Umkämpftes Terrain Der internationale Widerstand gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung - Berlin-Institut für Bevölkerung

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           Paper 24
                 17

Umkämpftes Terrain
Der internationale Widerstand gegen das Recht
auf sexuelle Selbstbestimmung
Impressum
Originalausgabe
November 2019

© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten.

Herausgegeben vom
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59
10627 Berlin
Telefon: (030) 22 32 48 45
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Recherche und Grafiken: Lena Reibstein
Lektorat: Susanne Dähner

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: Laserline Berlin

Einige thematische Landkarten wurden auf Grundlage des Programms EasyMap
der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt.

ISBN: 978-3-946332-53-4

Die Autoren

Alisa Kaps, 1991, Masterstudium in Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Uni-
versität Salzburg. Ressortleiterin Internationale Demografie am Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung.

Ann-Kathrin Schewe, 1992, Masterstudium Internationale Entwicklung und BWL an
der Sciences Po Paris und der Stockholm School of Economics. Wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Catherina Hinz, 1965, Magisterstudium in den Fachbereichen Germanistik,
Geschichte und Südasienwissenschaften an den Universitäten Hamburg und
Heidelberg, geschäftsführende Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und
Entwicklung.

Das Berlin-Institut dankt der Dirk Rossmann GmbH für die Ermöglichung des
Discussioin Papers. Für den Inhalt des Papiers trägt das Berlin-Institut die alleinige
Verantwortung.
INHALT
1 | Warum der Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung anhält............................................4

2 | Von welchen Seiten der Widerstand gegen das Kairoer Aktionsprogramm kommt.......12

     2.1 Der Vatikan und seine Allianzpartner.................................................................................13

     2.2 Die USA unter Trump – Feindlicher gesinnt denn je.......................................................16

     2.3 Europa – Zwischen anhaltender Unterstützung und wachsendem Widerstand....... 21

3 | Wie weiter?.......................................................................................................................................24

Quellen.....................................................................................................................................................26

                                                                                                                                                                 Berlin-Institut   3
1              WARUM DER KAMPF UM DAS RECHT
               AUF SELBSTBESTIMMUNG ANHÄLT
Die Weltbevölkerung wächst. Bis zur Mitte       Wachstumsschub in armen Staaten                    Staaten täglich mit weniger als 1,90 US-Dol-
dieses Jahrhunderts, also in gerade einmal                                                         lar auskommen, was international als Grenz-
30 Jahren, dürfte die Zahl der Menschen auf     Das natürliche Bevölkerungswachstum bringt         wert zur extremen Armut gilt.6
der Erde von heute 7,7 auf 9,7 Milliarden       hingegen die ärmeren Länder an die Grenzen
anwachsen. Ausgehend vom Jahr 1950 könn-        ihrer Handlungsfähigkeit. In den meisten der       Das hohe Bevölkerungswachstum erschwert
te sich die Spezies Mensch bis dahin also       47 Länder, die laut den Vereinten Nationen in      die Lösung all dieser Entwicklungsprobleme,
nahezu vervierfacht haben – und das in nur      die Kategorie der am wenigsten entwickelten        denn mehr Menschen benötigen auch mehr
einem Jahrhundert.1 Dass wir einmal so viele    Staaten der Welt fallen, dürfte sich die Bevöl-    Lehrer, Schulen und andere Dienstleister. Der
sein würden und womöglich bald die              kerung in den kommenden 30 Jahren verdop-          Ausbau der Basisinfrastruktur hält vielerorts
Zehn-Milliarden-Marke überschreiten – laut      peln, teilweise sogar verdreifachen. Fast drei     mit dem Einwohnerzuwachs schlichtweg
den Vorausschätzungen der Vereinten Natio-      Viertel dieser Länder liegen in Subsahara-         nicht mit, was die betroffenen Länder in
nen dürfte das im Jahr 2057 passieren – hätte   Afrika, wo Frauen im Laufe ihres Lebens            einem Kreislauf aus anhaltend hohen Kinder-
sich in der Vergangenheit wohl kaum jemand      durchschnittlich 4,7 Kinder zur Welt bringen       zahlen und fortdauernder Armut festhält.
träumen lassen. Schließlich warnten Exper-      – beinahe doppelt so viele wie im weltweiten       Denn wo immer es den Menschen an Zugang
ten schon in den 1960er und -70er Jahren vor    Schnitt. Allein in dieser Region dürfte sich die   zu Gesundheits- und Bildungsdienstleistun-
dem Kollaps des Planeten angesichts des         Bevölkerung von heute etwa einer Milliarde         gen sowie Einkommensmöglichkeiten man-
rasanten Bevölkerungswachstums.                 bis 2050 auf zwei Milliarden Menschen ver-         gelt, verharren die Kinderzahlen erfahrungs-
                                                doppeln.3                                          gemäß auf hohem Niveau und das Bevölke-
In Zeiten von ersten spürbaren Auswirkungen                                                        rungswachstum hält weiter an.7
des Klimawandels stellt sich die Frage nach     Eine wachsende Bevölkerung stellt nicht per
den Grenzen des Wachstums erneut. Wie           se ein Problem dar, zumindest solange die
viele Bewohner kann unser Planet beherber-      steigende Zahl an Menschen gut versorgt            Entscheidungsfreiheit als Weg
gen und unter welchen Bedingungen ist dies      werden kann. Allerdings liegt genau hier die       aus der Armut
möglich? In den Industrienationen, wo die       Herausforderung: Der größte Wachstums-
Kinderzahlen niedrig sind und die Bevölke-      schub steht insbesondere jenen Ländern             Wie sich dieser Kreislauf durchbrechen lässt,
rung künftig stabil bleiben oder bereits        bevor, die heute schon große Schwierigkeiten       ist hinreichend bekannt und durch die Erfah-
schrumpfen dürfte, steht diese Frage eng im     haben, ihre Bevölkerung angemessen mit             rungen in Ländern, die in ihrer demografi-
Zusammenhang mit Diskussionen rund um           Nahrung, Sanitäreinrichtungen, Krankenhäu-         schen und sozioökonomischen Entwicklung
das eigene Konsumverhalten. Denn ange-          sern und Schulen zu versorgen. So kann etwa        weiter vorangeschritten sind, gut belegt:
sichts des hohen Pro-Kopf-Verbrauchs fossi-     in Ländern wie Niger, Tschad oder Burkina          Damit Menschen sich aus der Armut befreien
ler Rohstoffe und der Freisetzung von Kohlen-   Faso im Schnitt die Hälfte der Kinder im           können, müssen sie die Chance auf eine gute
dioxid haben die Industriestaaten ein „öko-     Grundschulalter keine Schule besuchen.4 In         Gesundheit, Bildung und ein auskömmliches
logisches Bevölkerungsproblem“.2                Simbabwe, Somalia und der Zentralafrikani-         Einkommen haben. Wenn sich ihr Gesund-
                                                schen Republik sind 47 bis 62 Prozent der          heitszustand – und besonders der ihres
                                                Menschen von Unterernährung betroffen.5            Nachwuchses – verbessert, sie nicht mehr
                                                                                                   von der Hand in den Mund leben müssen und
                                                Zudem fehlt es nahezu überall an Arbeitsplät-      sie dank einer besseren Bildung andere Zu-
                                                zen, die ein auskömmliches Leben ermögli-          kunftsperspektiven haben, beginnen sie
                                                chen und den Menschen eine Zukunftspers-           meist ihr eigenes Leben anders zu planen.
                                                pektive bieten. Die Folge sind anhaltend hohe      Dies führt in der Regel dazu, dass sie auch
                                                Armutsraten: Im Schnitt müssen zwei von            anders über ihre Familiengröße nachdenken.
                                                fünf Menschen in den wenig entwickelten            Bessere Lebensbedingungen tragen so dazu

