Umkämpftes Terrain Der internationale Widerstand gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung - Berlin-Institut für Bevölkerung
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Discussion Discussion Paper Paper 24 17 Umkämpftes Terrain Der internationale Widerstand gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
Impressum Originalausgabe November 2019 © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. Herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org www.berlin-institut.org Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut). Recherche und Grafiken: Lena Reibstein Lektorat: Susanne Dähner Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de) Druck: Laserline Berlin Einige thematische Landkarten wurden auf Grundlage des Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt. ISBN: 978-3-946332-53-4 Die Autoren Alisa Kaps, 1991, Masterstudium in Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Uni- versität Salzburg. Ressortleiterin Internationale Demografie am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Ann-Kathrin Schewe, 1992, Masterstudium Internationale Entwicklung und BWL an der Sciences Po Paris und der Stockholm School of Economics. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Catherina Hinz, 1965, Magisterstudium in den Fachbereichen Germanistik, Geschichte und Südasienwissenschaften an den Universitäten Hamburg und Heidelberg, geschäftsführende Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das Berlin-Institut dankt der Dirk Rossmann GmbH für die Ermöglichung des Discussioin Papers. Für den Inhalt des Papiers trägt das Berlin-Institut die alleinige Verantwortung.
INHALT 1 | Warum der Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung anhält............................................4 2 | Von welchen Seiten der Widerstand gegen das Kairoer Aktionsprogramm kommt.......12 2.1 Der Vatikan und seine Allianzpartner.................................................................................13 2.2 Die USA unter Trump – Feindlicher gesinnt denn je.......................................................16 2.3 Europa – Zwischen anhaltender Unterstützung und wachsendem Widerstand....... 21 3 | Wie weiter?.......................................................................................................................................24 Quellen.....................................................................................................................................................26 Berlin-Institut 3
1 WARUM DER KAMPF UM DAS RECHT AUF SELBSTBESTIMMUNG ANHÄLT Die Weltbevölkerung wächst. Bis zur Mitte Wachstumsschub in armen Staaten Staaten täglich mit weniger als 1,90 US-Dol- dieses Jahrhunderts, also in gerade einmal lar auskommen, was international als Grenz- 30 Jahren, dürfte die Zahl der Menschen auf Das natürliche Bevölkerungswachstum bringt wert zur extremen Armut gilt.6 der Erde von heute 7,7 auf 9,7 Milliarden hingegen die ärmeren Länder an die Grenzen anwachsen. Ausgehend vom Jahr 1950 könn- ihrer Handlungsfähigkeit. In den meisten der Das hohe Bevölkerungswachstum erschwert te sich die Spezies Mensch bis dahin also 47 Länder, die laut den Vereinten Nationen in die Lösung all dieser Entwicklungsprobleme, nahezu vervierfacht haben – und das in nur die Kategorie der am wenigsten entwickelten denn mehr Menschen benötigen auch mehr einem Jahrhundert.1 Dass wir einmal so viele Staaten der Welt fallen, dürfte sich die Bevöl- Lehrer, Schulen und andere Dienstleister. Der sein würden und womöglich bald die kerung in den kommenden 30 Jahren verdop- Ausbau der Basisinfrastruktur hält vielerorts Zehn-Milliarden-Marke überschreiten – laut peln, teilweise sogar verdreifachen. Fast drei mit dem Einwohnerzuwachs schlichtweg den Vorausschätzungen der Vereinten Natio- Viertel dieser Länder liegen in Subsahara- nicht mit, was die betroffenen Länder in nen dürfte das im Jahr 2057 passieren – hätte Afrika, wo Frauen im Laufe ihres Lebens einem Kreislauf aus anhaltend hohen Kinder- sich in der Vergangenheit wohl kaum jemand durchschnittlich 4,7 Kinder zur Welt bringen zahlen und fortdauernder Armut festhält. träumen lassen. Schließlich warnten Exper- – beinahe doppelt so viele wie im weltweiten Denn wo immer es den Menschen an Zugang ten schon in den 1960er und -70er Jahren vor Schnitt. Allein in dieser Region dürfte sich die zu Gesundheits- und Bildungsdienstleistun- dem Kollaps des Planeten angesichts des Bevölkerung von heute etwa einer Milliarde gen sowie Einkommensmöglichkeiten man- rasanten Bevölkerungswachstums. bis 2050 auf zwei Milliarden Menschen ver- gelt, verharren die Kinderzahlen erfahrungs- doppeln.3 gemäß auf hohem Niveau und das Bevölke- In Zeiten von ersten spürbaren Auswirkungen rungswachstum hält weiter an.7 des Klimawandels stellt sich die Frage nach Eine wachsende Bevölkerung stellt nicht per den Grenzen des Wachstums erneut. Wie se ein Problem dar, zumindest solange die viele Bewohner kann unser Planet beherber- steigende Zahl an Menschen gut versorgt Entscheidungsfreiheit als Weg gen und unter welchen Bedingungen ist dies werden kann. Allerdings liegt genau hier die aus der Armut möglich? In den Industrienationen, wo die Herausforderung: Der größte Wachstums- Kinderzahlen niedrig sind und die Bevölke- schub steht insbesondere jenen Ländern Wie sich dieser Kreislauf durchbrechen lässt, rung künftig stabil bleiben oder bereits bevor, die heute schon große Schwierigkeiten ist hinreichend bekannt und durch die Erfah- schrumpfen dürfte, steht diese Frage eng im haben, ihre Bevölkerung angemessen mit rungen in Ländern, die in ihrer demografi- Zusammenhang mit Diskussionen rund um Nahrung, Sanitäreinrichtungen, Krankenhäu- schen und sozioökonomischen Entwicklung das eigene Konsumverhalten. Denn ange- sern und Schulen zu versorgen. So kann etwa weiter vorangeschritten sind, gut belegt: sichts des hohen Pro-Kopf-Verbrauchs fossi- in Ländern wie Niger, Tschad oder Burkina Damit Menschen sich aus der Armut befreien ler Rohstoffe und der Freisetzung von Kohlen- Faso im Schnitt die Hälfte der Kinder im können, müssen sie die Chance auf eine gute dioxid haben die Industriestaaten ein „öko- Grundschulalter keine Schule besuchen.4 In Gesundheit, Bildung und ein auskömmliches logisches Bevölkerungsproblem“.2 Simbabwe, Somalia und der Zentralafrikani- Einkommen haben. Wenn sich ihr Gesund- schen Republik sind 47 bis 62 Prozent der heitszustand – und besonders der ihres Menschen von Unterernährung betroffen.5 Nachwuchses – verbessert, sie nicht mehr von der Hand in den Mund leben müssen und Zudem fehlt es nahezu überall an Arbeitsplät- sie dank einer besseren Bildung andere Zu- zen, die ein auskömmliches Leben ermögli- kunftsperspektiven haben, beginnen sie chen und den Menschen eine Zukunftspers- meist ihr eigenes Leben anders zu planen. pektive bieten. Die Folge sind anhaltend hohe Dies führt in der Regel dazu, dass sie auch Armutsraten: Im Schnitt müssen zwei von anders über ihre Familiengröße nachdenken. fünf Menschen in den wenig entwickelten Bessere Lebensbedingungen tragen so dazu 4 Umkämpftes Terrain
