Bericht zur Zukunft der Nation. Punkt - Prognos AG
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Editorial Nichts ist stetig … … außer der Wandel. Dieses Diktum ist Langfristiges Denken und die Übernahme nicht zu leugnen – und die große Krux von Verantwortung für die nächste Ge- eines jeden Prognostikers. Dennoch wa- neration sind für Entscheider mindestens gen wir uns seit 50 Jahren mit unserem genauso schwierig wie die eigentliche Deutschland Report an die Herausfor- Prognose. Daher finden Sie Gastbeiträge derung, regelmäßig Langfristprognosen zweier Repräsentanten dieser speziellen für Deutschland zu erstellen. Nun – nach „Langstreckendisziplin“. Rita Süssmuth der doppelten Verfallsdauer von 25- und Franz Müntefering äußern sich Jahres-Prognosen – ist es ein guter Zeit- in eindrücklicher Weise zu Fragen der punkt, auf die Ergebnisse dieser Arbeit politischen Planung, den notwendigen zurückzublicken. Auch wenn nach Mei- Zeithorizonten und auch der Nützlich- nung weitsichtiger Geistesgrößen (wahl- keit von Prognosen: eine Orientierung für weise: Mark Twain, Winston Churchill Politiker jeder Generation. oder Karl Valentin) „Prognosen schwierig sind, insbesondere, wenn sie die Zu- Bei aller Verpflichtung zu verlässlicher kunft betreffen“, so zeigt unser Zeitstrahl Orientierung in Zukunftsfragen sind in der Mitte des Heftes doch, dass wir auch wir bei Prognos natürlich einem unser Handwerk durchaus verstehen. steten Wandel verpflichtet – ohne den Zwar kann das Ziel von Langfristprogno- die beste Zukunft schließlich nicht sen nicht die detailgetreue Wahrsagung Realität würde. Daher liegt ein kleines einer möglichen Zukunft sein, sie sollen Beispiel solcher Veränderungsprozesse aber einen soliden Orientierungsmaßstab gerade vor Ihnen. Wir haben unserem bieten. Und dies können wir nun über den bewährten trendletter nämlich eine Zeitraum eines halben Jahrhunderts für Modernisierungskur (im Fachjargon uns in Anspruch nehmen. Relaunch genannt) gegönnt. Wir hoffen, dass Ihnen das neu gestaltete Heft gefällt Daher haben wir den vorliegenden und freuen uns über Ihr Feedback. Denn trendletter auch mit ein bisschen Stolz zu Beginn jeden Wandels steht schließ- „Bericht zur Zukunft der Nation“ betitelt. lich ein fruchtbarer Austausch über das Denn als solchen verstehen wir unseren Hier und Jetzt. aktuellen Deutschland Report, der das Hauptthema dieser trendletter-Ausgabe Ich wünsche Ihnen eine spannende Lek- ist. Er basiert auf der Erfahrung von türe und freue mich von Ihnen zu hören. mittlerweile zwölf Vorgänger-Reports. Das beweist sein ausgesprochen stabiles Herzlich, Ihr Modell. Er bietet damit die allseits gefragte Referenzprognose für Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In diesem trendletter finden Sie einige der grundlegenden Zahlen, Fakten und Erkenntnisse unserer Langfristprognose, aber auch Szenarien möglicher Kon- sequenzen, die aus ihrer Nichtbeach- tung entstehen können. Natürlich kann die Prognose im Heft nur angerissen Christian Böllhoff werden, aber wir hoffen, Ihnen damit christian.boellhoff@prognos.com Appetit auf eine intensivere Lektüre des Deutschland Reports selbst zu machen. Prognos trendletter Nov. 2014 3
Inhalt Inhalt 17 Was passiert, wenn nichts passiert Leitartikel 05 Kein Wahrsager. Zur Verantwortung des Prognostikers Prognose 2040 12 Gastbeitrag Rita Süssmuth 07 Zukunft in Zahlen Interview Franz Müntefering 08 „Die Kraft der Aufklärung nutzen“ Zeitzeugnis 10 Ins Archiv geblickt 11 Rankings Wem gehört die Zukunft? 08 Interview Franz Müntefering Gastbeitrag Rita Süssmuth 12 Vorausschauende Politik – Erkenntnis und Handeln im Widerstreit Zeitstrahl 14 50 Jahre Prognosen im Check Szenarien 17 Was passiert, wenn nichts passiert Demografie 20 Gestaltbar ist nur die Demografie von übermorgen Standpunkt 22 Was geht? Über die Spielräume der Politik beim Senken von Handelsüberschüssen Über uns 25 Blick in die Projekte 27 Über uns Rückblick in Bildern 14 Zeitstrahl 4 Prognos trendletter Nov. 2014
Leitartikel Kein Wahrsager. Zur Verantwortung des Prognostikers Prognosen liefern Entscheidungsgrundlagen. Daher müssen der Untersuchungsgegenstand, die Annahmen und die Rahmenbedingungen transparent sein – wie auch der Grad der Unsicherheit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat und den vorgelegten Zahlen und lehnen scheidet über Handel und Investitionen. kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage zur Ausbildung in Deutschland vorgestellt, mit einem eindeutigen Ergebnis: Fast drei Viertel aller Auszubildenden sind zufrieden. „ das Freihandelsabkommen ab. Wie mit Zahlen und Statistiken umgegangen wird, hängt von der Je weitreichender solche Entscheidungen sind, desto wichtiger ist die Belastbarkeit der zugrundeliegenden Prognosen. Nicht so eindeutig lauten hingegen Sicht und den Interessen des Das Problem an der Zukunft ist die die Meldungen in der Presse. Es bestehe Rezipienten ab.“ Ungewissheit. Niemand möchte ger- eine überwältigende Zufriedenheit mit ne ungeschützt im Regen stehen, aber der Ausbildung, hieß es einerseits – Was bringt die Zukunft? Diese beiden falls es doch mal passiert, hält sich der noch nie seien so viele Auszubildende Beispiele verdeutlichen, wie der Um- Schaden sicherlich in Grenzen. Ein über unzufrieden andererseits. Beide Aussagen gang mit Zahlen, Daten und Statistiken Jahre verhandeltes Abkommen, das in bezogen sich auf dieselbe Zahl, sie von der Sicht und den Interessen des Tausende von Vorschriften und Verord- wurden nur sehr unterschiedlich inter- jeweiligen Empfängers der Botschaften nungen Eingang findet, wirkt hingegen pretiert (siehe Abb. 1, Seite 6). geprägt ist. Gleiches gilt für Prognosen und tief in das wirtschaftliche Leben eines Landes hinein. Zudem ist es nicht so ein- fach revidierbar. Da wüsste man schon gerne vorher, was einen erwartet. Auswirkungen von Entscheidungen auf- zeigen. Um im Voraus zu Einschätzun- gen über die Zukunft zu gelangen, benö- tigt man also Prognosen. Wer Prognosen mit dem Hinweis ablehnt, es komme ohnehin alles anders, der verkennt, dass Prognosen im Kern eine „Was-pas- siert-wenn-Aussage“ treffen. Zukünftige Entwicklungen sind stets unbekannt und die lange Frist bietet naturgemäß viel Raum und Zeit für eine zwischenzeitli- che Veränderung der Rahmenbedingun- gen, für unvorhersehbare Ereignisse. Dennoch haben Langfristprognosen einen großen Wert. Zukunftsorientierte Entschei- Ein anderes Beispiel: Schafft das Handels- insbesondere für Langfristprognosen mit dungen zu treffen, ohne sich im Vorfeld und Investitionsabkommen (TTIP) zwi- einem Zeithorizont von fünfzehn und Gedanken über ihren Nutzen und die lang- schen der EU und den USA Wachstum, Ar- mehr Jahren. Mehr noch als Analysen fristigen Auswirkungen zu machen, wäre beitsplätze und Wohlstand oder unterhöhlt zur aktuellen Sachlage dienen Progno- fahrlässig. Ein bestmöglicher Versuch, es hart erkämpfte Arbeitnehmerrechte und sen dazu, Erkenntnisse über zukünftige