Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen - Die Reform der europäischen Agrarpolitik - Blick zurück nach vorn von Hannes Lorenzen - kritischer ...

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Der kritische Agrarbericht 2021

( Schwerpunkt »Welt im Fieber – Klima & Wandel«

Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen
Die Reform der europäischen Agrarpolitik – Blick zurück nach vorn

von Hannes Lorenzen

                       Kleine Zeitreise: Wir befinden uns im Januar 2027, die Agrarwende ist vollzogen und in Europa
                       herrscht ein Geist der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts. Die Covid-19-Pandemie und ihre
                       Auswirkungen, die Einsicht in die Verwundbarkeit selbst hoch industrialisierter Gesellschaften im
                       Bereich der Ernährung hat den Systemwechsel eingeleitet. Lokale und regionale Versorgungsstruk-
                       turen, und solidarische Formen der Landwirtschaft prägen das Bild. Was lange Zeit als allzu »visio­
                       när« abgetan wurde, ist Realität geworden. Schön wär´s … Ausgehend von diesem Zukunftsbild
                       einer gelungenen Agrarwende skizziert der Autor des folgenden Beitrages das Zustandekommen
                       und den Stand der aktuellen Auseinandersetzung um die europäische Agrarreform (GAP). Eine Re-
                       form, die den Namen kaum verdient, weil sie den nicht nachhaltigen Status quo eher fortschreibt
                       als überwindet – obwohl es mit dem von der EU-Kommission angekündigten Green Deal und der
                       dazugehörigen Farm-to-Fork-Strategie durchaus attraktive Visionen für eine komplette Neuaus-
                       richtung des überkommenen Agrarsystems gibt. Denn angesichts all der ökologischen wie öko-
                       nomischen Krisen kann business as usual für die nächsten Jahre – eigentlich – keine Option sein.
                       Bei entsprechendem öffentlichen Druck und mit einer europaweiten Vernetzung der Bewegungen
                       besteht dennoch die Chance, sowohl in den Verhandlungen auf EU-Ebene als auch in den natio­
                       nalen Strategieplänen der Mitgliedsländer notwendige Änderungen zugunsten von Bauern und
                       Bäuerinnen, Klima, Tier und Umwelt zu erreichen.

Brüssel, im Januar 2027                                         die gesamte land- und forstwirtschaftliche Erzeugung
Endlich ist der Durchbruch gelungen! Die EU hat die             neu auszurichten: Schrittweise wurden regenerative
Agrarwende vollzogen – radikal und kompromisslos.               und sozialökologische Prinzipien ordnungspolitisch
Die Einsicht kam spät, aber gerade noch rechtzeitig.            durchgesetzt und als Bedingung für öffentliche För-
Mit dem Green Deal, dem Programm Farm to Fork                   derung eingeführt. Die EU-Kommission lieferte dazu
und der ambitionierten Biodiversitätsstrategie war              erstaunlich konsequente Richtlinien und Verordnun-
die EU-Kommission Ende 2020 zwar auf den starken                gen. Bodenspekulanten, Großinvestoren und Agrar-
öffentlichen Druck eingegangen, aber noch ein letztes           industriellen wurde der Hahn mit Direktzahlungen
Mal an der Blockade des Agrarministerrats und am                abgedreht und die kleinstrukturierte bäuerliche und
EU-Parlament gescheitert. Die agrarindustrielle Lob-            solidarische Landwirtschaft mit lokalen und regiona-
by hatte die agrarpolitisch völlig untauglichen Hektar-         len Versorgungsstrukturen zur Maxime erklärt – nicht
prämien verteidigt und sowohl soziale wie ökologische           zuletzt, nachdem sich während der lang andauernden
Bedingungen für Direktzahlungen verhindert. Doch                Corona-Krise die zentralen Verarbeitungs- und Ver-
schon wenige Jahre später waren drastische Kurskor-             sorgungsstrukturen als untauglich und ernährungs­
rekturen unausweichlich geworden. Die anhaltende                politisch unsicher herausgestellt hatten.
Corona-Krise, extremes Wetter mit katastrophalen                   Trotz der üblichen Blockaden und Streitigkeiten
Überschwemmungen im Süden der EU sowie lang                     in Brüssel entstand zwischen 2021 und 2027 vor dem
anhaltende Dürren und Ernteausfälle im Norden                   Hintergrund der durch Covid-19 ausgelösten europa-
Euro­pas hatten zu weiter zunehmenden Protesten                 weiten Wirtschaftskrise ein neuer europäischer Geist
auch der Bäuerinnen und Bauern geführt und die Mit-             der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts. Eine
gliedstaaten gezwungen, ihre strategischen Pläne für            erstaunlich vitale Zivilgesellschaft, Bewegungen wie