bei, dass die Zahl der gewünschten Kinder Der Gedanke, dass Selbstbestimmung – ins- Ein hart erkämpfter Meilenstein schließlich sinkt. Diese Veränderungen haben besondere für Frauen – der beste Weg ist, um alle Gesellschaften im Zuge ihres demografi- Entwicklungsfortschritte zu erreichen, Armut Die „Internationale Konferenz für Bevölke- schen Wandels in der Vergangenheit erlebt.9 zu bekämpfen und so schließlich auch das rung und Entwicklung“ (International Confe- Bevölkerungswachstum zu verlangsamen, ist rence on Population and Development, ICPD), Damit sich der sinkende Kinderwunsch auch nicht neu. Tatsächlich ist es seit vielen Jahren die 1994 in der ägyptischen Hauptstadt auf die demografische und sozioökonomi- das Leitprinzip der internationalen Bevölke- stattfand, war in vielerlei Hinsicht ein Meilen- sche Entwicklung auswirkt, müssen Paare rungspolitik, um das bei den Vereinten Natio- stein in Fragen rund um eine selbstbestimmte und Familien allerdings auch die Möglichkeit nen jedoch über mehrere Jahrzehnte hinweg Fortpflanzung. Auf früheren UN-Konferenzen, haben, die Zahl ihres Nachwuchses selbst diskutiert und gerungen wurde. Der zentrale wie etwa bei der Menschenrechtskonferenz bestimmen zu können. Das gilt insbesondere Schritt, der die Entscheidungsfreiheit und die 1968 in Teheran, hatten sich die Vertreter der für Frauen, die meist andere Vorstellungen Bedürfnisse des Einzelnen in den Mittelpunkt Weltgemeinschaft bereits darauf geeinigt, über die Größe ihrer Familie haben als Män- der bevölkerungs- und entwicklungspoliti- dass Paare das Grundrecht haben, frei und ner. Frauen dazu zu befähigen, selbstbe- schen Maßnahmen rückte, gelang bei der verantwortlich die Zahl und den Altersab- stimmt über die Zahl ihrer Kinder entschei- Weltbevölkerungskonferenz in Kairo vor stand ihrer Kinder zu bestimmen. Doch erst den zu können, ist somit ebenso zentral wie genau 25 Jahren. in Kairo einigten sich die Delegierten darauf, der entsprechende Zugang zu modernen dieses Recht jedem Einzelnen zuzugestehen. Verhütungsmethoden. Denn erst letzteres Sie gingen dabei noch weiter und bündelten macht es dann auch möglich, den eigenen die aus den Menschenrechten abgeleiteten Kinderwunsch umzusetzen.10 Ansprüche jedes Menschen, frei über den eigenen Körper, Partnerschaft und Familien- planung zu entscheiden.11, 12 Schwieriges Wachstum Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung hat sich seit Mitte der 1960er Jahre von zwei auf ein Prozent halbiert. Doch da heute deutlich mehr Menschen im reproduktiven Alter auf der Erde leben als vor knapp 60 Jahren, wächst die Bevölkerung aktuell noch jährlich um etwa 80 Millionen. Auch in Zukunft wird der Wachstumstrend anhalten, insbesondere in den weniger entwickelten Ländern, wo die Geburtenziffern im Schnitt mehr als doppelt so hoch liegen wie in den Industriestaaten. Gerade dort kann die Basisinfrastruktur meist kaum mit dem raschen Zuwachs mithalten, was sich negativ auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirkt. unter 0 0 bis unter 25 25 bis unter 50 50 bis unter 75 75 bis unter 100 100 bis unter 125 125 bis unter 150 150 und mehr keine Daten Vorausgeschätztes Bevölkerungswachstum weltweit, in Prozent, 2019 bis 2050 (Datengrundlage: UN DESA8) Berlin-Institut 5
Das Recht, die Familie nach den eigenen Politik, in der das Individuum im Mittelpunkt Unzureichende Fortschritte Vorstellungen zu planen, betteten die Versam- steht. Das Kairoer Aktionsprogramm forderte melten in Kairo dabei in ein breites Spektrum die Staaten sogar gezielt dazu auf, den Ansatz Das Kairoer Aktionsprogramm deckt in sei- an dazu nötigen Gesundheitsleistungen, die der Geburtenkontrolle aus den nationalen nen 16 Kapiteln eine große Bandbreite an das Abschlussdokument unter dem Begriff Bevölkerungsstrategien zu streichen, um Themen ab: Neben den Punkten zur repro- der „reproduktiven Gesundheit“ zusammen- künftig menschenrechtswidrige Auswüchse duktiven Gesundheit gehören dazu etwa fasste. Auf diese sollte fortan jeder Einzelne einer solchen Politik, wie etwa die Ein-Kind- Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und inter- ein Anrecht haben. Sie zielten insbesondere Politik in China, zu verhindern.16 nationale Kooperation. In den letzten 25 auf Frauen und ihr Recht auf gesundheitliche Jahren hat die Weltgemeinschaft in vielen Unversehrtheit in allen Belangen der Fort- pflanzung ab: Von der medizinischen Betreu- ung während der Schwangerschaft, einer Das Vermächtnis von Kairo sicheren Entbindung und dem Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten, bis hin zum Kampf gegen geschlechterspezifi- Alle Aspekte, die mit dem Wohlbefinden Daneben soll jedem Menschen ein befrie- sche Gewalt und schädliche Praktiken wie jedes Einzelnen in allen Belangen von digendes und ungefährliches Sexualleben etwa weibliche Genitalverstümmelung.13 Fortpflanzung und Sexualität zu tun ha- möglich sein. Das Kairoer Aktionspro- ben, werden heute in der Literatur mit gramm fasst alles, was damit einhergeht Ein Abschlussdokument zu erstellen, das alle dem Sammelbegriff „sexuelle und repro- unter dem Begriff sexuelle Gesundheit 179 teilnehmenden Nationen im Konsensver- duktive Gesundheit und Rechte“ (kurz zusammen. Laut der Definition der Welt- fahren verabschieden konnten, war bei die- SRGR) zusammengefasst. Nicht alle Teil- gesundheitsorganisation (WHO) ist damit sen Themen allerdings alles andere als ein- komponenten dieses Begriffs sind bereits ein Zustand des physischen, emotionalen, fach. Auf dem Gipfel in Kairo tobten, wie auch in Kairo definiert und festgeschrieben geistigen und sozialen Wohlbefindens in schon auf dessen Vorbereitungstreffen, hefti- worden. Ein Überblick: Bezug auf Sexualität gemeint. Dazu ge- ge Diskussionen darüber, ob diese Bandbrei- hört auch ein „positiver und respektvoller te an Rechten wirklich jedem Individuum Das Kairoer Aktionsprogramm, definiert Umgang mit Sexualität und sexuellen zugestanden werden sollte oder lediglich reproduktive Gesundheit als „den Zu- Beziehungen sowie die Möglichkeit, lust- Ehepaaren. Denn nach der Meinung vieler stand des vollständigen seelischen, kör- volle und sichere sexuelle Erfahrungen zu 19 konservativer Staaten ist die Ehe der einzige perlichen und sozialen Wohlbefindens im machen“. Rahmen, in dem die Fortpflanzung überhaupt Hinblick auf Sexualität und Fortpflan- 17 stattfinden soll. Noch hitziger wurde um den zung“. Daraus ergibt sich das individuel- Sexuelle Rechte sind im Aktionspro- Zugang zu modernen Verhütungsmitteln und le Recht, frei von Diskriminierung, Zwang gramm von Kairo nicht definiert, da sich Schwangerschaftsabbrüchen debattiert. oder Gewalt über den Zeitpunkt für eige- bei diesem Thema keine Einigkeit unter Nach einem zähen Ringen um die Paragrafen nen Nachwuchs sowie über die Zahl der den teilnehmenden Staaten erzielen ließ. zum Thema Abtreibung und einiger sprach- Kinder entscheiden zu können. Dies setzt Bis heute gibt es kein internationales licher Schleifarbeit daran, stand zum Ende erstens den Zugang zu sicheren, effekti- Übereinkommen darüber, wie eine Defini- 20 der Konferenz schließlich doch ein Doku- ven und