unter Nutzung aller relevanten Informa- Umweltstandards? Diverse Studien haben Entwicklungen zu liefern, die eine Ent- tionen die Zukunft vorherzusehen, senkt versucht, sich dieser Frage quantitativ zu scheidungsgrundlage für die handelnden zum Beispiel das Risiko von Fehlinvestiti- nähern, mit höchst unterschiedlichen Er- Akteure bieten. Ob auf der privaten Ebene onen oder generell Fehlentscheidungen. Er gebnissen. Im Jahr 2027 solle TTIP 0,5 % (Brauche ich am Wochenende einen Re- macht sichtbar, was unter den jeweiligen mehr Wachstum für die EU bringen. An- genschirm?) oder in der Politik (Haben wir Rahmenbedingungen mit hoher Wahr- dere sehen in den nächsten zehn Jahren genug Kita-Plätze?) und ob es dabei um scheinlichkeit passieren wird. Deshalb einen Wachstumsimpuls von insgesamt vermeintlich kleine (Wochenendwetter, kommt eben diesen Rahmenbedingungen knapp 4 Prozentpunkten und 400.000 Kindergarten) oder großen Fragen geht und Annahmen eine erhebliche Bedeutung neue Arbeitsplätze. Unterm Strich erwar- (Wie steht es um meine Altersvorsorge? zu. Genau hier liegt die Verantwortung des ten die Befürworter ein paar Euro mehr Wie viel Wachstum bringt TTIP?). Stets Prognostikers. in den Taschen der Europäer. Aber ist das richten Menschen ihr Handeln an Erwar- ausreichend, um etwaige Risiken in Kauf tungen über die Zukunft aus. Der Reisen- Der Prognostiker ist kein Wahrsager. zu nehmen? Kritiker zweifeln am Nutzen de packt seine Tasche, der Politiker ent- Er blickt nicht in die Glaskugel, um zu Prognos trendletter Nov. 2014 5
Leitartikel Aussagen über die Zukunft zu gelangen, gilt beispielsweise für Prognosen zur zu- beispiele zeigen, dass hier erhebliche Spiel- sondern er stützt sich auf fundierte, kali- künftigen Entwicklung der Bevölkerung. räume bestehen. Diese sind legitim, sofern brierte und idealerweise erprobte Rechen- Wenn die geschilderten Voraussetzungen sie auf einer transparenten Grundlage erfol- modelle. Er betreibt auch kein „Malen erfüllt sind, kann im Vorfeld über Kosten gen. Im Übrigen sollten Prognosen keines- nach Zahlen“ (Süddeutsche Zeitung, Die und Nutzen, Chancen und Risiken von Recherche: TTIP, 29.08.2014). Die Aufgabe Entscheidungen diskutiert und ein Kon- des Prognostikers ist es, aussagekräftige sens erzielt werden. Parameter zu wählen und transparente Annahmen zu setzen, empirische Erfah- Bei allem redlichen Bemühen können Pro- rungen zu nutzen und Sondereinflüsse gnostiker nicht immer richtig liegen. Auch zu berücksichtigen. Diese hängen nicht die Prognos AG hat schon vortrefflich zuletzt vom Untersuchungsgegenstand danebengelegen. Zum Beispiel beim The- ab. Es muss nachvollziehbar sein, welche ma Energieversorgung. Wir produzieren Aspekte im Fokus der Prognose stehen. bereits heute deutlich mehr erneuerbare Eine Analyse, die etwa auf die Wachstums- Energie, als Prognos 1998 für das Jahr wirkungen eines Freihandelsabkommens 2020 vorhersagte. Aber weder die rasan- wegs von (politischen) Interessen geleitet, abzielt, kann zu positiven Ergebnissen te technologische Entwicklung noch der sondern stets ergebnisoffen sein. Andern- kommen. Damit ist aber nicht belegt, dass prompte Atomausstieg nach Fukushima falls kommt es schnell zu bemerkenswer- das Freihandelsabkommen grundsätzlich konnten seinerzeit ernsthaft als Szenario ten Fehleinschätzungen. Der 1988 von sinnvoll ist. Greift man andere Aspekte in Betracht gezogen werden. Umgekehrt der EU-Kommission in Auftrag gegebene Cecchini-Bericht ist ein solches Beispiel. ABB. 1: EINE ZAHL – VERSCHIEDENE INTERPRETATIONEN Die Vorhersagen über die Wachstumseffek- DGB-Ausbildungsreport 2014 te des europäischen Binnenmarkts haben sich im Nachhinein als viel zu hoch heraus- gestellt, lagen sie doch allzu eindeutig im Bereich dessen, was der Auftraggeber sei- „Lehrlinge sind unzufrieden wie nie (...). „Mit rund 71 Prozent ist die nerzeit als wünschenswert erachtet haben Der aktuelle Wert ist der niedrigste, Mehrheit der Auszubildenden dürfte. Man darf also davon ausgehen, dass der in den bisher neun DGB-Studien aber zufrieden.“ eine Vielzahl lesenswerter Untersuchungen zum Thema ermittelt wurde.“ Wirtschaftswoche, 04.09. 2014 nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Spiegel Online, 04.09.2014 Ob Prognosen eintreffen oder nicht, ob sie in diesem Sinne richtig oder falsch sind, hängt letztlich vom Handeln der Akteure 71,4 % ab. Vielfach zeigen Prognosen nämlich auf, wie sich Probleme in Zukunft entwi- ckeln könnten. Wenn heute Fachkräfte- mangel prognostiziert wird, der unter den gegebenen Umständen zu erwarten ist, dann sind es gerade diese Umstände, die verändert werden müssen, um potenzielle Engpässe zu vermeiden. Welchen Beitrag „Die meisten Azubis, über 71 Prozent, äußern leistet welche klimapolitische Maßnahme, sich zufrieden. Im Einzelnen sind die um die Erderwärmung zu bremsen? Hier Ergebnisse aber sehr unterschiedlich.“ gilt das Gleiche wie etwa für die Progno- tagesschau, 04.09.2014 sen zum Waldsterben in den 1980er Jah- ren: Sie werden erstellt, gerade damit sie nicht eintreffen. heraus, fällt das Urteil womöglich anders gibt es zahlreiche Positivbeispiele. Die Prognosen dienen als Referenz, um ent- aus. Entsprechend muss der Prognostiker Prognos AG hat in ihrem ersten Deutsch- sprechend wirksame Handlungsempfeh- offen und ehrlich auf die Grenzen seiner land Report von 1964 vorhergesagt, dass lungen entwickeln und priorisieren zu Arbeit hinweisen. Bayern, seinerzeit noch Empfängerland können. Fundierte Prognosen liefern die im Länderfinanzausgleich, zukünftig einen Entscheidungsgrundlage. Daher müssen Eintrittswahrscheinlichkeit der Prognosen. Spitzenplatz einnehmen werde. Für Nord- sich die Akteure zuallererst auf die Güte Prognosen können niemals mehr sein als rhein-Westfalen, in jener Zeit noch indust- der Prognosen verlassen können. _ ein Instrument zur Eingrenzung von Unsi- rie- und bevölkerungsreichstes Bundesland, cherheit. Der Prognostiker muss am Ende wurde schon damals eine eher düstere Zu- nicht nur selbst mit dieser Unsicherheit kunft berechnet (siehe „50 Jahre Prognosen leben, er sollte stets bestrebt sein, eine im Check“, S. 14 – 16). Einschätzung über den Grad der Unsicher- heit seiner Prognose mitzuliefern. Manche Prognoseergebnisse zeigen Handlungsoptio- Prognosen sind nämlich deutlich sicherer nen auf. Die Interpretation von Prognoseer- Dr. Oliver Ehrentraut – haben also eine deutlich höhere Ein- gebnissen ist grundsätzlich dem Empfänger trittswahrscheinlichkeit – als andere. Das der Botschaften überlassen. Die Eingangs- oliver.ehrentraut@prognos.com 6 Prognos trendletter Nov. 2014
