Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG

 
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Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Bericht zur Zukunft
der Nation. Punkt.

                      Nov. 2014
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
2   Prognos trendletter Nov. 2014
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Editorial

Nichts ist stetig …

… außer der Wandel. Dieses Diktum ist         Langfristiges Denken und die Übernahme
nicht zu leugnen – und die große Krux         von Verantwortung für die nächste Ge-
eines jeden Prognostikers. Dennoch wa-        neration sind für Entscheider mindestens
gen wir uns seit 50 Jahren mit unserem        genauso schwierig wie die eigentliche
Deutschland Report an die Herausfor-          Prognose. Daher finden Sie Gastbeiträge
derung, regelmäßig Langfristprognosen         zweier Repräsentanten dieser speziellen
für Deutschland zu erstellen. Nun – nach      „Langstreckendisziplin“. Rita Süssmuth
der doppelten Verfallsdauer von 25-           und Franz Müntefering äußern sich
Jahres-Prognosen – ist es ein guter Zeit-     in eindrücklicher Weise zu Fragen der
punkt, auf die Ergebnisse dieser Arbeit       politischen Planung, den notwendigen
zurückzublicken. Auch wenn nach Mei-          Zeithorizonten und auch der Nützlich-
nung weitsichtiger Geistesgrößen (wahl-       keit von Prognosen: eine Orientierung für
weise: Mark Twain, Winston Churchill          Politiker jeder Generation.
oder Karl Valentin) „Prognosen schwierig
sind, insbesondere, wenn sie die Zu-          Bei aller Verpflichtung zu verlässlicher
kunft betreffen“, so zeigt unser Zeitstrahl   Orientierung in Zukunftsfragen sind
in der Mitte des Heftes doch, dass wir        auch wir bei Prognos natürlich einem
unser Handwerk durchaus verstehen.            steten Wandel verpflichtet – ohne den
Zwar kann das Ziel von Langfristprogno-       die beste Zukunft schließlich nicht
sen nicht die detailgetreue Wahrsagung        Realität würde. Daher liegt ein kleines
einer möglichen Zukunft sein, sie sollen      Beispiel solcher Veränderungsprozesse
aber einen soliden Orientierungsmaßstab       gerade vor Ihnen. Wir haben unserem
bieten. Und dies können wir nun über den      bewährten trendletter nämlich eine
Zeitraum eines halben Jahrhunderts für        Modernisierungskur (im Fachjargon
uns in Anspruch nehmen.                       Relaunch genannt) gegönnt. Wir hoffen,
                                              dass Ihnen das neu gestaltete Heft gefällt
Daher haben wir den vorliegenden              und freuen uns über Ihr Feedback. Denn
trendletter auch mit ein bisschen Stolz       zu Beginn jeden Wandels steht schließ-
„Bericht zur Zukunft der Nation“ betitelt.    lich ein fruchtbarer Austausch über das
Denn als solchen verstehen wir unseren        Hier und Jetzt.
aktuellen Deutschland Report, der das
Hauptthema dieser trendletter-Ausgabe         Ich wünsche Ihnen eine spannende Lek-
ist. Er basiert auf der Erfahrung von         türe und freue mich von Ihnen zu hören.
mittlerweile zwölf Vorgänger-Reports.
Das beweist sein ausgesprochen stabiles       Herzlich, Ihr
Modell. Er bietet damit die allseits
gefragte Referenzprognose für Entscheider
in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
In diesem trendletter finden Sie einige
der grundlegenden Zahlen, Fakten und
Erkenntnisse unserer Langfristprognose,
aber auch Szenarien möglicher Kon-
sequenzen, die aus ihrer Nichtbeach-
tung entstehen können. Natürlich kann
die Prognose im Heft nur angerissen           Christian Böllhoff
werden, aber wir hoffen, Ihnen damit          christian.boellhoff@prognos.com
Appetit auf eine intensivere Lektüre des
Deutschland Reports selbst zu machen.

Prognos trendletter Nov. 2014                                                              3
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                                                                                   Was passiert,
                                                                                   wenn nichts passiert

      Leitartikel
05    Kein Wahrsager. Zur Verantwortung des Prognostikers

      Prognose 2040                                          12
                                                                     
                                                                     Gastbeitrag
                                                                     Rita Süssmuth
07    Zukunft in Zahlen

      Interview Franz Müntefering
08    „Die Kraft der Aufklärung nutzen“

      Zeitzeugnis
10    Ins Archiv geblickt

11
      Rankings
      Wem gehört die Zukunft?
                                                                              08
                                                                                     
                                                                                     Interview
                                                                                     Franz Müntefering
      Gastbeitrag Rita Süssmuth
12	Vorausschauende Politik – Erkenntnis und Handeln
      im Widerstreit

      Zeitstrahl
14    50 Jahre Prognosen im Check

      Szenarien
17    Was passiert, wenn nichts passiert

      Demografie
20	Gestaltbar ist nur die
      Demografie von übermorgen

      Standpunkt
22	Was geht? Über die Spielräume
      der Politik beim Senken von Handelsüberschüssen

      Über uns
25    Blick in die Projekte

27
      Über uns
      Rückblick in Bildern                                  14   Zeitstrahl

4                                                                                             Prognos trendletter Nov. 2014
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Leitartikel

Kein Wahrsager. Zur
Verantwortung des Prognostikers
Prognosen liefern Entscheidungsgrundlagen. Daher müssen der
Untersuchungsgegenstand, die Annahmen und die Rahmenbedingungen
transparent sein – wie auch der Grad der Unsicherheit.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat             und den vorgelegten Zahlen und lehnen          scheidet über Handel und Investitionen.
kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage zur
Ausbildung in Deutschland vorgestellt,
mit einem eindeutigen Ergebnis: Fast drei
Viertel aller Auszubildenden sind zufrieden.
                                               „
                                               das Freihandelsabkommen ab.

                                                  Wie mit Zahlen und Statistiken
                                                  umgegangen wird, hängt von der
                                                                                              Je weitreichender solche Entscheidungen
                                                                                              sind, desto wichtiger ist die Belastbarkeit
                                                                                              der zugrundeliegenden Prognosen.

Nicht so eindeutig lauten hingegen                Sicht und den Interessen des                Das Problem an der Zukunft ist die
die Meldungen in der Presse. Es bestehe           Rezipienten ab.“                            Ungewissheit. Niemand möchte ger-
eine überwältigende Zufriedenheit mit                                                         ne ungeschützt im Regen stehen, aber
der Ausbildung, hieß es einerseits –           Was bringt die Zukunft? Diese beiden           falls es doch mal passiert, hält sich der
noch nie seien so viele Auszubildende          Beispiele verdeutlichen, wie der Um-           Schaden sicherlich in Grenzen. Ein über
unzufrieden andererseits. Beide Aussagen       gang mit Zahlen, Daten und Statistiken         Jahre verhandeltes Abkommen, das in
bezogen sich auf dieselbe Zahl, sie            von der Sicht und den Interessen des           Tausende von Vorschriften und Verord-
wurden nur sehr unterschiedlich inter-         jeweiligen Empfängers der Botschaften          nungen Eingang findet, wirkt hingegen
pretiert (siehe Abb. 1, Seite 6).              geprägt ist. Gleiches gilt für Prognosen und   tief in das wirtschaftliche Leben eines
                                                                                              Landes hinein. Zudem ist es nicht so ein-
                                                                                              fach revidierbar. Da wüsste man schon
                                                                                              gerne vorher, was einen erwartet.

                                                                                              Auswirkungen von Entscheidungen auf-
                                                                                              zeigen. Um im Voraus zu Einschätzun-
                                                                                              gen über die Zukunft zu gelangen, benö-
                                                                                              tigt man also Prognosen. Wer Prognosen
                                                                                              mit dem Hinweis ablehnt, es komme
                                                                                              ohnehin alles anders, der verkennt,
                                                                                              dass Prognosen im Kern eine „Was-pas-
                                                                                              siert-wenn-Aussage“ treffen. Zukünftige
                                                                                              Entwicklungen sind stets unbekannt und
                                                                                              die lange Frist bietet naturgemäß viel
                                                                                              Raum und Zeit für eine zwischenzeitli-
                                                                                              che Veränderung der Rahmenbedingun-
                                                                                              gen, für unvorhersehbare Ereignisse.