bezahlbaren Verhütungsmitteln tion dieser Rechte aussehen sollte. Laut ment, dem alle Anwesenden zustimmen sowie die notwendigen Informationen der Guttmacher-Lancet Kommission für konnten, wenn auch teilweise nur mit Vorbe- darüber voraus. Dies schließt auch die sexuelle und reproduktive Gesundheit und halten: das Kairoer Aktionsprogramm.14, 15 Vermeidung ungewollter Schwangerschaf- Rechte gehört dazu unter anderem das ten und den Zugang zu einer „sicheren“, Recht auf sexuelle Gesundheit und darauf, Das Aktionsprogramm von Kairo stellte einen das heißt fachgerecht durchgeführten die eigene Sexualität unabhängig von wichtigen Perspektivwechsel dar, den unter Abtreibung ein – sofern diese im jeweili- sexueller Orientierung und Geschlechts- anderem Frauenrechtlerinnen und Nichtre- gen Land legal ist. Zweitens gehört dazu identität einvernehmlich mit dem Partner gierungsorganisationen (NGOs) lange voran- aber auch die medizinische Betreuung ausleben zu können, ohne sich vor Diskri- 21 getrieben hatten: weg von der Bevölkerungs- während der Schwangerschaft sowie minierung fürchten zu müssen. politik, die durch staatliche Familienpla- während und nach der Geburt, inklusive nungsprogramme gesetzte Ziele in Sachen der medizinischen Versorgung der Neu- 18 Fertilitätsraten erreichen sollte, hin zu einer geborenen. 6 Umkämpftes Terrain
dieser Bereiche große Fortschritte gemacht. Defizite bei Kinder- und Die Zugewinne an durchschnittlicher Lebens- Einige der Kairoer Beschlüsse gingen im Jahr Müttergesundheit zeit hängen vor allem mit dem gesunkenen 2000 in die Millenniums-Entwicklungs- Sterberisiko für Säuglinge und Kleinkinder Agenda (MDGs) ein und schließlich – deutlich In Kairo einigten sich die Vertreter der Welt- zusammen, das sich weltweit seit 1990 mehr umfassender – in die 2015 verabschiedete gemeinschaft darauf, das Sterberisiko von als halbiert hat. Allerdings stehen die Chan- Anschluss-Agenda der Nachhaltigen Entwick- Müttern und Kleinkindern deutlich zu redu- cen für Kinder, ihre ersten Lebensjahre gut zu lungsziele (SDGs, Kasten Seite 10). zieren sowie insgesamt die Gesundheitsver- überstehen, in den am wenigsten entwickel- Trotzdem bleiben bis heute Defizite: Längst sorgung so zu verbessern, dass Menschen ten Ländern weltweit immer noch schlechter nicht jede Frau oder jedes Paar hat heute die überall auf der Welt künftig länger und gesün- als in weiter entwickelten Staaten. Am höchs- Möglichkeit, das eigene Leben nach den der leben können. Dass dabei seit 1994 gro- ten liegt das Sterberisiko für die Kleinsten in eigenen Vorstellungen zu gestalten und die ße Fortschritte erzielt wurden, zeigt sich an Subsahara-Afrika, wo im Schnitt eines von Familie dementsprechend zu planen. Ebenso der Lebenserwartung, die vor allem in den dreizehn Kindern vor seinem fünften Lebens- wenig haben Frauen überall auf der Welt ärmsten Ländern weltweit deutlich gestiegen jahr stirbt.23 Zugang zu Bildung oder zu jenen Gesund- ist. Heute können Neugeborene in den am heitsleistungen, die sie laut dem Kairoer wenigsten entwickelten Ländern damit rech- Ob Kinder einen guten Start ins Leben haben, Aktionsprogramm während und nach nen, 65 Jahre alt zu werden – ein Zugewinn ist auch davon abhängig, ob ihre Mütter ge- Schwangerschaft und Geburt erhalten sollten. von fast 15 Lebensjahren seit Beginn der sund sind und eine möglichst umfassende Der folgende Überblick zeigt, wo bereits 1990er Jahre.22 medizinische Versorgung während und nach Fortschritte erzielt werden konnten und wo der Schwangerschaft erhalten. Da sich die die Umsetzung nur schleichend vorangeht: Gesundheitsversorgung vielerorts verbessert Wo Kinderkriegen lebensgefährlich ist Trotz einiger Fortschritte ist das Risiko für Frauen an den Folgen von Komplikationen einer Schwangerschaft zu sterben, in den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt noch immer deutlich höher als in den Industriestaaten. In Australien oder Neuseeland liegt etwa die Wahrscheinlichkeit, dass eine 15-Jährige im Laufe ihres Lebens im Zuge von Schwangerschaft oder Geburt stirbt bei 1 zu 7.800. Dagegen liegt das Sterberisiko für Frauen dieses Alters in Subsahara-Afrika bei 1 zu 37. unter 20 20 bis unter 100 100 bis unter 300 300 bis unter 500 500 bis unter 1.000 1.000 und mehr keine Daten Müttersterblichkeit (Todesfälle je 100.000 Lebendgeburten), 2017 (Datengrundlage: WHO28) Berlin-Institut 7
Wo der Schulbesuch ein Privileg bleibt In Staaten wie Deutschland oder der Schweiz besuchen junge Menschen heute im Schnitt mehr als 13 Jahre lang eine Bildungseinrichtung. Davon können Kinder in den am wenigsten entwickelten Ländern nur träumen: In Burkina Faso oder Tschad gehen Jungen nur etwa zwei bis drei Jahre zur Schule, Mädchen im Schnitt sogar nur etwa ein Jahr. Das wirkt sich nicht nur negativ auf ihre eigene Zukunftsperspektive aus, sondern auch auf die ihrer Heimatländer. unter 3 3 bis unter 6 6 bis unter 9 9 bis unter 12 12 und mehr keine Daten Durchschnittliche Schulbesuchs- dauer der Bevölkerung über 25 Jahren, in Jahren, 2017 (Datengrundlage: UNDP 40) hat, ist für Frauen die Gefahr, im Zuge von schaftsbezogenen Todesfälle darauf zurück- wert einräumen. Das hat sich bereits bezahlt Schwangerschaft und Geburt zu sterben, in führen, in Subsahara-Afrika und in Südameri- gemacht: So ist etwa die Einschulungsrate in den letzten beiden Jahrzehnten bereits ge- ka sind es sogar rund zehn Prozent.27 der Grundschule in den am wenigsten entwi- sunken: Von 385 Todesfällen pro 100.000 ckelten Staaten zwischen 1990 und 2015 von Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 216 im Jahr 50 auf 80 Prozent und in der Sekundarstufe 2015 – ein Rückgang um etwa 40 Prozent.24 Schwieriger Bildungszugang von 15 auf rund 40 Prozent angestiegen.35 Allerdings hinken die ärmeren Länder auch Eine zentrale Voraussetzung für Selbstbe- Von dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen hier hinterher, insbesondere in Subsaha- stimmung im Hinblick auf das eigene Leben, weltweit eine Grundschulbildung zu garantie- ra-Afrika. Dort lag die Müttersterblichkeit die eigene Sexualität und die eigene Fort- ren, wie es etwa das Kairoer Aktionspro- 2015 mit rund 550 Todesfällen je 100.000 pflanzung ist Bildung. Denn sie wirkt sich gramm und die MDGs vorsahen, sind viele Lebendgeburten rund 36 Mal höher als etwa über unterschiedliche Kanäle positiv auf die Länder allerdings noch weit entfernt: Im Jahr in Nordamerika oder Europa.25 Ein wesentli- Gesundheit, die Einkommensperspektiven 2018 konnten weltweit knapp 60 Millionen cher Grund dafür ist die mangelnde medizini- und auch die Gleichberechtigung zwischen Kinder im Grundschulalter keine Schule besu- sche Begleitung: Schätzungen zufolge fehlt es Männern und Frauen aus. Neben den Vortei- chen. Über die Hälfte von ihnen lebt in Subsa- jedes Jahr über 45 Millionen Frauen in ärme- len für jeden Einzelnen trägt sie so indirekt hara-Afrika. Insgesamt liegen die Einschu- ren Ländern an einer guten medizinischen auch dazu bei, die Entwicklungschancen lungsraten in der Grundschule in den am Betreuung während der Schwangerschaft.26 ganzer Nationen zu verbessern.34 Insofern ist wenigsten entwickelten Ländern mit etwa 80 Aber auch unsichere Schwangerschaftsab- es kaum verwunderlich, dass sowohl das Prozent fast zehn Prozentpunkte unter dem brüche gefährden immer wieder das Leben Kairoer Aktionsprogramm als auch die Mill- weltweiten Schnitt. Noch schwieriger wird es tausender Frauen. Weltweit lassen sich schät- enniums- und die Nachhaltigen Entwick- beim Zugang zur Sekundarstufe, der laut den zungsweise acht Prozent der schwanger- lungsziele Bildung einen zentralen Stellen- SDGs bis 2030 für alle möglich sein soll: Hier 8 Umkämpftes Terrain
