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414 | 18. Januar 2018 Nachrichten für Filmschaffende herausgegeben von Peter Hartig in Kooperation mit www.crew-united.com
2 | Max-Ophüls-Preis 414 | 18. Januar 2018 So gelöst dürften Svenja Böttger und Oliver Baumgarten nur für die Kamera schauen, denn die Vorbereitungen zum »Max-Ophüls-Preis« laufen auf Hochtouren. Ab nächsten Montag trifft sich der deutschsprachige Filmnachwuchs wieder in Saarbrücken. Rund 130 Filme aller Längen laufen dieses Jahr in den Wettbewerben und Nebenreihen. Zwischenbilanz Der Max-Ophüls-Preis hat seit vorigem Jahr eine neue Spitze. Die Festivalleiterin Svenja Böttger und der Gesamtprogrammleiter Oliver Baumgarten erklären, was sich beim Nachwuchsfestival verändert hat, was anders wird oder so bleiben soll, wie es ist. Interview Jan Fedesz Titel: Max-Ophüls-Preis, Oliver Dietze | Foto: Epicleff Media, NFP
414 | 18. Januar 2018 Frau Böttger, Sie haben im vorigen Jahr die Lei- tung des Max-Ophüls-Festivals übernommen. War’s schwer? Svenja Böttger: Es war vor allem eine große Her- ausforderung, und es hat ungeheuren Spaß ge- /BROMANTISCHES3CHLOSSODERVER macht, sie zusammen mit meinem Team anzu- WUNSCHENE"URGRUINE OBFASZINIEREN gehen und nun bereits die zweite Ausgabe zu DE.ATURKULISSEODERBRACHLIEGENDE bestreiten. )NDUSTRIEANLAGENr"AYERNBIETET ZAHLREICHE-ÒGLICHKEITENAN-OTIVEN Die Umstände waren ja alles andere als ideal: FØR)HREN$REH&ILMKULISSE"AYERN Ihre Vorgängerin Gabriella Bandel hatte das BIETETBAYERNWEITE5NTERSTØTZUNGBEI Festival über mehrere Jahre geleitet und ging -OTIVSUCHE $REHGENEHMIGUNGEN nach einem Streit mit der Stadt Saarbrücken, 5NTERBRINGUNGUNDLOGISTISCHEN,EIS die das Festival ausrichtet. Der Streit ging TUNGEN0ROFITIEREN3IEDAVONà durch die Presse, auch der Kritikerverband und prominente Filmemacher hatten da für Bandel Stellung bezogen. Ist nun wieder alles gut? Svenja Böttger: Ich war in diese Vorgeschichte nicht involviert und kann mich deshalb auch nicht dazu äußern. Mein Blick hat sich von Be- ginn an nach vorne gerichtet, und ich habe da- bei von allen Seiten große Unterstützung erhal- ten. Den Kern des Streits hatte der ehemalige Ophüls-Leiter Boris Penth so zusammenge- fasst: Das Festival werde nicht in seiner Bedeu- tung honoriert, es mangele an Wertschätzung und finanzieller Honorierung. Anlässlich Ihrer Berufung versicherte der Aufsichtsrat Ihnen »eine breite Unterstützung«. Bedeutet das mehr Geld fürs Festival? Svenja Böttger: Das heißt vor allem eine breite Unterstützung in allen Vorhaben, das Festival zu modernisieren und in seinen Zielen weiter zu entwickeln. Ich bin bei meinem Antritt auf eine stabile Grundfinanzierung getroffen, die es wei- ter auszubauen gilt. Daran arbeiten wir gemein- sam schrittweise. Ihre Ernennung kam etwas überraschend. Das Festival hatte Ihr Alter selbst angesprochen: Mit 28 waren Sie wahrscheinlich die jüngste WWWBAYERNBYFILMKULISSE DATENBANK
4 | Max-Ophüls-Preis 414 | 18. Januar 2018 Leiterin eines Festivals dieser Größenordnung. Wo bleiben die Inhalte? Was halten Sie zum Wie alt sind denn eigentlich die Filmemacher im Beispiel von Genres? Durchschnitt? Svenja Böttger: Da sind Sie leider unzureichend Svenja Böttger: Ohne das jetzt ausgezählt zu ha- informiert. Das Rad nicht neu zu erfinden, be- ben, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass zog sich auf die Struktur der bewährten und im ich da im Schnitt liege. Und genau das stellt ja Zentrum stehenden Wettbewerbe aus Spielfilm, auch einen Vorteil dar. Ich habe bis vorletztes Dokumentarfilm, mittellanger Film und Kurz- Jahr an der Filmuniversität in Potsdam studiert, film: Diese vier Blöcke bilden nach wie vor das kenne mich bestens mit den Hochschulen aus Zentrum des Festivals. und habe hervorragende Kontakte zu der Filme- Um das herum aber haben wir mit »MOP- machergeneration, an die sich das Festival vor- Watchlist« und »MOP-Shortlist« eine neue und rangig wendet. Gemeinsam mit Oliver Baum- in seiner Auswirkung erhebliche Reihenperi- garten, der die Gesamtleitung Programm inne- pherie entwickelt, die einen Querschnitt bietet hat und auf eine Branchenerfahrung von über aus deutschsprachigen Nachwuchsfilmen, die 20 Jahren bauen kann, ergänzen wir uns zu ei- im abgelaufenen Kalenderjahr auf anderen Fe- ner idealen Konstellation. stivals Premiere hatten. Gemeinsam mit den Der Max-Ophüls-Preis beschreibt sich als »zen- Wettbewerbsfilmen bieten wir damit seit dem tralen Ort für den deutschsprachigen Filmnach- vergangenen Jahr die hierzulande umfassendste wuchs«, Zeitungen nennen es knapper das Filmschau des aktuellen deutschsprachigen »wichtigste« Festival dieser Art. Was sagen Nachwuchsfilms. denn zum Beispiel die Hofer Filmtage dazu? Weitere Neuerungen umfassen den erhebli- Svenja Böttger: Bei der kommenden Ausgabe chen Aus- und Umbau des Branchenpro- präsentieren wir rund 130 aktuelle Arbeiten des gramms sowie der weitere programmatische deutschsprachigen Nachwuchsfilms, weit über Einbezug europäischer Gäste und den Ausbau die Hälfte davon in Ur- oder deutscher Erstauf- und Neu-Aufbau von Kooperationen. Und zum führung, und bieten ihren Macherinnen fast ein Stichwort Genre: Genre bildet eines der thema- Dutzend auf sie zugeschnittene Vernetzungs- tischen Schwerpunkte der kommenden Ausga- veranstaltungen untereinander sowie mit Multi- be, weil zurzeit eine erfreulich hohe Zahl an jun- plikatoren und Entscheidern aus der Film- und gen Filmemacherinnen Gestaltungselemente Fernsehbranche. Unser gesamtes Festival ist aus verschiedenen Genres verwenden, um ihre konsequent der Förderung und Präsentation Geschichten zu erzählen. des Nachwuchses gewidmet. Als Zuschauer nimmt man den Deutschen Sie erklärten damals, sie wollten das Rad nicht Spielfilm fast nur in zwei Extremen wahr: Al- neu erfinden. Neu waren in Ihrem ersten Jahr bern und klischeebeladen oder trist und nur die Reihe »MOP-Klassiker« mit früheren schwer. Wie sieht’s bei Ihnen im Wettbewerb Preisträgerfilmen und die »MOP-Visionen« mit aus? neuer Technik wie Webvideos, Games, 360 Oliver Baumgarten: Dieses Vorurteil gegen den Grad und Virtual Reality. Also eine ständige Re- deutschen Spielfilm hält sich seit den 80er-Jah- trospektive und eine Wühlkiste für Trends und ren hartnäckig bei denen, die sich nicht mit ihm Hypes. Das ist nett, aber nicht überwältigend. beschäftigen. Wir können diesen Eindruck so Fotos: Max-Ophüls-Preis, Oliver Dietze [2] | Max-Ophüls-Preis, Peter Fischer
414 | 18. Januar 2018 Max-Ophüls-Preis | 5 Die neue Chefin ist 29 und mischt sich perfekt ins Publikum (unten links). Svenja Böttger hat an der Filmuniversität Babelsberg »Konrad Wolf« studiert, 2014 das Studentenfilmfestival Sehsüchte und dann zwei Jahre den Empfang der Filmhochschulen auf der Berlinale geleitet, ehe sie nach Saarbrücken kam. Dort will sie nicht alles neu erfinden – wozu auch? Die vier Wettbewerbe bilden weiterhin das Zentrum des Festivals (oben). Neu ist etwa die Programmreihe »MOP-Visionen« mit neuer Technik wie Webvideos, 360 Grad und Virtual Reality (unten rechts).