Prognose 2040 Zukunft in Zahlen Gute Prognosen sind eine komplizierte Angelegenheit. Doch das heißt nicht, dass ein einfacher Blick auf die Dinge unmöglich wäre. Versuch einer Zuspitzung in Zahlen. Zahl der Erwerbslosen in Deutschland: 2014 2,2 Mio. 1,3 Mio. 2040 Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen: 2014 62 % 76 % 70 % 84 % 2040 Gesamtbeitragssatz der Sozialversicherung in Deutschland: 2014 40,2 % 47,8 % 2040 Zusätzliche Geburten p. a. bei einem dauerhaften Anstieg der Geburtenrate ab 2014 auf 2,1 (statt aktuell rund 1,4): 2014 280.000 356.000 2040 Anteil der zusätzlichen Geburten an der Bevölkerung: 2014 0,34 % 0,46 % 2040 Anzahl der Erwerbstätigen im Verarbeitenden Gewerbe: 2014 6,9 Mio. 5,3 Mio. 2040 Anteil der Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung: 2014 22,6 % 23,7 % 2040 Öffentliche Schuldenstandsquote in Deutschland: 2014 76,5 % 40,1 % 2040 Differenz des BIP-Wachstums zwischen Bayern und Sachsen-Anhalt: 2014 1,6 Prozentpunkte 0,8 Prozentpunkte 2040 Öffentliche Verschuldung pro Kopf (nominal): 2014 26.300 EUR 33.300 EUR 2040 Relation des Pro-Kopf-Einkommens (reales BIP) Deutschlands zum Pro-Kopf-Einkommen Chinas (relativ): 2014 9,9 3,6 2040 Differenz des Pro-Kopf-Einkommens (reales BIP) Deutschlands zum Pro-Kopf-Einkommen Chinas (absolut): 2014 27.700 EUR 32.500 EUR 2040 Einkommensniveau (reales BIP) Griechenlands ist … 2014 … so hoch wie 2000. … doppelt so hoch wie 1996. 2040 Quelle: Prognos Deutschland Report Prognos trendletter Nov. 2014 7
Interview Franz Müntefering „Die Kraft der Aufklärung nutzen“ Im Interview mit Prognos fordert Franz Müntefering Prognosen, die transparent machen, wie sie zu ihren Antworten kommen und PolitikerInnen, die sie nicht ignorieren, wenn sie anstrengend sind. Langfristprognosen und Legislatur- sich demnächst vielleicht in der definiti- nicht Willy Brandt und seine Unterstüt- perioden – wie passt das zusammen? ven Sackgasse wieder. Das mit den Visi- zer in der neuen Ostpolitik gegeben hätte, onen wurde auch schon anders bewertet. wären die Chancen fürs Gelingen wohl Langfristprognosen gab und gibt es im- Aber es wurde auch nachgeschoben, dass geringer gewesen. _ mer. Sie sind kein Problem, sondern hilf- es „auf pragmatisches Handeln zu sittli- reich und menschen-adäquat. Nötig, weil chen Zwecken“ ankommt. Das spricht für „Es hätte besser kommen können.“ Für sie die Handlungssicherheit steigern. Und Mut zur Voraussetzung und Vorausschau, welchen Bereich deutscher Politik trifft typisch für uns Menschen, denn sie ent- nicht für Ignoranz. Weg und Ziel bedin- dies zu? sprechen unserer Fähigkeit, aus uns her- gen einander. Heute und morgen auch. aus – scheinbar objektiv – in Vergangen- Jedenfalls erheblich. _ Angesichts der nachhaltigen Versäum- heit und Zukunft zu blicken. Das Problem nisse auf diesem Feld müssen hier unzu- ist das nicht nachhaltige Handeln, indem Der größte Fehler des Politikers im reichende Angebote für die Vereinbarkeit man sich vor den Konsequenzen der Umgang mit Prognosen? von Familie und Beruf und die mangel- prognosegestützten Perspektiven drückt, hafte Wertschätzung von Berufen ge- weil dieses Verhalten – anscheinend oder Prognosen zu glauben, wenn sie ange- nannt werden, in denen vor allem Frauen scheinbar – die Chancen bei der nächsten nehm scheinen und sie zu ignorieren, tätig sind. Es hat sich was bewegt, aber Wahl verbessert. wenn sie anstrengend sind. Das gilt üb- viel ist auch noch zu tun, wenn das mit rigens nicht nur für Politiker: Ganz wich- der Geschlechtergerechtigkeit und mit der Die Legislaturperioden-Fixierung ist von tig, ohne hier die Politik entlasten zu wol- dauerhaften Leistungsfähigkeit unseres Übel. „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ len, ist der Umgang der Gesellschaft mit Landes gelingen soll. _ ist der dümmste Politikerspruch generell. Zukunftsfragen. Die Gesellschaft ist nicht Legislaturperioden sind nicht dafür da, außerhalb der Verantwortung. Deshalb ist In welchem Handlungsfeld sollte sich die die nächste Wahl vorzubereiten, sondern die Ver-Schonung der Gesellschaft mit Politik nicht auf Prognosen verlassen? Wahlen sind dafür da, in der neu be- Langfristprognosen doppelt unsinnig. _ ginnenden Legislaturperiode nachhaltig Von „verlassen“ würde ich nicht spre- zu handeln. Bei allem unverkennbaren Welchen rechtzeitigen Hinweis auf chen. Kritiklose Gläubigkeit ist auch bei Besserungsbedarf stimmt aber auch: Die Handlungsbedarf hat die Politik Prognosen nicht angebracht. Und sie sind meisten Frauen und Männer in politi- ignoriert, und warum? ja auch nicht dafür da, von der Politik scher Verantwortung wissen das und ha- zur Realität gemacht zu werden. Sie sind ben die langen Linien des Handelns sehr Umweltzerstörung, Ressourcen-Verschwen- ja keine Zielbeschreibung, sondern eine wohl im Blick. Wenn sie noch stärker die dung, die Konsequenzen demografischer qualifizierte Mutmaßung über die Zu- Kraft der Aufklärung nutzten und auch Entwicklungen gehören jedenfalls dazu, kunft. Was viel bedeuten kann, aber nicht über die Bedingungen guter Perspektiven aber die Reihe ist deutlich länger und kei- zur Verwechslung mit Zielsetzungen füh- sprächen, wäre einiges möglich. Die Men- neswegs schrumpfend. _ ren darf. _ schen ahnen ohnehin vieles. _ „Es hätte schlechter kommen können.“ Bei welchem Thema denkt die Politik Ihr Rat an einen jungen Kollegen oder Für welchen Bereich deutscher Politik hinterher, statt voraus, und warum? eine junge Kollegin: Wann sollte man sich trifft dies zu? den Rat eines Prognostikers einholen – Die Schwäche der Politik liegt ja nicht und wann nicht? Dass die Revolution 1989 in der DDR, die darin, nicht in die Zukunft hinein zu den- schnell zur Einheit Deutschlands führte ken. Das Problem entsteht, weil darüber Jede konkrete Politik muss ansetzen an und die damit auch zu gewaltigen, auch nicht aufklärerisch gesprochen wird. Das der Situation heute. Wolke Sieben macht geostrategischen Veränderungen beitrug, gilt besonders für Themen, die nicht im keinen Sinn. Aber Politik muss beachten, ohne Gewalt, ohne Krieg blieb, friedlich öffentlichen und Medieninteresse sind dass man heute nicht den vernünftigen – das scheint mir heute, mehr als noch und die mutmaßlich bei der nächsten Weg finden kann, wenn man morgen und damals, fast sensationell. Alle, die damals Wahl nicht entscheidend sind. _ übermorgen und die nächsten Jahrzehnte in Deutschland und außerhalb halfen, die nicht im Blick hat. Für diesen Blick sind hätten den Friedensnobelpreis verdient Realistische Prognosen sind weder Langfristprognosen keine Garantie, aber gehabt. Was das mit den Langfristpro- spektakulär noch treffsicher in den oft hilfreiche Flanken. Wesentliche Jus- gnosen zu tun hat? Die Mauer wurde Nachkommastellen. Kann die Politik tierungen gelingen nicht mal eben situ- von den Menschen im Osten Deutschlands trotzdem guten Rat in ihnen finden? ativ. Sie brauchen Zeit. umgeworfen. Helmut Kohl betrieb sinn- vollerweise die schnelle Vereinigung. Jede gute Politik beginnt mit den richti- Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt Gorbatschow war bei all dem unverzicht- gen Fragen und dem Mut, zu sagen was gehen, denn er lebt gefährlich und findet bar. Aber wenn es 20/25 Jahre zuvor ist. Das beantwortet nicht die Frage, was 8 Prognos trendletter Nov. 2014