                                                                                              Dennoch haben Langfristprognosen einen
                                                                                              großen Wert. Zukunftsorientierte Entschei-
Ein anderes Beispiel: Schafft das Handels-     insbesondere für Langfristprognosen mit        dungen zu treffen, ohne sich im Vorfeld
und Investitionsabkommen (TTIP) zwi-           einem Zeithorizont von fünfzehn und            Gedanken über ihren Nutzen und die lang-
schen der EU und den USA Wachstum, Ar-         mehr Jahren. Mehr noch als Analysen            fristigen Auswirkungen zu machen, wäre
beitsplätze und Wohlstand oder unterhöhlt      zur aktuellen Sachlage dienen Progno-          fahrlässig. Ein bestmöglicher Versuch,
es hart erkämpfte Arbeitnehmerrechte und       sen dazu, Erkenntnisse über zukünftige         unter Nutzung aller relevanten Informa-
Umweltstandards? Diverse Studien haben         Entwicklungen zu liefern, die eine Ent-        tionen die Zukunft vorherzusehen, senkt
versucht, sich dieser Frage quantitativ zu     scheidungsgrundlage für die handelnden         zum Beispiel das Risiko von Fehlinvestiti-
nähern, mit höchst unterschiedlichen Er-       Akteure bieten. Ob auf der privaten Ebene      onen oder generell Fehlentscheidungen. Er
gebnissen. Im Jahr 2027 solle TTIP 0,5 %       (Brauche ich am Wochenende einen Re-           macht sichtbar, was unter den jeweiligen
mehr Wachstum für die EU bringen. An-          genschirm?) oder in der Politik (Haben wir     Rahmenbedingungen mit hoher Wahr-
dere sehen in den nächsten zehn Jahren         genug Kita-Plätze?) und ob es dabei um         scheinlichkeit passieren wird. Deshalb
einen Wachstumsimpuls von insgesamt            vermeintlich kleine (Wochenendwetter,          kommt eben diesen Rahmenbedingungen
knapp 4 Prozentpunkten und 400.000             Kindergarten) oder großen Fragen geht          und Annahmen eine erhebliche Bedeutung
neue Arbeitsplätze. Unterm Strich erwar-       (Wie steht es um meine Altersvorsorge?         zu. Genau hier liegt die Verantwortung des
ten die Befürworter ein paar Euro mehr         Wie viel Wachstum bringt TTIP?). Stets         Prognostikers.
in den Taschen der Europäer. Aber ist das      richten Menschen ihr Handeln an Erwar-
ausreichend, um etwaige Risiken in Kauf        tungen über die Zukunft aus. Der Reisen-       Der Prognostiker ist kein Wahrsager.
zu nehmen? Kritiker zweifeln am Nutzen         de packt seine Tasche, der Politiker ent-      Er blickt nicht in die Glaskugel, um zu

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                           5
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Leitartikel

Aussagen über die Zukunft zu gelangen,             gilt beispielsweise für Prognosen zur zu-      beispiele zeigen, dass hier erhebliche Spiel-
sondern er stützt sich auf fundierte, kali-        künftigen Entwicklung der Bevölkerung.         räume bestehen. Diese sind legitim, sofern
brierte und idealerweise erprobte Rechen-          Wenn die geschilderten Voraussetzungen         sie auf einer transparenten Grundlage erfol-
modelle. Er betreibt auch kein „Malen              erfüllt sind, kann im Vorfeld über Kosten      gen. Im Übrigen sollten Prognosen keines-
nach Zahlen“ (Süddeutsche Zeitung, Die             und Nutzen, Chancen und Risiken von
Recherche: TTIP, 29.08.2014). Die Aufgabe          Entscheidungen diskutiert und ein Kon-
des Prognostikers ist es, aussagekräftige          sens erzielt werden.
Parameter zu wählen und transparente
Annahmen zu setzen, empirische Erfah-              Bei allem redlichen Bemühen können Pro-
rungen zu nutzen und Sondereinflüsse               gnostiker nicht immer richtig liegen. Auch
zu berücksichtigen. Diese hängen nicht             die Prognos AG hat schon vortrefflich
zuletzt vom Untersuchungsgegenstand                danebengelegen. Zum Beispiel beim The-
ab. Es muss nachvollziehbar sein, welche           ma Energieversorgung. Wir produzieren
Aspekte im Fokus der Prognose stehen.              bereits heute deutlich mehr erneuerbare
Eine Analyse, die etwa auf die Wachstums-          Energie, als Prognos 1998 für das Jahr
wirkungen eines Freihandelsabkommens               2020 vorhersagte. Aber weder die rasan-        wegs von (politischen) Interessen geleitet,
abzielt, kann zu positiven Ergebnissen             te technologische Entwicklung noch der         sondern stets ergebnisoffen sein. Andern-
kommen. Damit ist aber nicht belegt, dass          prompte Atomausstieg nach Fukushima            falls kommt es schnell zu bemerkenswer-
das Freihandelsabkommen grundsätzlich              konnten seinerzeit ernsthaft als Szenario      ten Fehleinschätzungen. Der 1988 von
sinnvoll ist. Greift man andere Aspekte            in Betracht gezogen werden. Umgekehrt          der EU-Kommission in Auftrag gegebene
                                                                                                  Cecchini-Bericht ist ein solches Beispiel.
    ABB. 1: EINE ZAHL – VERSCHIEDENE INTERPRETATIONEN                                             Die Vorhersagen über die Wachstumseffek-
    DGB-Ausbildungsreport 2014                                                                    te des europäischen Binnenmarkts haben
                                                                                                  sich im Nachhinein als viel zu hoch heraus-
                                                                                                  gestellt, lagen sie doch allzu eindeutig im
                                                                                                  Bereich dessen, was der Auftraggeber sei-
„Lehrlinge sind unzufrieden wie nie (...).                       „Mit rund 71 Prozent ist die
                                                                                                  nerzeit als wünschenswert erachtet haben
  Der aktuelle Wert ist der niedrigste,                          Mehrheit der Auszubildenden
                                                                                                  dürfte. Man darf also davon ausgehen, dass
  der in den bisher neun DGB-Studien                                   aber zufrieden.“
                                                                                                  eine Vielzahl lesenswerter Untersuchungen
      zum Thema ermittelt wurde.“                                 Wirtschaftswoche, 04.09. 2014   nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
        Spiegel Online, 04.09.2014
                                                                                                  Ob Prognosen eintreffen oder nicht, ob sie
                                                                                                  in diesem Sinne richtig oder falsch sind,
                                                                                                  hängt letztlich vom Handeln der Akteure

                                     71,4 %                                                       ab. Vielfach zeigen Prognosen nämlich
                                                                                                  auf, wie sich Probleme in Zukunft entwi-
                                                                                                  ckeln könnten. Wenn heute Fachkräfte-
                                                                                                  mangel prognostiziert wird, der unter den
                                                                                                  gegebenen Umständen zu erwarten ist,
                                                                                                  dann sind es gerade diese Umstände, die
                                                                                                  verändert werden müssen, um potenzielle
                                                                                                  Engpässe zu vermeiden. Welchen Beitrag
                           „Die meisten Azubis, über 71 Prozent, äußern                           leistet welche klimapolitische Maßnahme,
                            sich zufrieden. Im Einzelnen sind die                                 um die Erderwärmung zu bremsen? Hier
                              Ergebnisse aber sehr unterschiedlich.“                              gilt das Gleiche wie etwa für die Progno-
                                       tagesschau, 04.09.2014                                     sen zum Waldsterben in den 1980er Jah-
                                                                                                  ren: Sie werden erstellt, gerade damit sie
                                                                                                  nicht eintreffen.

heraus, fällt das Urteil womöglich anders          gibt es zahlreiche Positivbeispiele. Die       Prognosen dienen als Referenz, um ent-
aus. Entsprechend muss der Prognostiker            Prognos AG hat in ihrem ersten Deutsch-        sprechend wirksame Handlungsempfeh-
offen und ehrlich auf die Grenzen seiner           land Report von 1964 vorhergesagt, dass        lungen entwickeln und priorisieren zu
Arbeit hinweisen.                                  Bayern, seinerzeit noch Empfängerland          können. Fundierte Prognosen liefern die
                                                   im Länderfinanzausgleich, zukünftig einen      Entscheidungsgrundlage. Daher müssen
Eintrittswahrscheinlichkeit der Prognosen.         Spitzenplatz einnehmen werde. Für Nord-        sich die Akteure zuallererst auf die Güte
Prognosen können niemals mehr sein als             rhein-Westfalen, in jener Zeit noch indust-    der Prognosen verlassen können. _
ein Instrument zur Eingrenzung von Unsi-           rie- und bevölkerungsreichstes Bundesland,
cherheit. Der Prognostiker muss am Ende            wurde schon damals eine eher düstere Zu-
nicht nur selbst mit dieser Unsicherheit           kunft berechnet (siehe „50 Jahre Prognosen
leben, er sollte stets bestrebt sein, eine         im Check“, S. 14 – 16).
Einschätzung über den Grad der Unsicher-
heit seiner Prognose mitzuliefern. Manche          Prognoseergebnisse zeigen Handlungsoptio-
Prognosen sind nämlich deutlich sicherer           nen auf. Die Interpretation von Prognoseer-
                                                                                                    Dr. Oliver Ehrentraut
– haben also eine deutlich höhere Ein-             gebnissen ist grundsätzlich dem Empfänger
trittswahrscheinlichkeit – als andere. Das         der Botschaften überlassen. Die Eingangs-        oliver.ehrentraut@prognos.com

6                                                                                                                        Prognos trendletter Nov. 2014
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Prognose 2040

Zukunft in Zahlen
Gute Prognosen sind eine komplizierte Angelegenheit.
Doch das heißt nicht, dass ein einfacher Blick auf die Dinge
unmöglich wäre. Versuch einer Zuspitzung in Zahlen.