6 | Max-Ophüls-Preis 414 | 18. Januar 2018 pauschal in keiner Weise teilen. Unser Pro- Svenja Böttger: Nimmt man beide Langfilm- gramm steckt voller gestalterisch herausragen- Wettbewerbe zusammen, stammen bei uns in der, erzählerisch ungemein konsequenter und diesem Jahr sogar 54 Prozent der Filme von Re- atmosphärisch intensiver Arbeiten. Wir können gisseurinnen. Die Diskussionen der letzten Jah- nur alle sehr herzlich dazu einladen, sich bei re beginnen zu fruchten, auch im Nachwuchs unserem Festival selbst davon zu überzeugen. sehen wir immer mehr Langfilmdebüts von Re- Herr Baumgarten, sie hatten um die Jahrtau- gisseurinnen. sendwende Filmplus mitbegründet, den Fach- Bei den Regietagen im November war die Quo- kongress zur Filmmontage, seit vier Jahren ku- te ebenfalls ein Thema (cinearte 410). Die ein- ratieren Sie das Gesamtprogramm beim Max- hellige Meinung auf dem Podium: Gleich nach Ophüls-Preis. Wie unterscheiden sich die dem Debütfilm tue sich eine Kluft auf, ein gro- beiden Aufgaben? ßer Teil der rund 44 Prozent Regieabsolventin- Oliver Baumgarten: In erster Linie natürlich be- nen deutscher Hochschulen erhielten gar nicht züglich des Umfangs. Beim Filmfestival Max die Chance, einen zweiten Film zu realisieren. Ophüls Preis gilt es, für die Festivalwoche knapp Haben Sie Ideen, wie ein Nachwuchsfestival da 250 Screenings zu programmieren – Filmplus gegensteuern könnte? fällt da kleiner aus, ist aber auch viel speziali- Svenja Böttger: Als Festival sind wir natürlich sierter. Beide Aufgaben eint aber die Leiden- auf das überzeugende Angebot von Regisseu- schaft, mich mit Bildsprachen zu beschäftigen, rinnen angewiesen, damit wir ihre Filme dann mich darüber auszutauschen und immer aufs auch einladen können. Und so freuen wir uns Neue Entdeckungen zu machen. ganz besonders, dass wir in diesem Jahr auch Wie haben Sie die Arbeit beim Ophüls-Preis einmal die Entstehung von herausragenden Re- aufgeteilt? gisseurinnen-Filmen unterstützen können: Die Oliver Baumgarten: In der Gesamtleitung Pro- Absolventinnen von »Into the Wild«, dem Men- gramm kümmere ich mich darum, dass das in- toring-Programm für Filmemacherinnen, wer- haltliche Konzept, das wir gemeinsam erarbei- den bei uns auf einem Pitching-Salon der Bran- ten, durchgesetzt wird. Ich sehe und akquiriere che ihre neuen Projekte vorstellen – und dann das ganze Jahr über Filme und baue das alles zu hoffentlich in ein paar Jahren bei uns im Wett- dem 150 Filme umfassenden Programm zusam- bewerb laufen. c men. Die Festivalleitung, Svenja Böttger, hält hingegen alle Fäden in der Hand. Das betrifft eben außer dem Programm auch: Finanzierung, Sponsoring, Marketing, Kooperationen, Rah- menprogramm und weitere Events und Veran- staltungen, Repräsentationsaufgaben. Zusam- men konzipieren wir das Programm, das aber ja nur ein Teil des Ganzen darstellt. 16 Filme stehen dieses Jahr im Spielfilmwett- bewerb, 7 davon haben Frauen inszeniert. Trend, Zufall oder Quote? Fotos: Max-Ophüls-Preis, Oliver Dietze [2] | Max-Ophüls-Preis, Peter Fischer
414 | 18. Januar 2018 Max-Ophüls-Preis | 7 Filmgespräche gehören selbstverständlich zu den Vorführungen auf dem Festival. Werkstattgespräche und Festivalclub sollen den Austausch fördern. Präsentiert wird übrigens nicht nur der Nachwuchs: Der 87-jährige Schauspieler Mario Adorf ist Ehrengast beim »Max-Ophüls-Preis« samt Podiumsgespräch und kleiner Filmreihe. Es gibt eine filmische Hommage an den Regisseur Wolfgang Staudte, der aus Saarbrücken stammte. Die Regisseurin Doris Dörrie erhält den Ehrenpreis für Verdienste um den jungen deutschsprachigen Film. Und in Kooperation mit der »Perspektive Deutsches Kino« wird das Debüt eines inzwischen etablierten Filmemachers gezeigt – in diesem Jahr Julia von Heinz.
414 | 18. Januar 2018 Fremde | 9 Zehn Tage im Dezember drehte Tim Dünschede (rechts) an seinem Drittjahresfilm an der HFF München. Die Kälte wird er nie mehr unterschätzen, sagt er: »Alles geht langsamer.« Doch es hat sich gelohnt: Der 30-Minüter läuft nun im Wettbewerb des Max-Ophüls-Preises. Genrefilme sind im Kommen. Auch deutsche Filmstudenten erträumen sich Welten jenseits der vertrauten Wirklichkeit. Das Max-Ophüls-Festival zeigt das in seinem Programm. Zum Beispiel mit dem Endzeit-Drama Fremde.
10 | Fremde 414 | 18. Januar 2018 Text Peter Hartig zusammen einen Genrefilm zu machen«, sagt Dünschede. »Jetzt war es soweit.« Alljährlich trifft sich der Filmnachwuchs in Ach ja, das »Genre« – Sammelbegriff für alles München zum Filmschoolfest, und jedes Jahr an Fiktion, was nicht im Hier und Jetzt spielt versuchen wir mit drei kurzen Fragen herauszu- und nicht ebensogut als Dokuspiel nach Dog- finden, wie die nächste Generation so tickt. ma-Regeln verfilmt werden könnte: Science- Auch Tim Dünschede hat unseren Fragebogen Fiction und Fantasy, Krimi oder Historie. Das im vorigen November beantwortet (cinearte deutsche Publikum tut sich schwer damit. Nicht 411). »Mein Traumprojekt« sollen die kommen- mit dem Genre selbst: Krimis aus Skandinavien, den Filmemachern da in drei Sätzen beschrei- Superhelden aus den USA, Kostümfilme aus ben. Dünschede reichte einer: »Spannender Großbritannien locken in die Kinos. Aber den Genrefilm in Deutschland.« Da steckte er mitten eigenen Filmemachern traut man’s offenbar in der Endfertigung zu seinem Drittjahresfilm: nicht zu. Bisher floppten die meisten Versuche, Fremde ist ein Endzeitthriller auf engstem »deutsches Genre« ins Kino zu bringen, selten Raum: In einem Bunker unter der Erde lebt Ma- erhält ein solcher Stoff Filmförderung. Was aber rie mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder. die Filmemacher nicht davon abhält, es weiter Als der Vater versehentlich einen Fremden an- zu versuchen. In letzter Zeit immer mehr. schießt, verarztet Marie den bewusstlosen Genre made in Germany »kommt allmäh- Mann. Für sie bietet er die Hoffnung, aus dem lich«, meint Dünschede. Erste Festivals haben Schutzraum auszubrechen, den sie als Gefäng- sich ihm schon verschrieben, erste Serien wie nis empfindet. Doch als drei Marodeure in den You Are Wanted, Dark oder 4 Blocks hatten auf Bunker eindringen, ist sie sich nicht mehr si- Streaming-Plattformen genügend Erfolg, um in cher, ob sie ihrem neuen Freund wirklich trauen eine zweite Staffel zu gehen. kann. Die beiden Filmstudenten liegen also im Genau genommen, war die Geschichte nicht Trend. Dünschede beschreibt seine Vorliebe die erste Wahl. Dünschede hatte bereits ein aber mit persönlicheren Motiven: »Ich hatte Drehbuch mit einer Mitstudententin an der schon im zweiten Jahr einen Genrefilm geplant. Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in Ich wollte kein Sozialdrama oder eine Komödie München entwickelt. Ebenfalls ein sogenannter drehen. Ich fühle mich im Genre wohl und mag Genre-Stoff und ambitioniert in der Umset- es, Welten zu kreieren.« zung, mit Dreh in Frankreich. So war’s gedacht, aber letztlich noch nicht umzusetzen. Die Warum schreibt er dann sein Drehbuch nicht Hochschule hatte die Budgets gekürzt, das Pro- gleich selbst, wie es andere Regiestudenten und jekt, war so nicht zu finanzieren. Auch Filmstu- Regisseure tun? »Ich schreibe gerne selbst«, ant- denten stehen mitunter vor den Problemen der wortet Dünschede, »aber ich glaube auch an Ko- echten Filmwelt. Ein anderer Stoff musste her. operation. Ich schneide ja auch nicht selbst. Mit Patrick Schorn, der an der Deutschen Und aus gutem Grund gibt es die Zunft der Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Pro- Drehbuchautoren.« duktion studiert, hatte er einen Gleichgesinnten Das hört man hierzulande nicht oft – die Vor- gefunden. »Wir warteten schon länger darauf, stellung vom Autorenfilmer, der seine eigenen Fotos: Claudio Köhl | Max-Ophüls-Preis
414 | 18. Januar 2018 Fremde | 11 Der Großteil der Handlung läuft in einem Bunker ab. DoP Holger Jungnickel (Mitte) drehte auf der Alexa in Cinema- scope. Die Filme- macher suchten diesen Kontrast zwischen dem größtmöglichen Bildausschnitt und der klaustrophobi- schen Stimmung.