Interview Franz Müntefering genau zu tun ist, schon gar nicht, was übermorgen zu tun ist. Aber es erleichtert die Orientierung und erhellt die Szene, in der gehandelt werden muss. Progno- sen sind hilfreich, wenn sie wichtige und richtige Fragen stellen und wenn sie die Konditionen deutlich machen, unter de- nen sie zu ihren Antworten kommen. _ Was bewegt Sie heute am meisten, wenn Sie ans Morgen denken? Die noch erhebliche Ignoranz in demo- grafischen Fragen (Bevölkerungszahl, Altersstrukturen, Außen- und Binnen- wanderung) hat Konsequenzen. Ich weiß, es gibt andere Themen, die könnten mit gleichem Recht genannt werden. Aber das entlastet nicht. Die Gestaltung des demografischen Wandels in all seinen Facetten zu verschleppen, ist leichtfer- tig. Geredet wird über die einschlägigen Zahlen und Erkenntnisse für 2030, das ist morgen. Vernuschelt werden die Zahlen – Prognosen! – für 2050/60. Das ist un- zureichend. Gerhard Schröder hat zu Beginn seiner Regierungszeit einen Rat für Nachhaltige Entwicklung berufen, der zu einem wich- tigen Impulsgeber wurde. Im Bundestag wurde 2004 ein Beirat für Nachhaltige Entwicklung eingerichtet, der über ein Schattendasein nicht hinaus kam. Die EU und auch Deutschland versuchen, mit konkreten Indikatoren den mittel- und langfristigen Fortschritt zu messen und so die Themen in der öffentlichen und politischen Debatte zu halten, – Genera- tionengerechtigkeit, Lebensqualität, So- zialer Zusammenhalt und Internationale Verantwortung. In 21 Punkten ist das präzisiert. Mehr Bilanz als Prognose, aber doch ein Beitrag zur Nachhaltigkeit im Denken und Handeln. Doch bisher haben weder Legislative noch Exekutive es ge- schafft, in ihrer Arbeit dem Willen zur Nachhaltigkeit feste und verbindliche Handlungsstrukturen in ihrer prakti- schen Arbeit zu geben. Das ist auch nicht leicht, wäre aber dringend nötig. Ergänzend: Ob die überhöhte Geschwin- digkeit unserer neuen Kommunikati- onssysteme die Gefahr eines Jetzt-Zeit- Denkens nicht drastisch verstärkt und Franz Müntefering war von 2005 bis sinnvolles, verantwortliches Langzeit- 2007 Bundesminister für Arbeit und denken und -handeln nicht entscheidend Soziales sowie Vizekanzler. Seit 1975 schwächt, das mag noch nicht entschie- war er im Bundestag, unterbrochen den sein, – aber die Frage stellt sich. Und für sechs Jahre im Landtag NRW und sie ist mindestens für die Demokratie nicht in der Landesregierung von Johannes leicht zu beantworten. _ Rau. Aktuell repräsentiert er im Eh- renamt den Arbeiter-Samariter-Bund als Präsident. Prognos trendletter Nov. 2014 9
Rankings Wem gehört die Zukunft? 5 x 5 Gewinner 2040 WO DIE WIRTSCHAFT WÄCHST WO DER WOHLSTAND WÄCHST BIP-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040 BIP/Kopf-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040 1. China ......................................................................................... 5,6 1. Bayern .................................................................................... 1,5 2. Indien ....................................................................................... 5,3 2. Baden-Württemberg ................................... 1,5 3. Brasilien .............................................................................. 4,3 3. Hessen ..................................................................................... 1,5 4. Türkei ....................................................................................... 4,0 4. Sachsen ................................................................................ 1,4 5. Chile ............................................................................................ 3,9 5. Nordrhein-Westfalen ................................. 1,4 WO IMMER MEHR MENSCHEN LEBEN WELCHE BRANCHEN IN DEUTSCHLAND ZULEGEN Gesamtbevölkerung in Mio. | 2012 – 2040 BWS-Wachstum real, in % p. a. | 2012 – 2040 1. Indien ......................................................................... +369,0 1. Elektroindustrie .................................................... 2,0 2. Vereinigte Staaten ..................................... +80,0 2. Gummi, Kunststoffe ........................................ 2,0 3. Brasilien ..................................................................... +32,2 3. Sonstiger Fahrzeugbau ......................... 1,9 4. Mexiko .......................................................................... +28,1 4. Chemie, Pharmazie ........................................ 1,8 5. Türkei .............................................................................. +18,9 5. Information, Kommunikation ....... 1,8 WO DIE BESCHÄFTIGUNGSAUSSICHTEN GUT SIND Abweichung der Veränderungsrate der Anzahl der Beschäftigten von der durchschnittlichen Veränderungsrate (0,4 p. a.) in Prozentpunkten p. a. | 2012 – 2040 1. Unternehmensnahe Dienstleistungen ........................................................................................................................ 0,54 2. Gesundheits-/Sozialwesen................................................................................................................................................................................................. 0,35 3. Private Haushalte, sonst. Dienstleistungen ..................................................................................................... 0,27 4. Information, Kommunikation .......................................................................................................................................................................................... 0,25 5. Erziehung, Unterricht .................................................................................................................................................................................. 0,22 Quelle: Prognos Deutschland Report Prognos trendletter Nov. 2014 11
Gastbeitrag Rita Süssmuth Vorausschauende Politik – Erkenntnis und Handeln im Widerstreit Die Politik sollte nicht allein auf den Druck der Verhältnisse reagieren. Sie braucht den Mut, auch Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, schreibt Prof. Dr. Rita Süssmuth in ihrem Gastbeitrag. Immer wieder wird die Frage gestellt, Euro. Bei kurzfristigem Handlungsdruck nisse beispielsweise zum demografischen warum bestimmte Entscheidungen so dominiert die Exekutive, die Gesetzes- Wandel liegen für die nächsten Jahrzehnte lange dauern, obwohl ausreichend Daten vorhaben einbringt und die inhaltliche vor. Was fehlt, sind die entsprechenden und Trendanalysen vorliegen. Der Politik Ausrichtung sowie die zeitlichen Abläufe politischen Antworten. wird dabei die Fähigkeit oder zumindest maßgeblich bestimmt. der Wille abgesprochen, sich längerfris- Mut zur Wahrheit und zum Handeln. Die tig festzulegen und für die Konsequenzen Vorsorge für die Zukunft. In der Politik These, dass eine nachhaltige Politik kei- von Entscheidungen einzustehen. An- tritt neben den vorhersehbaren Entwick- nerlei Stellenwert