                                                     Zahl der Erwerbslosen in Deutschland:

                                                   2014        2,2 Mio.   1,3 Mio.     2040

                                                     Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen:

                                        2014     62 %          76 %       70 %       84 %          2040

                                          Gesamtbeitragssatz der Sozialversicherung in Deutschland:

                                                   2014         40,2 %    47,8 %      2040

            Zusätzliche Geburten p. a. bei einem dauerhaften Anstieg der Geburtenrate ab 2014 auf 2,1 (statt aktuell rund 1,4):

                                                 2014          280.000     356.000      2040

                                             Anteil der zusätzlichen Geburten an der Bevölkerung:

                                                   2014         0,34 %    0,46 %      2040

                                             Anzahl der Erwerbstätigen im Verarbeitenden Gewerbe:

                                                   2014        6,9 Mio.   5,3 Mio.    2040

                          Anteil der Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung:

                                                   2014         22,6 %    23,7 %      2040

                                                Öffentliche Schuldenstandsquote in Deutschland:

                                                   2014         76,5 %    40,1 %      2040

                                      Differenz des BIP-Wachstums zwischen Bayern und Sachsen-Anhalt:

                                        2014      1,6 Prozentpunkte       0,8 Prozentpunkte        2040

                                                 Öffentliche Verschuldung pro Kopf (nominal):

                                                2014      26.300 EUR      33.300 EUR        2040

                  Relation des Pro-Kopf-Einkommens (reales BIP) Deutschlands zum Pro-Kopf-Einkommen Chinas (relativ):

                                                        2014       9,9     3,6       2040

                 Differenz des Pro-Kopf-Einkommens (reales BIP) Deutschlands zum Pro-Kopf-Einkommen Chinas (absolut):

                                                2014      27.700 EUR      32.500 EUR        2040

                                               Einkommensniveau (reales BIP) Griechenlands ist …

                                      2014      … so hoch wie 2000.       … doppelt so hoch wie 1996.     2040

                                                                                                                 Quelle: Prognos Deutschland Report

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                                    7
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Interview Franz Müntefering

„Die Kraft der Aufklärung nutzen“
Im Interview mit Prognos fordert Franz Müntefering Prognosen, die
transparent machen, wie sie zu ihren Antworten kommen und
PolitikerInnen, die sie nicht ignorieren, wenn sie anstrengend sind.

Langfristprognosen und Legislatur-          sich demnächst vielleicht in der definiti-     nicht Willy Brandt und seine Unterstüt-
perioden – wie passt das zusammen?          ven Sackgasse wieder. Das mit den Visi-        zer in der neuen Ostpolitik gegeben hätte,
                                            onen wurde auch schon anders bewertet.         wären die Chancen fürs Gelingen wohl
Langfristprognosen gab und gibt es im-      Aber es wurde auch nachgeschoben, dass         geringer gewesen. _
mer. Sie sind kein Problem, sondern hilf-   es „auf pragmatisches Handeln zu sittli-
reich und menschen-adäquat. Nötig, weil     chen Zwecken“ ankommt. Das spricht für         „Es hätte besser kommen können.“ Für
sie die Handlungssicherheit steigern. Und   Mut zur Voraussetzung und Vorausschau,         welchen Bereich deutscher Politik trifft
typisch für uns Menschen, denn sie ent-     nicht für Ignoranz. Weg und Ziel bedin-        dies zu?
sprechen unserer Fähigkeit, aus uns her-    gen einander. Heute und morgen auch.
aus – scheinbar objektiv – in Vergangen-    Jedenfalls erheblich. _                        Angesichts der nachhaltigen Versäum-
heit und Zukunft zu blicken. Das Problem                                                   nisse auf diesem Feld müssen hier unzu-
ist das nicht nachhaltige Handeln, indem    Der größte Fehler des Politikers im            reichende Angebote für die Vereinbarkeit
man sich vor den Konsequenzen der           Umgang mit Prognosen?                          von Familie und Beruf und die mangel-
prognosegestützten Perspektiven drückt,                                                    hafte Wertschätzung von Berufen ge-
weil dieses Verhalten – anscheinend oder    Prognosen zu glauben, wenn sie ange-           nannt werden, in denen vor allem Frauen
scheinbar – die Chancen bei der nächsten    nehm scheinen und sie zu ignorieren,           tätig sind. Es hat sich was bewegt, aber
Wahl verbessert.                            wenn sie anstrengend sind. Das gilt üb-        viel ist auch noch zu tun, wenn das mit
                                            rigens nicht nur für Politiker: Ganz wich-     der Geschlechtergerechtigkeit und mit der
Die Legislaturperioden-Fixierung ist von    tig, ohne hier die Politik entlasten zu wol-   dauerhaften Leistungsfähigkeit unseres
Übel. „Nach der Wahl ist vor der Wahl“      len, ist der Umgang der Gesellschaft mit       Landes gelingen soll. _
ist der dümmste Politikerspruch generell.   Zukunftsfragen. Die Gesellschaft ist nicht
Legislaturperioden sind nicht dafür da,     außerhalb der Verantwortung. Deshalb ist       In welchem Handlungsfeld sollte sich die
die nächste Wahl vorzubereiten, sondern     die Ver-Schonung der Gesellschaft mit          Politik nicht auf Prognosen verlassen?
Wahlen sind dafür da, in der neu be-        Langfristprognosen doppelt unsinnig. _
ginnenden Legislaturperiode nachhaltig                                                     Von „verlassen“ würde ich nicht spre-
zu handeln. Bei allem unverkennbaren        Welchen rechtzeitigen Hinweis auf              chen. Kritiklose Gläubigkeit ist auch bei
Besserungsbedarf stimmt aber auch: Die      Handlungsbedarf hat die Politik                Prognosen nicht angebracht. Und sie sind
meisten Frauen und Männer in politi-        ignoriert, und warum?                          ja auch nicht dafür da, von der Politik
scher Verantwortung wissen das und ha-                                                     zur Realität gemacht zu werden. Sie sind
ben die langen Linien des Handelns sehr     Umweltzerstörung, Ressourcen-Verschwen-        ja keine Zielbeschreibung, sondern eine
wohl im Blick. Wenn sie noch stärker die    dung, die Konsequenzen demografischer          qualifizierte Mutmaßung über die Zu-
Kraft der Aufklärung nutzten und auch       Entwicklungen gehören jedenfalls dazu,         kunft. Was viel bedeuten kann, aber nicht
über die Bedingungen guter Perspektiven     aber die Reihe ist deutlich länger und kei-    zur Verwechslung mit Zielsetzungen füh-
sprächen, wäre einiges möglich. Die Men-    neswegs schrumpfend. _                         ren darf. _
schen ahnen ohnehin vieles. _
                                            „Es hätte schlechter kommen können.“           Bei welchem Thema denkt die Politik
Ihr Rat an einen jungen Kollegen oder       Für welchen Bereich deutscher Politik          hinterher, statt voraus, und warum?
eine junge Kollegin: Wann sollte man sich   trifft dies zu?
den Rat eines Prognostikers einholen –                                                     Die Schwäche der Politik liegt ja nicht
und wann nicht?                             Dass die Revolution 1989 in der DDR, die       darin, nicht in die Zukunft hinein zu den-
                                            schnell zur Einheit Deutschlands führte        ken. Das Problem entsteht, weil darüber
Jede konkrete Politik muss ansetzen an      und die damit auch zu gewaltigen, auch         nicht aufklärerisch gesprochen wird. Das
der Situation heute. Wolke Sieben macht     geostrategischen Veränderungen beitrug,        gilt besonders für Themen, die nicht im
keinen Sinn. Aber Politik muss beachten,    ohne Gewalt, ohne Krieg blieb, friedlich       öffentlichen und Medieninteresse sind
dass man heute nicht den vernünftigen       – das scheint mir heute, mehr als noch         und die mutmaßlich bei der nächsten
Weg finden kann, wenn man morgen und        damals, fast sensationell. Alle, die damals    Wahl nicht entscheidend sind. _
übermorgen und die nächsten Jahrzehnte      in Deutschland und außerhalb halfen, die
nicht im Blick hat. Für diesen Blick sind   hätten den Friedensnobelpreis verdient         Realistische Prognosen sind weder
Langfristprognosen keine Garantie, aber     gehabt. Was das mit den Langfristpro-          spektakulär noch treffsicher in den
oft hilfreiche Flanken. Wesentliche Jus-    gnosen zu tun hat? Die Mauer wurde             Nachkommastellen. Kann die Politik
tierungen gelingen nicht mal eben situ-     von den Menschen im Osten Deutschlands         trotzdem guten Rat in ihnen finden?
ativ. Sie brauchen Zeit.                    umgeworfen. Helmut Kohl betrieb sinn-
                                            vollerweise die schnelle Vereinigung.          Jede gute Politik beginnt mit den richti-
Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt     Gorbatschow war bei all dem unverzicht-        gen Fragen und dem Mut, zu sagen was
gehen, denn er lebt gefährlich und findet   bar. Aber wenn es 20/25 Jahre zuvor            ist. Das beantwortet nicht die Frage, was