12 | Fremde 414 | 18. Januar 2018 Auch draußen sieht man kaum Weite. Im Wald verstellen ständig Bäume den Blick, die Kamera hält nah auf die Gesichter. Fotos: Katja Kuhl | Max-Ophüls-Preis [2]
414 | 18. Januar 2018 Fremde | 13 Bücher auch inszeniert, steckt in den Köpfen. setzt hatte. Sie drehten auf der Arri Alexa mit Auch an den Hochschulen, die Drehbuchauto- anamorphotischen Vantage-Objektiven. Cine- ren ausbilden. Eine stärkere Trennung der Auf- mascope für ein Kammerspiel im Bunker? gaben und zugleich mehr Zusammenarbeit zwi- »Wir suchten eben diesen Kontrast«, erklärt schen den Gewerken würde sich Dünschede Dünschede. »Die Stimmung ist durchweg klau- wünschen. Sonst sei das nicht so rigoros aufge- strophobisch, nicht nur im Bunker. Im Wald ver- teilt – lediglich die Filmakademie Baden-Würt- stellen Bäume den Blick, bei den Gesichtern temberg in Ludwigsburg sei da vielleicht schon gingen wir nah ran. Obwohl man draußen ist, ein wenig weiter als andere. gibt es kaum Weite.« Und dort im Südwesten ist auch der Drang Mit einem »studentischen Budget« waren die zum Genre offenkundiger als anderswo. Schorn Filmemacher nicht nur beim Dreh, sondern und Dünschede veröffentlichten einen Aufruf: auch bei der Nachbereitung sehr von der ko- Genre-Drehbuch gesucht! An der Filmakade- stenlosen Unterstützung und zeitlichen Verfüg- mie hatte Marc Vogel eine passende Geschichte barkeit seiner Partner abhängig. Die Postpro- in der Schublade – kürzer, bunter, überschau- duktion des ambitionierten Films zog sich über barer, mit weniger Motiven und ohne Auslands- mehrere Monate. Dünschede: »Nicht zuletzt dreh. Dünschede reiste Mitte September 2016 durch das Genre an sich hatten wir einen recht nach Ludwigsburg und überarbeitete mit Vogel hohen Postproduktionsaufwand. Neben größe- das Buch. Der schrieb dann die endgültige ren Firmen wie OM Studios hatten wir auch Fassung. Leute wie Sebastian Pille(Labyrinth des Schwei- gens, About a Girl, Das Tagebuch der Anne Frank) Einen unerwarteten Effekt hatte die Drehbuch- als Komponist gewinnen konnten. Da war Zeit suche außerdem gehabt: Auf den Aufruf hatte unser einziges Zahlungsmittel.« sich auch die Editorin Janina Kaltenböck gemel- So reichte das Team eine noch nicht ganz fer- det: Sie habe zwar kein Drehbuch anzubieten, tige Version ihres »mittellangen« Films im No- wollte aber schon lange mal an einem Genre- vember beim Max-Ophüls-Preis ein. Dort läuft Film mitarbeiten. er nächste Woche im Wettbewerb der mittellan- Die Dreharbeiten begannen am 5. Dezember gen Filme. Die Postproduktion war Anfang Ja- 2016, zehn Tage im Winter, mit einem Team von nuar abgeschlossen. bis zu 70 Leuten, wo bei früheren Hochschul- projekten nur zehn am Werk waren. Die Kälte In einem ist Fremde jetzt schon einzigartig. werde er nie mehr unterschätzen, sagt Dün- Zwar haben schon früher Studenten verschiede- schede: »Alles geht langsamer.« ner Hochschulen zusammengearbeitet, doch Auch an eine Regel der HFF für die ersten erstmals hätten sie es geschafft, drei Filmhoch- Studentenfilme werde er sich sicherlich in Zu- schulen für einen Film zusammenzubringen, kunft immer erinnern: »Keine Kinder, keine Tie- sagt Dünschede. »Das war ein bürokratischer re … Beim dritten Film vergisst man das gerne.« Wust, denn es gab keinen Präzedenzfall. Das Die Bildgestaltung übernahm wieder Holger macht manches schwerer, aber es hat sich ge- Jungnickel, mit dem Dünschede schon seine lohnt. Zumal aus dem Scheitern eines Projekts vorherigen Kurzfilme und Musikvideos umge- ein anderes entstanden ist.« c
14 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Noir in Farbe Foto: Constantin, Matthias Bolliger
414 | 18. Januar 2018 Nur Gott kann mich richten | 15 Zum Debüt hatte Özgür Yildirim vor zehn Jahren mit einem Thriller überrascht. Dem Genrefilm blieb er seitdem treu. In seinem neuen Werk führt er wieder hinab in die Unterwelt. Produktionsnotizen zu Nur Gott kann mich richten – ab heute im Kino.