habe und nicht auf der gesichts einer in vieler Hinsicht offenen lungen naturgemäß auch Unvorherseh- politischen Agenda stehe, trifft in dieser Zukunft erscheinen frühzeitige Festle- bares ein, das betrifft vor allem die Berei- Pauschalität nicht zu. Das zeigen die Bei- gungen, die sich an Kriterien wie Vor- che Natur und Umwelt, Krankheit, neuer spiele demografischer Wandel sowie die sorge und Nachhaltigkeit ausrichten, Technologien und menschlichem Verhal- Umwelt- und Energiepolitik. Die Bearbei- manchmal eher als Flexibilitätsbremse ten. Dennoch gehören langfristiges Den- tung der hochrelevanten Zukunftsfragen und als gewagt, denn als vorausschauend ken und Planen, vorausschauende bzw. erweist sich immer als komplizierter und und zukunftssichernd. vorsorgende und nachhaltige Politik – ob ambivalenter. im Energiesektor, Umwelt, Städtebau, Entscheidungen ohne sichere Erkenntnis- Bildung, Gesundheit oder Sicherheit – zu So wird der Tatbestand der alternden und grundlage. Es ist keine einfache Aufgabe, den Verpflichtungen der Politik. schrumpfenden Gesellschaft weder von handeln zu müssen, ohne ausreichen- Experten noch von Politikern angezwei- de Erkenntnissicherheit und ohne die Und die Kritik ist ernst zu nehmen, dass felt. Umstritten sind die Konsequenzen. Folgen der getroffenen Entscheidungen häufig das kurzfristige Denken und ent- Der Streit darüber, ob Deutschland ein einschätzen zu können. Das macht den sprechende Maßnahmen das mittel- und Einwanderungsland sei, wurde mit dem Druck wie auch die Not der Entscheider längerfristige Planen und Handeln ver- neuen Zuwanderungsgesetz 2005 been- deutlich. Ich selbst erinnere mich, wie drängen. Als Zeithorizont dominiert die det und die Integration der in Deutsch- belastend und konflikthaft die gesund- Wahlperiode, ein Zeitraum von vier Jah- land lebenden Migranten zur politischen heitspolitischen Entscheidungen beim ren – anstatt die in zehn oder 20 Jahren Priorität erhoben. Äußerst kontrovers ist Thema AIDS waren. Es fehlte weitgehend absehbaren Folgen von Entscheidungen. und bleibt die Frage, wie viel Zuwan- an medizinischem Wissen und dennoch derung Deutschland braucht. Noch wird mussten Maßnahmen gegen die Verbrei- Prognosen in Bezug auf Altersentwicklung, weitgehend am Einwanderungsstopp tung des damals tödlichen Virus ergriffen Geburten- und Sterberaten, Ein- und Ab- festgehalten, auch wenn die Zuwande- werden. Niemand konnte zu jener Zeit wanderung, Verlust von alten und Entste- rung von Akademikern und Fachkräften Irrtümer aufgrund fehlender gesicher- hung neuer Arbeitsplätze werden erst dann 2012 erleichtert wurde, und das, obwohl ter Erkenntnisse ausschließen. Es wurde zu Alltagsrealitäten, wenn sie konkret er- bereits heute in bestimmten Wirtschafts- nahezu täglich hinzugelernt und ständig fahrbar sind. Wer Vorsorge für die Zukunft bereichen ein akuter Arbeitskräftebedarf „ neu abgewogen. betreibt, hat es schwer, weitgehend klar ab- herrscht. sehbare Entwicklungen in das Bewusstsein Es wurde nahezu täglich hinzuge- der Bürger und Bürgerinnen zu bringen, Die bisherige Vorsorge besteht darin, die lernt und ständig neu abgewogen.“ vor allem dann, wenn andere Erfordernisse Lebensarbeitszeit stufenweise anzuheben, – Arbeitsplatz- und Einkommenssiche- die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Unter hohem politischen Druck fallen rung, Mobilität oder Gesundheitsprobleme zu verbessern sowie finanzielle Anrei- eher schnelle Regierungs- und parlamen- – unbedingten Vorrang haben. ze zur Verwirklichung von Kinderwün- tarische Entscheidungen. Beispiele hier- schen zu schaffen. Entgegen der politi- für sind neben den Maßnahmen zur Ein- Entscheidungen von Zukunftsrelevanz schen Erwartung, die mit der Einführung dämmung des AIDS-Virus in den 1980er dauern besonders lange und werden des Elterngelds und der Elternzeit zum Jahren die Schutzvorschriften nach dem hinausgeschoben. Es fehlt an Mut, neue 1. Januar 2007 und dem Ausbau der Kinder- Reaktorunfall in Tschernobyl, der Vertrag Herausforderungen für die Gesellschaft betreuung auf höhere Geburtenraten setzt, zur deutschen Einheit, der in nur neun offen darzulegen und die notwendigen hat sich die Zahl der Geburten dadurch nur Monaten abgeschlossen wurde, und nicht Konsequenzen zu ziehen. Die für vorsor- kaum verändert: Im Jahr 2006 kamen laut zuletzt die Gesetze zur Stabilisierung des gendes Handeln notwendigen Erkennt- Statistischem Bundesamt 672.724 Kinder 12 Prognos trendletter Nov. 2014
Gastbeitrag Rita Süssmuth zur Welt, 2013 waren es 682.100 und damit Es fehlt an Mut zu einer offenen und Sicherheit ohne Risiko bildet daher eher nur knapp 10.000 mehr. Das zeigt, dass eine ehrlichen Auseinandersetzung mit den die Ausnahme als die Regel. Wir alle ken- kinder- und familienfreundlichere Politik Bürgerinnen und Bürgern. Häufig lautet nen den Satz: Die Demokratie braucht allein nicht ausreicht, um kurzfristig Ent- der Einwand, dass die Wahrheit nicht Zeit, nur die Diktatur ist schnell. Sie scheidungen junger Paare zu beeinflussen. zumutbar sei, dass die Wählerinnen und braucht Zeit für gründliche Erörterung, Es handelt sich um multifaktorielle Pro- Wähler nicht überfordert werden dürften für fraktionsübergreifende Beteiligung, zesse wie Partnerbeziehungen, Zugang zu und könnten. Und die Entscheider ha- für Anhörungen, für Abklärung von Dis- längerfristiger Erwerbsarbeit und Einkom- ben Angst, dass Wahrheit und Klarheit sens und Konsens. Die Klärungen in der menssicherung, Einstellungen zu den mit zur Abwahl, zum Verlust der Macht füh- Sache verringern Unsicherheit, beugen Kindern verbundenen Aufgaben und Ver- ren. Wie anders erklärt es sich, dass zum der Hilflosigkeit vor, schützen aber nicht „ pflichtungen. Beispiel Sparmaßnahmen oder Steuerer- vor der Erfahrung, am Ende dieses Pro- höhungen nicht vor, sondern erst nach zesses eine Entscheidung zu treffen, die Nachhaltige Politik scheitert nicht Wahlen bekannt gemacht werden? auch falsch sein kann. Irrtum ist nicht an mangelndem Wissen. Was fehlt ausgeschlossen. Und die Hoffnung ist je- sind Konsens, Risikobereitschaft Wen die Dauer politischer Entscheidungs- weils, dass die getroffene Entscheidung und Führungskraft.