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Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Interview Franz Müntefering

genau zu tun ist, schon gar nicht, was
übermorgen zu tun ist. Aber es erleichtert
die Orientierung und erhellt die Szene,
in der gehandelt werden muss. Progno-
sen sind hilfreich, wenn sie wichtige und
richtige Fragen stellen und wenn sie die
Konditionen deutlich machen, unter de-
nen sie zu ihren Antworten kommen. _

Was bewegt Sie heute am meisten, wenn
Sie ans Morgen denken?

Die noch erhebliche Ignoranz in demo-
grafischen Fragen (Bevölkerungszahl,
Altersstrukturen, Außen- und Binnen-
wanderung) hat Konsequenzen. Ich weiß,
es gibt andere Themen, die könnten mit
gleichem Recht genannt werden. Aber
das entlastet nicht. Die Gestaltung des
demografischen Wandels in all seinen
Facetten zu verschleppen, ist leichtfer-
tig. Geredet wird über die einschlägigen
Zahlen und Erkenntnisse für 2030, das ist
morgen. Vernuschelt werden die Zahlen
– Prognosen! – für 2050/60. Das ist un-
zureichend.

Gerhard Schröder hat zu Beginn seiner
Regierungszeit einen Rat für Nachhaltige
Entwicklung berufen, der zu einem wich-
tigen Impulsgeber wurde. Im Bundestag
wurde 2004 ein Beirat für Nachhaltige
Entwicklung eingerichtet, der über ein
Schattendasein nicht hinaus kam. Die
EU und auch Deutschland versuchen, mit
konkreten Indikatoren den mittel- und
langfristigen Fortschritt zu messen und
so die Themen in der öffentlichen und
politischen Debatte zu halten, – Genera-
tionengerechtigkeit, Lebensqualität, So-
zialer Zusammenhalt und Internationale
Verantwortung. In 21 Punkten ist das
präzisiert. Mehr Bilanz als Prognose, aber
doch ein Beitrag zur Nachhaltigkeit im
Denken und Handeln. Doch bisher haben
weder Legislative noch Exekutive es ge-
schafft, in ihrer Arbeit dem Willen zur
Nachhaltigkeit feste und verbindliche
Handlungsstrukturen in ihrer prakti-
schen Arbeit zu geben. Das ist auch nicht
leicht, wäre aber dringend nötig.

Ergänzend: Ob die überhöhte Geschwin-
digkeit unserer neuen Kommunikati-
onssysteme die Gefahr eines Jetzt-Zeit-
Denkens nicht drastisch verstärkt und         Franz Müntefering war von 2005 bis
sinnvolles, verantwortliches Langzeit-        2007 Bundesminister für Arbeit und
denken und -handeln nicht entscheidend        Soziales sowie Vizekanzler. Seit 1975
schwächt, das mag noch nicht entschie-        war er im Bundestag, unterbrochen
den sein, – aber die Frage stellt sich. Und   für sechs Jahre im Landtag NRW und
sie ist mindestens für die Demokratie nicht   in der Landesregierung von Johannes
leicht zu beantworten. _                      Rau. Aktuell repräsentiert er im Eh-
                                              renamt den Arbeiter-Samariter-Bund
                                              als Präsident.

Prognos trendletter Nov. 2014                                                         9
Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
Zeitzeugnis

Ins Archiv geblickt

                 DER SPIEGEL, Heft 27/1966.

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Rankings

Wem gehört die Zukunft?
5 x 5 Gewinner 2040

   WO DIE WIRTSCHAFT WÄCHST                                                                                               WO DER WOHLSTAND WÄCHST
   BIP-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040                                                                            BIP/Kopf-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040

   1. China ......................................................................................... 5,6                 1. Bayern .................................................................................... 1,5
   2. Indien ....................................................................................... 5,3                  2. Baden-Württemberg ................................... 1,5
   3. Brasilien .............................................................................. 4,3                        3. Hessen ..................................................................................... 1,5
   4. Türkei ....................................................................................... 4,0                  4. Sachsen ................................................................................ 1,4
   5. Chile ............................................................................................ 3,9              5. Nordrhein-Westfalen ................................. 1,4

   WO IMMER MEHR MENSCHEN LEBEN                                                                                            WELCHE BRANCHEN IN DEUTSCHLAND ZULEGEN
   Gesamtbevölkerung in Mio. | 2012 – 2040                                                                                 BWS-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040

   1. Indien ......................................................................... +369,0                             1. Elektroindustrie .................................................... 2,0
   2. Vereinigte Staaten ..................................... +80,0                                                      2. Gummi, Kunststoffe ........................................ 2,0
   3. Brasilien ..................................................................... +32,2                               3. Sonstiger Fahrzeugbau ......................... 1,9
   4. Mexiko .......................................................................... +28,1                             4. Chemie, Pharmazie ........................................ 1,8
   5. Türkei .............................................................................. +18,9                         5. Information, Kommunikation ....... 1,8

   WO DIE BESCHÄFTIGUNGSAUSSICHTEN GUT SIND Abweichung der Veränderungsrate der Anzahl der
   Beschäftigten von der durchschnittlichen Veränderungsrate (0,4 p. a.) in Prozentpunkten p. a. | 2012 – 2040

   1. Unternehmensnahe Dienstleistungen ........................................................................................................................ 0,54
   2. Gesundheits-/Sozialwesen................................................................................................................................................................................................. 0,35
   3. Private Haushalte, sonst. Dienstleistungen ..................................................................................................... 0,27
   4. Information, Kommunikation .......................................................................................................................................................................................... 0,25
   5. Erziehung, Unterricht .................................................................................................................................................................................. 0,22

                                                                                                                                                                                             Quelle: Prognos Deutschland Report

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                                                                                                                          11
Gastbeitrag Rita Süssmuth