4   Umkämpftes Terrain
bei, dass die Zahl der gewünschten Kinder               Der Gedanke, dass Selbstbestimmung – ins-               Ein hart erkämpfter Meilenstein
schließlich sinkt. Diese Veränderungen haben            besondere für Frauen – der beste Weg ist, um
alle Gesellschaften im Zuge ihres demografi-            Entwicklungsfortschritte zu erreichen, Armut            Die „Internationale Konferenz für Bevölke-
schen Wandels in der Vergangenheit erlebt.9             zu bekämpfen und so schließlich auch das                rung und Entwicklung“ (International Confe-
                                                        Bevölkerungswachstum zu verlangsamen, ist               rence on Population and Development, ICPD),
Damit sich der sinkende Kinderwunsch auch               nicht neu. Tatsächlich ist es seit vielen Jahren        die 1994 in der ägyptischen Hauptstadt
auf die demografische und sozioökonomi-                 das Leitprinzip der internationalen Bevölke-            stattfand, war in vielerlei Hinsicht ein Meilen-
sche Entwicklung auswirkt, müssen Paare                 rungspolitik, um das bei den Vereinten Natio-           stein in Fragen rund um eine selbstbestimmte
und Familien allerdings auch die Möglichkeit            nen jedoch über mehrere Jahrzehnte hinweg               Fortpflanzung. Auf früheren UN-Konferenzen,
haben, die Zahl ihres Nachwuchses selbst                diskutiert und gerungen wurde. Der zentrale             wie etwa bei der Menschenrechtskonferenz
bestimmen zu können. Das gilt insbesondere              Schritt, der die Entscheidungsfreiheit und die          1968 in Teheran, hatten sich die Vertreter der
für Frauen, die meist andere Vorstellungen              Bedürfnisse des Einzelnen in den Mittelpunkt            Weltgemeinschaft bereits darauf geeinigt,
über die Größe ihrer Familie haben als Män-             der bevölkerungs- und entwicklungspoliti-               dass Paare das Grundrecht haben, frei und
ner. Frauen dazu zu befähigen, selbstbe-                schen Maßnahmen rückte, gelang bei der                  verantwortlich die Zahl und den Altersab-
stimmt über die Zahl ihrer Kinder entschei-             Weltbevölkerungskonferenz in Kairo vor                  stand ihrer Kinder zu bestimmen. Doch erst
den zu können, ist somit ebenso zentral wie             genau 25 Jahren.                                        in Kairo einigten sich die Delegierten darauf,
der entsprechende Zugang zu modernen                                                                            dieses Recht jedem Einzelnen zuzugestehen.
Verhütungsmethoden. Denn erst letzteres                                                                         Sie gingen dabei noch weiter und bündelten
macht es dann auch möglich, den eigenen                                                                         die aus den Menschenrechten abgeleiteten
Kinderwunsch umzusetzen.10                                                                                      Ansprüche jedes Menschen, frei über den
                                                                                                                eigenen Körper, Partnerschaft und Familien-
                                                                                                                planung zu entscheiden.11, 12

Schwieriges Wachstum

Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung hat sich seit Mitte der 1960er Jahre von zwei auf ein Prozent halbiert. Doch da heute deutlich mehr Menschen im reproduktiven
Alter auf der Erde leben als vor knapp 60 Jahren, wächst die Bevölkerung aktuell noch jährlich um etwa 80 Millionen. Auch in Zukunft wird der Wachstumstrend anhalten,
insbesondere in den weniger entwickelten Ländern, wo die Geburtenziffern im Schnitt mehr als doppelt so hoch liegen wie in den Industriestaaten. Gerade dort kann die
Basisinfrastruktur meist kaum mit dem raschen Zuwachs mithalten, was sich negativ auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirkt.

    unter 0
    0 bis unter 25
    25 bis unter 50
    50 bis unter 75
    75 bis unter 100
    100 bis unter 125
    125 bis unter 150
    150 und mehr
    keine Daten

Vorausgeschätztes Bevölkerungswachstum
weltweit, in Prozent, 2019 bis 2050
(Datengrundlage: UN DESA8)

                                                                                                                                                   Berlin-Institut   5
Das Recht, die Familie nach den eigenen           Politik, in der das Individuum im Mittelpunkt    Unzureichende Fortschritte
Vorstellungen zu planen, betteten die Versam-     steht. Das Kairoer Aktionsprogramm forderte
melten in Kairo dabei in ein breites Spektrum     die Staaten sogar gezielt dazu auf, den Ansatz   Das Kairoer Aktionsprogramm deckt in sei-
an dazu nötigen Gesundheitsleistungen, die        der Geburtenkontrolle aus den nationalen         nen 16 Kapiteln eine große Bandbreite an
das Abschlussdokument unter dem Begriff           Bevölkerungsstrategien zu streichen, um          Themen ab: Neben den Punkten zur repro-
der „reproduktiven Gesundheit“ zusammen-          künftig menschenrechtswidrige Auswüchse          duktiven Gesundheit gehören dazu etwa
fasste. Auf diese sollte fortan jeder Einzelne    einer solchen Politik, wie etwa die Ein-Kind-    Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und inter-
ein Anrecht haben. Sie zielten insbesondere       Politik in China, zu verhindern.16               nationale Kooperation. In den letzten 25
auf Frauen und ihr Recht auf gesundheitliche                                                       Jahren hat die Weltgemeinschaft in vielen
Unversehrtheit in allen Belangen der Fort-
pflanzung ab: Von der medizinischen Betreu-
ung während der Schwangerschaft, einer
                                                     Das Vermächtnis von Kairo
sicheren Entbindung und dem Schutz vor
sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten,
bis hin zum Kampf gegen geschlechterspezifi-         Alle Aspekte, die mit dem Wohlbefinden        Daneben soll jedem Menschen ein befrie-
sche Gewalt und schädliche Praktiken wie             jedes Einzelnen in allen Belangen von         digendes und ungefährliches Sexualleben
etwa weibliche Genitalverstümmelung.13               Fortpflanzung und Sexualität zu tun ha-       möglich sein. Das Kairoer Aktionspro-
                                                     ben, werden heute in der Literatur mit        gramm fasst alles, was damit einhergeht
Ein Abschlussdokument zu erstellen, das alle         dem Sammelbegriff „sexuelle und repro-        unter dem Begriff sexuelle Gesundheit
179 teilnehmenden Nationen im Konsensver-            duktive Gesundheit und Rechte“ (kurz          zusammen. Laut der Definition der Welt-
fahren verabschieden konnten, war bei die-           SRGR) zusammengefasst. Nicht alle Teil-       gesundheitsorganisation (WHO) ist damit
sen Themen allerdings alles andere als ein-          komponenten dieses Begriffs sind bereits      ein Zustand des physischen, emotionalen,
fach. Auf dem Gipfel in Kairo tobten, wie auch       in Kairo definiert und festgeschrieben        geistigen und sozialen Wohlbefindens in
schon auf dessen Vorbereitungstreffen, hefti-        worden. Ein Überblick:                        Bezug auf Sexualität gemeint. Dazu ge-
ge Diskussionen darüber, ob diese Bandbrei-                                                        hört auch ein „positiver und respektvoller
te an Rechten wirklich jedem Individuum              Das Kairoer Aktionsprogramm, definiert        Umgang mit Sexualität und sexuellen
zugestanden werden sollte oder lediglich             reproduktive Gesundheit als „den Zu-          Beziehungen sowie die Möglichkeit, lust-
Ehepaaren. Denn nach der Meinung vieler              stand des vollständigen seelischen, kör-      volle und sichere sexuelle Erfahrungen zu
                                                                                                            19
konservativer Staaten ist die Ehe der einzige        perlichen und sozialen Wohlbefindens im       machen“.
Rahmen, in dem die Fortpflanzung überhaupt           Hinblick auf Sexualität und Fortpflan-
                                                           17
stattfinden soll. Noch hitziger wurde um den         zung“. Daraus ergibt sich das individuel-     Sexuelle Rechte sind im Aktionspro-
Zugang zu modernen Verhütungsmitteln und             le Recht, frei von Diskriminierung, Zwang     gramm von Kairo nicht definiert, da sich
Schwangerschaftsabbrüchen debattiert.                oder Gewalt über den Zeitpunkt für eige-      bei diesem Thema keine Einigkeit unter
Nach einem zähen Ringen um die Paragrafen            nen Nachwuchs sowie über die Zahl der         den teilnehmenden Staaten erzielen ließ.
zum Thema Abtreibung und einiger sprach-             Kinder entscheiden zu können. Dies setzt      Bis heute gibt es kein internationales
licher Schleifarbeit daran, stand zum Ende           erstens den Zugang zu sicheren, effekti-      Übereinkommen darüber, wie eine Defini-
                                                                                                                                       20
der Konferenz schließlich doch ein Doku-             ven und bezahlbaren Verhütungsmitteln         tion dieser Rechte aussehen sollte. Laut
ment, dem alle Anwesenden zustimmen                  sowie die notwendigen Informationen           der Guttmacher-Lancet Kommission für
konnten, wenn auch teilweise nur mit Vorbe-          darüber voraus. Dies schließt auch die        sexuelle und reproduktive Gesundheit und
halten: das Kairoer Aktionsprogramm.14, 15           Vermeidung ungewollter Schwangerschaf-        Rechte gehört dazu unter anderem das
                                                     ten und den Zugang zu einer „sicheren“,       Recht auf sexuelle Gesundheit und darauf,
Das Aktionsprogramm von Kairo stellte einen          das heißt fachgerecht durchgeführten          die eigene Sexualität unabhängig von
wichtigen Perspektivwechsel dar, den unter           Abtreibung ein – sofern diese im jeweili-     sexueller Orientierung und Geschlechts-
anderem Frauenrechtlerinnen und Nichtre-             gen Land legal ist. Zweitens gehört dazu      identität einvernehmlich mit dem Partner
gierungsorganisationen (NGOs) lange voran-           aber auch die medizinische Betreuung          ausleben zu können, ohne sich vor Diskri-
                                                                                                                                   21
getrieben hatten: weg von der Bevölkerungs-          während der Schwangerschaft sowie             minierung fürchten zu müssen.
politik, die durch staatliche Familienpla-           während und nach der Geburt, inklusive
nungsprogramme gesetzte Ziele in Sachen              der medizinischen Versorgung der Neu-
                                                                 18
Fertilitätsraten erreichen sollte, hin zu einer      geborenen.