“ prozesse irritiert und auch verärgert, der ohne Schaden korrigiert werden kann. sieht sich komplizierten Zusammen- Es mangelt oft an der Bereitschaft der hängen von wechselseitigem Vertrauen Ziel muss sein, eine Balance anzustreben Politik, sich auf Maßnahmen einzulas- und Misstrauen, von Transparenz und zwischen vorbeugender, vorausplanender sen, die in ihren Auswirkungen weniger Undurchschaubarkeit, Machtverlust und Politik und reaktiver Politik, die jeweils überschaubar und voraussagbar sind. Es Machterhalt, Führungsfähigkeit und Ri- handelt, wenn es die Verhältnisse bzw. liegt aber weniger an der mangelnden sikobereitschaft gegenüber. Da Verände- die Umstände zwingend erfordern. Das Erkenntnissicherheit, dass Entscheidun- rung und Wandel sich in der globalisier- sind Situationen, in denen bestimmte gen in Bezug auf die Zukunftsgestaltung ten Welt immens beschleunigt haben, ist Reaktionsmuster ohne Alternativen sind, nicht getroffen werden. Was fehlt sind auch an die parlamentarischen Entschei- in denen die Handlungsspielräume in Konsens, Risikobereitschaft und Füh- dungsprozesse die doppelte Anforderung alternativlose Handlungszwänge einmün- rungskraft. zu stellen: stärker vorausschauend und den. In solchen Konstellationen verliert schneller Entscheidungen zu treffen. Es das Politische an Stellenwert und Gestal- Balance zwischen vorausschauender und kann nicht sein, dass Entscheidungen tungskraft. Das führt zur Ohnmacht und reagierender Politik. Je höher die An- vertagt oder tabuisiert werden, weil es an zum Verlust des Politischen. Das Politi- „ forderungen an Einstellungs- und Ver- Konsens oder an Mut fehlt. sche hat jedoch seinen eigenen Stellen- haltensänderungen, desto geringer die wert und ist unverzichtbar für das Wohl Bereitschaft der politischen Entscheider, Auch die Parlamente müssen des Einzelnen und der Gesellschaft. _ Maßnahmen zu ergreifen, die in der Be- schneller und zugleich stärker völkerung auf Kritik und Ablehnung vorausschauende Entscheidungen stoßen, zu Ängsten und Abwehr führen. treffen.“ Rita Süssmuth geboren 1937; Studium der Romanistik und Geschichte in Münster, Tübingen und Paris; Professuren in Bochum und Dortmund; 1979-1991 Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken; 1982 Eintritt in die CDU; 1982-1985 Direktorin des Instituts „Frau und Gesellschaft“ in Hannover; 1985 - 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit; 1987-2002 MdB der CDU; 1986 Bundesvorsitzende der Frauen-Union der CDU; 1988-1998 Präsidentin des Deut- schen Bundestages; Vorsitzende der unab- hängigen Kommission für Zuwanderung; 2004 Mitglied der Global Commission for Migration (Bericht für UN-Generalsekre- tär Kofi Annan). Von 2005-2010 war sie Präsidentin der privaten SRH-Hochschule Berlin. Weitere Positionen: Seit 2005 Präsi- dentin des Deutschen Polen Instituts (DPI). Prof. Süssmuth ist Präsidentin des Deut- scher Volkshochschul-Verband e. V. und Kuratoriumsvorsitzende der TU-Berlin. Seit 2008 Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, seit 2009 Vorstands- mitglied der Stiftung Genshagen und seit 2010 Präsidentin des Deutschen Konsorti- ums der Deutsch-Türkischen Universität. Prognos trendletter Nov. 2014 13
Zeitstrahl 50 Jahre Prognosen im Check Seit 1964 blickt der Prognos Deutschland Report in die Zukunft von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Unser Zeitstrahl zeigt ausgewählte Prognosen im Realitätscheck. 1965: NRW ist industrie- und bevölke- rungsreichstes Bundesland und wichtigs- 1979: Prognos hält für die 1990er Jahre tes Geberland im Länderfinanzausgleich. Arbeitslosenquoten von über 7 % für Für 1980 prognostiziert die Prognos AG möglich. Schwarzmalerei – so die Kritiker. im Deutschland Report: NRW wird seine 1973: Vollbeschäftigung. Hochkonjunktur. Paradeposition verlieren und langfristig in Die Arbeitslosenquote ist seit 1965 (0,7 %) eine „fast prekäre Lage“ geraten. drastisch gestiegen und beträgt jetzt bis zu 1,5 %. Der Spiegel schreibt: „So knüppel- dick war’s noch nie“. Prognose im Report: Jahr der Prognosen Für die 1980er Jahre können Quoten um 3,5 % nicht ausgeschlossen werden. ▲ Jahr der Prognosen 1965 1973 1979 1980 1980 1993 Prognosenhorizont Prognosenhorizont ▲ Die Arbeitslosenquote liegt im Jahres- durchschnitt bei 3,8 %. Die Prognose behält Recht: Das einstige Vorzeigeland NRW ist 1980 schwächstes Nachdem die Arbeitslosenquote auf Geberland im Länderfinanzausgleich, 5 Jahre 7,2 % gestiegen war, erreicht sie 1993 später wird es erstmals Nehmerland sein. annähernd 10 %. Schuld ist unter an- derem ein „schwarzer Schwan“ – die Wiedervereinigung. 14 Prognos trendletter Nov. 2014
Zeitstrahl 1993: „Blühende Landschaften“? Im Deutschland Report rechnet Prognos für die Jahre 2000 bis 2010 mit 3 bis 6 % Wachstum für die neuen Länder. Damit hätte sich die Wirtschaftsleistung zwi- 1998: „Aufholprozess Ost“ – die Zweite? schen Ost und West auch im Prognose- Prognos erwartet, dass die neuen Bundes- jahr 2010 noch nicht angeglichen. länder über die nächsten 20 Jahre stärker wachsen als die alten. Laut Deutschland Report wird der Einkommensabstand bis 2020 auf etwa 10 % zurückgehen. 2002: Prognos schätzt das Wirtschafts- Damit würde 2020 ein tragbarer Zustand wachstum Deutschlands 2002 bis 2020 erreicht, „zumal die Unterschiede in- auf 2,3 % p. a. Bis 2010 soll das Wachs- nerhalb Ostdeutschlands und innerhalb tum noch bei 2,4 % p. a. liegen, zwischen Westdeutschlands größer sein dürften.“ 2010 und 2020 dann bei 1,9 % p. a. Lang- fristig also ein rückläufiger Trend für das Wachstumspotenzial. 1993 1998 2002 2010 2014 2010 – 2020 Die zurückhaltende Prognose ist zwar Der Einkommensabstand gemessen am etwas zu optimistisch, erweist sich aber BIP pro Kopf zwischen Westdeutsch- im Kern als zutreffend – jedenfalls im land und Ostdeutschland (inkl. Berlin) Vergleich zu den noch zuversichtliche- beträgt 30 %. Allerdings ist die Ost-West- ren Stimmen aus den 1990er Jahren. Perspektive einseitig: Auch zwischen Der Osten holte langsamer auf als erwar- Hessen und Schleswig-Holstein liegt tet und inzwischen erkennen viele, dass der Abstand bei fast 30 %. Zwischen eine Angleichung absehbar nicht gelin- Stadtstaaten und Flächenländern ist die gen wird. Lücke noch größer. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat das weltwirtschaftliche Umfeld kräftig durchgerüttelt und insbesondere 2009 zu drastischen Wachstumseinbrüchen geführt. Dennoch dürfte sich die prog- nostizierte Tendenz bewahrheiten: Das deutsche Potenzialwachstum nimmt ab. Die Krise als „schwarzer Schwan“ aller- dings sorgt für deutliche Änderungen in den Nachkommastellen: Für die Gesamt- dekade 2010 bis 2020 sind 1,4 % p. a. realistisch (2010 bis 2014: 1,5 % p. a.) Prognos trendletter Nov. 2014 15
Zeitstrahl 2014: Prognose im aktuellen Deutschland Report: Deutschland erlebt „goldene Zwan- ziger“ – aber im Zuge der demografischen Entwicklung geht das Wachstumspotenzial 2006: 12 % Arbeitslosenquote und trau- langfristig auf rund 1 % p. a. zurück. Das rige Rekorde bei der Jugendarbeitslosig- Erwerbspersonenpotenzial schrumpft deut- keit – und Prognos spricht über Fach- lich. Alle werden sich mehr anstrengen: Die kräftemangel. Der Deutschland Report Erwerbsquoten steigen und die Arbeitszei- 2006 geht davon aus, dass in Zukunft ten nehmen zu. Für die Arbeitnehmer gibt Nachwuchskräfte fehlen werden: Sinkende es aber auch eine positive Botschaft: Die Er- Absolventenzahlen und stetig alternde werbslosigkeit sinkt und die Lohndynamik Belegschaften könnten schon bald die steigt deutlich. Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefährden. 2006 2014 2014 2040 Unter dem Stichwort „Fachkräftemangel“ erscheinen beim Online-Buchhändler Amazon 473 Treffer. Viele Rufe werden laut nach einer weiteren Lockerung zur Zuwanderung ausländischer Fachkräfte. Innenminister Thomas de Maizière im Bundestag: „Es gibt kein einziges Hand- werkerforum, in dem ich nicht auf das Thema Zuwanderung und Fachkräfteman- gel angesprochen werde.“ Der Fachkräfte- mangel ist in der Realität angekommen. 16 Prognos trendletter Nov. 2014