werden in den am wenigsten entwickelten knapp vier Jahre eine Schule, Jungen dagegen Fehlende Gleichberechtigung Staaten weltweit nur rund 40 Prozent der fast zwei Jahre mehr.38 Solange Mädchen Jugendlichen im entsprechenden Alter einge- allerdings beim Bildungszugang benachteiligt In Kairo verständigten sich die Vertreter der schult, während es weltweit im Schnitt 66 sind, bleibt ihnen die Chance verwehrt, ihr Weltgemeinschaft darauf die Rechte von Frau- Prozent sind.36 Leben selbstbestimmt zu gestalten und einen en zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie in Weg einzuschlagen, der über die Rolle als allen Bereichen des alltäglichen Lebens gegen- Vor allem Mädchen und junge Frauen haben Mutter und Ehefrau hinausgeht. Wenn sie über Männern gleichgestellt sind – beim Zu- es beim Bildungszugang häufig noch schwer, dagegen eine Schule besuchen, wirkt sich das gang zu Gesundheits- und Bildungsdienstleis- zumindest in den ärmeren Ländern. Zwar positiv auf ihre Perspektiven, ihr Einkommen tungen, in Gesellschaft und Politik und auch sind ihre Chancen auf eine Schulbildung sowie ihre Gesundheit und die ihrer Kinder auf dem Arbeitsmarkt. Denn dies ist nicht nur heute so gut wie nie zuvor, doch gegenüber aus. Mittelfristig trägt mehr Bildung für Mäd- zentral für die Lebensbedingungen der Frauen ihren männlichen Altersgenossen sind sie chen zudem dazu bei, das Bevölkerungs- und die Würdigung ihrer Menschenrechte. Es häufig benachteiligt. In West- und Zentralafri- wachstum zu verlangsamen. Denn in Ent- ist – so hält es das Kairoer Aktionsprogramm ka werden im Schnitt je 100 Jungen nur 76 wicklungsländern bringen gebildete Frauen fest – auch essentiell für eine nachhaltige Mädchen eingeschult und nur etwa jede im Schnitt zwei bis drei Kinder weniger zur Entwicklung ganzer Nationen.41 dritte Schülerin schließt die untere Sekundar- Welt als jene, die nie zur Schule gegangen stufe ab.37 Im Schnitt besuchen Mädchen in sind.39 den am wenigsten entwickelten Staaten Wo es Frauen an Mitsprache mangelt Bis heute sind vor allem Frauen in ärmeren Ländern in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens gegenüber Männern benachteiligt, etwa beim Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt oder bei der politischen Mitbestimmung. Laut dem Gender Inequality Index erfahren Frauen im Jemen und in Papua-Neuguinea die größte Benachteiligung, während Schweizerinnen und Däninnen weltweit die höchste Gleichberechtigung genießen. unter 0,1 0,1 bis unter 0,2 0,2 bis unter 0,3 0,3 bis unter 0,4 0,4 bis unter 0,5 0,5 bis unter 0,6 0,6 und mehr Weltweite geschlechterspezifische Ungleichheit nach dem Gender Inequality keine Daten Index („0“ = absolute Gleichberechtigung, „1“ = größte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern), 2017 (Datengrundlage: UNDP 44) Berlin-Institut 9
Bei einem Blick auf den Gender Inequality Die Vereinbarungen von Kairo im Spiegel der internationalen Index der Vereinten Nationen, der die Diskri- Entwicklungsziele minierung von Frauen in den Bereichen Ge- sundheit, Bildung, Erwerbsbeteiligung und politische Mitsprache bewertet, zeigt sich Die Schwierigkeiten auf internationaler eine Rolle. Lediglich das wenig kontrover- jedoch schnell, dass Frauen in vielen Berei- Ebene eine gemeinsame Linie zu Fragen se Ziel der Verbesserung der Mütterge- chen noch benachteiligt sind. Etwa bei der der sexuellen und reproduktiven Gesund- sundheit wurde zum MDG gemacht. Erst politischen Mitsprache: Im weltweiten heit und Rechte zu finden, zeigten sich sieben Jahre später gelang es, den MDGs Schnitt haben Frauen weniger als ein Viertel nach Kairo auch bei der Ausarbeitung zumindest ein Unterziel hinzuzufügen, der Sitze in Parlamenten inne. In arabischen internationaler Entwicklungsziele. dass den universellen Zugang zu repro- 30, 31 Ländern und in Südasien gilt das im Schnitt duktiver Gesundheit fordert. für weniger als ein Fünftel der Frauen.42 So fand das Thema in den Millennium Development Goals (MDGs), die eine Agen- In den Sustainable Development Goals Auch Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen da für die Erreichung zentraler Ziele zur (SDGs), die die MDGs 2015 ablösten, ist noch immer verbreitet. Laut einem Bericht weltweiten Entwicklung zwischen 2000 wurde den Zielen von Kairo stärker Rech- des Bevölkerungsfonds der Vereinten Natio- und 2015 festlegten, zunächst keinerlei nung getragen: Unterziel 3.7 fordert den nen erfährt etwa jede dritte Frau im Laufe Erwähnung.29 Beobachtern zufolge wollte allgemeinen Zugang zu sexuellen und ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt. das UN-Sekretariat die hitzigen Debatten reproduktiven Gesundheitsdienstleistun- Zudem sind jedes Jahr noch immer Zehntau- aus Kairo nicht erneut eröffnen, um die gen, wie Familienplanung, und deren sende Mädchen von schädlichen Praktiken breite Akzeptanz der Millenniums-Ent- Einbettung in nationale Programme und wie etwa weiblicher Genitalverstümmelung wicklungsziele nicht zu gefährden. Zudem Strategien; Unterziel 5.6 pocht auf Ge- betroffen.43 sollte der mit dem Kairoer Aktionspro- schlechtergerechtigkeit und neben dem gramm erreichte Konsens nicht durch Zugang zu sexueller und reproduktiver neue Diskussionen aufs Spiel gesetzt Gesundheit auf reproduktive Rechte spe- Kaum Wissen und Mittel zur Verhütung werden. Auch der Rückzug der USA als ziell für Frauen. Dennoch wurden auch in Befürworter von sexueller und reprodukti- den SDGs Lücken gelassen: Die Erwäh- 32, 33 Damit alle Menschen frei, informiert und ver Selbstbestimmung unter der Bush-Re- nung sexueller Rechte fehlt. verantwortungsbewusst über die Anzahl ihrer gierung spielte bei dieser Entscheidung Kinder und den zeitlichen Abstand zwischen deren Geburten entscheiden können, brau- chen sie Zugang zu modernen und sicheren Mitteln der Familienplanung. Während es für Neben den Frauen, die keinen Zugriff auf Widerstände als Bremse die meisten Bewohner in den Industriestaa- moderne Familienplanungsmethoden haben, ten normal ist, die Wahl zwischen einer Viel- gibt es zudem jene, denen wegen mangeln- Ein Blick auf die Übersichtskarten und die zahl unterschiedlicher Verhütungsmittel zu der Aufklärung und Informationen schlicht- vorherrschenden globalen Ungleichheiten haben – vom Kondom über die Pille bis hin zu weg das Wissen dazu fehlt, wie sie ihre Fami- wirft natürlich die Frage auf, warum es der Hormonstäbchen –, ist das in anderen Teilen lie planen können. Denn eine umfassende Weltgemeinschaft bislang noch nicht gelun- der Welt alles andere als