6   Umkämpftes Terrain
dieser Bereiche große Fortschritte gemacht.               Defizite bei Kinder- und                                Die Zugewinne an durchschnittlicher Lebens-
Einige der Kairoer Beschlüsse gingen im Jahr             Müttergesundheit                                         zeit hängen vor allem mit dem gesunkenen
2000 in die Millenniums-Entwicklungs-                                                                             Sterberisiko für Säuglinge und Kleinkinder
Agenda (MDGs) ein und schließlich – deutlich             In Kairo einigten sich die Vertreter der Welt-           zusammen, das sich weltweit seit 1990 mehr
umfassender – in die 2015 verabschiedete                 gemeinschaft darauf, das Sterberisiko von                als halbiert hat. Allerdings stehen die Chan-
Anschluss-Agenda der Nachhaltigen Entwick-               Müttern und Kleinkindern deutlich zu redu-               cen für Kinder, ihre ersten Lebensjahre gut zu
lungsziele (SDGs, Kasten Seite 10).                      zieren sowie insgesamt die Gesundheitsver-               überstehen, in den am wenigsten entwickel-
Trotzdem bleiben bis heute Defizite: Längst              sorgung so zu verbessern, dass Menschen                  ten Ländern weltweit immer noch schlechter
nicht jede Frau oder jedes Paar hat heute die            überall auf der Welt künftig länger und gesün-           als in weiter entwickelten Staaten. Am höchs-
Möglichkeit, das eigene Leben nach den                   der leben können. Dass dabei seit 1994 gro-              ten liegt das Sterberisiko für die Kleinsten in
eigenen Vorstellungen zu gestalten und die               ße Fortschritte erzielt wurden, zeigt sich an            Subsahara-Afrika, wo im Schnitt eines von
Familie dementsprechend zu planen. Ebenso                der Lebenserwartung, die vor allem in den                dreizehn Kindern vor seinem fünften Lebens-
wenig haben Frauen überall auf der Welt                  ärmsten Ländern weltweit deutlich gestiegen              jahr stirbt.23
Zugang zu Bildung oder zu jenen Gesund-                  ist. Heute können Neugeborene in den am
heitsleistungen, die sie laut dem Kairoer                wenigsten entwickelten Ländern damit rech-               Ob Kinder einen guten Start ins Leben haben,
Aktionsprogramm während und nach                         nen, 65 Jahre alt zu werden – ein Zugewinn               ist auch davon abhängig, ob ihre Mütter ge-
Schwangerschaft und Geburt erhalten sollten.             von fast 15 Lebensjahren seit Beginn der                 sund sind und eine möglichst umfassende
Der folgende Überblick zeigt, wo bereits                 1990er Jahre.22                                          medizinische Versorgung während und nach
Fortschritte erzielt werden konnten und wo                                                                        der Schwangerschaft erhalten. Da sich die
die Umsetzung nur schleichend vorangeht:                                                                          Gesundheitsversorgung vielerorts verbessert

Wo Kinderkriegen lebensgefährlich ist

Trotz einiger Fortschritte ist das Risiko für Frauen an den Folgen von Komplikationen einer Schwangerschaft zu sterben, in den am wenigsten entwickelten Ländern der
Welt noch immer deutlich höher als in den Industriestaaten. In Australien oder Neuseeland liegt etwa die Wahrscheinlichkeit, dass eine 15-Jährige im Laufe ihres Lebens
im Zuge von Schwangerschaft oder Geburt stirbt bei 1 zu 7.800. Dagegen liegt das Sterberisiko für Frauen dieses Alters in Subsahara-Afrika bei 1 zu 37.

    unter 20
    20 bis unter 100
    100 bis unter 300
    300 bis unter 500
    500 bis unter 1.000
    1.000 und mehr
    keine Daten

                                                                Müttersterblichkeit (Todesfälle je 100.000 Lebendgeburten), 2017
                                                                (Datengrundlage: WHO28)

                                                                                                                                                    Berlin-Institut   7
Wo der Schulbesuch ein Privileg bleibt

In Staaten wie Deutschland oder der Schweiz besuchen junge Menschen heute im Schnitt mehr als 13 Jahre lang eine Bildungseinrichtung. Davon können Kinder in den
am wenigsten entwickelten Ländern nur träumen: In Burkina Faso oder Tschad gehen Jungen nur etwa zwei bis drei Jahre zur Schule, Mädchen im Schnitt sogar nur etwa
ein Jahr. Das wirkt sich nicht nur negativ auf ihre eigene Zukunftsperspektive aus, sondern auch auf die ihrer Heimatländer.

    unter 3
    3 bis unter 6
    6 bis unter 9
    9 bis unter 12
    12 und mehr
    keine Daten

Durchschnittliche Schulbesuchs-
dauer der Bevölkerung über 25
Jahren, in Jahren, 2017
(Datengrundlage: UNDP 40)

hat, ist für Frauen die Gefahr, im Zuge von            schaftsbezogenen Todesfälle darauf zurück-              wert einräumen. Das hat sich bereits bezahlt
Schwangerschaft und Geburt zu sterben, in              führen, in Subsahara-Afrika und in Südameri-            gemacht: So ist etwa die Einschulungsrate in
den letzten beiden Jahrzehnten bereits ge-             ka sind es sogar rund zehn Prozent.27                   der Grundschule in den am wenigsten entwi-
sunken: Von 385 Todesfällen pro 100.000                                                                        ckelten Staaten zwischen 1990 und 2015 von
Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 216 im Jahr                                                                    50 auf 80 Prozent und in der Sekundarstufe
2015 – ein Rückgang um etwa 40 Prozent.24                 Schwieriger Bildungszugang                           von 15 auf rund 40 Prozent angestiegen.35

Allerdings hinken die ärmeren Länder auch              Eine zentrale Voraussetzung für Selbstbe-               Von dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen
hier hinterher, insbesondere in Subsaha-               stimmung im Hinblick auf das eigene Leben,              weltweit eine Grundschulbildung zu garantie-
ra-Afrika. Dort lag die Müttersterblichkeit            die eigene Sexualität und die eigene Fort-              ren, wie es etwa das Kairoer Aktionspro-
2015 mit rund 550 Todesfällen je 100.000               pflanzung ist Bildung. Denn sie wirkt sich              gramm und die MDGs vorsahen, sind viele
Lebendgeburten rund 36 Mal höher als etwa              über unterschiedliche Kanäle positiv auf die            Länder allerdings noch weit entfernt: Im Jahr
in Nordamerika oder Europa.25 Ein wesentli-            Gesundheit, die Einkommensperspektiven                  2018 konnten weltweit knapp 60 Millionen
cher Grund dafür ist die mangelnde medizini-           und auch die Gleichberechtigung zwischen                Kinder im Grundschulalter keine Schule besu-
sche Begleitung: Schätzungen zufolge fehlt es          Männern und Frauen aus. Neben den Vortei-               chen. Über die Hälfte von ihnen lebt in Subsa-
jedes Jahr über 45 Millionen Frauen in ärme-           len für jeden Einzelnen trägt sie so indirekt           hara-Afrika. Insgesamt liegen die Einschu-
ren Ländern an einer guten medizinischen               auch dazu bei, die Entwicklungschancen                  lungsraten in der Grundschule in den am
Betreuung während der Schwangerschaft.26               ganzer Nationen zu verbessern.34 Insofern ist           wenigsten entwickelten Ländern mit etwa 80
Aber auch unsichere Schwangerschaftsab-                es kaum verwunderlich, dass sowohl das                  Prozent fast zehn Prozentpunkte unter dem
brüche gefährden immer wieder das Leben                Kairoer Aktionsprogramm als auch die Mill-              weltweiten Schnitt. Noch schwieriger wird es
tausender Frauen. Weltweit lassen sich schät-          enniums- und die Nachhaltigen Entwick-                  beim Zugang zur Sekundarstufe, der laut den
zungsweise acht Prozent der schwanger-                 lungsziele Bildung einen zentralen Stellen-             SDGs bis 2030 für alle möglich sein soll: Hier