16 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Ricky (Moritz Bleibtreu, Mitte) hat für seine Kumpels im Knast den Kopf hingehalten. Mit einem letzten großen Coup soll nun alles besser werden. So richtig böse sind die Helden in Özgür Yildirims Gangsterdrama nicht, aber schon mal für ein krummes Ding zu ha- ben, Vor allem aber haben sie mit ihren ganz privaten Problemen zu kämpfen. Fotos: Constantin, Matthias Bolliger
414 | 18. Januar 2018 Nur Gott kann mich richten | 17 Die Entstehung. Vor zehn Jahren gab Özgür Yildi- Tatsächlich gingen Bleibtreu, Yildirim und rim sein Regiedebüt mit dem Thriller Chiko, der Becker ihr Projekt nicht auf die einfachste Weise den Aufstieg und Fall junger Drogendealer auf an. Sie zeigen diverse Seiten der Frankfurter Un- dem Hamburger Kiez zeigte. Chiko stach hervor, terwelt und sie bestückten diese mit Schauspie- weil Milieu und Personen so wirklichkeitsnah lern verschiedenster Herkunft. Bleibtreu: »Wir waren, und weil Yildirim die Geschichte so wollten eine gute Mischung aus Straßentalent schnörkellos düster inszenierte, wie man das und handwerklich perfekten Schauspielern. Wir Gangstergenre im deutschen Kino vorher nie ge- brachten Laien und Profis zusammen, das ergab sehen hatte. Jetzt, knapp zehn Jahre und etliche eine besondere Stimmung.« Filme später, geht Yildirim zurück an den Kiez, »Ich wollte bekannte und neue Gesichter vor diesmal nach Frankfurt am Main: »Meine An- der Kamera haben«, bestätigt Yildirim. Das er- fangsidee war einfach: Ich wollte wieder einen reichte er, indem er einerseits den Rappern SSIO Gangsterfilm machen. Aber die neue Geschichte und Xatar einen Auftritt als Heroindealer gab, an- habe ich breiter angelegt. Es gibt drei Figuren mit dererseits zum Beispiel Peter Simonischek vom unterschiedlichen Hintergründen, damit man Wiener Burgtheater engagierte. Wie diese Mixtu- den Film gucken und sich darin wiederfinden ren funktionieren, probierte Yildirim bereits kann, auch wenn man zufällig kein Gangster ist.« beim Casting aus: »Ich caste immer mehrere Leu- Yildirim ist diesmal auch Koproduzent, in Zu- te gleichzeitig und schaue mir dabei an, wie die sammenarbeit mit dem Produzenten Christian zueinanderpassen. Ich will wissen, wie sie mit- Becker von der Rat Pack Filmproduktion. Becker einander reden oder wie sie sich zuhören, ob sie erzählt: »Wir waren begeistert von der Idee eines sich überhaupt verstehen.« Gangsterdramas, das Figuren zeigt, die Schlim- mes tun, um Gutes zu erreichen. Nur Gott kann Das Buch. Peter Simonischek erzählt, wie er auf mich richten hat drei solcher Antihelden, und je- Yildirims Anfrage reagierte: »Das erste Maß ist für der folgt seiner eigenen Agenda.« mich, wie lang ich brauche, um ein Drehbuch zu Moritz Bleibtreu spielt die Hauptfigur Ricky lesen. Wenn das eine Woche dauert, dann werde und gehört gleichzeitig auch zu den Produzenten ich den Film nicht machen. Dieses hier war irre des Films: »Das war Christian Beckers Idee. Ich spannend, das ist geradezu alptraumartig, was bin nun mal relativ nah an dieser Thematik dran, da kulminiert. Das hatte ich schnell durch.« denn ich bin in einer Gegend aufgewachsen, die Kida Khodr Ramadan, Darsteller des Gangsters dem Milieu des Films ähnlich ist. Ich weiß, wie Latif, ging es ähnlich: »Ich hatte wirklich Gänse- diese Vögel dort ticken. Das war Christian wich- haut beim Lesen. Das Buch hat mich umgehau- tig, er wollte, dass ich mit auf den Tonfall achte, en.« Und Edin Hasanovic, der die Rolle des Rafael den der Film haben muss«. spielt, bestätigt: »Ich hatte das Gefühl, das ist kei- Obwohl Bleibtreu sein ganzes Leben im Film- ne kleine Geschichte – das ist fett, das ist groß«. geschäft verbracht hat, war er hier zum ersten Produzent Becker teilt diesen Eindruck: »Die Mal als Produzent tätig. Birgit Minichmayr grinst: Motive der Figuren sind nachvollziehbar, obwohl »Moritz war ein bisschen aufgeregt. Der Film war sich ihr Handeln rasant in die falsche Richtung sein Baby. Er hat ganz viel Energie aufgewendet, entwickelt. Das ist schon beim Lesen unglaublich damit er richtig gut wird.« mitreißend.« Und Franziska Wulf sagt über ihre
18 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Rolle der Elena: »Mir fielen die wahnsinnig guten nen, insbesondere, wenn sie den Tonfall der Stra- Dialoge des Buches auf. Beim Drehen hört Özgür ße kennen. »Der rote Faden bleibt, aber sonst dann genau hin, ob und wann der Sound stimmt. spreche ich meine eigene Sprache, da kommt die Er legt großen Wert auf Authentizität.« Straße durch«, sagt Ramadan anerkennend. »An- ders funktioniert das auch nicht. Wenn ich reden Die Regie. In Nur Gott kann mich richten erzählt müsste wie ein Student, hätte das alles keinen Yildirim nicht von Karrieregangstern. Seine Figu- Sinn«, und Edin Hasanovic bekräftigt: »Öz ist ein ren sind Männer vom Kiez, die nichts weiter wol- feiner, genauer Regisseur, der mich sehr gut len, als hier und da ein bisschen Zuschuss zum führt, aber mir unfassbar viel Freiheit gibt. Ich Budget oder ein Startkapital, mit dem sie ein Ge- muss mich nicht am Text festhalten. Das ist bei schäft aufbauen können, wenn möglich sogar ein Regisseuren eine echte Ausnahme.« Becker wie- legales. Becker fasst zusammen: »Das ist ein derum findet: »Özgür hat eine große Vision, aber Gangster-Epos ohne Gangster. Es sind eher gleichzeitig kümmert er sich um das ganze Team, Kleinganoven, die keine großen Deals planen. Je- das ist ungewöhnlich. Er umarmt alle, er bedankt der von ihnen kämpft ums Überleben, jeder be- sich, er hält alles zusammen. Das ist das Beson- trügt den anderen.« Yildirim zeigt diese Männer dere an ihm.« in ihrem privaten Alltag und bei ihren Geschäf- Birgit Minichmayr ist in ihrer Rolle als Polizi- ten, er zeigt sie in ihrer Gutmütigkeit und mit ih- stin Diana Dunker zwar weniger dem Straßens- rem gefährlichen Temperament. Denn sobald es lang verhaftet, aber sie stimmt ihren Kollegen zu: ums Geld geht, geben sie sich keine Blöße. Da be- »Özgür hat keine Angst vor der Verantwortung nehmen sie sich wie die großen Gangster, und des Schauspielers. Im Gegenteil, er liebt, sucht das nimmt man ihnen jederzeit ab. und braucht sie. Nichtsdestotrotz weiß er genau, Diese fast schon legendäre Wirklichkeitsnähe was er will«. von Yildirims Filmen liegt zum einen an der Spra- Minichmayrs Figur agiert auf der anderen, auf che seiner Protagonisten. Sie gehört für den Re- der legalen Seite, aber sie ist fast ein Spiegelbild gisseur zu den wichtigsten Aspekten einer Ge- der Gangster. Sie legt keinen Wert auf Karriere, schichte: »Moritz, Kida und Birgit waren drei, die aber sie braucht Geld für die Zukunft ihres Kin- ich mir während des Schreibens vorgestellt habe. des, jetzt sofort, zur Not auch illegal. »Mich hat es Wie würden die reden, wie könnte ich denen die interessiert, mal nicht so eine ambitionierte Poli- Dialoge anpassen, so dass es für sie wirklich zistin zu spielen, keine von den taffen Kommis- mundgerecht wird«. Trotzdem braucht man ein sarinnen, die sonst immer rumlaufen. Ich fand es gewisses Verständnis für das jeweilige Milieu, aus spannend, diese Figur auszuloten und dabei zu dem die Dialoge stammen. »Man muss Men- untersuchen, was einen Menschen dazu treibt, schen aus diversen Parallelwelten kennen, damit ins Verbrechen abzugleiten.« man weiß, nach welchen Mechanismen ihr Slang funktioniert. Wenn man nur zwischen Vorgärten Die Straße. Neben der Sprache nutzt Özgür Yildi- aufgewachsen ist, dann kennt man bloß diese rim noch andere Mittel, um dicht an der Realität Seite der Sprache. Ich kenne auch die andere.« zu bleiben. Sein Team musste Frankfurt abgra- Dazu kommt, dass Yildirim seinen Schauspie- sen, um die richtigen Drehorte zu finden, und lern vertraut. Sie können sich ihre Dialoge aneig- man hat selten so vermüllte Hinterhöfe, so ver- Fotos: Constantin, Matthias Bolliger
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20 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Auch auf der hellen Seite des Gesetzes verwischen sich nur Schattierungen von Grau: Die Polizistin Diana Dunker (Birgit Minichmayr steckt in finanziellen Nöten. Ihre kleine Tochter wartet auf ein neues Herz. Doch für die dringende Organspende reicht ein Beamtengehalt nicht. Fotos: Constantin, Matthias Bolliger