Vorausschauende Politik –
Erkenntnis und Handeln
im Widerstreit
Die Politik sollte nicht allein auf den Druck der Verhältnisse reagieren. Sie
braucht den Mut, auch Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, schreibt
Prof. Dr. Rita Süssmuth in ihrem Gastbeitrag.
Immer wieder wird die Frage gestellt,        Euro. Bei kurzfristigem Handlungsdruck         nisse beispielsweise zum demografischen
warum bestimmte Entscheidungen so            dominiert die Exekutive, die Gesetzes-         Wandel liegen für die nächsten Jahrzehnte
lange dauern, obwohl ausreichend Daten       vorhaben einbringt und die inhaltliche         vor. Was fehlt, sind die entsprechenden
und Trendanalysen vorliegen. Der Politik     Ausrichtung sowie die zeitlichen Abläufe       politischen Antworten.
wird dabei die Fähigkeit oder zumindest      maßgeblich bestimmt.
der Wille abgesprochen, sich längerfris-                                                    Mut zur Wahrheit und zum Handeln. Die
tig festzulegen und für die Konsequenzen     Vorsorge für die Zukunft. In der Politik       These, dass eine nachhaltige Politik kei-
von Entscheidungen einzustehen. An-          tritt neben den vorhersehbaren Entwick-        nerlei Stellenwert habe und nicht auf der
gesichts einer in vieler Hinsicht offenen    lungen naturgemäß auch Unvorherseh-            politischen Agenda stehe, trifft in dieser
Zukunft erscheinen frühzeitige Festle-       bares ein, das betrifft vor allem die Berei-   Pauschalität nicht zu. Das zeigen die Bei-
gungen, die sich an Kriterien wie Vor-       che Natur und Umwelt, Krankheit, neuer         spiele demografischer Wandel sowie die
sorge und Nachhaltigkeit ausrichten,         Technologien und menschlichem Verhal-          Umwelt- und Energiepolitik. Die Bearbei-
manchmal eher als Flexibilitätsbremse        ten. Dennoch gehören langfristiges Den-        tung der hochrelevanten Zukunftsfragen
und als gewagt, denn als vorausschauend      ken und Planen, vorausschauende bzw.           erweist sich immer als komplizierter und
und zukunftssichernd.                        vorsorgende und nachhaltige Politik – ob       ambivalenter.
                                             im Energiesektor, Umwelt, Städtebau,
Entscheidungen ohne sichere Erkenntnis-      Bildung, Gesundheit oder Sicherheit – zu       So wird der Tatbestand der alternden und
grundlage. Es ist keine einfache Aufgabe,    den Verpflichtungen der Politik.               schrumpfenden Gesellschaft weder von
handeln zu müssen, ohne ausreichen-                                                         Experten noch von Politikern angezwei-
de Erkenntnissicherheit und ohne die         Und die Kritik ist ernst zu nehmen, dass       felt. Umstritten sind die Konsequenzen.
Folgen der getroffenen Entscheidungen        häufig das kurzfristige Denken und ent-        Der Streit darüber, ob Deutschland ein
einschätzen zu können. Das macht den         sprechende Maßnahmen das mittel- und           Einwanderungsland sei, wurde mit dem
Druck wie auch die Not der Entscheider       längerfristige Planen und Handeln ver-         neuen Zuwanderungsgesetz 2005 been-
deutlich. Ich selbst erinnere mich, wie      drängen. Als Zeithorizont dominiert die        det und die Integration der in Deutsch-
belastend und konflikthaft die gesund-       Wahlperiode, ein Zeitraum von vier Jah-        land lebenden Migranten zur politischen
heitspolitischen Entscheidungen beim         ren – anstatt die in zehn oder 20 Jahren       Priorität erhoben. Äußerst kontrovers ist
Thema AIDS waren. Es fehlte weitgehend       absehbaren Folgen von Entscheidungen.          und bleibt die Frage, wie viel Zuwan-
an medizinischem Wissen und dennoch                                                         derung Deutschland braucht. Noch wird
mussten Maßnahmen gegen die Verbrei-         Prognosen in Bezug auf Altersentwicklung,      weitgehend am Einwanderungsstopp
tung des damals tödlichen Virus ergriffen    Geburten- und Sterberaten, Ein- und Ab-        festgehalten, auch wenn die Zuwande-
werden. Niemand konnte zu jener Zeit         wanderung, Verlust von alten und Entste-       rung von Akademikern und Fachkräften
Irrtümer aufgrund fehlender gesicher-        hung neuer Arbeitsplätze werden erst dann      2012 erleichtert wurde, und das, obwohl
ter Erkenntnisse ausschließen. Es wurde      zu Alltagsrealitäten, wenn sie konkret er-     bereits heute in bestimmten Wirtschafts-
nahezu täglich hinzugelernt und ständig      fahrbar sind. Wer Vorsorge für die Zukunft     bereichen ein akuter Arbeitskräftebedarf

„
     
neu abgewogen.                               betreibt, hat es schwer, weitgehend klar ab-   herrscht.
                                             sehbare Entwicklungen in das Bewusstsein
     Es wurde nahezu täglich hinzuge-        der Bürger und Bürgerinnen zu bringen,         Die bisherige Vorsorge besteht darin, die
     lernt und ständig neu abgewogen.“       vor allem dann, wenn andere Erfordernisse      Lebensarbeitszeit stufenweise anzuheben,
                                             – Arbeitsplatz- und Einkommenssiche-           die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Unter hohem politischen Druck fallen         rung, Mobilität oder Gesundheitsprobleme       zu verbessern sowie finanzielle Anrei-
eher schnelle Regierungs- und parlamen-      – unbedingten Vorrang haben.                   ze zur Verwirklichung von Kinderwün-
tarische Entscheidungen. Beispiele hier-                                                    schen zu schaffen. Entgegen der politi-
für sind neben den Maßnahmen zur Ein-        Entscheidungen von Zukunftsrelevanz            schen Erwartung, die mit der Einführung
dämmung des AIDS-Virus in den 1980er         dauern besonders lange und werden              des Elterngelds und der Elternzeit zum
Jahren die Schutzvorschriften nach dem       hinausgeschoben. Es fehlt an Mut, neue         1. Januar 2007 und dem Ausbau der Kinder-
Reaktorunfall in Tschernobyl, der Vertrag    Herausforderungen für die Gesellschaft         betreuung auf höhere Geburtenraten setzt,
zur deutschen Einheit, der in nur neun       offen darzulegen und die notwendigen           hat sich die Zahl der Geburten dadurch nur
Monaten abgeschlossen wurde, und nicht       Konsequenzen zu ziehen. Die für vorsor-        kaum verändert: Im Jahr 2006 kamen laut
zuletzt die Gesetze zur Stabilisierung des   gendes Handeln notwendigen Erkennt-            Statistischem Bundesamt 672.724 Kinder

12                                                                                                               Prognos trendletter Nov. 2014
Gastbeitrag Rita Süssmuth

zur Welt, 2013 waren es 682.100 und damit     Es fehlt an Mut zu einer offenen und         Sicherheit ohne Risiko bildet daher eher
nur knapp 10.000 mehr. Das zeigt, dass eine   ehrlichen Auseinandersetzung mit den         die Ausnahme als die Regel. Wir alle ken-
kinder- und familienfreundlichere Politik     Bürgerinnen und Bürgern. Häufig lautet       nen den Satz: Die Demokratie braucht
allein nicht ausreicht, um kurzfristig Ent-   der Einwand, dass die Wahrheit nicht         Zeit, nur die Diktatur ist schnell. Sie
scheidungen junger Paare zu beeinflussen.     zumutbar sei, dass die Wählerinnen und       braucht Zeit für gründliche Erörterung,
Es handelt sich um multifaktorielle Pro-      Wähler nicht überfordert werden dürften      für fraktionsübergreifende Beteiligung,
zesse wie Partnerbeziehungen, Zugang zu       und könnten. Und die Entscheider ha-         für Anhörungen, für Abklärung von Dis-
längerfristiger Erwerbsarbeit und Einkom-     ben Angst, dass Wahrheit und Klarheit        sens und Konsens. Die Klärungen in der
menssicherung, Einstellungen zu den mit       zur Abwahl, zum Verlust der Macht füh-       Sache verringern Unsicherheit, beugen
Kindern verbundenen Aufgaben und Ver-         ren. Wie anders erklärt es sich, dass zum    der Hilflosigkeit vor, schützen aber nicht

„
     
pflichtungen.                                 Beispiel Sparmaßnahmen oder Steuerer-        vor der Erfahrung, am Ende dieses Pro-
                                              höhungen nicht vor, sondern erst nach        zesses eine Entscheidung zu treffen, die
      Nachhaltige Politik scheitert nicht     Wahlen bekannt gemacht werden?               auch falsch sein kann. Irrtum ist nicht
      an mangelndem Wissen. Was fehlt                                                      ausgeschlossen. Und die Hoffnung ist je-
      sind Konsens, Risikobereitschaft        Wen die Dauer politischer Entscheidungs-     weils, dass die getroffene Entscheidung
      und Führungskraft.“                     prozesse irritiert und auch verärgert, der   ohne Schaden korrigiert werden kann.
                                              sieht sich komplizierten Zusammen-
Es mangelt oft an der Bereitschaft der        hängen von wechselseitigem Vertrauen         Ziel muss sein, eine Balance anzustreben
Politik, sich auf Maßnahmen einzulas-         und Misstrauen, von Transparenz und          zwischen vorbeugender, vorausplanender
sen, die in ihren Auswirkungen weniger        Undurchschaubarkeit, Machtverlust und        Politik und reaktiver Politik, die jeweils
überschaubar und voraussagbar sind. Es        Machterhalt, Führungsfähigkeit und Ri-       handelt, wenn es die Verhältnisse bzw.
liegt aber weniger an der mangelnden          sikobereitschaft gegenüber. Da Verände-      die Umstände zwingend erfordern. Das
Erkenntnissicherheit, dass Entscheidun-       rung und Wandel sich in der globalisier-     sind Situationen, in denen bestimmte
gen in Bezug auf die Zukunftsgestaltung       ten Welt immens beschleunigt haben, ist      Reaktionsmuster ohne Alternativen sind,
nicht getroffen werden. Was fehlt sind        auch an die parlamentarischen Entschei-      in denen die Handlungsspielräume in
Konsens, Risikobereitschaft und Füh-          dungsprozesse die doppelte Anforderung       alternativlose Handlungszwänge einmün-
rungskraft.                                   zu stellen: stärker vorausschauend und       den. In solchen Konstellationen verliert
                                              schneller Entscheidungen zu treffen. Es      das Politische an Stellenwert und Gestal-
Balance zwischen vorausschauender und         kann nicht sein, dass Entscheidungen         tungskraft. Das führt zur Ohnmacht und
reagierender Politik. Je höher die An-        vertagt oder tabuisiert werden, weil es an   zum Verlust des Politischen. Das Politi-