8   Umkämpftes Terrain
werden in den am wenigsten entwickelten               knapp vier Jahre eine Schule, Jungen dagegen              Fehlende Gleichberechtigung
Staaten weltweit nur rund 40 Prozent der              fast zwei Jahre mehr.38 Solange Mädchen
Jugendlichen im entsprechenden Alter einge-           allerdings beim Bildungszugang benachteiligt            In Kairo verständigten sich die Vertreter der
schult, während es weltweit im Schnitt 66             sind, bleibt ihnen die Chance verwehrt, ihr             Weltgemeinschaft darauf die Rechte von Frau-
Prozent sind.36                                       Leben selbstbestimmt zu gestalten und einen             en zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie in
                                                      Weg einzuschlagen, der über die Rolle als               allen Bereichen des alltäglichen Lebens gegen-
Vor allem Mädchen und junge Frauen haben              Mutter und Ehefrau hinausgeht. Wenn sie                 über Männern gleichgestellt sind – beim Zu-
es beim Bildungszugang häufig noch schwer,            dagegen eine Schule besuchen, wirkt sich das            gang zu Gesundheits- und Bildungsdienstleis-
zumindest in den ärmeren Ländern. Zwar                positiv auf ihre Perspektiven, ihr Einkommen            tungen, in Gesellschaft und Politik und auch
sind ihre Chancen auf eine Schulbildung               sowie ihre Gesundheit und die ihrer Kinder              auf dem Arbeitsmarkt. Denn dies ist nicht nur
heute so gut wie nie zuvor, doch gegenüber            aus. Mittelfristig trägt mehr Bildung für Mäd-          zentral für die Lebensbedingungen der Frauen
ihren männlichen Altersgenossen sind sie              chen zudem dazu bei, das Bevölkerungs-                  und die Würdigung ihrer Menschenrechte. Es
häufig benachteiligt. In West- und Zentralafri-       wachstum zu verlangsamen. Denn in Ent-                  ist – so hält es das Kairoer Aktionsprogramm
ka werden im Schnitt je 100 Jungen nur 76             wicklungsländern bringen gebildete Frauen               fest – auch essentiell für eine nachhaltige
Mädchen eingeschult und nur etwa jede                 im Schnitt zwei bis drei Kinder weniger zur             Entwicklung ganzer Nationen.41
dritte Schülerin schließt die untere Sekundar-        Welt als jene, die nie zur Schule gegangen
stufe ab.37 Im Schnitt besuchen Mädchen in            sind.39
den am wenigsten entwickelten Staaten

Wo es Frauen an Mitsprache mangelt

Bis heute sind vor allem Frauen in ärmeren Ländern in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens gegenüber Männern benachteiligt, etwa beim Zugang zu Bildung, zum
Arbeitsmarkt oder bei der politischen Mitbestimmung. Laut dem Gender Inequality Index erfahren Frauen im Jemen und in Papua-Neuguinea die größte Benachteiligung,
während Schweizerinnen und Däninnen weltweit die höchste Gleichberechtigung genießen.

   unter 0,1
   0,1 bis unter 0,2
   0,2 bis unter 0,3
   0,3 bis unter 0,4
   0,4 bis unter 0,5
   0,5 bis unter 0,6
   0,6 und mehr                                             Weltweite geschlechterspezifische Ungleichheit nach dem Gender Inequality
   keine Daten                                              Index („0“ = absolute Gleichberechtigung, „1“ = größte Ungleichheit zwischen
                                                            den Geschlechtern), 2017
                                                            (Datengrundlage: UNDP 44)

                                                                                                                                              Berlin-Institut   9
Bei einem Blick auf den Gender Inequality
                                                   Die Vereinbarungen von Kairo im Spiegel der internationalen
Index der Vereinten Nationen, der die Diskri-
                                                   Entwicklungsziele
minierung von Frauen in den Bereichen Ge-
sundheit, Bildung, Erwerbsbeteiligung und
politische Mitsprache bewertet, zeigt sich         Die Schwierigkeiten auf internationaler       eine Rolle. Lediglich das wenig kontrover-
jedoch schnell, dass Frauen in vielen Berei-       Ebene eine gemeinsame Linie zu Fragen         se Ziel der Verbesserung der Mütterge-
chen noch benachteiligt sind. Etwa bei der         der sexuellen und reproduktiven Gesund-       sundheit wurde zum MDG gemacht. Erst
politischen Mitsprache: Im weltweiten              heit und Rechte zu finden, zeigten sich       sieben Jahre später gelang es, den MDGs
Schnitt haben Frauen weniger als ein Viertel       nach Kairo auch bei der Ausarbeitung          zumindest ein Unterziel hinzuzufügen,
der Sitze in Parlamenten inne. In arabischen       internationaler Entwicklungsziele.            dass den universellen Zugang zu repro-
                                                                                                                              30, 31
Ländern und in Südasien gilt das im Schnitt                                                      duktiver Gesundheit fordert.
für weniger als ein Fünftel der Frauen.42          So fand das Thema in den Millennium
                                                   Development Goals (MDGs), die eine Agen-      In den Sustainable Development Goals
Auch Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen           da für die Erreichung zentraler Ziele zur     (SDGs), die die MDGs 2015 ablösten,
ist noch immer verbreitet. Laut einem Bericht      weltweiten Entwicklung zwischen 2000          wurde den Zielen von Kairo stärker Rech-
des Bevölkerungsfonds der Vereinten Natio-         und 2015 festlegten, zunächst keinerlei       nung getragen: Unterziel 3.7 fordert den
nen erfährt etwa jede dritte Frau im Laufe         Erwähnung.29 Beobachtern zufolge wollte       allgemeinen Zugang zu sexuellen und
ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt.       das UN-Sekretariat die hitzigen Debatten      reproduktiven Gesundheitsdienstleistun-
Zudem sind jedes Jahr noch immer Zehntau-          aus Kairo nicht erneut eröffnen, um die       gen, wie Familienplanung, und deren
sende Mädchen von schädlichen Praktiken            breite Akzeptanz der Millenniums-Ent-         Einbettung in nationale Programme und
wie etwa weiblicher Genitalverstümmelung           wicklungsziele nicht zu gefährden. Zudem      Strategien; Unterziel 5.6 pocht auf Ge-
betroffen.43                                       sollte der mit dem Kairoer Aktionspro-        schlechtergerechtigkeit und neben dem
                                                   gramm erreichte Konsens nicht durch           Zugang zu sexueller und reproduktiver
                                                   neue Diskussionen aufs Spiel gesetzt          Gesundheit auf reproduktive Rechte spe-
  Kaum Wissen und Mittel zur Verhütung             werden. Auch der Rückzug der USA als          ziell für Frauen. Dennoch wurden auch in
                                                   Befürworter von sexueller und reprodukti-     den SDGs Lücken gelassen: Die Erwäh-
                                                                                                                              32, 33
Damit alle Menschen frei, informiert und           ver Selbstbestimmung unter der Bush-Re-       nung sexueller Rechte fehlt.
verantwortungsbewusst über die Anzahl ihrer        gierung spielte bei dieser Entscheidung
Kinder und den zeitlichen Abstand zwischen
deren Geburten entscheiden können, brau-
chen sie Zugang zu modernen und sicheren
Mitteln der Familienplanung. Während es für     Neben den Frauen, die keinen Zugriff auf         Widerstände als Bremse
die meisten Bewohner in den Industriestaa-      moderne Familienplanungsmethoden haben,
ten normal ist, die Wahl zwischen einer Viel-   gibt es zudem jene, denen wegen mangeln-         Ein Blick auf die Übersichtskarten und die
zahl unterschiedlicher Verhütungsmittel zu      der Aufklärung und Informationen schlicht-       vorherrschenden globalen Ungleichheiten
haben – vom Kondom über die Pille bis hin zu    weg das Wissen dazu fehlt, wie sie ihre Fami-    wirft natürlich die Frage auf, warum es der
Hormonstäbchen –, ist das in anderen Teilen     lie planen können. Denn eine umfassende          Weltgemeinschaft bislang noch nicht gelun-
der Welt alles andere als selbstverständlich.   Sexualaufklärung ist längst nicht überall        gen ist, allen Menschen den Zugang zu Ge-
Tatsächlich haben in den Entwicklungslän-       normal. In Tschad, Mauretanien und der           sundheitsleistungen, Verhütungsmethoden
dern jedes Jahr über 200 Millionen Frauen,      Zentralafrikanischen Republik kennt bei-         oder Bildung zu ermöglichen und für Gerech-
die gern eine Schwangerschaft vermeiden         spielsweise jede dritte Frau keine einzige       tigkeit zwischen Männern und Frauen zu
würden, keinen Zugang zu modernen Metho-        moderne Verhütungsmethode.46 Und auch            sorgen. Die dahinterstehenden Ursachen sind
den der Empfängnisverhütung. Über die           Mythen rund um Sex und Fortpflanzung hal-        komplex und auch je nach Länderkontext
Hälfte der Frauen mit einem ungedeckten         ten sich aufgrund mangelnder Aufklärung          sehr unterschiedlich. Ein wesentlicher Grund,
Bedarf an Verhütungsmitteln lebt in Subsaha-    teilweise noch wacker: So glauben Jugendli-      der dazu beiträgt, dass die bereits in Kairo
ra-Afrika und in Südostasien.45                 che in einigen Ländern etwa, dass eine Frau      getroffenen Vereinbarungen weiterhin un-
                                                beim ersten Geschlechtsverkehr nicht             erreicht bleiben, sind anhaltende Widerstän-
                                                schwanger werden kann oder dass ein Mann,        de, die gegen einige Punkte des Kairoer Ak-
                                                der sich mit HIV infiziert hat, geheilt werden   tionsprogramms auch 25 Jahre nach dem als
                                                kann, wenn er Sex mit einer Jungfrau hat.47      historisch gefeierten Konsens fortbestehen.