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Einleitung

Fridays for Future und ländliche Parlamente schufen      Bodenfruchtbarkeit und Ernährungssicherheit nimmt
in den Regionen ein neues Selbstvertrauen. Die über-     ab. Aber: Immer mehr Bäuerinnen und Bauern, im-
wiegend im urbanen Raum grassierende Wirtschafts-        mer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher, im-
krise wurde nunmehr vom Land her angegangenen.           mer mehr Organisationen der Zivilgesellschaft und
Viele junge Familien waren dank der neuen digitalen      vor allem die Jugend fordern die Agrarwende. Warum
Möglichkeiten aus der Stadt in ländliche Gebiete um-     kommt sie nicht?
gesiedelt. Es entstanden zahlreiche neue Netzwerke
innovativer Unternehmen und damit neue Existenz-         Agrarbusiness as usual
grundlagen, die landwirtschaftliche, gartenbauliche      Es gibt zwei Gründe: zum einen die Unzertrennlich-
sowie lebensmittelverarbeitende und touristische Ak-     keit der Seilschaften des agroindustriellen Komplexes,
tivitäten mit breit gestreuten Onlinediensten kombi-     zum anderen die kontinuierliche strategische Schwä-
nierten. Sozialökologische Land- und Forstwirtschaft,    che der sozialen und ökologischen Gegenbewegungen.
digitale und praktische In-situ-Ausbildung und vor       Die Agrarlobby hat sehr viele weitgehend unsichtbare
allem technische wie soziale Innovationen im Be-         politische Verbündete stromauf- und stromabwärts
reich von lokalen Energie- und Transportsystemen         der landwirtschaftlichen Wertschöpfung: in den Che-
und l­okaler industrieller Fertigung von Maschinen       mie-, Maschinen-, Verarbeitungsbranchen und den
und IT ermöglichten eine deutliche Entlastung der        Lebensmittelketten, in den Landwirtschaftsministe­
Ballungsräume und eine dem Klimawandel angepass-         rien und den Parlamenten. Es gelingt den so verwobe-
te Bioökonomie vor Ort. Europa wurde mit seiner          nen etablierten Bauernverbänden, sich immer noch als
neuen integrativen Kraft zu einem Vorbild für viele      Vertretung der Bauern zu präsentieren, die sie de facto
Regionen der Welt, auch weil der lange Zeit grassie-     schon lange nicht mehr sind. Die zahlreichen politi-
rende Nationalismus durch neue Solidarität zwischen      schen Gegenbewegungen auf der anderen Seite, vom
den Regierungen der Mitgliedstaaten und Regionen         Natur-, Tier-, Umwelt- und Klimaschutz bis hin zu
an Bedeutung verlor. Europa kommt so dem Ziel der        bäuerlichen und ländlichen Allianzen vertreten zwar
Klimaneutralität bereits Anfang 2027 ziemlich nahe.      generell eine gemeinsame Vision, haben aber keine
Die neuen Programme zur Mobilisierung und Förde-         gemeinsame Strategie zu deren praktischen Verwirk-
rung der Jugend im Rahmen eines neuen intergenera-       lichung und zeigen vielleicht auch deshalb noch kein
tionellen Gesellschaftsvertrages hat den Transforma­     ausreichend gemeinsames politisches Handeln. So ha-
tionsprozess erstaunlich rasch vorangetrieben.           ben sie zwar eine erstaunlich kontinuierliche Präsenz
                                                         in der Öffentlichkeit, aber können diese Kraft noch
Träumerisch? Visionär? …                                 zu wenig nutzen, um die Agrarwende auch politisch
                                                         durchzusetzen. Sie bestimmen zwar seit der vielen un-
Brüssel, im Januar 2021 – die politische Depression      übersehbaren Skandale und Schäden schon länger den
                                                         politischen Diskurs, der die Agrarwende legitimiert
Das Jahr beginnt mit einer großen wirtschaftlichen       und dringlich macht. Aber sie verlieren sich in unter-
und politischen Depression. Die Demonstration der        schiedlichen Partikularinteressen und machen es den
Zivilgesellschaft »Wir haben es satt!« kann nach elf     Beharrungskräften leicht, für den Erhalt des Status
Jahren des agrarpolitischen Dauerfeuers anlässlich der   quo und ein business as usual die Strippen zu ziehen.
Internationalen Grünen Woche coronabedingt nicht
mehr Zehntausende aus der ganzen Republik anrei-         Institutionelle Kraftlosigkeit
sen lassen. Auch ohne Abschluss der agrarpolitischen     Ein weiterer Grund der Reformunfähigkeit ist in den
Triloge gilt die Reform der europäischen Agrarpolitik    drei gesetzgebenden EU-Institutionen selbst angelegt.
(GAP) bereits jetzt als gescheitert. Der wievielte Re-   Der Druck zur Reform kommt seit den großen Über-
formversuch war das eigentlich? Seit einem halben        produktionskrisen der 1980er- und 1990er-Jahre aus
Jahrhundert haben es gut ein Dutzend Agrarkommis-        der Kommission. Sie ist Hüterin der Verträge. Sie hat
sare versucht, den Tanker umzusteuern: Manshold,         das alleinige legislative Initiativrecht und muss gleich-
MacSherry, Fischler, Steichen, Fischer Boel, Cioloş,     zeitig die Beschlüsse des Ministerrates und des Parla-
Hogan. Was hat sich in dieser Zeit eigentlich im         ments als Exekutive umsetzen. Sie muss den gemein-
Grundsatz verändert? Es wird immer noch sehr viel        samen Agrarhaushalt gemeinschaftlich verwalten und
Steuergeld verteilt. Wer viel Land hat, bekommt wei-     die Anwendung der gemeinschaftlichen Gesetze kon­
terhin viel Geld. Die bäuerliche Landwirtschaft ver-     trollieren. Im Agrarministerrat dagegen werden natio­
liert viele Menschen. Der agrarindustrielle Komplex      nale Interessen vertreten und politischer Erfolg wird
gewinnt Macht. Die Verschuldung der Bauern nimmt         daran gemessen, wie viel Geld aus dem gemeinsamen
zu. Die biologische Vielfalt nimmt ab. Das Risiko von    Haushalt nach Hause kommt. Seit das Europäische
Missernten in Zeiten des Klimawandels nimmt zu. Die      Parlament agrarpolitisch mitentscheidet, gab es Hoff-