                                              „
forderungen an Einstellungs- und Ver-              
                                              Konsens  oder an Mut fehlt.                  sche hat jedoch seinen eigenen Stellen-
haltensänderungen, desto geringer die                                                      wert und ist unverzichtbar für das Wohl
Bereitschaft der politischen Entscheider,         Auch die Parlamente müssen               des Einzelnen und der Gesellschaft. _
Maßnahmen zu ergreifen, die in der Be-            schneller und zugleich stärker
völkerung auf Kritik und Ablehnung                vorausschauende Entscheidungen
stoßen, zu Ängsten und Abwehr führen.             treffen.“

                                                                                           Rita Süssmuth
                                                                                           geboren 1937; Studium der Romanistik und
                                                                                           Geschichte in Münster, Tübingen und Paris;
                                                                                           Professuren in Bochum und Dortmund;
                                                                                           1979-1991 Mitglied im Zentralkomitee der
                                                                                           Deutschen Katholiken; 1982 Eintritt in die
                                                                                           CDU; 1982-1985 Direktorin des Instituts
                                                                                           „Frau und Gesellschaft“ in Hannover; 1985 -
                                                                                           1988 Bundesministerin für Jugend, Familie
                                                                                           und Gesundheit; 1987-2002 MdB der CDU;
                                                                                           1986 Bundesvorsitzende der Frauen-Union
                                                                                           der CDU; 1988-1998 Präsidentin des Deut-
                                                                                           schen Bundestages; Vorsitzende der unab-
                                                                                           hängigen Kommission für Zuwanderung;
                                                                                           2004 Mitglied der Global Commission for
                                                                                           Migration (Bericht für UN-Generalsekre-
                                                                                           tär Kofi Annan). Von 2005-2010 war sie
                                                                                           Präsidentin der privaten SRH-Hochschule
                                                                                           Berlin. Weitere Positionen: Seit 2005 Präsi-
                                                                                           dentin des Deutschen Polen Instituts (DPI).
                                                                                           Prof. Süssmuth ist Präsidentin des Deut-
                                                                                           scher Volkshochschul-Verband e. V. und
                                                                                           Kuratoriumsvorsitzende der TU-Berlin. Seit
                                                                                           2008 Vorsitzende der Deutsch-Polnischen
                                                                                           Wissenschaftsstiftung, seit 2009 Vorstands-
                                                                                           mitglied der Stiftung Genshagen und seit
                                                                                           2010 Präsidentin des Deutschen Konsorti-
                                                                                           ums der Deutsch-Türkischen Universität.

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                        13
Zeitstrahl

                         50 Jahre Prognosen im Check
                         Seit 1964 blickt der Prognos Deutschland Report in die Zukunft von
                         Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Unser Zeitstrahl zeigt ausgewählte
                         Prognosen im Realitätscheck.

                         1965: NRW ist industrie- und bevölke-
                         rungsreichstes Bundesland und wichtigs-                                                      1979: Prognos hält für die 1990er Jahre
                         tes Geberland im Länderfinanzausgleich.                                                      Arbeitslosenquoten von über 7 % für
                         Für 1980 prognostiziert die Prognos AG                                                       möglich. Schwarzmalerei – so die Kritiker.
                         im Deutschland Report: NRW wird seine         1973: Vollbeschäftigung. Hochkonjunktur.
                         Paradeposition verlieren und langfristig in   Die Arbeitslosenquote ist seit 1965 (0,7 %)
                         eine „fast prekäre Lage“ geraten.             drastisch gestiegen und beträgt jetzt bis zu
                                                                       1,5  %. Der Spiegel schreibt: „So knüppel-
                                                                       dick war’s noch nie“. Prognose im Report:
Jahr der Prognosen

                                                                       Für die 1980er Jahre können Quoten um
                                                                       3,5 % nicht ausgeschlossen werden.
                     ▲

   Jahr der Prognosen

                                           1965                                          1973                                          1979

                                           1980                                          1980                                          1993

   Prognosenhorizont
Prognosenhorizont    ▲

                                                                       Die Arbeitslosenquote liegt im Jahres-
                                                                       durchschnitt bei 3,8 %.

                         Die Prognose behält Recht: Das einstige
                         Vorzeigeland NRW ist 1980 schwächstes                                                        Nachdem die Arbeitslosenquote auf
                         Geberland im Länderfinanzausgleich, 5 Jahre                                                  7,2 % gestiegen war, erreicht sie 1993
                         später wird es erstmals Nehmerland sein.                                                     annähernd 10 %. Schuld ist unter an-
                                                                                                                      derem ein „schwarzer Schwan“ – die
                                                                                                                      Wiedervereinigung.

                         14                                                                                                                Prognos trendletter Nov. 2014
Zeitstrahl

1993: „Blühende Landschaften“? Im
Deutschland Report rechnet Prognos für
die Jahre 2000 bis 2010 mit 3 bis 6 %
Wachstum für die neuen Länder. Damit
hätte sich die Wirtschaftsleistung zwi-    1998: „Aufholprozess Ost“ – die Zweite?
schen Ost und West auch im Prognose-       Prognos erwartet, dass die neuen Bundes-
jahr 2010 noch nicht angeglichen.          länder über die nächsten 20 Jahre stärker
                                           wachsen als die alten. Laut Deutschland
                                           Report wird der Einkommensabstand
                                           bis 2020 auf etwa 10 % zurückgehen.          2002: Prognos schätzt das Wirtschafts-
                                           Damit würde 2020 ein tragbarer Zustand       wachstum Deutschlands 2002 bis 2020
                                           erreicht, „zumal die Unterschiede in-        auf 2,3 % p. a. Bis 2010 soll das Wachs-
                                           nerhalb Ostdeutschlands und innerhalb        tum noch bei 2,4 % p. a. liegen, zwischen
                                           Westdeutschlands größer sein dürften.“       2010 und 2020 dann bei 1,9 % p. a. Lang-
                                                                                        fristig also ein rückläufiger Trend für das
                                                                                        Wachstumspotenzial.

                         1993                               1998                                            2002

                         2010                               2014                                        2010 – 2020

Die zurückhaltende Prognose ist zwar       Der Einkommensabstand gemessen am
etwas zu optimistisch, erweist sich aber   BIP pro Kopf zwischen Westdeutsch-
im Kern als zutreffend – jedenfalls im     land und Ostdeutschland (inkl. Berlin)
Vergleich zu den noch zuversichtliche-     beträgt 30 %. Allerdings ist die Ost-West-
ren Stimmen aus den 1990er Jahren.         Perspektive einseitig: Auch zwischen
Der Osten holte langsamer auf als erwar-   Hessen und Schleswig-Holstein liegt
tet und inzwischen erkennen viele, dass    der Abstand bei fast 30 %. Zwischen
eine Angleichung absehbar nicht gelin-     Stadtstaaten und Flächenländern ist die
gen wird.                                  Lücke noch größer.

                                                                                        Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat
                                                                                        das weltwirtschaftliche Umfeld kräftig
                                                                                        durchgerüttelt und insbesondere 2009
                                                                                        zu drastischen Wachstumseinbrüchen
                                                                                        geführt. Dennoch dürfte sich die prog-
                                                                                        nostizierte Tendenz bewahrheiten: Das
                                                                                        deutsche Potenzialwachstum nimmt ab.
                                                                                        Die Krise als „schwarzer Schwan“ aller-
                                                                                        dings sorgt für deutliche Änderungen in
                                                                                        den Nachkommastellen: Für die Gesamt-
                                                                                        dekade 2010 bis 2020 sind 1,4 % p. a.
                                                                                        realistisch (2010 bis 2014: 1,5 % p. a.)

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                    15
Zeitstrahl

                                           2014: Prognose im aktuellen Deutschland
                                           Report: Deutschland erlebt „goldene Zwan-
                                           ziger“ – aber im Zuge der demografischen
                                           Entwicklung geht das Wachstumspotenzial
2006: 12 % Arbeitslosenquote und trau-     langfristig auf rund 1 % p. a. zurück. Das
rige Rekorde bei der Jugendarbeitslosig-   Erwerbspersonenpotenzial schrumpft deut-
keit – und Prognos spricht über Fach-      lich. Alle werden sich mehr anstrengen: Die
kräftemangel. Der Deutschland Report       Erwerbsquoten steigen und die Arbeitszei-
2006 geht davon aus, dass in Zukunft       ten nehmen zu. Für die Arbeitnehmer gibt
Nachwuchskräfte fehlen werden: Sinkende    es aber auch eine positive Botschaft: Die Er-
Absolventenzahlen und stetig alternde      werbslosigkeit sinkt und die Lohndynamik
Belegschaften könnten schon bald die       steigt deutlich.
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft
gefährden.