10 Umkämpftes Terrain
Denn ob Paare Kontrazeptiva nutzen dürfen,              seiner Inhalte auf. Dadurch bremsen sie inter-
um ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, ob              nationale Anstrengungen zur Umsetzung der
ungewollt Schwangere Zugang zu einer Ab-                Ziele der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz
treibung erhalten und ob Frauen in allen                – und auch der Nachhaltigkeitsziele, die
Bereichen des Lebens die gleichen Rechte                diese weiterverfolgen.
zugestanden werden sollten wie Männern –
all das sind Fragen, über deren Antworten               Woher diese Widerstände kommen, wer
auch heute weltweit keine Einigkeit herrscht.           dahintersteht und mit welchen Argumenten
Einige religiöse und gesellschaftliche Grup-            die Opponenten sich gegen das Recht auf
pen, Machthaber und Organisationen sehen                Selbstbestimmung stellen, zeigt das folgende
diese weiterhin kritisch und treten deshalb             Kapitel.
als Opponenten des Aktionsprogramms und

Wo die Familiengröße nicht planbar ist

In den am wenigsten entwickelten Staaten ist der Zugang zu modernen Kontrazeptiva oft noch schwierig. In Afrika möchten beispielsweise mehr als vier von zehn Frauen
gern eine Schwangerschaft vermeiden, doch etwa die Hälfte von ihnen hat keinen Zugriff auf moderne Verhütungsmittel. Damit kann längst nicht jede Frau, die gerne
weniger Kinder bekommen würde, diesen Wunsch auch umsetzen.

    unter 10
    10 bis unter 15
    15 bis unter 20
    20 bis unter 25
    25 und mehr
    keine Daten

Ungedeckter Bedarf an Familienplanungsmethoden, in Prozent, 2010 bis 2018
(jeweils letztes verfügbares Jahr)
(Datengrundlage: UN DESA48)

                                                                                                                                                 Berlin-Institut 11
2              VON WELCHEN SEITEN DER
               WIDERSTAND GEGEN DAS KAIROER
               AKTIONSPROGRAMM KOMMT
Sexualität und Fortpflanzung sind seit jeher      Zu den Hauptstreitpunkten gehörten neben         und das Recht auf Leben schützen wollen,
kontroverse Themen. Häufig wurden und             der Frage, ob moderne Mittel zur Empfäng-        den Befürwortern der sexuellen und repro-
werden sie tabuisiert oder entfachen hitzige      nisverhütung moralisch vertretbar und zuläs-     duktiven Selbstbestimmung in Brüssel und
Debatten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass     sig sind, vor allem die Diskussion um            Straßburg zunehmend das Leben schwer
jede Gesellschaft, Religion, Kultur und jedes     Schwangerschaftsabbrüche.2 Als kleinster         ( Kapitel 2.3). Und auch unter dem als pro-
Rechtssystem eigene Auffassungen zu den           gemeinsamer Nenner hielten die Delegierten       gressiv geltenden Papst Franziskus lehnt die
Belangen der menschlichen Reproduktion hat.       im Kairoer Aktionsprogramm schließlich fest,     katholische Kirche weiterhin jegliche Form
Als die Internationale Gemeinschaft 1994 auf      dass eine Abtreibung kein Mittel zur Familien-   der Familienplanung vehement ab ( Kapitel
der Weltbevölkerungskonferenz (ICPD) in           planung sein darf und dass der Vermeidung        2.1).
Kairo zusammentraf, um diese Fragen zu            ungewollter Schwangerschaften durch Fami-
diskutieren, waren Meinungsverschiedenhei-        lienplanungsprogramme höchste Priorität          Um dieser Entwicklung etwas entgegenzuset-
ten und Unstimmigkeiten programmiert. Das         eingeräumt werden müsse. In Ländern, in          zen, hat der Bevölkerungsfonds der Vereinten
galt insbesondere für das Recht auf reproduk-     denen Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich        Nationen (UNFPA) gemeinsam mit Dänemark
tive und sexuelle Selbstbestimmung, das in        geregelt sind, sollten sie sicher sein und nur   und Kenia zum 25. Jubiläum des Kairoer Gip-
genau diesem Spannungsfeld ethischer, reli-       unter entsprechender medizinischer Beglei-       fels erneut eine Konferenz einberufen, um die
giöser und moralischer Fragen liegt.1             tung stattfinden.3                               Vereinbarungen von 1994 noch einmal her-
                                                                                                   vorzuheben und deren Unterstützer zu mobi-
                                                                                                   lisieren. Vor der Zusammenkunft in der kenia-
Kompromiss statt Konsens                          Gegenwind von unterschiedlichen                  nischen Hauptstadt Nairobi im November
                                                  Seiten                                           2019 ist es allerdings wichtig, Bestand zu
Der große Erfolg des Gipfels in Kairo war, dass                                                    den Standpunkten der Opposition aufzuneh-
alle 179 vertretenen Staaten das Abschluss-       Mit dem in Worte gegossenen Kompromiss           men: Wer leistet weiterhin Widerstand gegen
dokument verabschiedeten – trotz unter-           wurden die Widerstände gegen sexuelle und        das Kairoer Aktionsprogramm und warum?
schiedlicher Ansichten zu vielen Punkten, die     reproduktive Selbstbestimmung allerdings         Welche Argumente bringen die Gegner vor
das Aktionsprogramm aufführte. Es gelang,         nicht aus der Welt geschafft. In den vergan-     und wie vernetzt sind sie? Und vor allem:
einen Kompromiss zwischen progressiven            genen 25 Jahren waren sie aus unterschied-       Welche Auswirkungen hat dieser Widerstand
und konservativen Konferenzteilnehmern            lichen Richtungen immer wieder spürbar.          auf die Umsetzung der Kairoer Ziele?
auszuhandeln. Nach außen demonstrierte die        Und sie haben in den letzten Jahren sogar
Weltgemeinschaft damit Geschlossenheit,           noch zugenommen: Mit dem Amtsantritt             Die folgenden Kapitel sollen diese Fragen
doch es ließ sich kaum verbergen, dass wäh-       Donald Trumps sind die Vereinigten Staaten       näher beleuchten.
rend der Verhandlungen in Kairo ein Tauzie-       vom zeitweiligen Vorkämpfer für eine selbst-
hen um strittige Inhalte und Formulierungen       bestimmte Sexualität erneut zu deren Oppo-
stattgefunden hatte. Einige muslimische Staa-     nenten geworden. Unter dem wachsenden
ten äußerten Bedenken über die Vereinbarkeit      Einfluss der christlichen Rechte hat Trump
des Abschlussdokuments mit den Regeln der         die zuletzt unter seinen republikanischen
Scharia, der auf dem Koran gründenden             Vorgängern geltende Mexiko-City-Policy
Rechtsordnung des Islams. Und auch katholi-       wieder eingeführt und sogar noch verschärft
sche Staaten, vor allem aus Südamerika, und       ( Kapitel 2.2). In Europa machen „Anti-
der Vatikan merkten Vorbehalte an.                Choice“-Bewegungen und rechtspopulisti-
                                                  sche Kräfte, die die „traditionelle Familie“