414 | 18. Januar 2018 Nur Gott kann mich richten | 21 gilbte Pilskneipen auf der Leinwand gesehen, mitzieht. Er kümmert sich um seinen dementen vom beängstigenden Junkie-Szenario am Bahn- Vater, er passt auf seinen Bruder Rafael auf, er hof ganz zu schweigen. will niemandem zur Last fallen – aber das gute »Normalerweise finde ich es doof, wenn man Herz bringt ihn nicht weiter. bei deutschen Filmen die Authentizität als Maß- Also hört er auf Latif und verliert darüber alles stab anlegt. Das mache ich bei amerikanischen andere. Bleibtreu urteilt: »Ricky ist ein Räuber. Er Filmen auch nicht«, kommentiert Edin Hasano- nimmt Leuten Sachen weg. Der Film fängt an, als vic. »Wir machen ja keine Doku, sondern einen er aus dem Knast kommt und sich entschließt, Spielfilm. Aber dadurch, dass wir in Frankfurt ge- wieder den falschen Weg zu nehmen.« dreht haben, und zwar in den krassesten Ecken, Rafael ist Rickys jüngerer Bruder. Er war auch ist es unvermeidbar, dass man Sachen sieht, die im Gefängnis, aber nur für zwei Jahre. Trotzdem eben echt sind.« hat Ricky das verschuldet, also will Rafael mit Bleibtreu wiederum kennt solche Ecken ganz Ricky nichts mehr zu tun haben. Er arbeitet jetzt gut – nicht nur, weil er immer wieder Rollen hat, in einer Spielhalle als Kassierer, dort betrügt er die ihn auf die Kieze dieser Welt führen. »Ich bin ein bisschen, was seinem Boss nicht entgeht. in Hamburg in Sankt Georg großgeworden, das Aber Rafael ist der Freund von Elena, der Tochter war in den 1980er-Jahren ein ganz anderes Vier- vom Boss, also hält der sich zurück mit drasti- tel als jetzt. Es war geprägt von Prostitution und schen Maßnahmen. »Rafael ist ein Guter, so viel Drogen wie jedes Bahnhofsviertel, und für mich kann man sagen«, erklärt Edin Hasanovic seine gehörte das zum Alltag. Prostituierte waren für Figur, und tatsächlich ist Rafael der einzige mit mich so normal wie der Fischladen an der Ecke. einem moralischen Kompass, der ihn vom Töten Ich habe gedacht, das gehört so. Deswegen habe abhält. Aber über einen fingierten Raubüberfall ich eine große Nähe zu allem, was man Unter- kann man schon mit ihm reden. welt nennen würde, oder Rotlicht oder Milieu.« Der Araber Latif hat eine große Familie, viele Diesen Vierteln und ihren Bewohnern gehört Kinder, viele Freunde. Er war der beste Kumpel die große Sympathie von Regisseur Yildirim: von Ricky, war seinerzeit auch bei dem miss- »Genrekino soll unterhalten. Aber ich denke, glückten Überfall dabei, hat es aber zugelassen, Genrekino soll auch die Leute überzeugen, die dass Ricky ihn deckt und kam deshalb straflos aus so einem Milieu kommen. Mir geht es tat- davon. Inzwischen hat Latif eine Bar aufgemacht, sächlich um den Buddy vom Kiez – der soll den da hört er, was auf dem Kiez so passiert. Latif hat Film sehen und sagen ›Ja, so ist es‹.« kein Problem mit Gangstern, er wäre gerne selber einer, es ist ihm bloß zu gefährlich. Also wartet er, Die Figuren. Ricky war gerade fünf Jahre im Ge- bis ein Coup mit wenig Gefahr und viel Geld da- fängnis. Jetzt will er eine Bar auf Cabrera aufma- herkommt. »Latif kann ein ziemliches Arschloch chen und den Rest seines Lebens in der Sonne sein, aber das merkt man erst, wenn man ihn verbringen. Dafür braucht er Geld, und sein zum zweiten Mal trifft. Er hat ein großes Herz – Kumpel Latif, der eigentlich in seiner Schuld trotzdem geht er über Leichen, wenn es hart auf steht, hat nicht mal genug für seine eigene Bar. hart kommt«, sagt Kida Khodr Ramadan dazu. Deshalb will Latif ihn gleich für einen neuen Elena ist auf dem Kiez großgeworden, auf dem Überfall rekrutieren, obwohl Ricky nicht recht ihr Vater Erik (Tim Wilde) eine Spielhalle betreibt.
22 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Sie ist seit vielen Jahren die Freundin von Rafael. Firma auf Malta kümmert. Peter Simonischek be- Tagsüber unterrichtet sie Kinder in klassischem dauert den Vater: »Der ist vor allem ein alter Tanz, nachts tanzt sie selber in einer Strip-Bar. Mann, er ist ein bisschen am Vergammeln, der Aber Elena will raus aus dem Kiezleben, sie will Arme. Er hat die große Sehnsucht, seinen jünge- eine eigene Ballettschule aufmachen. Sie weiß ren Sohn zu sehen, der will aber nichts von ihm nicht, ob das mit Rafael klappen wird, weil der er- wissen. Keiner traut sich, dem Alten das zu sagen, fahrungsgemäß leicht in Schwierigkeiten kommt. also fragt er immer wieder nach ihm und nervt Trotzdem hält sie zu ihm, denn sie hofft, dass alle damit.« er mit ihrer Hilfe eine Zukunft haben wird – und sie hofft auch, dass er ihr das Startkapital für die Die Musik. »Jeder Gangsterfilm braucht einen gu- eigene Zukunft besorgt. Franziska Wulf be- ten Soundtrack«, meint Minichmayr, und Yildi- schreibt sie: »Elena ist die Einzige, die in der Rea- rim pflichtet ihr bei: »Musik spielt bei mir immer lität verhaftet ist. Sie bekommt halt ihr Leben auf eine wichtige Rolle. Ich habe noch nie einen Film die Reihe.« gemacht, bei dem ich das Gefühl hatte, die Musik Diana Dunker ist als Polizistin Teil der seriösen sei beiläufig oder sekundär. Und der Sound be- Gesellschaft. Ihre kleine Tochter Lilly (Lilly Wag- einflusst natürlich auch die Atmosphäre.« ner) hat einen schweren Herzfehler. Wenn sie Das setzte Yildirim nicht nur damit um, dass nicht schnell ein neues Herz bekommt, wird sie er den Rapper Xatar einen Titelsong schreiben sterben – und um unter Zeitdruck an eine Organ- ließ, sondern er gab ihm und seinem Kollegen spende zu kommen, braucht Diana 30.000 Euro, SSIO auch eine Rolle im Film. Zur Freude von für die weder die Bank noch ihr Beamtengehalt Kida Khodr Ramadan: »Die Jungs sind grade sehr aufkommen. angesagt, außerdem muss Kunst nach vorne ge- Diese Not führt sie in den Untergrund Frank- bracht werden.« Und Bleibtreu, nach eigenem furts, wo sich ihr Weg mit dem von Ricky, Rafael Bekunden großer Liebhaber von Hip-Hop, be- und Latif kreuzt. Das macht diese Figur für Birgit stärkt: »Gangster-Rap ist seit Jahren schon in der Minichmayr spannend: »Diana wird nicht als kri- Mitte der Gesellschaft angekommen, der läuft minelle Polizistin eingeführt. Sie kann und macht bloß nicht im Radio wegen der bösen Texte. Aber ihren Beruf, sie ist darin nicht schlecht. Sie be- Straßen-Rap ist Mainstream, das haben nur eini- nimmt sich korrekt, bis alles aus dem Ruder läuft. ge Leute in Führungspositionen beim Film noch Dann steht sie vor Situationen, die sie noch nie nicht begriffen. Es gibt da draußen eine junge erlebt hat. Aber im Gegensatz zu den Gangstern Generation, die diese Musik versteht und weiß, gibt es für sie eine andere Notwendigkeit, sich auf wo sie herkommt: ungefähr von da, wo unser kriminelle Weise Geld beschaffen zu wollen.« Film angesiedelt ist. Das ist unser Publikum.« Der Vater von Ricky und Rafael lebt allein in ei- »Für den Titel Nur Gott kann mich richten ner verwahrlosten Wohnung, er ist Witwer, wird wurde Özgür natürlich von dem Tupac-Song langsam dement und trinkt sich das Leben er- ›Only God Can Judge Me‹ inspiriert«, sagt Becker träglich. Er weiß wenig über seine Söhne, denn zur Bedeutung des Rap für den Film. »Aber na- Ricky verheimlicht seine kriminellen Exkursionen türlich gibt es Vergleichbares auch in Deutsch- vor ihm. Ricky entschuldigt auch Rafaels Abwe- land. Wir haben mit Xatar und SSIO zwei Kompo- senheit damit, dass Rafa sich angeblich um eine nisten gefunden, die uns eine Art Konzeptalbum Fotos: Constantin, Matthias Bolliger
414 | 18. Januar 2018 Nur Gott kann mich richten | 23 Rafael (Edin Hasanovic) behält seine Freundin Elena (Franziska Wulf) im Auge (unten). In Frankfurt fand das Team Hinterhöfe und Kneipen, wie es sie auf der Leinwand noch nicht oft zu sehen gab. An sich sei ihm so viel Authentizität nicht wichtig, meint der Schauspieler. »Wir machen ja keine Doku, sondern einen Spielfilm.« Doch der Film sollte auch von den echten »Gangstern« da draußen ernst genommen werden, sagt der Produzent Christian Becker. Und die Motive hätten selbst Einheimische beeindruckt – im Herbst gab’s dafür sogar den »Hessischen Filmpreis«.