                 2006                                         2014

                2014                                          2040

Unter dem Stichwort „Fachkräftemangel“
erscheinen beim Online-Buchhändler
Amazon 473 Treffer. Viele Rufe werden
laut nach einer weiteren Lockerung zur
Zuwanderung ausländischer Fachkräfte.
Innenminister Thomas de Maizière im
Bundestag: „Es gibt kein einziges Hand-
werkerforum, in dem ich nicht auf das
Thema Zuwanderung und Fachkräfteman-
gel angesprochen werde.“ Der Fachkräfte-
mangel ist in der Realität angekommen.

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Szenarien

Was passiert,
wenn nichts passiert …
Eine Prognose mit einem Horizont von          Ein Beispiel ist der Arbeitsmarkt: Im       Damit unsere Prognose eintritt, bedarf
25 Jahren muss immer einen Wandel             Zuge des demografischen Wandels             es auf dem Arbeitsmarkt wie in vielen
der Rahmenbedingungen berücksichti-           (Rahmenbedingungen) kommt es zu             weiteren Feldern Veränderungen im Ver-
gen. Sie kann im Unterschied zu kurz-         neuen Knappheitsverhältnissen auf           halten von Beschäftigten, Unternehmen
fristigen Konjunkturprognosen nicht           dem Arbeitsmarkt. In der Folge müs-         und Staat. Und es bedarf auch Anstren-
vom politischen und gesellschaftlichen        sen Unternehmen ihre Beschäftigungs-        gungen. Wie aber würde die Zukunft
Status quo ausgehen. Unsere Progno-           bedingungen verbessern, um attraktiv        aussehen, wenn diese Anstrengungen
sen fußen deshalb darauf, dass die Ak-        für die knapper werdenden Fachkräf-         nicht unternommen würden? Was pas-
teure sich im Zeitverlauf wandelnden          te zu werden. Dies wiederum hat zur         siert, wenn nichts passiert? Diesen Ge-
Rahmenbedingungen ausgesetzt sehen            Konsequenz, dass es attraktiver wird,       danken spielen im Folgenden sechs Pro-
und ihr Verhalten daran anpassen.             erwerbstätig zu werden. Die Erwerbs-        gnos Experten für ganz unterschiedliche
                                              quoten steigen.                             Handlungsfelder durch. _

… mit den Kosten für
   erneuerbare Energien in Europa?
Erneuerbare Energien haben in den ver-        ebenso wettbewerbsfähig sein kann wie       erneuerbare Energien in den jeweili-
gangenen zehn Jahren in Europa deutlich       traditionelle Stromerzeugung.               gen EU-Ländern bis 2030 zu deutlichen
an Bedeutung gewonnen. Ausgelöst wurde                                                    Risikoaufschlägen bei Investoren führen.
dies durch verbindliche europäische und       Die erzielte Kostensenkung wurde auch       Steigende Finanzierungskosten wären
nationale Ziele bis zum Jahr 2020. Nun        durch die Steuerung der Risiken für         die Folge. Die Kosten für den Umbau der
wurden für die EU Ziele bis zum Jahr 2030     Investoren begünstigt. Denn Risiko-         Energiesysteme hin zu höheren Antei-
festgelegt. National verbindliche Ziele für   prämien, die bei der Finanzierung für       len erneuerbarer Energien würden somit
erneuerbare Energien wurden jedoch nicht      im Markt wenig erprobte Technologien        kurzfristig sehr wahrscheinlich nicht wie
vereinbart. Dies könnte zu unerwünschten      erhoben werden, stellen sonst einen         gewünscht sinken, sondern sogar steigen. _
Kosten führen.                                erheblichen Kostenfaktor für kapitalin-
                                              tensive erneuerbare Techniken dar.
In der Vergangenheit haben ein stabiles
Fördersystem und verbindliche Aus-            Heute haben Technologien wie Wind
bauziele zu einem starken Anstieg des         und Photovoltaik zwar bereits eine
Anteils erneuerbaren Energien an der          Marktdurchdringung erreicht, die weit
Energieerzeugung geführt. Im Zuge             über ein Anfangsstadium hinaus geht,
dessen konnten die Kosten der erneu-          sodass Investoren in der Lage sind,
erbaren Energien systematisch gesenkt         mehr Risiken und Verantwortung für
werden. Zahlreiche Analysen zeigen,           das Energiesystem zu tragen als vor
                                                                                            Frank Peter
dass die Stromerzeugung aus neuen             zehn Jahren. Gleichwohl würden gänz-
Wind- und Photovoltaik-Anlagen heute          lich fehlende verbindliche Ziele für          frank.peter@prognos.com

… in der Kinder- und Jugendhilfe?
Angesichts steigender Fallzahlen sind in-     und Ausgaben, insbesondere im Bereich       gen Aufgaben und Zielen gerecht werden,
telligente Lösungen in der Kinder- und        der Hilfen zur Erziehung. Offenbar steigt   müssen in absehbarer Zeit die Weichen
Jugendhilfe gefragt. Wenn nichts passiert,    der Unterstützungsbedarf von Eltern und     neu gestellt werden, etwa in Richtung
werden die Probleme nur größer.               Kindern. Gründe sind zudem eine größere     auf mehr präventive Hilfen und stärkere
                                              Wachsamkeit gegenüber Kindeswohlge-         sozialräumliche Zusammenarbeit. Sozi-
Kinder und Jugendliche benötigen gute         fährdungen sowie neue Herausforderun-       al-, Gesundheits- und Jugendamt sowie
Bedingungen zum Aufwachsen, darin             gen im Zuge der Inklusion von Kindern       Schulverwaltung müssen verstärkt ko-
ist sich die Politik einig. Doch das, was     und Jugendlichen mit Behinderungen          operativ zusammenarbeiten und gegebe-
seit Jahren wächst, sind – entgegen allen     in Regelkitas und -schulen. Will die Ju-    nenfalls ihre Zuständigkeiten neu sortie-
demografischen Trends – die Fallzahlen        gendhilfe auch weiterhin ihren vielfälti-   ren. Angesichts steigender Bedarfslagen

Prognos trendletter Nov. 2014                                                                                                     17
Szenarien

sollte der finanzielle Stellenwert der       denen sich bereits heute soziale Problem-
Jugendhilfe im Sinne einer Investitions-     lagen häufen und in denen die Haushalts-
strategie überdacht werden.                  lage besonders angespannt ist. Letztlich
                                             sind die Kinder und Jugendlichen die
Was passiert, wenn nichts passiert? Dann     Leidtragenden: Ihre Entwicklung wird
werden die Fallzahlen und Ausgaben           heute durch ungünstige Bedingungen er-
weiter wachsen, ohne dass sich die Er-       schwert und daher werden sie mit hoher
gebnisse verbessern. Und auch die finan-     Wahrscheinlichkeit (auch) als Erwachsene
zielle und personelle Überforderung der      auf Unterstützung angewiesen sein, falls
                                                                                            Melanie Henkel
Jugendämter nimmt weiter zu. Dies wird       die Teilhabe am Arbeitsmarkt und gesell-
vor allem die Jugendämter betreffen, in      schaftlichen Leben nicht gelingt. _            melanie.henkel@prognos.com

… mit Deutschlands Pkw-Flotte?
Deutschland fährt mit 44 Mio. Pkw eine       zeugbestand. Durch den demografischen        umgerüstet wurden, sind alternative
der größten Pkw-Flotten der Welt. Viel-      Wandel und die schrumpfende Bevölke-         Antriebe im Pkw-Bestand mit nur gera-
fach wird der Ruf nach mehr elektrisch       rung wird dieser Effekt sogar noch ver-      de 0,4 % vertreten. Sofern keine Maß-
betriebenen Pkw laut. Doch trotz stetiger    stärkt, denn mit zunehmenden Alter fah-      nahmen umgesetzt werden, welche die
Zunahme alternativer Antriebstechniken       ren Menschen ihr Auto länger, während        Kauflaune nach neuen Pkw erhöht, wird
wird der Verbrennungsmotor bis auf Wei-      gleichzeitig weniger potentielle Käufer      das Durchschnittsalter im Fahrzeugbe-
teres die Hauptantriebsart bleiben.          nachwachsen. Eine Umschichtung des           stand weiter steigen und somit wird
                                             Bestandes hin zu Fahrzeugen mit neu-         es länger dauern bis neue Antriebs-
Seit Jahren steigen die Qualität und die     en, effizienteren Antriebstechnologien       technologien signifikante Marktanteile
Nutzungsdauer von Pkw. Seit 2000 ist das     könnte daher länger dauern als heute von     aufweisen. _
durchschnittliche Fahrzeugalter von 6,9      vielen erwartet oder gefordert wird. Ohne
auf 8,8 Jahre im Jahr 2014 kontinuierlich    steuernde politische Maßnahmen werden
angestiegen und hat sich damit in nur        alternative Antriebe im Fahrzeugbestand
eineinhalb Jahrzehnten um zwei Jahre         noch lange ein Nischendasein fristen,
erhöht. Knapp 20 % des Fahrzeugbestan-       auch wenn viele Medien einen Trend zum
des und somit über 8 Mio. Pkw sind mitt-     Elektroantrieb erkennen wollen. Fakt ist,
lerweile zwischen 15 und 30 Jahre alt.       dass im Jahr 2013 gerade mal 1,6 % der
                                             neu gekauften Pkw mit einem hybriden,
Aus dieser Vergangenheitsentwicklung         elektrischen oder Gas-Antrieb ausge-
                                                                                            Alex Auf der Maur
lässt sich ein Trend ableiten hin zu ei-     stattet waren. Ohne die Flüssiggas-Pkw,
nem künftig noch stärker alternden Fahr-     welche zum größten Teil nachträglich           alex.aufdermaur@prognos.com