12 Umkämpftes Terrain
Streitpunkt Abtreibung

Bei der Frage, ob eine sichere Abtreibung für alle Frauen zugänglich sein soll, standen sich in Kairo unversöhnliche Gruppen gegenüber. Bis heute sind Schwanger-
schaftsabbrüche in 26 Staaten weltweit unter allen Umständen verboten. Und das Thema entfacht weiter hitzige Debatten, auch in Ländern mit liberaleren Gesetzen, wie
etwa die Diskussionen um den Paragraphen 219a in Deutschland oder die Verschärfung der Gesetzeslage in einigen US-amerikanischen Bundesstaaten zeigen. Weltweit
betrachtet haben Frauen heute allerdings einen deutlich besseren Zugang zu einer legalen und sicheren Abtreibung als noch 1994. Denn seit der Weltbevölkerungskon-
ferenz in Kairo haben fast 50 Staaten weltweit ihre Abtreibungsgesetze liberalisiert.5

    vollständig verboten
    erlaubt bei Lebensgefahr für Frauen
    erlaubt aus gesundheitlichen Gründen
    erlaubt aus sozioökonomischen Gründen
    erlaubt*
    keine Daten
*
 Bei Erfüllung gewisser Rahmenbedingungen (wie
etwa ärztlicher Beratung) bis zu einem bestimmten                       Rechtlicher Status von Schwangerschaftsabbrüchen weltweit, 2019
Schwangerschaftsstadium (meist 12. Schwangerschaftswoche).              (Datengrundlage: Center for Reproductive Rights4)

2.1 DER VATIKAN UND SEINE ALLIANZPARTNER
„Gute Katholiken müssen sich nicht vermeh-             Familiengröße sollte nur durch Enthaltsam-              zwischen Mann und Frau, die wiederum im
ren wie die Karnickel.“ Mit diesen Worten              keit und die Zügelung der eigenen sexuellen             Sinne des Schöpfers einzig dem Zweck dient,
sorgte Papst Franziskus 2015 nach einem                Triebe umgesetzt werden.6, 7                            menschliches Leben zu erschaffen.8 Die ka-
Besuch in Manila, der Hauptstadt der Philip-                                                                   tholische Kirche beruft sich dabei weniger auf
pinen, für Aufsehen. War dies das langer-                                                                      die biblischen Schriften, sondern auf traditio-
sehnte Zeichen seitens des Oberhaupts der              Die katholische Ordnung zur                             nelle Moralvorstellungen, die sich aus dem
katholischen Kirche, sich bei dem Thema                „Weitergabe des Lebens“                                 Naturrecht ableiten: Da die Natur Mann und
Familienplanung zu öffnen und diese künftig                                                                    Frau mit der Fähigkeit, Leben zu zeugen aus-
nicht mehr strikt abzulehnen? Eher nicht.              Franziskus bezieht sich damit wie seine Vor-            gestattet hat, soll der Mensch dies nicht be-
Angesprochen auf die Frage, wie er ange-               gänger bei Fragen der Empfängnisverhütung               hindern.9
sichts des hohen Bevölkerungszuwachses auf             auf die Enzyklika „Humanae Vitae“, die Papst
den Philippinen über den Gebrauch von Kont-            Paul VI. im Jahr 1968 veröffentlichte. Sie              Empfängnisverhütung und natürlich auch
razeptiva denke, stellte Franziskus klar, dass         fasst die grundlegenden Prinzipien der katho-           Abtreibung sind damit unmoralisch – und
die „verantwortungsbewusste Elternschaft“              lischen Kirche rund um das Thema Fortpflan-             auch unnötig, denn im katholischen Weltbild,
als Leitprinzip gilt. Sprich: Die Planung der          zung zusammen: Sex gehört alleine in die Ehe            so wie es vom Vatikan vertreten wird, ist kein

                                                                                                                                                 Berlin-Institut 13
Platz für sexuelle Beziehungen zwischen          Bereits bei der Weltbevölkerungskonferenz         Die Menschenrechte interpretiert Rom dabei
Unverheirateten, Teenagern oder auch homo-       1994 versuchte der Vatikan, gezielt die Ver-      häufig im Sinne der eigenen Interessen: So
sexuellen Paaren. Ungewollte Schwanger-          handlungen zu beeinflussen. Papst Johannes        wird für die „Rechte der Familie“ geworben,
schaften oder HIV-Übertragung kommen             Paul II. richtete sich in mehreren Briefen        die anstelle der Rechte des Individuums im
demnach theoretisch gar nicht vor – was          direkt an die teilnehmenden Staatenvertreter      Zentrum der Gesellschaft stehen sollen. Das
Kondome, Schwangerschaftsabbruch oder            und verurteilte darin die Zusprechung sexuel-     Recht auf Leben, eines der Leitprinzipien der
auch sexuelle Aufklärung für Kinder und Ju-      ler und reproduktiver Rechte an Personen          Menschenrechte, gelte ab dem Moment der
gendliche praktisch überflüssig macht. Zu-       außerhalb der traditionellen Ehe und die          Empfängnis und mache Abtreibung damit
grunde liegt diesem Weltbild eine traditionell   Erwähnung von Abtreibung, Sterilisation und       zum Verbrechen. Und homophobe Äußerun-
patriarchalische Vorstellung von Familie: So     moderner Verhütung.14 Die Agenda der Kon-         gen, religiös begründete Diskriminierung
erklärte der Vatikan im Rahmen verschiedener     ferenz bezeichnete der Papst vorab als das        oder die Weigerung von Ärzten aus religiösen
Stellungnahmen, dass die Rolle der Frau über-    „Werk des Teufels“.15 Schließlich stimmten        Gründen, Abtreibungen durchzuführen, wer-
wiegend durch ihre Aufgaben als Mutter und       die Delegierten aus Rom dem Abschlussdo-          den mit der Religionsfreiheit und dem Recht
Ehefrau zu verstehen ist.10 Die Möglichkeit,     kument von Kairo aber zu, wenn auch mit           auf freie Meinungsäußerung legitimiert.20
sich vor ungewollter Schwangerschaft zu          Vorbehalten. Die Versuche, auf UN-Ebene
schützen, würde Frauen all ihrer Würde und       Einfluss bei Fragen rund um das Thema Fort-
ihres Status berauben und sie zu einer „blo-     pflanzung und Ehe zu nehmen, setzt der
ßen Leibeigenen ihres Herrn machen“, so          Vatikan allerdings bis heute fort. In den letz-
                                                                                                     Familienplanung und reproduktive
wörtlich Erzbischof John Murphy aus Cardiff in   ten Jahren nehmen Beobachter sogar eine
                                                                                                     Rechte im Islam
einem Artikel zum Erscheinen der Humanae         Intensivierung der Aktivitäten bei den Verein-
Vitae 1968.11                                    ten Nationen wahr: So erhöhte sich die Zahl
                                                 der Eingaben durch die UN-Vertretung des            Die islamisch geprägten Länder vertreten
Als Konsequenz tritt der Vatikan als entschie-   Heiligen Stuhls bei Debatten rund um die            ein breites Spektrum von säkularen und
dener Gegner sexueller und reproduktiver         sexuelle Selbstbestimmung von etwa zwei             liberalen bis hin zu fundamentalistischen
Rechte auf. Denn die Zusprechung solcher         pro Jahr zwischen 2003 und 2009 auf jähr-           Positionen zur sexuellen und reprodukti-
Rechte für alle Menschen unabhängig von          lich neun zwischen 2010 und 2013.16                 ven Selbstbestimmung. Denn der Islam
Geschlecht, sexueller Orientierung und Fami-                                                         kennt keine zentrale Instanz, die wie der
lienstand stellt eine massive Bedrohung des      Die Strategie ist in Stil und Argumentation         Vatikan eine einheitliche Lehrmeinung
konservativen katholischen Weltbildes dar.       moderner geworden: Der Vatikan vermeidet            formuliert. Der Koran enthält kein direk-
                                                 eine offensichtlich religiöse, konservative         tes Verbot der Familienplanung. „Barrie-
                                                 Färbung in seinen Äußerungen, sondern nutzt         re“-Verhütungsmethoden wie Kondome
Konservativer Strippenzieher                     zunehmend eine technische und vorgeblich            und Diaphragmen werden daher von
in New York                                      wissenschaftliche Sprache, die den UN-Ver-          vielen Religionsvertretern akzeptiert,
                                                 öffentlichungen gleicht.17 Dazu gehört bei-         hormonelle Verhütung wird jedoch teil-
Um seine Positionen zu vertreten, nutzt der      spielsweise die Warnung vor einem Bevölke-          weise als unzulässiger Eingriff in den
Vatikan seine Sonderstellung bei den Verein-     rungsrückgang und den negativen Auswir-             natürlichen Zyklus gesehen. Auch Sterili-
ten Nationen (UN): Zwar ist er kein Mitglieds-   kungen auf die Rentensysteme als Argument           sation wird weithin abgelehnt.23 Bei der
staat, aber durch seinen Status als ständiger    für eine „familienfreundliche“ Politik.18 Zu-       Abtreibung existieren gegensätzliche
Beobachter kann er an allen Sitzungen teil-      dem wird weniger mit katholischen Moralvor-         Gesetze: Während viele muslimisch
nehmen und Tagesordnungspunkte in die            stellungen argumentiert, sondern es werden          geprägte Länder sie verbieten oder aus-
UN-Generalversammlung einbringen, nur            andere UN-Konventionen ins Feld geführt, die        schließlich bei Gefährdung der körper-
Abstimmungsrecht hat er nicht.12 Eigentlich      sexuelle Rechte augenscheinlich widerlegen.         lichen Gesundheit der Mutter zulassen,
soll diese Sonderrolle der Vertretung des        Als Argument gegen den universellen Zugang          ist der Schwangerschaftsabbruch in
Staates Vatikan dienen und nicht der der         zu Sexualaufklärung für Kinder und Jugend-          Tunesien, der Türkei und einigen ehema-
katholischen Kirche – schließlich haben ande-    liche führte der Vatikan in der Vergangenheit       ligen Sowjetrepubliken erlaubt.24
re Kirchen oder Konfessionen keine solche        zum Beispiel das Vorrecht von Eltern an, die
Präsenz auf UN-Ebene. Das hindert die Dele-      religiöse und moralische Ausbildung ihrer
gation des Vatikans jedoch nicht, als morali-    Kinder selbst zu bestimmen, was in früheren
sche Vertretung aller Katholiken aufzutreten     UN-Konventionen festgelegt wurde.19
und Einfluss auf Sprache und politische Linie
der UN zu nehmen.13