selbstverständlich. Sexualaufklärung ist längst nicht überall gen ist, allen Menschen den Zugang zu Ge- Tatsächlich haben in den Entwicklungslän- normal. In Tschad, Mauretanien und der sundheitsleistungen, Verhütungsmethoden dern jedes Jahr über 200 Millionen Frauen, Zentralafrikanischen Republik kennt bei- oder Bildung zu ermöglichen und für Gerech- die gern eine Schwangerschaft vermeiden spielsweise jede dritte Frau keine einzige tigkeit zwischen Männern und Frauen zu würden, keinen Zugang zu modernen Metho- moderne Verhütungsmethode.46 Und auch sorgen. Die dahinterstehenden Ursachen sind den der Empfängnisverhütung. Über die Mythen rund um Sex und Fortpflanzung hal- komplex und auch je nach Länderkontext Hälfte der Frauen mit einem ungedeckten ten sich aufgrund mangelnder Aufklärung sehr unterschiedlich. Ein wesentlicher Grund, Bedarf an Verhütungsmitteln lebt in Subsaha- teilweise noch wacker: So glauben Jugendli- der dazu beiträgt, dass die bereits in Kairo ra-Afrika und in Südostasien.45 che in einigen Ländern etwa, dass eine Frau getroffenen Vereinbarungen weiterhin un- beim ersten Geschlechtsverkehr nicht erreicht bleiben, sind anhaltende Widerstän- schwanger werden kann oder dass ein Mann, de, die gegen einige Punkte des Kairoer Ak- der sich mit HIV infiziert hat, geheilt werden tionsprogramms auch 25 Jahre nach dem als kann, wenn er Sex mit einer Jungfrau hat.47 historisch gefeierten Konsens fortbestehen. 10 Umkämpftes Terrain
Denn ob Paare Kontrazeptiva nutzen dürfen, seiner Inhalte auf. Dadurch bremsen sie inter- um ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, ob nationale Anstrengungen zur Umsetzung der ungewollt Schwangere Zugang zu einer Ab- Ziele der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz treibung erhalten und ob Frauen in allen – und auch der Nachhaltigkeitsziele, die Bereichen des Lebens die gleichen Rechte diese weiterverfolgen. zugestanden werden sollten wie Männern – all das sind Fragen, über deren Antworten Woher diese Widerstände kommen, wer auch heute weltweit keine Einigkeit herrscht. dahintersteht und mit welchen Argumenten Einige religiöse und gesellschaftliche Grup- die Opponenten sich gegen das Recht auf pen, Machthaber und Organisationen sehen Selbstbestimmung stellen, zeigt das folgende diese weiterhin kritisch und treten deshalb Kapitel. als Opponenten des Aktionsprogramms und Wo die Familiengröße nicht planbar ist In den am wenigsten entwickelten Staaten ist der Zugang zu modernen Kontrazeptiva oft noch schwierig. In Afrika möchten beispielsweise mehr als vier von zehn Frauen gern eine Schwangerschaft vermeiden, doch etwa die Hälfte von ihnen hat keinen Zugriff auf moderne Verhütungsmittel. Damit kann längst nicht jede Frau, die gerne weniger Kinder bekommen würde, diesen Wunsch auch umsetzen. unter 10 10 bis unter 15 15 bis unter 20 20 bis unter 25 25 und mehr keine Daten Ungedeckter Bedarf an Familienplanungsmethoden, in Prozent, 2010 bis 2018 (jeweils letztes verfügbares Jahr) (Datengrundlage: UN DESA48) Berlin-Institut 11
2 VON WELCHEN SEITEN DER WIDERSTAND GEGEN DAS KAIROER AKTIONSPROGRAMM KOMMT Sexualität und Fortpflanzung sind seit jeher Zu den Hauptstreitpunkten gehörten neben und das Recht auf Leben schützen wollen, kontroverse Themen. Häufig wurden und der Frage, ob moderne Mittel zur Empfäng- den Befürwortern der sexuellen und repro- werden sie tabuisiert oder entfachen hitzige nisverhütung moralisch vertretbar und zuläs- duktiven Selbstbestimmung in Brüssel und Debatten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sig sind, vor allem die Diskussion um Straßburg zunehmend das Leben schwer jede Gesellschaft, Religion, Kultur und jedes Schwangerschaftsabbrüche.2 Als kleinster ( Kapitel 2.3). Und auch unter dem als pro- Rechtssystem eigene Auffassungen zu den gemeinsamer Nenner hielten die Delegierten gressiv geltenden Papst Franziskus lehnt die Belangen der menschlichen Reproduktion hat. im Kairoer Aktionsprogramm schließlich fest, katholische Kirche weiterhin jegliche Form Als die Internationale Gemeinschaft 1994 auf dass eine Abtreibung kein Mittel zur Familien- der Familienplanung vehement ab ( Kapitel der Weltbevölkerungskonferenz (ICPD) in planung sein darf und dass der Vermeidung 2.1). Kairo zusammentraf, um diese Fragen zu ungewollter Schwangerschaften durch Fami- diskutieren, waren Meinungsverschiedenhei- lienplanungsprogramme höchste Priorität Um dieser Entwicklung etwas entgegenzuset- ten und Unstimmigkeiten programmiert. Das eingeräumt werden müsse. In Ländern, in zen, hat der Bevölkerungsfonds der Vereinten galt insbesondere für das Recht auf reproduk- denen Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich Nationen (UNFPA) gemeinsam mit Dänemark tive und sexuelle Selbstbestimmung, das in geregelt sind, sollten sie sicher sein und nur und Kenia zum 25. Jubiläum des Kairoer Gip- genau diesem Spannungsfeld ethischer, reli- unter entsprechender medizinischer Beglei- fels erneut eine Konferenz einberufen, um die giöser und moralischer Fragen liegt.1 tung stattfinden.3 Vereinbarungen von 1994 noch einmal her- vorzuheben und deren Unterstützer zu mobi- lisieren. Vor der Zusammenkunft in der kenia- Kompromiss statt Konsens Gegenwind von unterschiedlichen nischen Hauptstadt Nairobi im November Seiten 2019 ist es allerdings wichtig, Bestand zu Der große Erfolg des Gipfels in Kairo war, dass den Standpunkten der Opposition aufzuneh- alle 179 vertretenen Staaten das Abschluss- Mit dem in Worte gegossenen Kompromiss men: Wer leistet weiterhin Widerstand gegen dokument verabschiedeten – trotz unter- wurden die Widerstände gegen sexuelle und das Kairoer Aktionsprogramm und warum? schiedlicher Ansichten zu vielen Punkten, die reproduktive Selbstbestimmung allerdings Welche Argumente bringen die Gegner vor das Aktionsprogramm aufführte. Es gelang, nicht aus der Welt geschafft. In den vergan- und wie vernetzt sind sie? Und vor allem: einen Kompromiss zwischen progressiven genen 25 Jahren waren sie aus unterschied- Welche Auswirkungen hat dieser Widerstand und konservativen Konferenzteilnehmern lichen Richtungen immer wieder spürbar. auf die Umsetzung der Kairoer Ziele? auszuhandeln. Nach außen demonstrierte die Und sie haben in den letzten Jahren sogar Weltgemeinschaft damit Geschlossenheit, noch zugenommen: Mit dem Amtsantritt Die folgenden Kapitel sollen diese Fragen doch es ließ sich kaum verbergen, dass wäh- Donald Trumps sind die Vereinigten Staaten näher beleuchten. rend der Verhandlungen in Kairo ein Tauzie- vom zeitweiligen Vorkämpfer für eine selbst- hen um strittige Inhalte und Formulierungen bestimmte Sexualität erneut zu deren Oppo- stattgefunden hatte. Einige muslimische Staa- nenten geworden. Unter dem wachsenden ten äußerten Bedenken über die Vereinbarkeit Einfluss der christlichen Rechte hat Trump des Abschlussdokuments mit den Regeln der die zuletzt unter seinen republikanischen Scharia, der auf dem Koran gründenden Vorgängern geltende Mexiko-City-Policy Rechtsordnung des Islams. Und auch katholi- wieder eingeführt und sogar noch verschärft sche Staaten, vor allem aus Südamerika, und ( Kapitel 2.2). In Europa machen „Anti- der Vatikan merkten Vorbehalte an. Choice“-Bewegungen und rechtspopulisti- sche Kräfte, die die „traditionelle Familie“ 12 Umkämpftes Terrain