Szenarien Was passiert, wenn nichts passiert … Eine Prognose mit einem Horizont von Ein Beispiel ist der Arbeitsmarkt: Im Damit unsere Prognose eintritt, bedarf 25 Jahren muss immer einen Wandel Zuge des demografischen Wandels es auf dem Arbeitsmarkt wie in vielen der Rahmenbedingungen berücksichti- (Rahmenbedingungen) kommt es zu weiteren Feldern Veränderungen im Ver- gen. Sie kann im Unterschied zu kurz- neuen Knappheitsverhältnissen auf halten von Beschäftigten, Unternehmen fristigen Konjunkturprognosen nicht dem Arbeitsmarkt. In der Folge müs- und Staat. Und es bedarf auch Anstren- vom politischen und gesellschaftlichen sen Unternehmen ihre Beschäftigungs- gungen. Wie aber würde die Zukunft Status quo ausgehen. Unsere Progno- bedingungen verbessern, um attraktiv aussehen, wenn diese Anstrengungen sen fußen deshalb darauf, dass die Ak- für die knapper werdenden Fachkräf- nicht unternommen würden? Was pas- teure sich im Zeitverlauf wandelnden te zu werden. Dies wiederum hat zur siert, wenn nichts passiert? Diesen Ge- Rahmenbedingungen ausgesetzt sehen Konsequenz, dass es attraktiver wird, danken spielen im Folgenden sechs Pro- und ihr Verhalten daran anpassen. erwerbstätig zu werden. Die Erwerbs- gnos Experten für ganz unterschiedliche quoten steigen. Handlungsfelder durch. _ … mit den Kosten für erneuerbare Energien in Europa? Erneuerbare Energien haben in den ver- ebenso wettbewerbsfähig sein kann wie erneuerbare Energien in den jeweili- gangenen zehn Jahren in Europa deutlich traditionelle Stromerzeugung. gen EU-Ländern bis 2030 zu deutlichen an Bedeutung gewonnen. Ausgelöst wurde Risikoaufschlägen bei Investoren führen. dies durch verbindliche europäische und Die erzielte Kostensenkung wurde auch Steigende Finanzierungskosten wären nationale Ziele bis zum Jahr 2020. Nun durch die Steuerung der Risiken für die Folge. Die Kosten für den Umbau der wurden für die EU Ziele bis zum Jahr 2030 Investoren begünstigt. Denn Risiko- Energiesysteme hin zu höheren Antei- festgelegt. National verbindliche Ziele für prämien, die bei der Finanzierung für len erneuerbarer Energien würden somit erneuerbare Energien wurden jedoch nicht im Markt wenig erprobte Technologien kurzfristig sehr wahrscheinlich nicht wie vereinbart. Dies könnte zu unerwünschten erhoben werden, stellen sonst einen gewünscht sinken, sondern sogar steigen. _ Kosten führen. erheblichen Kostenfaktor für kapitalin- tensive erneuerbare Techniken dar. In der Vergangenheit haben ein stabiles Fördersystem und verbindliche Aus- Heute haben Technologien wie Wind bauziele zu einem starken Anstieg des und Photovoltaik zwar bereits eine Anteils erneuerbaren Energien an der Marktdurchdringung erreicht, die weit Energieerzeugung geführt. Im Zuge über ein Anfangsstadium hinaus geht, dessen konnten die Kosten der erneu- sodass Investoren in der Lage sind, erbaren Energien systematisch gesenkt mehr Risiken und Verantwortung für werden. Zahlreiche Analysen zeigen, das Energiesystem zu tragen als vor Frank Peter dass die Stromerzeugung aus neuen zehn Jahren. Gleichwohl würden gänz- Wind- und Photovoltaik-Anlagen heute lich fehlende verbindliche Ziele für frank.peter@prognos.com … in der Kinder- und Jugendhilfe? Angesichts steigender Fallzahlen sind in- und Ausgaben, insbesondere im Bereich gen Aufgaben und Zielen gerecht werden, telligente Lösungen in der Kinder- und der Hilfen zur Erziehung. Offenbar steigt müssen in absehbarer Zeit die Weichen Jugendhilfe gefragt. Wenn nichts passiert, der Unterstützungsbedarf von Eltern und neu gestellt werden, etwa in Richtung werden die Probleme nur größer. Kindern. Gründe sind zudem eine größere auf mehr präventive Hilfen und stärkere Wachsamkeit gegenüber Kindeswohlge- sozialräumliche Zusammenarbeit. Sozi- Kinder und Jugendliche benötigen gute fährdungen sowie neue Herausforderun- al-, Gesundheits- und Jugendamt sowie Bedingungen zum Aufwachsen, darin gen im Zuge der Inklusion von Kindern Schulverwaltung müssen verstärkt ko- ist sich die Politik einig. Doch das, was und Jugendlichen mit Behinderungen operativ zusammenarbeiten und gegebe- seit Jahren wächst, sind – entgegen allen in Regelkitas und -schulen. Will die Ju- nenfalls ihre Zuständigkeiten neu sortie- demografischen Trends – die Fallzahlen gendhilfe auch weiterhin ihren vielfälti- ren. Angesichts steigender Bedarfslagen Prognos trendletter Nov. 2014 17
Szenarien sollte der finanzielle Stellenwert der denen sich bereits heute soziale Problem- Jugendhilfe im Sinne einer Investitions- lagen häufen und in denen die Haushalts- strategie überdacht werden. lage besonders angespannt ist. Letztlich sind die Kinder und Jugendlichen die Was passiert, wenn nichts passiert? Dann Leidtragenden: Ihre Entwicklung wird werden die Fallzahlen und Ausgaben heute durch ungünstige Bedingungen er- weiter wachsen, ohne dass sich die Er- schwert und daher werden sie mit hoher gebnisse verbessern. Und auch die finan- Wahrscheinlichkeit (auch) als Erwachsene zielle und personelle Überforderung der auf Unterstützung angewiesen sein, falls Melanie Henkel Jugendämter nimmt weiter zu. Dies wird die Teilhabe am Arbeitsmarkt und gesell- vor allem die Jugendämter betreffen, in schaftlichen Leben nicht gelingt. _ melanie.henkel@prognos.com … mit Deutschlands Pkw-Flotte? Deutschland fährt mit 44 Mio. Pkw eine zeugbestand. Durch den demografischen umgerüstet wurden, sind alternative der größten Pkw-Flotten der Welt. Viel- Wandel und die schrumpfende Bevölke- Antriebe im Pkw-Bestand mit nur gera- fach wird der Ruf nach mehr elektrisch rung wird dieser Effekt sogar noch ver- de 0,4 % vertreten. Sofern keine Maß- betriebenen Pkw laut. Doch trotz stetiger stärkt, denn mit zunehmenden Alter fah- nahmen umgesetzt werden, welche die Zunahme alternativer Antriebstechniken ren Menschen ihr Auto länger, während Kauflaune nach neuen Pkw erhöht, wird wird der Verbrennungsmotor bis auf Wei- gleichzeitig weniger potentielle Käufer das Durchschnittsalter im Fahrzeugbe- teres die Hauptantriebsart bleiben. nachwachsen. Eine Umschichtung des stand weiter steigen und somit wird Bestandes hin zu Fahrzeugen mit neu- es länger dauern bis neue Antriebs- Seit Jahren steigen die Qualität und die en, effizienteren Antriebstechnologien technologien signifikante Marktanteile Nutzungsdauer von Pkw. Seit 2000 ist das könnte daher länger dauern als heute von aufweisen. _ durchschnittliche Fahrzeugalter von 6,9 vielen erwartet oder gefordert wird. Ohne auf 8,8 Jahre im Jahr 2014 kontinuierlich steuernde politische Maßnahmen werden angestiegen und hat sich damit in nur alternative Antriebe im Fahrzeugbestand eineinhalb Jahrzehnten um zwei Jahre noch lange ein Nischendasein fristen, erhöht. Knapp 20 % des Fahrzeugbestan- auch wenn viele Medien einen Trend zum des und somit über 8 Mio. Pkw sind mitt- Elektroantrieb erkennen wollen. Fakt ist, lerweile zwischen 15 und 30 Jahre alt. dass im Jahr 2013 gerade mal 1,6 % der neu gekauften Pkw mit einem hybriden, Aus dieser Vergangenheitsentwicklung elektrischen oder Gas-Antrieb ausge- Alex Auf der Maur lässt sich ein Trend ableiten hin zu ei- stattet waren. Ohne die Flüssiggas-Pkw, nem künftig noch stärker alternden Fahr- welche zum größten Teil nachträglich alex.aufdermaur@prognos.com … in der Pflege von alten Menschen? 