14 Umkämpftes Terrain
Interreligiöse Allianzen                               Auch UN-Konferenzen in der jüngeren Ver-                tionen, sondern beeinflussen auch den Alltag
                                                       gangenheit, die sich mit dem Thema beschäf-             tausender Gläubiger in den wenig entwickel-
Ein wichtiges Werkzeug des Vatikans, um                tigten, torpedierten der Vatikan und seine              ten Ländern, wo die Lehrmeinung des Heili-
seine Interessen durchzusetzen, ist die Zu-            konservativen Verbündeten immer wieder. So              gen Stuhls noch Gewicht hat. Besonders
sammenarbeit mit konservativen Staaten.                verhinderte beispielsweise 2012 eine Allianz            stark ist der Einfluss in afrikanischen Län-
Durch solche Allianzen versucht die Vertre-            des Heiligen Stuhls mit Staaten wie Syrien              dern, wo ein großer Teil der Bevölkerung
tung des Papstes, Mehrheitsbeschlüsse inter-           und Ägypten die Erwähnung von reprodukti-               katholisch ist – etwa in Angola, Kenia, Nigeria
nationaler Konferenzen gezielt zu schwächen            ven Rechten im Abschlussdokument der Rio                oder Uganda. Wenn Bischöfe dort den Nutzen
und so die Möglichkeiten der Vereinten Natio-          20+ Konferenz, die die nachhaltigen Entwick-            von Familienplanungsmethoden bestreiten
nen zu begrenzen, sich effizient für die               lungsziele (SDGs) mit auf den Weg brachte.25            oder diese sogar als „unheilig“ bezeichnen,
Selbstbestimmung rund um Sexualität und                Auch 2019 versuchte der Vatikan etwa bei                wie etwa der kenianische Erzbischof Zaccha-
Fortpflanzung einzusetzen.21 Die Zusammen-             der Sitzung der UN-Frauenrechtskommission               eus Okoth im Jahr 2017, zeigt dies bei vielen
arbeit geht dabei paradoxerweise über alle             die Sprachwahl in UN-Dokumenten zu beein-               Menschen Wirkung.28
religiösen und kulturellen Gräben hinweg. So           flussen: Er forderte die Erwähnung der Rech-
reisten etwa vor der Weltbevölkerungskonfe-            te von Homosexuellen und Transsexuellen zu              Zumindest dürfte es dazu beitragen, dass die
renz 1994 Gesandte des Vatikans in den Iran            streichen und stattdessen die Bedeutung der             Zustimmung zu Verhütungsmitteln bei afrika-
und nach Libyen, um für Unterstützung beim             „traditionellen Familie“ hervorzuheben –                nischen Katholiken nach wie vor geringer ist
Widerstand gegen die sexuelle Selbstbestim-            sprich ein Mann, eine Frau, ein Kind.26                 als in anderen Teilen der Welt: Während bei
mung für alle zu werben. Eine gemeinsame                                                                       einer Befragung unter 12.000 Katholiken in
Erklärung mit der Islamischen Weltliga und                                                                     zwölf Ländern insgesamt 78 Prozent der
anderen islamischen Nichtregierungsorgani-             Großer Einfluss in                                      Interviewten moderne Kontrazeptiva befür-
sationen verurteilte die „moralische Deka-             Entwicklungsländern                                     worteten, war die Unterstützung unter Gläu-
denz“ und den „extremen Individualismus“                                                                       bigen in Afrika deutlich niedriger. Nur 44
der Konferenz.22                                       Die Positionen des Vatikans wirken nicht nur            Prozent der Befragten in der Demokratischen
                                                       auf politischer Ebene bei den Vereinten Na-             Republik Kongo und in Uganda sprach sich
                                                                                                               für den Einsatz von Kontrazeptiva aus, wäh-
Weltfremde Lehrmeinung				                                                                                     rend die Mehrheit diese ablehnte.29 Zu ähn-
                                                                                                               lichen Ergebnissen kam 2013 das Pew Re-
Ungeachtet des vatikanischen Verbots nutzt die Mehrheit der Katholiken in vielen Ländern weltweit moderne
Verhütungsmethoden. Selbst in streng katholischen Staaten wie Brasilien und Argentinien sprechen sich neun
                                                                                                               search Centre, ein amerikanischer Think
von zehn befragten Gläubigen für Verhütungsmittel aus. In afrikanischen Ländern südlich der Sahara ist die     Thank: Bei Befragungen in 40 Ländern gehör-
katholische Lehrmeinung noch deutlich populärer und die Ablehnung moderner Kontrazeptiva dementspre-           ten die Bevölkerungen in Nigeria und Ghana
chend höher.                                                                                                   zu den ablehnendsten gegenüber Verhü-
                                                                                                               tungsmitteln. Nur in Pakistan waren die mo-
Frankreich                                                                                                     ralischen Bedenken beim Thema Familienpla-
Brasilien                                                                                                      nung noch größer.30
Argentinien
Kolumbien                                                                                                      Umgekehrt gibt es allerdings auch in afrikani-
Spanien                                                                                                        schen Staaten Katholiken, die im Alltag die
Mexiko
                                                                                                               Lehrmeinung des Heiligen Vaters in Rom
                                                                                                               weniger ernst nehmen und sich sogar für den
Italien
                                                                                                               Zugang zu Verhütungsmitteln einsetzen. In
USA
                                                                                                               Sambia bewegten beispielsweise die An-
Polen
                                                                                                               strengungen der Churches Health Association,
Philippinen                                                                                                    ein Zusammenschluss katholischer und pro-
Uganda                                                                                                         testantischer Gesundheitshelfer, und ihrer
Demokratische                                                                                                  Partner das sambische Gesundheits­
Republik Kongo
                 0      10      20       30       40        50     60      70       80       90        100     ministerium dazu, den Zugang zu injizierba­
                                                                                                  in Prozent   ren Kontrazeptiva wie Hormonstäbchen zu
                                                                                                               verbessern.31
Anteil befragter Katholiken, die moderne Verhütungsmittel         Befürwortung
befürworten oder ablehnen, in Prozent, 2014                       Ablehnung
(Datengrundlage: Bendixen & Amandi for Univision27)

                                                                                                                                             Berlin-Institut 15
2.2 DIE USA UNTER TRUMP –
FEINDLICHER GESINNT DENN JE
Kein anderes Land der Welt ist in den ver-              und von dessen Vorgänger Ronald Reagan ge-              Einschränkungen für
gangenen 35 Jahren beim Thema sexuelle                  golten hatte: die „Mexiko-City-Policy“ (MCP),           internationale NGOs
Selbstbestimmung einen solchen Zick-Zack-               die unter Kritikern vor allem als „Global Gag
Kurs gefahren wie die Vereinigten Staaten               Rule“ (globales Knebelungsgesetz) bekannt               Eingeführt wurde die Mexiko-City-Policy
von Amerika. In Kairo – während der Präsi-              ist. Laut dieser Regelung dürfen ausländische           von Ronald Reagan während der Weltbe-
dentschaft Bill Clintons – gehörten die USA             Nichtregierungsorganisationen (NGOs) keine              völkerungskonferenz 1984 in der mexikani-
zu den Schrittmachern der Agenda für mehr               US-Entwicklungsgelder erhalten, wenn sie                schen Hauptstadt. Dort hatten die USA ihre
sexuelle Selbstbestimmung.32 Das änderte                in irgendeiner Form mit Schwangerschafts-               Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen
sich, als im Jahr 2001 George W. Bush ins               abbrüchen zu tun haben – wenn sie also                  deutlich gemacht und darüber hinaus die
Weiße Haus einzog. Denn der neue Präsident              Informationen und Beratung für betroffene               Notwendigkeit von Familienplanungspro-
setzte unmittelbar nach seiner Vereidigung              Frauen anbieten, Abtreibungen durchführen               grammen in Frage gestellt. Zudem übten die
eine Regelung in Kraft, die zuvor unter der             oder sich für deren Legalisierung einsetzen.33          Vertreter der Vereinigten Staaten heftige
Präsidentschaft seines Vaters George Bush                                                                       Kritik am Bevölkerungsfonds der Vereinten