Streitpunkt Abtreibung Bei der Frage, ob eine sichere Abtreibung für alle Frauen zugänglich sein soll, standen sich in Kairo unversöhnliche Gruppen gegenüber. Bis heute sind Schwanger- schaftsabbrüche in 26 Staaten weltweit unter allen Umständen verboten. Und das Thema entfacht weiter hitzige Debatten, auch in Ländern mit liberaleren Gesetzen, wie etwa die Diskussionen um den Paragraphen 219a in Deutschland oder die Verschärfung der Gesetzeslage in einigen US-amerikanischen Bundesstaaten zeigen. Weltweit betrachtet haben Frauen heute allerdings einen deutlich besseren Zugang zu einer legalen und sicheren Abtreibung als noch 1994. Denn seit der Weltbevölkerungskon- ferenz in Kairo haben fast 50 Staaten weltweit ihre Abtreibungsgesetze liberalisiert.5 vollständig verboten erlaubt bei Lebensgefahr für Frauen erlaubt aus gesundheitlichen Gründen erlaubt aus sozioökonomischen Gründen erlaubt* keine Daten * Bei Erfüllung gewisser Rahmenbedingungen (wie etwa ärztlicher Beratung) bis zu einem bestimmten Rechtlicher Status von Schwangerschaftsabbrüchen weltweit, 2019 Schwangerschaftsstadium (meist 12. Schwangerschaftswoche). (Datengrundlage: Center for Reproductive Rights4) 2.1 DER VATIKAN UND SEINE ALLIANZPARTNER „Gute Katholiken müssen sich nicht vermeh- Familiengröße sollte nur durch Enthaltsam- zwischen Mann und Frau, die wiederum im ren wie die Karnickel.“ Mit diesen Worten keit und die Zügelung der eigenen sexuellen Sinne des Schöpfers einzig dem Zweck dient, sorgte Papst Franziskus 2015 nach einem Triebe umgesetzt werden.6, 7 menschliches Leben zu erschaffen.8 Die ka- Besuch in Manila, der Hauptstadt der Philip- tholische Kirche beruft sich dabei weniger auf pinen, für Aufsehen. War dies das langer- die biblischen Schriften, sondern auf traditio- sehnte Zeichen seitens des Oberhaupts der Die katholische Ordnung zur nelle Moralvorstellungen, die sich aus dem katholischen Kirche, sich bei dem Thema „Weitergabe des Lebens“ Naturrecht ableiten: Da die Natur Mann und Familienplanung zu öffnen und diese künftig Frau mit der Fähigkeit, Leben zu zeugen aus- nicht mehr strikt abzulehnen? Eher nicht. Franziskus bezieht sich damit wie seine Vor- gestattet hat, soll der Mensch dies nicht be- Angesprochen auf die Frage, wie er ange- gänger bei Fragen der Empfängnisverhütung hindern.9 sichts des hohen Bevölkerungszuwachses auf auf die Enzyklika „Humanae Vitae“, die Papst den Philippinen über den Gebrauch von Kont- Paul VI. im Jahr 1968 veröffentlichte. Sie Empfängnisverhütung und natürlich auch razeptiva denke, stellte Franziskus klar, dass fasst die grundlegenden Prinzipien der katho- Abtreibung sind damit unmoralisch – und die „verantwortungsbewusste Elternschaft“ lischen Kirche rund um das Thema Fortpflan- auch unnötig, denn im katholischen Weltbild, als Leitprinzip gilt. Sprich: Die Planung der zung zusammen: Sex gehört alleine in die Ehe so wie es vom Vatikan vertreten wird, ist kein Berlin-Institut 13
Platz für sexuelle Beziehungen zwischen Bereits bei der Weltbevölkerungskonferenz Die Menschenrechte interpretiert Rom dabei Unverheirateten, Teenagern oder auch homo- 1994 versuchte der Vatikan, gezielt die Ver- häufig im Sinne der eigenen Interessen: So sexuellen Paaren. Ungewollte Schwanger- handlungen zu beeinflussen. Papst Johannes wird für die „Rechte der Familie“ geworben, schaften oder HIV-Übertragung kommen Paul II. richtete sich in mehreren Briefen die anstelle der Rechte des Individuums im demnach theoretisch gar nicht vor – was direkt an die teilnehmenden Staatenvertreter Zentrum der Gesellschaft stehen sollen. Das Kondome, Schwangerschaftsabbruch oder und verurteilte darin die Zusprechung sexuel- Recht auf Leben, eines der Leitprinzipien der auch sexuelle Aufklärung für Kinder und Ju- ler und reproduktiver Rechte an Personen Menschenrechte, gelte ab dem Moment der gendliche praktisch überflüssig macht. Zu- außerhalb der traditionellen Ehe und die Empfängnis und mache Abtreibung damit grunde liegt diesem Weltbild eine traditionell Erwähnung von Abtreibung, Sterilisation und zum Verbrechen. Und homophobe Äußerun- patriarchalische Vorstellung von Familie: So moderner Verhütung.14 Die Agenda der Kon- gen, religiös begründete Diskriminierung erklärte der Vatikan im Rahmen verschiedener ferenz bezeichnete der Papst vorab als das oder die Weigerung von Ärzten aus religiösen Stellungnahmen, dass die Rolle der Frau über- „Werk des Teufels“.15 Schließlich stimmten Gründen, Abtreibungen durchzuführen, wer- wiegend durch ihre Aufgaben als Mutter und die Delegierten aus Rom dem Abschlussdo- den mit der Religionsfreiheit und dem Recht Ehefrau zu verstehen ist.10 Die Möglichkeit, kument von Kairo aber zu, wenn auch mit auf freie Meinungsäußerung legitimiert.20 sich vor ungewollter Schwangerschaft zu Vorbehalten. Die Versuche, auf UN-Ebene schützen, würde Frauen all ihrer Würde und Einfluss bei Fragen rund um das Thema Fort- ihres Status berauben und sie zu einer „blo- pflanzung und Ehe zu nehmen, setzt der ßen Leibeigenen ihres Herrn machen“, so Vatikan allerdings bis heute fort. In den letz- Familienplanung und reproduktive wörtlich Erzbischof John Murphy aus Cardiff in ten Jahren nehmen Beobachter sogar eine Rechte im Islam einem Artikel zum Erscheinen der Humanae Intensivierung der Aktivitäten bei den Verein- Vitae 1968.11 ten Nationen wahr: So erhöhte sich die Zahl der Eingaben durch die UN-Vertretung des Die islamisch geprägten Länder vertreten Als Konsequenz tritt der Vatikan als entschie- Heiligen Stuhls bei Debatten rund um die ein breites Spektrum von säkularen und dener Gegner sexueller und reproduktiver sexuelle Selbstbestimmung von etwa zwei liberalen bis hin zu fundamentalistischen Rechte auf. Denn die Zusprechung solcher pro Jahr zwischen 2003 und 2009 auf jähr- Positionen zur sexuellen und reprodukti- Rechte für alle Menschen unabhängig von lich neun zwischen 2010 und 2013.16 ven Selbstbestimmung. Denn der Islam Geschlecht, sexueller Orientierung und Fami- kennt keine zentrale Instanz, die wie der lienstand stellt eine massive Bedrohung des Die Strategie ist in Stil und Argumentation Vatikan eine einheitliche Lehrmeinung konservativen katholischen Weltbildes dar. moderner geworden: Der Vatikan vermeidet formuliert. Der Koran enthält kein direk- eine offensichtlich religiöse, konservative tes Verbot der Familienplanung. „Barrie- Färbung in seinen Äußerungen, sondern nutzt re“-Verhütungsmethoden wie Kondome Konservativer Strippenzieher zunehmend eine technische und vorgeblich und Diaphragmen werden daher von in New York wissenschaftliche Sprache, die den UN-Ver- vielen Religionsvertretern akzeptiert, öffentlichungen gleicht.17 Dazu gehört bei- hormonelle Verhütung wird jedoch teil- Um seine Positionen zu vertreten, nutzt der spielsweise die Warnung vor einem Bevölke- weise als unzulässiger Eingriff in den Vatikan seine Sonderstellung bei den Verein- rungsrückgang und den negativen Auswir- natürlichen Zyklus gesehen. Auch Sterili- ten Nationen (UN): Zwar ist er kein