                                                                                                                25
Der kritische Agrarbericht 2021

nung, dass die GAP demokratisch reformiert würde          ökologischen Präzision in den legislativen Entschlie-
und die Herausforderungen der Zeit in Angriff genom-      ßungen abgelehnt, die zumindest im Bereich der weit-
men würden. Diese Hoffnung hat sich während der           gehend freiwilligen Agrarumweltmaßnahmen und der
letzten drei Reformversuche nicht erfüllt. Parlament      gezielten Förderung von bäuerlichen Strukturen eine
und Rat haben schon im Vorfeld der Reformvorschlä-        Richtung für die Ausarbeitung der Nationalen Stra-
ge der Kommission den Zahn vernünftiger Regelun-          tegiepläne der Mitgliedstaaten gegeben hätten. Der
gen gezogen und im Gesetzgebungsverfahren vollends        Refrain »Mehr ging wirklich nicht« vieler Abgeordne-
verwässert. So auch Ende 2020, zu Beginn der Triloge      ter aus dem Mehrheitslager, die sich mehr gewünscht
zwischen Kommission, Rat und Parlament. Aber zur          hätten, lässt erahnen, dass in den noch andauernden
institutionellen Kraftlosigkeit gehören drei. Die Kom-    Trilogen zwischen Rat und Parlament nicht mehr viel
mission hat sich mit den Vorschlägen zur Renationa­       zu verhandeln ist.
lisierung der GAP und mit schwachen Bedingungen
für die Direktzahlungen im Grunde selbst entmachtet.      Nationale Strategische Pläne –
                                                          Renationalisierung der Risiken oder grüne Chance?
Agrarpolitik im Rückwärtsgang –                           So liegt der Ball nun in den Verwaltungen und Ent-
die deutsche Ratspräsidentschaft 2020                     scheidungsgremien der einzelnen Mitgliedstaaten. Die
                                                          Verweigerung von Kommission, Rat und Parlament,
Die deutsche Ratspräsidentschaft spielte unter dem        auf europäischer Ebene die ökologischen, sozialen und
Vorsitz von Julia Klöckner eine bemerkenswert rück-       wirtschaftlichen Notwendigkeiten in konkrete politi-
wärtsgewandte Rolle. Die Ministerin hatte sich zwei       sche Vorgaben zu übersetzen, war ja immerhin ge-
Jahre lang bedeckt gehalten und im Hintergrund die        paart mit einem erheblichen Zuwachs an Gestaltungs-
Mitgliedstaaten auf eine gezielte Untergrabung der        möglichkeiten für die GAP-Umsetzung durch die
Kommissionsvorschläge eingestimmt. Gegen Ende             27 Hauptstädte. Die Gefahr einer Renationalisierung
der Präsidentschaft änderte sie ihre Rhetorik, verkauf-   und eines destruktiven Wettbewerbs ist groß. Aber ihr
te den Ratskompromiss als Riesenerfolg, fiel aber im      ist am ehesten beizukommen, wenn die föderalen und
Ergebnis mit der erzielten gemeinsamen Rats­position      nationalen Administrationen und Regierungen nicht
hinter die aktuelle Agrarpolitik zurück. Unverbind-       mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit business as
lichkeit und Freiwilligkeit war die Devise in der An-     usual praktizieren können. Ambitionierte Strategie-
wendung der Maßnahmen zum Klimaschutz, zum                pläne wird es nur dann geben, wenn öffentlich Druck
Schutz der Biodiversität oder der Förderung regenera-     gemacht wird und eine strategische Vernetzung zwi-
tiver Landwirtschaft – kurz: zu allen Herausforderun-     schen den Bewegungen europaweit organisiert wird.
gen der Zeit. Allen Ambitionen, die den Vorschlägen       In Deutschland wird es darauf ankommen, dass dieje-
der Kommission mehr Substanz und Orientierung             nigen Parlamentsvertreter in Bund und Ländern, die
im Rahmen der nationalen Strategischen Pläne ver-         die Beschlüsse aus Brüssel als zu wenig ambitioniert
liehen hätten, wurde eine Absage erteilt bis auf die      beispielsweise im Hinblick auf die Förderung einer
Festlegung eines Mindestbudgets von 20 Prozent für        bäuerlichen Landwirtschaft, auf Schutz des Klimas
die neuen unverbindlichen Öko-Regelungen. Damit           und der Biodiversität kritisieren, ihren Einfluss beim
waren Obergrenzen für Direktzahlungen, eine ver-          Anfang 2021 anstehenden Gesetz zur Umsetzung der
bindliche Umverteilung von Mitteln der Ersten Säule       GAP-Reform geltend machen. Und insbesondere die
in die ländliche Entwicklung, soziale und ökologische     Grünen sind aufgefordert, ihren Einfluss in Parla-
Innovationen von vornherein vom Tisch. Unter dem          menten und Regierungen der grün (mit-)regierten
Strich war die Ratsposition vor Beginn der Trilog-        Länder (»G-Länder«) konsequent zur Geltung zu
Verhandlungen mit dem Parlament eine Reform im            bringen. Wenn sie in der nächsten Bundesregierung
Rückwärtsgang und eine Einladung an das Parlament,        vertreten sein sollten und darin für die Agrar- und
sich am Ende beim business as usual wiederzutreffen.      Klimapolitik verantwortlich wären, müssten sie eine
                                                          volle Legislaturperiode lang in einem Rahmen arbei-
»Mehr ging nicht« – zahnloses EU-Parlament                ten können, der die GAP auf nationaler Ebene refor-
Das EU-Parlament hat sich gegenüber dem Rat ein           miert. Andernfalls würden sie einen Kernbereich ihres
weiteres Mal als zahnloser Tiger erwiesen. Es hat in      Programms aufgeben.
seiner Position bereits vor Beginn der Trilog-Ver-
handlungen die ökologischen und sozialen Ambitio­         Green Deal und Farm to Fork –
nen der Zivilgesellschaft und der fortschrittlichen       Joker oder Bauchlandung?
Bauern- und Umweltverbände zurückgewiesen. Eine
große Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten         Die Vorschläge der Kommission für einen Europäi-
und Liberalen hat gemeinsam jegliche sozialen oder        schen Green Deal und für eine spezifische Farm-to-