… in der Pflege von alten Menschen?
1995 behauptete Norbert Blüm, eine er-       – wird die Pflegequalität entscheidend       Pflegebedürftigen hätten es mit „Nied-
folgreiche Pflegekraft brauche lediglich     durch finanzielle und personelle Ressour-    rigpreis-Anbietern“ zu tun, verbunden
eine rechte Hand, etwas Geschick und ein     cen beeinflusst. Die Entwicklung aus stei-   mit einer höheren Gefahr von Stürzen,
warmes Herz. Heute attestiert die Bun-       gender Nachfrage bei zugleich sinkendem      Druckgeschwüren und Fixierungen als
deskanzlerin Pflegerinnen und Pflegern       Angebot an potenziellen Pflegefachkräf-      Folge des zu geringen Personaleinsatzes.
härtere Jobanforderungen als bei ihrer       ten sowie einer rückläufigen Zahl an Bei-    Die Angehörigen hätten dann nur noch
eigenen Tätigkeit.                           tragszahlern in der umlagefinanzierten       die Wahl, dies zu akzeptieren oder selbst
                                             Sozialen Pflegeversicherung lässt einen      pflegerisch aktiv zu werden – verbunden
Der Vergleich zeigt, wie sich die Arbeits-   Rückgang an pflegerischen Ressourcen         mit Einkommensverlusten und negativen
belastungen in der Pflege in nur 18 Jah-     befürchten. Gelingt es der Politik, den      Wachstumsimpulsen für die Wirtschaft. _
ren gewandelt haben, während in der          Verbänden sowie den Verantwortlichen
Sozialen Pflegeversicherung – im Gegen-      in den Pflegeeinrichtungen nicht recht-
satz zur Gesetzlichen Rentenversicherung     zeitig, dem Ressourcenrückgang entge-
– bislang keine nachhaltigen Reformen        genzuwirken, wird das heutige Qualitäts-
unternommen wurden.                          niveau in der Pflege künftig nicht mehr
                                             zu realisieren sein. Die pflegerische Qua-
Aus Sicht der heutigen sowie insbesondere    lität für den Einzelnen ergäbe sich dann
der zukünftigen Pflegebedürftigen – ak-      aus den Möglichkeiten, die er durch seine
                                                                                            Dr. Tobias Hackmann
tuelle Studien belegen, dass jede/r Zweite   eigene Rente sowie verfügbare Vermö-
pflegebedürftig wird, Tendenz steigend       gen finanzieren kann. Die betroffenen          tobias.hackmann@prognos.com

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Szenarien

… auf Deutschlands Wohnungsmärkten?
In den Ballungszentren wächst die Nach-      von 525.000 auf rund 137.000 Einheiten        gebote aufgrund überzogener Wohn- und
frage dynamisch, bezahlbarer Wohnraum        zurückgegangen und erlebt seitdem einen       Lebenshaltungskosten ausschlagen, wird
wird knapp. Damit sinkt deren Attraktivi-    schwachen Anstieg (um rund 180.000).          sich der Fachkräftemangel in Unterneh-
tät – auch für Fachkräfte.                   Bezahlbarer Wohnraum wird nicht nur           men punktuell weiter verstärken. Die
                                             in München, Hamburg und Frankfurt am          starken Wirtschaftszentren Deutschlands
Bis vor fünf Jahren haben die Wohnungs-      Main zu einem bestimmenden Thema, wo          drohen an Strahlkraft, Attraktivität und
märkte in der allgemeinen Wahrnehmung        bereits bis zu 40 % des durchschnittlich      Lebensqualität zu verlieren, wenn von
keine große Rolle gespielt, auch ange-       verfügbaren Haushaltseinkommens für           den Kommunen und der Wohnungswirt-
sichts des demografischen Wandels und        Wohnen aufgewendet wird.                      schaft nicht zeitnah bezahlbarer Wohn-
der rückläufigen Bevölkerungsentwick-                                                      raum in ausreichendem Umfang angebo-
lung. Durch die kurzfristige krisenbeding-   Sollte der Wohnungsneubau in den gro-         ten wird. _
te Zuwanderungswelle nach Deutschland        ßen und überhitzenden Ballungsräu-
und durch eine Renaissance städtischen       men nicht deutlich intensiviert werden,
Wohnens kommt es nun aber zu einem           drohen mittel- bis langfristig erhebliche
deutlichen Preisauftrieb in urbanen Woh-     negative Konsequenzen. Einerseits wird
nungsmärkten. Internationale Fachkräfte,     sich bei einem schwachen sozialen Woh-
junge Menschen und Studenten sowie           nungsbau die Verdrängung von unteren
Senioren strömen in die attraktiven und      Einkommensbeziehern aus den Zentren
wirtschaftsstarken Zentren und lösen ei-     an den Stadtrand beschleunigen und da-
nen anhaltenden Nachfragedruck auf den       mit die sozialräumliche Segregation ver-
Wohnungsmärkten aus. Die Angebotssei-        schärfen. Anderseits wird es auch schwe-
te folgt der dynamischen Nachfrageent-       rer, die benötigten (inter-) nationalen
wicklung nur unzureichend. Die Zahl der      Fachkräfte in den preislich überhitzenden
                                                                                             Dr. Tobias Koch
bundesweit fertiggestellten Wohnungen        Ballungszentren anzuwerben. Wenn qua-
ist von 1995 bis zum Krisenjahr 2009         lifizierte Fachkräfte attraktive Stellenan-     tobias.koch@prognos.com

… bei der Produktivität des Energiesystems?
Die „Energiewende“ wird alltagssprachlich    verringert auch Abhängigkeit: Eine nicht      Wenn dies nicht gelingt, bleibt der Ener-
vor allem mit dem Kernenergieausstieg und    benötigte Kilowattstunde muss weder           gieverbrauch um ca. 40 % höher als not-
dem Ausbau erneuerbarer Energien assozi-     erzeugt noch transportiert werden, auch       wendig, Klimaziele werden verfehlt, es
iert. Doch wenn die „Wende“ gelingen soll,   nicht aus geopolitisch instabilen Regio-      wird (volkswirtschaftlich wie individuell)
wird auch mehr Effizienz benötigt.           nen. Auch reduzieren sich so die Schwie-      zu viel für Energie(importe) bezahlt, die
                                             rigkeiten fluktuierender Stromerzeugung,      Importabhängigkeit bleibt hoch und es
Auch erneuerbare Energien sind nicht         die mit Speichern, Lastverschiebungen         wird nicht genügend in Infrastruktur in-
unendlich verfügbar, sondern begrenzt –      und dynamischen Netzregelungen be-            vestiert. _
etwa durch Flächendichte (z. B. bei Wind,    wältigt werden muss. Die nicht benötigte
Sonne und Biomassen) und Risiken (z. B.      Kilowattstunde muss auch nicht bezahlt
bei Geothermie). So entstehen bei Bio-       werden – Effizienz senkt die Verbrauchs-
massen Konkurrenzen zur Nahrungsket-         kosten. Allerdings ist sie mit Investitio-
te und sonstigen Nutzungen (stoffliche       nen verbunden, die z. B. bei Gebäuden
Nutzung, funktionierende Ökosysteme).        und im Verkehr Investor-Nutzer-Dilem-
Eine simple Substitution der konventio-      mata nach sich ziehen können. Hier sind
nellen durch erneuerbare Energieträger       stärker unterstützende Rahmenbedingun-
ist keine Option. Voraussetzung für die      gen als bisher gefragt, die insbesondere
„Energiewende“ ist daher vor allem eine      diese Dilemmata aktiv und kreativ ange-
Erhöhung der Effizienz des Gesamtsys-        hen und z. B. neue Geschäftsmodelle für
                                                                                             Dr. Almut Kirchner
tems und zwar durch eine Produktivitäts-     Intermediäre ermöglichen.
steigerung um etwa 30 % bis 40 %. Dies                                                       almut.kirchner@prognos.com

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