Mitglieds- kungen auf die Rentensysteme als Argument sation wird weithin abgelehnt.23 Bei der staat, aber durch seinen Status als ständiger für eine „familienfreundliche“ Politik.18 Zu- Abtreibung existieren gegensätzliche Beobachter kann er an allen Sitzungen teil- dem wird weniger mit katholischen Moralvor- Gesetze: Während viele muslimisch nehmen und Tagesordnungspunkte in die stellungen argumentiert, sondern es werden geprägte Länder sie verbieten oder aus- UN-Generalversammlung einbringen, nur andere UN-Konventionen ins Feld geführt, die schließlich bei Gefährdung der körper- Abstimmungsrecht hat er nicht.12 Eigentlich sexuelle Rechte augenscheinlich widerlegen. lichen Gesundheit der Mutter zulassen, soll diese Sonderrolle der Vertretung des Als Argument gegen den universellen Zugang ist der Schwangerschaftsabbruch in Staates Vatikan dienen und nicht der der zu Sexualaufklärung für Kinder und Jugend- Tunesien, der Türkei und einigen ehema- katholischen Kirche – schließlich haben ande- liche führte der Vatikan in der Vergangenheit ligen Sowjetrepubliken erlaubt.24 re Kirchen oder Konfessionen keine solche zum Beispiel das Vorrecht von Eltern an, die Präsenz auf UN-Ebene. Das hindert die Dele- religiöse und moralische Ausbildung ihrer gation des Vatikans jedoch nicht, als morali- Kinder selbst zu bestimmen, was in früheren sche Vertretung aller Katholiken aufzutreten UN-Konventionen festgelegt wurde.19 und Einfluss auf Sprache und politische Linie der UN zu nehmen.13 14 Umkämpftes Terrain
Interreligiöse Allianzen Auch UN-Konferenzen in der jüngeren Ver- tionen, sondern beeinflussen auch den Alltag gangenheit, die sich mit dem Thema beschäf- tausender Gläubiger in den wenig entwickel- Ein wichtiges Werkzeug des Vatikans, um tigten, torpedierten der Vatikan und seine ten Ländern, wo die Lehrmeinung des Heili- seine Interessen durchzusetzen, ist die Zu- konservativen Verbündeten immer wieder. So gen Stuhls noch Gewicht hat. Besonders sammenarbeit mit konservativen Staaten. verhinderte beispielsweise 2012 eine Allianz stark ist der Einfluss in afrikanischen Län- Durch solche Allianzen versucht die Vertre- des Heiligen Stuhls mit Staaten wie Syrien dern, wo ein großer Teil der Bevölkerung tung des Papstes, Mehrheitsbeschlüsse inter- und Ägypten die Erwähnung von reprodukti- katholisch ist – etwa in Angola, Kenia, Nigeria nationaler Konferenzen gezielt zu schwächen ven Rechten im Abschlussdokument der Rio oder Uganda. Wenn Bischöfe dort den Nutzen und so die Möglichkeiten der Vereinten Natio- 20+ Konferenz, die die nachhaltigen Entwick- von Familienplanungsmethoden bestreiten nen zu begrenzen, sich effizient für die lungsziele (SDGs) mit auf den Weg brachte.25 oder diese sogar als „unheilig“ bezeichnen, Selbstbestimmung rund um Sexualität und Auch 2019 versuchte der Vatikan etwa bei wie etwa der kenianische Erzbischof Zaccha- Fortpflanzung einzusetzen.21 Die Zusammen- der Sitzung der UN-Frauenrechtskommission eus Okoth im Jahr 2017, zeigt dies bei vielen arbeit geht dabei paradoxerweise über alle die Sprachwahl in UN-Dokumenten zu beein- Menschen Wirkung.28 religiösen und kulturellen Gräben hinweg. So flussen: Er forderte die Erwähnung der Rech- reisten etwa vor der Weltbevölkerungskonfe- te von Homosexuellen und Transsexuellen zu Zumindest dürfte es dazu beitragen, dass die renz 1994 Gesandte des Vatikans in den Iran streichen und stattdessen die Bedeutung der Zustimmung zu Verhütungsmitteln bei afrika- und nach Libyen, um für Unterstützung beim „traditionellen Familie“ hervorzuheben – nischen Katholiken nach wie vor geringer ist Widerstand gegen die sexuelle Selbstbestim- sprich ein Mann, eine Frau, ein Kind.26 als in anderen Teilen der Welt: Während bei mung für alle zu werben. Eine gemeinsame einer Befragung unter 12.000 Katholiken in Erklärung mit der Islamischen Weltliga und zwölf Ländern insgesamt 78 Prozent der anderen islamischen Nichtregierungsorgani- Großer Einfluss in Interviewten moderne Kontrazeptiva befür- sationen verurteilte die „moralische Deka- Entwicklungsländern worteten, war die Unterstützung unter Gläu- denz“ und den „extremen Individualismus“ bigen in Afrika deutlich niedriger. Nur 44 der Konferenz.22 Die Positionen des Vatikans wirken nicht nur Prozent der Befragten in der Demokratischen auf politischer Ebene bei den Vereinten Na- Republik Kongo und in Uganda sprach sich für den Einsatz von Kontrazeptiva aus, wäh- Weltfremde Lehrmeinung rend die Mehrheit diese ablehnte.29 Zu ähn- lichen Ergebnissen kam 2013 das Pew Re- Ungeachtet des vatikanischen Verbots nutzt die Mehrheit der Katholiken in vielen Ländern weltweit moderne Verhütungsmethoden. Selbst in streng katholischen Staaten wie Brasilien und Argentinien sprechen sich neun search Centre, ein amerikanischer Think von zehn befragten Gläubigen für Verhütungsmittel aus. In afrikanischen Ländern südlich der Sahara ist die Thank: Bei Befragungen in 40 Ländern gehör- katholische Lehrmeinung noch deutlich populärer und die Ablehnung moderner Kontrazeptiva dementspre- ten die Bevölkerungen in Nigeria und Ghana chend höher. zu den ablehnendsten gegenüber Verhü- tungsmitteln. Nur in Pakistan waren die mo- Frankreich ralischen Bedenken beim Thema Familienpla- Brasilien nung noch größer.30 Argentinien Kolumbien Umgekehrt gibt es allerdings auch in afrikani- Spanien schen Staaten Katholiken, die im Alltag die Mexiko Lehrmeinung des Heiligen Vaters in Rom weniger ernst nehmen und sich sogar für den Italien Zugang zu Verhütungsmitteln einsetzen. In USA Sambia bewegten beispielsweise die An- Polen strengungen der Churches Health Association, Philippinen ein Zusammenschluss katholischer und pro- Uganda testantischer Gesundheitshelfer, und ihrer Demokratische Partner das sambische Gesundheits Republik Kongo 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 ministerium dazu, den Zugang zu injizierba in Prozent ren Kontrazeptiva wie Hormonstäbchen zu verbessern.31 Anteil befragter Katholiken, die moderne Verhütungsmittel Befürwortung befürworten oder ablehnen, in Prozent, 2014 Ablehnung (Datengrundlage: Bendixen & Amandi for Univision27) Berlin-Institut 15