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Einleitung

Fork-Strategie sind dem Beschluss der EU geschul-         Landwirtschaft ist weder im Green Deal noch in der
det, 2050 als drittgrößter Wirtschaftsraum der Welt       darin eingebundenen Farm-to-Fork-Strategie auch
klimaneutral zu werden. Kommissionspräsidentin            nur im Ansatz ausbuchstabiert. Von der Leyens Kom-
von der Leyen verglich dieses politische »Wagnis« im      mission scheitert damit schon beim Start zum Mond.
Frühjahr 2020 mit der Landung des Menschen auf
dem Mond.                                                 »Du entscheidest!«
   Die Kommission veröffentlichte die strategischen       Vielmehr wird Verbraucherinnen und Verbrauchern
Beschlüsse zum Green Deal zwei Jahre nach Vorlage         nahegelegt, ihr Ernährungsverhalten zu ändern und
der legislativen Vorschläge zur GAP-Reform. Sie hätte     die Verschwendung von Lebensmitteln zu vermeiden.
zu diesem Zeitpunkt ihre GAP-Vorschläge wenigstens        Wieder einmal sind in den Vorschlägen der Kommis-
anpassen, wenn nicht zurückziehen müssen, denn die-       sion die Herausforderungen korrekt beschrieben, ohne
se waren für die Umsetzung der Vorgaben des Green         dass die notwendigen strukturellen Transformations-
Deal untauglich geworden. Auch das Parlament und          prozesse politisch durchdekliniert werden. Vielmehr
der Rat hätten ihre Beratungen unterbrechen bzw. die      findet sich in den Vorschlägen eine Sammlung von Be-
Vorschläge der Kommission zurückweisen können,            griffen, die nicht richtig zueinander passen wollen. Da
um eine entsprechende Anpassung abzuwarten und            wird der Verlust von Bodenfruchtbarkeit und Nähr-
die klimarelevanten Zielvorgaben in die GAP-Reform        stoffen richtig benannt, aber ihre Vermeidung auf Prä-
zu integrieren. Keine der drei Institutionen hat die      zisionslandwirtschaft und Digitalisierung reduziert.
Initiative hierzu ergriffen und damit die im Kern         Da wird sogar »qualifizierter Marktzugang« gegen
richtigen und notwendigen Strategievorschläge der         soziales und ökologisches Dumping propagiert, ohne
Kommission ins Leere laufen lassen. Wegen der Co-         aber die dafür notwendigen Änderungen von Freihan-
rona-Krise war die Arbeit der Institutionen im Früh-      delsabkommen auch nur im Ansatz zu benennen.
jahr 2020 ohnehin stark verlangsamt bzw. ganz zum            Richtig bleibt der gemeinschaftliche Anspruch und
Erliegen gekommen. Es bestand also durchaus die           die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, den Klima-
Möglichkeit einer Revision. Auch wenn diese Chance        wandel, den Verlust der Artenvielfalt und den Schutz
der Aktualisierung der GAP-Reform politisch Anfang        der natürlichen Ressourcen zu den unmittelbar dring-
2021 noch besteht, scheint die Reform der GAP ein         lichsten Aufgaben der gesamten Union zu machen.