Vom Unterstützer zum Gegner, zum Unterstützer, zum Gegner …

Obwohl die US-amerikanische Politik in Sachen reproduktive Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung seit 1984 ein ständiges Hin und Her darstellt, ist sie doch zu-
mindest in einem beständig: Unter einem demokratischen Präsidenten gehören die Vereinigten Staaten in der Regel zu den Vorkämpfern für sexuelle und reproduktive
Rechte, während unter Republikanern an der Spitze der USA die Abtreibungsgegner den Ton angeben, die versuchen genau diese Rechte zu untergraben. Dies spiegelte
sich in den letzten 35 Jahren in der In- und Außerkraftsetzung der Mexiko-City-Policy wider.

Ronald Reagan                     George Bush    Bill Clinton                     George W. Bush                  Barack Obama                      Donald Trump
1981–1989                         1989–1993      1993–2001                        2001–2009                       2009–2017                         2017–
                                                                                                                 2009

                                                                                                                                                              2020
                                                                                 2001
                                  1989
               1984

                                                1993

                                                                                                                                                  2017
1981

              Ronald Reagan führt die           Bill Clinton setzt die MCP außer                             Donald Trump führt die MCP im Januar
              MCP erstmals ein.                 Kraft. Ein Jahr später macht sich                            2017 wieder ein und weitete sie im
                                                seine Regierung in Kairo für repro-                          Laufe seiner Amtszeit aus.
                                                duktive und sexuelle Rechte stark.

       MCP in Kraft
       MCP außer Kraft

In- und Außerkraftsetzung der Mexiko-City-Policy (MCP) durch US-Präsidenten seit 1981
(Datengrundlage: eigene Darstellung nach Barot und Cohen 38)

16 Umkämpftes Terrain
Nationen, der mit seinen Programmen in Chi-
                                                   Wen die Global Gag Rule knebelt
na in ihren Augen Abtreibungen unterstützte
und damit die chinesische Ein-Kind-Politik
mittrug. Nach der Einführung der MCP stell-        Die von Ronald Reagan 1984 eingeführte         verboten war, US-Gelder für Leistungen
ten die USA deshalb kurze Zeit später auch         Global Gag Rule (offiziell Mexiko-City-        rund um Abtreibungen zu nutzen, ist es
ihre Unterstützungen für UNFPA ein.34 Diese        Policy, MCP) verbietet es ausländischen        ihnen seither auch nicht mehr gestattet,
Praxis führten in den folgenden Jahrzehnten        NGOs, die US-amerikanische Finanzmittel        ihre eigenen Mittel oder jene von anderen
alle Präsidenten aus den Reihen der Repu-          für Familienplanungsprogramme erhalten,        Geldgebern dafür zu nutzen.
blikaner fort, während alle demokratischen         Abtreibungen vorzunehmen, dazu Bera-
Staatsführer die MCP und den Zahlungs-             tungsleistungen anzubieten, Lobbyarbeit        Donald Trump hat die MCP noch weiter
stopp an UNFPA stets wieder aufhoben.35            für deren Legalisierung zu betreiben oder      verschärft: Seit 2017 gilt sie nicht nur für
                                                   sich auch nur positiv über Schwanger-          Gelder für Familienplanungsprogramme,
Dieser Tradition folgt auch Donald Trump:          schaftsabbrüche zu äußern. Die Regelung        sondern für das gesamte Gesundheits-
In einer seiner ersten Amtshandlungen als          beschränkt Organisationen, die weiterhin       budget in der US-amerikanischen Ent-
US-Präsident unterzeichnete er im Janu-            US-Gelder beziehen wollen, somit in            wicklungszusammenarbeit. Damit dürfen
ar 2017 eine Absichtserklärung, die die            ihrem Leistungsspektrum – sie knebelt sie      nun auch Organisationen, die in anderen
Mexiko-City-Policy wieder in Kraft setzte          also im übertragenen Sinne – während           Programmen etwa zu Themen wie Kinder-
und diese sogar noch ausdehnen sollte. Vier        jenen, die sich ihr nicht beugen, die Mittel   und Müttergesundheit, HIV/Aids oder zu
Monate später folgten dieser Erklärung Taten:      gestrichen werden.                             Infektionskrankheiten wie Malaria oder
Mit der Umsetzung des Plans zum „Schutz                                                           Tuberkulose arbeiten, nicht über Abtrei-
des Lebens in der weltweiten Gesund-               Die Regelung soll verhindern, dass             bungen informieren oder diese durchfüh-
heitshilfe“ (Protecting Life in Global Health      US-amerikanische Steuergelder für Ab-          ren. Seit März 2019 ist es den NGOs, die
Assistance, PLGHA) im Mai 2017 gilt die            treibungen im Ausland eingesetzt werden.       US-Mittel beziehen, zudem untersagt
Mexiko-City-Policy nun nicht mehr nur für          Eigentlich verbietet dies schon seit 1973      andere Organisationen, die Dienstleistun-
die US-Mittel für Familienplanung, sondern         das sogenannte Helms Amendment, das            gen rund um Schwangerschaftsabbrüche
für alle US-amerikanischen Entwicklungs-           mit der MCP allerdings noch verschärft         anbieten, finanziell zu unterstützen.39
gelder im gesamten Gesundheitsbereich.36           wurde: Während es NGOs zuvor lediglich
Während also unter der ursprünglichen
Fassung der MCP zwischen 2017 und 2019
jährlich etwa 600 Millionen US-Dollar an
Finanzmitteln für Familienplanung betroffen
gewesen wären, galt die Regulierung nach        die sich keinen „Knebel“ anlegen lassen           NGO ihre Programme zur freiwilligen Ste-
der Erweiterung für die gesamten zehn bis       wollten, bedeutete die Regel – selbst in ihrer    rilisierung in ländlichen Gebieten komplett
elf Milliarden US-Dollar an internationaler     abgeschwächten Form vor Trump – stets             einstellen musste.42 Für die International
Gesundheitshilfe pro Jahr – insgesamt           enorme finanzielle Einbußen. Sie wurden           Planned Parenthood Federation (IPPF),
also für den rund 18-fachen Betrag.37           dadurch immer wieder gezwungen an                 der weltweit größte private Anbieter von
                                                Personal zu sparen, Leistungen einzustellen       Familienplanungsprogrammen, könnte die
                                                und teilweise sogar Kliniken zu schließen.41      MCP einen Verlust von über 100 Millionen
Amerikanische Politik mit                                                                         US-Dollar an Fördermitteln bedeuten. Laut
weltweiten Folgen                               Nach dem Inkrafttreten von Trumps aus-            eigenen Schätzungen der NGO könnten mit
                                                geweiteter MCP trifft dieses Schicksal noch       diesen fehlenden Mitteln weltweit etwa
Wann immer ein republikanischer Präsi-          deutlich mehr Organisationen. Zwar lässt sich     4,8 Millionen ungewollte Schwangerschaf-
dent die Mexiko-City-Policy in Kraft setzt,     das Ausmaß der Folgen für die Gesundheits-        ten, 1,7 Millionen unsichere Abtreibungen
trifft dies vor allem die wenig entwickelten    systeme in wenig entwickelten Ländern noch        und 20.000 Todesfällen bei Schwange-
Länder, wo ein großer Teil der Gesund-          nicht gänzlich abschätzen. Zu spüren sind         ren und Müttern verhindert werden.43
heitsversorgung von internationalen NGOs        sie aber bereits deutlich: So musste etwa         Die Leidtragenden sind dabei stets die
getragen wird. Da die USA der weltweit          Marie Stopes International (MSI), die größte      Menschen vor Ort, insbesondere Frauen
größte Geber von Entwicklungsgeldern im         Organisation für sexuelle und reproduktive        und Mädchen, die nicht länger die Gesund-
Gesundheitsbereich ist, fällt die Regelung      Gesundheitsleistungen in Uganda, 27 mobile        heitsdienste der NGOs wahrnehmen können
besonders ins Gewicht.40 Für all jene NGOs,     Kliniken schließen, während eine äthiopische      und so oft auch keinen Zugriff auf moderne

                                                                                                                                 Berlin-Institut 17
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