2.2 DIE USA UNTER TRUMP – FEINDLICHER GESINNT DENN JE Kein anderes Land der Welt ist in den ver- und von dessen Vorgänger Ronald Reagan ge- Einschränkungen für gangenen 35 Jahren beim Thema sexuelle golten hatte: die „Mexiko-City-Policy“ (MCP), internationale NGOs Selbstbestimmung einen solchen Zick-Zack- die unter Kritikern vor allem als „Global Gag Kurs gefahren wie die Vereinigten Staaten Rule“ (globales Knebelungsgesetz) bekannt Eingeführt wurde die Mexiko-City-Policy von Amerika. In Kairo – während der Präsi- ist. Laut dieser Regelung dürfen ausländische von Ronald Reagan während der Weltbe- dentschaft Bill Clintons – gehörten die USA Nichtregierungsorganisationen (NGOs) keine völkerungskonferenz 1984 in der mexikani- zu den Schrittmachern der Agenda für mehr US-Entwicklungsgelder erhalten, wenn sie schen Hauptstadt. Dort hatten die USA ihre sexuelle Selbstbestimmung.32 Das änderte in irgendeiner Form mit Schwangerschafts- Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen sich, als im Jahr 2001 George W. Bush ins abbrüchen zu tun haben – wenn sie also deutlich gemacht und darüber hinaus die Weiße Haus einzog. Denn der neue Präsident Informationen und Beratung für betroffene Notwendigkeit von Familienplanungspro- setzte unmittelbar nach seiner Vereidigung Frauen anbieten, Abtreibungen durchführen grammen in Frage gestellt. Zudem übten die eine Regelung in Kraft, die zuvor unter der oder sich für deren Legalisierung einsetzen.33 Vertreter der Vereinigten Staaten heftige Präsidentschaft seines Vaters George Bush Kritik am Bevölkerungsfonds der Vereinten Vom Unterstützer zum Gegner, zum Unterstützer, zum Gegner … Obwohl die US-amerikanische Politik in Sachen reproduktive Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung seit 1984 ein ständiges Hin und Her darstellt, ist sie doch zu- mindest in einem beständig: Unter einem demokratischen Präsidenten gehören die Vereinigten Staaten in der Regel zu den Vorkämpfern für sexuelle und reproduktive Rechte, während unter Republikanern an der Spitze der USA die Abtreibungsgegner den Ton angeben, die versuchen genau diese Rechte zu untergraben. Dies spiegelte sich in den letzten 35 Jahren in der In- und Außerkraftsetzung der Mexiko-City-Policy wider. Ronald Reagan George Bush Bill Clinton George W. Bush Barack Obama Donald Trump 1981–1989 1989–1993 1993–2001 2001–2009 2009–2017 2017– 2009 2020 2001 1989 1984 1993 2017 1981 Ronald Reagan führt die Bill Clinton setzt die MCP außer Donald Trump führt die MCP im Januar MCP erstmals ein. Kraft. Ein Jahr später macht sich 2017 wieder ein und weitete sie im seine Regierung in Kairo für repro- Laufe seiner Amtszeit aus. duktive und sexuelle Rechte stark. MCP in Kraft MCP außer Kraft In- und Außerkraftsetzung der Mexiko-City-Policy (MCP) durch US-Präsidenten seit 1981 (Datengrundlage: eigene Darstellung nach Barot und Cohen 38) 16 Umkämpftes Terrain
Nationen, der mit seinen Programmen in Chi- Wen die Global Gag Rule knebelt na in ihren Augen Abtreibungen unterstützte und damit die chinesische Ein-Kind-Politik mittrug. Nach der Einführung der MCP stell- Die von Ronald Reagan 1984 eingeführte verboten war, US-Gelder für Leistungen ten die USA deshalb kurze Zeit später auch Global Gag Rule (offiziell Mexiko-City- rund um Abtreibungen zu nutzen, ist es ihre Unterstützungen für UNFPA ein.34 Diese Policy, MCP) verbietet es ausländischen ihnen seither auch nicht mehr gestattet, Praxis führten in den folgenden Jahrzehnten NGOs, die US-amerikanische Finanzmittel ihre eigenen Mittel oder jene von anderen alle Präsidenten aus den Reihen der Repu- für Familienplanungsprogramme erhalten, Geldgebern dafür zu nutzen. blikaner fort, während alle demokratischen Abtreibungen vorzunehmen, dazu Bera- Staatsführer die MCP und den Zahlungs- tungsleistungen anzubieten, Lobbyarbeit Donald Trump hat die MCP noch weiter stopp an UNFPA stets wieder aufhoben.35 für deren Legalisierung zu betreiben oder verschärft: Seit 2017 gilt sie nicht nur für sich auch nur positiv über Schwanger- Gelder für Familienplanungsprogramme, Dieser Tradition folgt auch Donald Trump: schaftsabbrüche zu äußern. Die Regelung sondern für das gesamte Gesundheits- In einer seiner ersten Amtshandlungen als beschränkt Organisationen, die weiterhin budget in der US-amerikanischen Ent- US-Präsident unterzeichnete er im Janu- US-Gelder beziehen wollen, somit in wicklungszusammenarbeit. Damit dürfen ar 2017 eine Absichtserklärung, die die ihrem Leistungsspektrum – sie knebelt sie nun auch Organisationen, die in anderen Mexiko-City-Policy wieder in Kraft setzte also im übertragenen Sinne – während Programmen etwa zu Themen wie Kinder- und diese sogar noch ausdehnen sollte. Vier jenen, die sich ihr nicht beugen, die Mittel und Müttergesundheit, HIV/Aids oder zu Monate später folgten dieser Erklärung Taten: gestrichen werden. Infektionskrankheiten wie Malaria oder Mit der Umsetzung des Plans zum „Schutz Tuberkulose arbeiten, nicht über Abtrei- des Lebens in der weltweiten Gesund- Die Regelung soll verhindern, dass bungen informieren oder diese durchfüh- heitshilfe“ (Protecting Life in Global Health US-amerikanische Steuergelder für Ab- ren. Seit März 2019 ist es den NGOs, die Assistance, PLGHA) im Mai 2017 gilt die treibungen im Ausland eingesetzt werden. US-Mittel beziehen, zudem untersagt Mexiko-City-Policy nun nicht mehr nur für Eigentlich verbietet dies schon seit 1973 andere Organisationen, die Dienstleistun- die US-Mittel für Familienplanung, sondern das sogenannte Helms Amendment, das gen rund um Schwangerschaftsabbrüche für alle US-amerikanischen Entwicklungs- mit der MCP allerdings noch verschärft anbieten, finanziell zu unterstützen.39 gelder im gesamten Gesundheitsbereich.36 wurde: Während es NGOs zuvor lediglich Während also unter der ursprünglichen Fassung der MCP zwischen 2017 und 2019 jährlich etwa 600 Millionen US-Dollar an Finanzmitteln für Familienplanung betroffen gewesen wären, galt die Regulierung nach die sich keinen „Knebel“ anlegen lassen NGO ihre Programme zur freiwilligen Ste- der Erweiterung für die gesamten zehn bis wollten, bedeutete die Regel – selbst in ihrer rilisierung in ländlichen Gebieten komplett elf Milliarden US-Dollar an internationaler abgeschwächten Form vor Trump – stets einstellen musste.42 Für die International Gesundheitshilfe pro Jahr – insgesamt enorme finanzielle Einbußen. Sie wurden Planned Parenthood Federation (IPPF), also für den rund 18-fachen Betrag.37 dadurch immer wieder gezwungen an der weltweit größte private Anbieter von Personal zu sparen, Leistungen einzustellen Familienplanungsprogrammen, könnte die und teilweise sogar Kliniken zu schließen.41 MCP einen Verlust von über 100 Millionen Amerikanische Politik mit US-Dollar an Fördermitteln bedeuten. Laut weltweiten Folgen Nach dem Inkrafttreten von Trumps aus- eigenen Schätzungen der NGO könnten mit geweiteter MCP trifft dieses Schicksal noch diesen fehlenden Mitteln weltweit etwa Wann immer ein republikanischer Präsi- deutlich mehr Organisationen. Zwar lässt sich 4,8 Millionen ungewollte Schwangerschaf- dent die Mexiko-City-Policy in Kraft setzt, das Ausmaß der Folgen für die Gesundheits- ten, 1,7 Millionen unsichere Abtreibungen trifft dies vor allem die wenig entwickelten systeme in wenig entwickelten Ländern noch und 20.000 Todesfällen bei Schwange- Länder, wo ein großer Teil der Gesund- nicht gänzlich abschätzen. Zu spüren sind ren und Müttern verhindert werden.43 heitsversorgung von internationalen NGOs sie aber bereits deutlich: So musste etwa Die Leidtragenden sind dabei stets die getragen wird. Da die USA der weltweit Marie Stopes International (MSI), die größte Menschen vor Ort, insbesondere Frauen größte Geber von Entwicklungsgeldern im Organisation für sexuelle und reproduktive und Mädchen, die nicht länger die Gesund- Gesundheitsbereich ist, fällt die Regelung Gesundheitsleistungen in Uganda, 27 mobile heitsdienste der NGOs wahrnehmen können besonders ins Gewicht.40 Für all jene NGOs, Kliniken schließen, während eine äthiopische und so oft auch keinen Zugriff auf moderne Berlin-Institut 17
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