24 | Nur Gott kann mich richten 414 | 18. Januar 2018 Ricky (oben) sucht im Glauben nach Vergebung für seine Taten. Trotz aller Wirklichkeitsnähe war Yildirim die Bildgestaltung wichtig. Sein DoP Matthais Bolliger drehte mit der Varicam 35 in Cinemascope, oft spärlichen Licht der Straßenlaternen. Fotos: Constantin, Matthias Bolliger
414 | 18. Januar 2018 Nur Gott kann mich richten | 25 zum Film gemacht haben.« Und Bleibtreu fügt rains, die schwer kontrollierbar sind und deshalb hinzu: »Rap ist eine Subkultur mit einer extrem beide Seiten anziehen. Becker lobt: »Das ist ein treuen Zuhörerschaft. Xatar steht als Gangster- Film, der in Frankfurt spielt, aber man hat Frank- Rapper in Deutschland für eine einzigartige furt eigentlich noch nie so gesehen. Selbst Be- Glaubwürdigkeit. Und er ist ein hervorragendes kannte aus Frankfurt sagen mir: Wie habt ihr Beispiel für gelungene Integration.« meine Stadt dargestellt, wie habt ihr das gefun- Xatar kennt und schätzt Yildirim seit dessen den? Das macht das gute Auge des Kamera- Debütfilm Chiko. Auch Nur Gott kann mich rich- manns Matthias Bolliger aus.« ten hat Xatar wieder überzeugt, denn er lobt: Bolliger und Yildirim entwickelten ein Stilkon- »Sehr stark. Ich kenne kaum einen Film, der zept, das trotz aller Wirklichkeitsnähe keines- durchgehend so viel Spannung halten kann. Das wegs dokumentarisch aussehen sollte, sondern hat Özgür gut hinbekommen, er trifft definitiv sich deutlich am Spielfilm orientiert. Gedreht den Ton der Straße.« Trotzdem ist dieser Film kei- wurde im Cinemascope-Format, und die klar ne reine Rappersache, wie es etwa Yildirims Ko- strukturierten Bilder zeigen die Lust der beiden mödie Blutzbrüdaz war. Die Tragik und die Trag- auf Farben und Kontraste. Als visuelle Beispiele weite der Geschichte brauchen einen Sound- nennt Bolliger zwei Filme des Kanadiers Denis track, der nicht ganz so radikal ist. »Ich wollte den Villeneuve, Sicario (2015) und Prisoners (2013), Film nicht mit Hip-Hop zuknallen, sondern ihn oder die italienische Fernsehserie Gomorrha auch in dieser Hinsicht universeller gestalten. (2014-2015). Hip-Hop ist ein Teil davon, aber dazu gibt es auch In Anlehnung an das Noir-Genre, das Yildirim komponierte Musik«, beschreibt Yildirim das so schätzt, spielt auch das Licht in seinem Film Musikkonzept des Films. eine große Rolle – oder vielmehr die Abwesenheit von Licht. Um die diversen nächtlichen Aktionen Der Look. Yildirims Geschichte spielt also nicht der Protagonisten entsprechend atmosphärisch ausschließlich auf dem Kiez. Die Welt der Gang- ins Bild zu setzen, nutzte Bolliger die extrem ster bestimmt natürlich die Geschichte, aber ne- lichtempfindliche Kamera Varicam 35 von Pana- ben ihren Bars, Spielhallen oder Boxclubs gibt es sonic, die er bereits von Fernseharbeiten her eine Außenwelt, und gerade deren allmähliche kannte. Mit ihr war es möglich, die vorhandenen Verwicklung in den Coup von Ricky, Rafa und La- Straßenlampen als hauptsächliche Lichtquelle tif macht das Besondere des Films aus. Diese Au- zu nehmen. So schimmern die jeweiligen Szenen ßenwelt präsentiert, klassisch für einen Gang- draußen mal gelb, mal grün, während die Fin- sterfilm, die verschiedenen Handlungsorte der sternis drum herum immer spürbar bleibt. Be- Polizei. sonders diese Nachtbilder verleihen Nur Gott Matthias Bolliger, Yildirims Stammkamera- kann mich richten jene Mischung aus Gefahr mann seit dem Debüt, interessierte sich dabei und Romantik, die einen guten Gangsterfilm hauptsächlich für eine Umgebung, in der sich die ausmacht. c Wege von Polizei und Verbrechern kreuzen kön- nen. Er bediente sich dafür an den dunklen Or- ten einer Großstadt: Hochhaussiedlungen, ver- Vom Dreh mit der Varicam 35 berichtet DoP Matthias Bollinger hier: lassene Hinterhöfe, Industriebrachen – an Ter- http://bit.ly/2B9RULQ
26 | Wochenschau 414 | 18. Januar 2018 Foto: cinearte
414 | 18. Januar 2018 Wochenschau | 27 Wie geht Fairness? Vier Wochen noch, dann wird Deutschland für einige Tage wieder zum Filmland. In den Kinos der Hauptstadt laufen bis spät in die Nacht unzählige Filme vor noch mehr begeisterten Zuschauern, Schauspieler, Regisseure und der eine oder andere Filmschaffende wandeln im Blitzlicht über den Roten Teppich. Was sonst noch wichtig beim Filmemachen, wird kurz vor der Eröffnung im Kessel- haus der Berliner Kulturbrauerei diskutiert. Am 15. Februar lädt Crew United um 16:30 Uhr zum Diskussionsforum »Film but Fair«, in Kooperation mit mehr als 30 Branchenverbänden und der Ver- einigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi). Die Lage der Film- und Fernsehschaffenden in Deutschland wird immer schlechter, das haben in jüngster Zeit mehrere Studien und Umfragen belegt, erklären die Veranstalter. »Doch wie kann die Filmwirtschaft zu einem fairen, sozialvertraglichen und nachhaltigen Arbeits-, Produktions- und Lebensumfeld weiterentwickelt werden? Welche Brancheninitiative kann das schaffen?« Dazu soll auch über den Tellerrand geblickt werden: »Welche gelungenen Beispiele der Selbstorganisation, Kollektivitat und Solidarität gibt es in anderen Branchen der Kultur- und Kreativwirtschaft, aber auch in anderen Ländern?« Antworten und Anregungen erhoffen sie sich auf dem Podium von der Regisseurin und Autorin Jutta Brückner, Fabian Eder (Vorstandsvorsitzender des Dachverbands der österreichischen Film- schaffenden und der Verwertungsgesellschaft der Filmschaffenden), Alexander Thies (Vorsitzender des Gesamtvorstands der Produzentenallianz), Magdalena Ziomek-Frackowiak (Geschaftsführung und Vorstand der Künstlergenossenschaft SMartDe) und weiteren Gästen. Die Diskussion moderie- ren die Medienwissenschaftlerin Lisa Basten und der Filmjournalist Rüdiger Suchsland. Zum Thema gehören auch die Arbeitsbedingungen an sich. Seit acht Jahren vergibt darum die Bundesvereinigung der Filmschaffenden-Verbände Die Filmschaffenden den »Fair Film Award«, der in diesem Jahr gleich im Anschluß am selben Ort vergeben wird (cinearte 413). Ausgezeichnet wer- den die fairsten Filmprojekte des vergangenen Jahres in den Kategorien Spielfilm und Serie. Grund- lage für die Auszeichnung ist eine umfassende Umfrage unter den Filmschaffenden, die an den je- weiligen Projekten mitgearbeitet haben. c Die Veranstaltung wird außerdem per Livestream übertragen: www.out-takes.de | www.facebook.com/crewunited