1995 behauptete Norbert Blüm, eine er- – wird die Pflegequalität entscheidend Pflegebedürftigen hätten es mit „Nied- folgreiche Pflegekraft brauche lediglich durch finanzielle und personelle Ressour- rigpreis-Anbietern“ zu tun, verbunden eine rechte Hand, etwas Geschick und ein cen beeinflusst. Die Entwicklung aus stei- mit einer höheren Gefahr von Stürzen, warmes Herz. Heute attestiert die Bun- gender Nachfrage bei zugleich sinkendem Druckgeschwüren und Fixierungen als deskanzlerin Pflegerinnen und Pflegern Angebot an potenziellen Pflegefachkräf- Folge des zu geringen Personaleinsatzes. härtere Jobanforderungen als bei ihrer ten sowie einer rückläufigen Zahl an Bei- Die Angehörigen hätten dann nur noch eigenen Tätigkeit. tragszahlern in der umlagefinanzierten die Wahl, dies zu akzeptieren oder selbst Sozialen Pflegeversicherung lässt einen pflegerisch aktiv zu werden – verbunden Der Vergleich zeigt, wie sich die Arbeits- Rückgang an pflegerischen Ressourcen mit Einkommensverlusten und negativen belastungen in der Pflege in nur 18 Jah- befürchten. Gelingt es der Politik, den Wachstumsimpulsen für die Wirtschaft. _ ren gewandelt haben, während in der Verbänden sowie den Verantwortlichen Sozialen Pflegeversicherung – im Gegen- in den Pflegeeinrichtungen nicht recht- satz zur Gesetzlichen Rentenversicherung zeitig, dem Ressourcenrückgang entge- – bislang keine nachhaltigen Reformen genzuwirken, wird das heutige Qualitäts- unternommen wurden. niveau in der Pflege künftig nicht mehr zu realisieren sein. Die pflegerische Qua- Aus Sicht der heutigen sowie insbesondere lität für den Einzelnen ergäbe sich dann der zukünftigen Pflegebedürftigen – ak- aus den Möglichkeiten, die er durch seine Dr. Tobias Hackmann tuelle Studien belegen, dass jede/r Zweite eigene Rente sowie verfügbare Vermö- pflegebedürftig wird, Tendenz steigend gen finanzieren kann. Die betroffenen tobias.hackmann@prognos.com 18 Prognos trendletter Nov. 2014
Szenarien … auf Deutschlands Wohnungsmärkten? In den Ballungszentren wächst die Nach- von 525.000 auf rund 137.000 Einheiten gebote aufgrund überzogener Wohn- und frage dynamisch, bezahlbarer Wohnraum zurückgegangen und erlebt seitdem einen Lebenshaltungskosten ausschlagen, wird wird knapp. Damit sinkt deren Attraktivi- schwachen Anstieg (um rund 180.000). sich der Fachkräftemangel in Unterneh- tät – auch für Fachkräfte. Bezahlbarer Wohnraum wird nicht nur men punktuell weiter verstärken. Die in München, Hamburg und Frankfurt am starken Wirtschaftszentren Deutschlands Bis vor fünf Jahren haben die Wohnungs- Main zu einem bestimmenden Thema, wo drohen an Strahlkraft, Attraktivität und märkte in der allgemeinen Wahrnehmung bereits bis zu 40 % des durchschnittlich Lebensqualität zu verlieren, wenn von keine große Rolle gespielt, auch ange- verfügbaren Haushaltseinkommens für den Kommunen und der Wohnungswirt- sichts des demografischen Wandels und Wohnen aufgewendet wird. schaft nicht zeitnah bezahlbarer Wohn- der rückläufigen Bevölkerungsentwick- raum in ausreichendem Umfang angebo- lung. Durch die kurzfristige krisenbeding- Sollte der Wohnungsneubau in den gro- ten wird. _ te Zuwanderungswelle nach Deutschland ßen und überhitzenden Ballungsräu- und durch eine Renaissance städtischen men nicht deutlich intensiviert werden, Wohnens kommt es nun aber zu einem drohen mittel- bis langfristig erhebliche deutlichen Preisauftrieb in urbanen Woh- negative Konsequenzen. Einerseits wird nungsmärkten. Internationale Fachkräfte, sich bei einem schwachen sozialen Woh- junge Menschen und Studenten sowie nungsbau die Verdrängung von unteren Senioren strömen in die attraktiven und Einkommensbeziehern aus den Zentren wirtschaftsstarken Zentren und lösen ei- an den Stadtrand beschleunigen und da- nen anhaltenden Nachfragedruck auf den mit die sozialräumliche Segregation ver- Wohnungsmärkten aus. Die Angebotssei- schärfen. Anderseits wird es auch schwe- te folgt der dynamischen Nachfrageent- rer, die benötigten (inter-) nationalen wicklung nur unzureichend. Die Zahl der Fachkräfte in den preislich überhitzenden Dr. Tobias Koch bundesweit fertiggestellten Wohnungen Ballungszentren anzuwerben. Wenn qua- ist von 1995 bis zum Krisenjahr 2009 lifizierte Fachkräfte attraktive Stellenan- tobias.koch@prognos.com … bei der Produktivität des Energiesystems? Die „Energiewende“ wird alltagssprachlich verringert auch Abhängigkeit: Eine nicht Wenn dies nicht gelingt, bleibt der Ener- vor allem mit dem Kernenergieausstieg und benötigte Kilowattstunde muss weder gieverbrauch um ca. 40 % höher als not- dem Ausbau erneuerbarer Energien assozi- erzeugt noch transportiert werden, auch wendig, Klimaziele werden verfehlt, es iert. Doch wenn die „Wende“ gelingen soll, nicht aus geopolitisch instabilen Regio- wird (volkswirtschaftlich wie individuell) wird auch mehr Effizienz benötigt. nen. Auch reduzieren sich so die Schwie- zu viel für Energie(importe) bezahlt, die rigkeiten fluktuierender Stromerzeugung, Importabhängigkeit bleibt hoch und es Auch erneuerbare Energien sind nicht die mit Speichern, Lastverschiebungen wird nicht genügend in Infrastruktur in- unendlich verfügbar, sondern begrenzt – und dynamischen Netzregelungen be- vestiert. _ etwa durch Flächendichte (z. B. bei Wind, wältigt werden muss. Die nicht benötigte Sonne und Biomassen) und Risiken (z. B. Kilowattstunde muss auch nicht bezahlt bei Geothermie). So entstehen bei Bio- werden – Effizienz senkt die Verbrauchs- massen Konkurrenzen zur Nahrungsket- kosten. Allerdings ist sie mit Investitio- te und sonstigen Nutzungen (stoffliche nen verbunden, die z. B. bei Gebäuden Nutzung, funktionierende Ökosysteme). und im Verkehr Investor-Nutzer-Dilem- Eine simple Substitution der konventio- mata nach sich ziehen können. Hier sind nellen durch erneuerbare Energieträger stärker unterstützende Rahmenbedingun- ist keine Option. Voraussetzung für die gen als bisher gefragt, die insbesondere „Energiewende“ ist daher vor allem eine diese Dilemmata aktiv und kreativ ange- Erhöhung der Effizienz des Gesamtsys- hen und z. B. neue Geschäftsmodelle für Dr. Almut Kirchner tems und zwar durch eine Produktivitäts- Intermediäre ermöglichen. steigerung um etwa 30 % bis 40 %. Dies almut.kirchner@prognos.com Prognos trendletter Nov. 2014 19
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