die beiden parallelen Projekte (Nr. 9 und 10 in
           Tabelle 3) zur Satellitenkommunikation sind Beispiele
           für das Kompetenzgerangel zwischen den EU-Institu-                         29 Interview mit Mitarbeitern der EVA, Berlin, April 2012.
           tionen auf der einen und den Staaten auf der anderen                       Mittlerweile hat es erste Fortschritte bei der Koordinierung
                                                                                      der unterschiedlichen Initiativen gegeben. Siehe European
                                                                                      Defence Agency, EDA Facilitates Access to Commercial SatCom
                28 Burkard Schmitt, The European Union and Armaments. Getting         Services for Member States, Brüssel, 28.9.2012, .

           SWP Berlin
           Wege aus der europäischen Verteidigungskrise
           April 2013

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