weiteres Mal in die falsche Richtung weiter zu laufen.    Und deshalb bleibt es auch dringlich und richtig, die
   Der Green Deal, angelehnt an den US-amerika-           Forderung nach einer Revision der Reformvorschläge
nischen Gesellschaftsvertrag des New Deal unter           der GAP einzufordern. Die EU-Kommission könnte
Präsident Roosevelt während der großen Wirt-              jetzt ihren Joker ziehen und damit die Ernsthaftigkeit
schaftsdepression in den 1930er-Jahren, soll in allen     ihrer Klima- und Umweltziele unter Beweis stellen.
Wirtschaftsbereichen der EU CO2 einsparen und kli-        Oder sie kann ihre integrative Rolle verspielen und
maneutrale Innovationen fördern, aber gleichzeitig        eine politische Bauchlandung machen, die bis weit
auch eine neue Wachstumsstrategie und die globale         in die Zukunft ihre Rolle als Hüterin der Integration
Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen. Die Landwirt-         verspielt. Es ist skandalös, dass der Rat in seiner Stel-
schaft wird ausdrücklich als wichtiger Pfeiler diese      lungnahme vom Oktober 2020 selbst die geringsten
Strategie genannt, allerdings vor allem in Hinsicht auf   Schritte im Zusammenhang mit dem Umwelt- und Kli-
eine Reduzierung der landwirtschaftlichen Bewirt-         maschutz dadurch blockiert, dass er die Kommission
schaftung, neue Aufforstung und die Ausdehnung von        auffordert, zunächst Folgenabschätzungen und wissen-
Schutzgebieten. Mindestens 30 Prozent der Landflä-        schaftliche Gutachten zum Green Deal und zur Farm-
che und 30 Prozent der Meere der EU sollen besonders      to-Fork-Strategie durchzuführen, bevor weiter über die
geschützt werden. Schutzgebiete wie FFH und Natura        Integration der darin vorgegebenen Ziele im Rahmen
2000 sollen ausgeweitet und vernetzte ökologische         der GAP-Reform beraten werden könne. Es ist also
Korridore geschaffen werden. Katastrophenvorsorge,        politisch richtig, die Kommission jetzt unter Druck zu
Renaturierung von Flussläufen, spezielle Gebiete für      setzen, entweder ihre Reformvorschläge zurückzuzie-
die CO2-Speicherung sind damit überwiegend außer-         hen oder zumindest zur Halbzeit der nun begonnenen
halb der landwirtschaftlichen Produktion angesiedelt.     Förderperiode (2021 bis 2027) einen neuen Vorschlag
Zwar wird auf das Risiko chemischer Pestizide im          für eine konsequente Reform der GAP vorzulegen und
Pflanzenbau und von Antibiotika in der Tierhaltung        die Vorgaben des Green Deals und der Farm-to-Fork-
hingewiesen und eine Reduzierung der ausgebrach-          Strategie in einen neuen Vorschlag zu überführen.
ten Mengen um 50 Prozent bis 2030 sowie eine Aus-
weitung der ökologisch bewirtschafteten Flächen auf       Vision für den Ländlichen Raum 2040
25 Prozent vorgeschlagen. Aber eine agrarpolitische       »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, pflegte
Wende hin zu sozialökologischer Transformation der        Altbundeskanzler Schmidt unliebsamen Visionären