28 | Wochenschau 414 | 18. Januar 2018 Auf der Zielgeraden Im vorigen Frühjahr gab Cannes eine »Goldene Palme« an die Hauptdarstellerin Diane Kruger (links), im Sommer wurde Aus dem Nichts als deutscher Kandidat für den »Auslands-Oscar« auser- sehen. Und da hat er ganz gute Chancen: Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences hat das Drama von Fatih Akin (rechts) im Dezember auf ihre Auswahlliste gesetzt, Anfang Januar gab es da- für nun schon mal den »Golden Globe«, der gerne und immer wieder als Stimmungsmesser für die »Oscars« bezeichnet wird – auch wenn es immer wieder mal anders kommt. Akin und sein Koautor Hark Bohm greifen in dem Film eines der Attentate des sogenannten Na- tionalsozialistischen Untergrunds (NSU) auf, wählte aber eine Erzählperspektive irgendwo zwi- schen Rachethriller und Melodram. Sein Film handelt nicht von Polizeiermittlungen oder Politik, sondern hält sich eng an seine Protagonistin, die bei dem Bombenanschlag Mann und Kind verlor und an der Welt verzweifelt. Manchen Kritiken missfiel diese künstlerische Entscheidung – sie ver- missten »das Politische« im Privaten. Dass Akin bislang als einziger die NSU-Morde für einen Kino- spielfilm thematisiert hat, störte hingegen keinen. Am 23. Januar wird die US-Filmakademie die »Oscar«-Nominierungen für den besten fremdspra- chigen Film bekannt geben. c www.oscars.org Foto: Bombero International
kia.com Ihre neue Idealbesetzung. Jetzt 19 %¹ Preisnachlass Der neue Kia Stonic. Für alle, die vom Leben nicht genug bekommen. Der neue Kia Stonic sorgt mit seinem unverwechselbaren Design überall für starke Auftritte. Dank dynamischer Motoren und zahlreicher innovativer Assistenzsysteme wird jede Fahrt zum filmreifen Abenteuer. Und mit der 7-Jahre-Kia-Herstellergarantie* starten Sie in eine sorgenfreie Zeit. Das Beste: crew-united-member erhalten beim Kauf eines Kia Stonic jetzt 19 % Preisvorteil1. Lassen Sie sich von einer Probefahrt unter 0800 777 40 442 überzeugen. * Max. 150.000 km Gemäß den gültigen Garantiebedingungen. Einzelheiten erfahren Sie bei Ihrem Kia-Vertragshändler und unter www.kia.com/de/kaufen/7-jahre-kia-herstellergarantie 1 Exklusiv für crew-united-member. Nachlass von 19 % gegenüber der UVP der Kia Motors Deutschland GmbH (Nachlass, keine Barauszahlung) für die Modelle Kia Stonic, Kia Picanto und Kia Rio ab Ausstattungsvariante Vision, Lagerfahrzeuge und Bestellfahrzeuge. Nicht kumulierbar mit anderen Verkaufsfördermaßnahmen. Gültig bei Kaufvertragsabschluss bis zum 31.06.2018.Nur bei teilnehmenden Kia-Händlern und nur solange der Vorrat reicht. Mehr Informationen und den verbindlichen Kaufpreis, einschließlich anfallender Nebenkosten, erfahren Sie bei Ihrem Kia-Vertragshändler. 2 Kostenfrei aus dem deutschen Festnetz der Telekom Deutschland GmbH, Mobilfunkpreise ggf. abweichend.
30 | Wochenschau 414 | 18. Januar 2018 Technik praxisnah Man lernt nie aus. Das weiß man auch an der HFF München. Schließlich sollen an der Hochschule nicht nur die nächsten Filmemacher heranreifen, sondern auch all jene, die schon längst im Beruf stehen. Und weil das vor allem für die Technik gilt, ruft das dortige Studienzentrum für Filmtechno- logie (SFT) auch in diesem Jahr wieder mit dem Kamera-Verband Imago zum Praxisworkshop »Hands on xK international«. Da sollen »alle Wissensstände« und Filmformen die neuesten Gerät- schaften selbst ausprobieren. Die Veranstaltung wird nun außerdem durch englischsprachige Workshops erweitert: ASC-Ka- meraleute wie Roberto Schaefer (James Bond 007: Ein Quantum Trost) und der VFX-DoP David Stump (Stargate, X-Men) und europäische Kollegen wie Marijke van Kets, Tony Costa, Philippe Ros, Jean-Paul Jarry oder Benjamin Bergery werden da ihr Wissen weitergeben. Ein Schwerpunkt wird ein Praxisseminar zum Thema »Nachhaltigkeit beim Drehen – LED-Licht professionell« in Koopera- tion mit Philipp Gassmann sein. Der Praxisworkshop läuft vom 19. bis 23. März. Die Teilnahme kostet regulär 1300 Euro, lasse sich mit Frühbucherrabatt und Prämiengutschein aber auf 450 Euro reduzieren. Premium Member von Crew United erhalten ebenfalls einen Nachlass. Studenten können gegen Mithilfe teilnehmen oder sich um eines von 22 Stipendien bewerben. c www.filmtechnologie.de Fotos: Archiv | Concorde
414 | 18. Januar 2018 Scheibenparade | 31 Scheibenparade Bekanntlich bietet die Blu-ray die bessere Sicht. Das glauben wir gerne und stellen deshalb jede Woche ausgewählte Neuerscheinungen vor. Das Beste daran: Sie können die Scheibe gewinnen. Dazu müssen Sie nur die Frage am Ende richtig beantworten. Es war einmal … nach Roald Dahl [Märchenanimation. Großbritannien 2016] Das Märchen vom Rotkäppchen kennt, zumindest in unseren Breitengra- den, wohl jedes Kind. Wenn’s nur wahr wäre. Ein paar Minuten hat Miss Hunt noch, ehe sie auf zwei Kinder aufpassen soll. So sitzt sie im Café ge- genüber mit ihrem Märchenbuch, als der böse Wolf an ihren Tisch tritt: Ob er sich wohl zu ihr setzen dürfe? Und bald erzählt er der Dame, wie es wirklich zuging, einst im Märchenwald – aus seiner Sicht natürlich … Noch ein Märchen. Die alten Geschichten erleben seit einigen Jahren einen regelrechten Boom, und nicht nur die Trickfilmer greifen wieder begeistert zu Grimms Märchen, um ihre eigene Version daraus zu drehen. Roald Dahl allerdings hatte sich schon viel früher daran ge- setzt, die alten Geschichten umzuschreiben: 1982 erschien Revolting Rhymes, eine Sammlung von sechs Gedichten zu sechs bekannten Märchen. Fünf davon haben es in einen mittellangen Film ge- schafft – genauer gesagt in zwei Halbstünder, die hier auf einer Scheibe zusammengefügt sind. Zur Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München gab’s dafür den Kinderfilmfest-Publikumspreis. Davon sollte man sich freilich ebenso wenig beruhigen lassen wie von der Altersfreigabe ab sechs Jahren oder den niedlichen Bildern (die 3D-Animationen erinnern an Wallace und Gromit und die anderen Knetmännchen der Aardman-Studios): Stil und Tempo sind zwar an ein jüngstes Publikum angepasst, doch der Humor ist nicht nur überraschend, sondern auch leicht makaber – also eindeu- tig britisch, obwohl die drei Regisseure doch allesamt einer deutschen Filmhochschule entsprungen sind. Einer von ihnen hatte vor einigen Jahren (mit einem anderen Koregisseur) mit einem Kurzfilm beeindruckt, der ebenfalls im gemeinsamen Auftrag von ZDF und BBC entstand, und war damit so- gar für einen »Oscar« nominiert gewesen. Titel und Vorlage dafür hatte welches britische Kinder- buch geliefert? Schreiben Sie Ihre Antwort an info@cinearte.net und in die Betreffzeile Ihrer E-Mail »Scheibenparade 414«. Einsendeschluß ist der 29. Januar 2018. Die Lösung verraten wir in der nächsten Ausgabe. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wonach wir in der vorigen Ausgabe an dieser Stelle gefragt hatten: Lone Scherfig inszenierte Ihre beste Stunde.
32 | Filmemachen 414 | 18. Januar 2018 Filmemachen »Alle Filmschulen versuchen den Leuten irgendwie nahezubringen oder beizubringen, wie man sich in dieser Welt seinen Weg bahnt. Das heißt natürlich auch: lernen, Kompromisse zu machen. Und da finde ich, ist es schade. Warum soll man so früh in seinem Leben schon Kompromisse machen? Das macht man viel zu sehr im Laufe des Lebens, wenn man von Kämpfen ermüdet wird. Aber in die Jugend gehört der Kompromiss doch nicht, finde ich.« Der Regisseur Edgar Reitz (Heimat) im Interview mit dem Deutschlandfunk am 5. Januar 2017. Foto: Concorde
414 | 18. Januar 2018 Fragebogen | 33 Was treibt die nächste Generation? Die Umfrage von HFF München und cinearte auf dem Internationalen Festival der Filmhochschulen München. Eri Mizutani Regie. Nationale Film, Fernseh- und Theaterschule, Lodz (Polen) So habe ich mich ins Kino verliebt: Zu meiner Zeit in der Mittelstufe hatte ich keine Geschichtskurse belegt und mochte auch keine Bücher. Also fing ich an, Filme zu schauen. Mein Traumprojekt in drei Sätzen: Ein historischer Film in Japan. Ein Monat, eine einsame Insel und nur ein Video*. Welches? Dunkirk. * Stromanschluß vorhanden Fragebogen und Fotos: Sophie Averkamp, Tim Dünschede, Gudrun Gruber und Ozan Mermer
34 | Kolumne: Das wahre Leben 414 | 18. Januar 2018 Vorspiel Es gibt eine Welt jenseits der Leinwände. Bilden wir sie ab! Unsere Kolumne »Das wahre Leben« ist dem Dokumentar- und Experimentalfilm gewidmet. Christoph Brandl, selbst Filmemacher, stellt in jeder Ausgabe aktuelle Filme, Trends und Diskussionen vor. Text Christoph Brandl Vor dem Beginn der diesjährigen Transmediale »Face Value« am 31. Januar startet bereits ab dem 19. Januar das Partnerprogramm. Dies umfasst das Vorfestivalprogramm »Vorspiel« sowie die »Transme- diale Marshall McLuhan Projects«. Mit dem »Vorspiel 2018« wollen Transmediale und das Festival für experimentelle und elektronische Musik (CTM, ehemals Club Transmediale), ihre Bemühungen der letzten Jahre fortsetzen, ein Netzwerk für Kulturschaffende, Projekträume, Galerien und Institutionen in Berlin aufzubauen und zu stärken. Das Vorfestivalprogramm, ganzjährig koordiniert durch Trans- mediale/Resource, soll unterschiedliche Genres und Praxen zusammenbringen und eine kritische Auseinandersetzung mit Kunst, Technik, Politik und Identität ermöglichen. Am Abend des 19. Januar kommen Vertreter aller beteiligten Galerien, unabhängigen Projekträume und Veranstaltungsorte im Acud macht Neu zusammen, um gemeinsam das Vorfestival inhaltlich vorzustellen: Foto: Vorspiel Berlin
414 | 18. Januar 2018 Kolumne: Das wahre Leben | 35 Import Projects lädt ein, anhand von Installatio- durch eine Verbindung ihrer experimentellen nen, Lecture Performances und Workshops mit Klangpraxis mit Text und Video dazu ein, dar- den Künstlern Aram Bartholl, Dani Ploeger und über nachzudenken, wie kollektiv nicht-hierar- Curver Thoroddsen über zeitgenössische Auto- chische, nicht-repressive Räume geschaffen renschaft und Autorität zu reflektieren. Bart- werden können. holls öffentliche Interventionen, die unter an- Die Ausstellung »Fernblick« wird am 27. Januar derem im Museum of Modern Art oder im Palais bei Errant Sound eröffnet. Der Projektraum be- de Tokyo ausgestellt wurden, beinhalten oft handelt darin den scheinbaren Widerspruch überraschende physikalische Manifestationen zwischen einer telematischen Gesellschaft mit der digitalen Welt und stellen die Rolle von einem nie zuvor dagewesenen Zugang zu Wis- Computern in der heutigen Zeit in Frage. Dani sen über ferne Länder ohne die Notwendigkeit, Ploeger kombiniert Performance, Video, Com- dorthin zu reisen und der gleichzeitigen Zunah- puterprogrammierung und Hacking, um die me von Fremdenfeindlichkeit. Anders als die Techno-Consumer-Kultur zu erforschen. Curver üblichen Google-Ergebnisse zu »Fernblick«, Thoroddsen ist ein isländischer Künstler und meist Ferienangebote mit schönem Ausblick, Musiker, dessen Arbeiten Identität, Popkultur ermöglicht die Ausstellung Perspektiven in die und Gesellschaft spielerisch in Szene setzen. Er Ferne durch Gesten und Aktionen: Über Klang ist ein Mitglied von Ghostigital und hat unter und akustische Wahrnehmung nähern sich die anderem mit Sigur Rós zusammengearbeitet. ausstellenden Künstler den Themen Sehnsucht, Hyper(surfaces)# nennt Liebig 12 ab dem 20. Gedächtnis und Heimat an. Januar eine Reihe von dreitägigen Einzelausstel- Die Transmediale Marshall McLuhan Projects lungen, in denen Künstler auf die Transmediale- umfassen Megan Bolers »Marshall McLuhan und CTM-Festivalthemen »Face Value« und Lecture« und das von Baruch Gottlieb und Ma- »Turmoil« reagieren. Den ersten Programmteil rie-José Sondeijker kuratierte Partnerprojekt im Projektraum bildet die ortsspezifische Instal- »Feedback #2: Marshall McLuhan and the Arts. lation Untitled # II (Exercise on One Axis) von War and Peace in the Global Village«. Im Rah- Hugo Esquinca. Alice Evermore zeigt Chasing men von Feedback #2 gibt es vom 26. Januar bis the White Rabbit – The Works of Alice Evermore, zum 24. Februar an verschiedenen Orten in Ber- eine Auswahl von Kurzfilmen und Videos, die lin Ausstellungen und ein begleitendes Pro- auf ihren Schriften und gemeinsamen Projekten gramm, innerhalb dessen seltenes Archivmate- mit dem Uccellino Giallo Film Collective basie- rial aus Marshall McLuhans radikalen Publika- ren. Ashley M. Puente aktiviert ihre audiovisuel- tionen gezeigt werden – ehrfurchtslose le Installation The Absent Sound of Light. Prototypen eines transdisziplinären, weiterhin Interleaved Space findet am 24. Januar in der relevanten Mediendenkens. Das Projekt um- Vierten Welt statt – eine von Lawinia Rate kura- fasst weiterhin Ausstellungen bei Eigen+Art und tierte audiovisuelle Performance, in der die in der Humboldt-Uni, sowie die interaktive Vi- Klangkünstlerin Aiko Okamoto alias DJ Kohlrabi deoinstallation Explorations in Anonymous Hi- gesellschaftliche Räume reflektiert: Was macht story des kanadischen Künstlers David Clark. c einen Raum zum sicheren Raum? Wie sieht ein solcher Raum aus? Okamotos Performance lädt https://vorspiel.berlin
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