                                                                                                                 27
Der kritische Agrarbericht 2021

zu entgegnen. Sein Rat kann helfen, wenn Visionen            als beschlossen gilt. Es gibt auch keine prozedurale
Alpträume sind. Aber die eingangs skizzierte Vision          Verbindung zu den Nationalen Strategieplänen der
2027 ist es nicht. Im Gegenteil: Ohne Visionen, ohne         Mitgliedstaaten und keinen Ansatz für ein Programm
klare Vorstellungen von einer wünschenswerten Zu-            oder eine Strategie, die eine mögliche Revision oder
kunft ist die Politik orientierungslos. Es hilft aber auch   Anpassung der Strategischen Pläne vorsieht. Die Visi-
nicht, wenn die Zeiträume für Visionen zu weit in der        on setzt also erst nach 2027 an und soll dann bis 2040
Zukunft liegen. Die neue Initiative »Langzeit-Vision         reichen. Alles ein bisschen spät. Wir müssen jetzt die
der EU Kommission für das ländliche Europa« zielt            Richtung ändern. Sieben Jahre agrarpolitischen Still-
auf das Jahr 2040. Der Visionsprozess wurde von              stand können wir uns nicht leisten.
der EU-Kommission im September 2020 angestoßen
und soll im März 2021 in einer großen Konferenz zur
Zukunft des ländlichen Europa und einer offiziellen
»Mitteilung« münden, dem ersten Entwurf für ein
                                                                             Hannes Lorenzen
neues Reformprojekt.                                                         ist Agrarsoziologe und war von 1985 bis 2019
   War da was? Ein neues Reformprojekt nach 2027?                            Berater der Grünen Fraktion im Europäischen
Zunächst die gute Nachricht: Es geht in dem Prozess                          Parlament. Zurzeit Vorsitzender von ARC2020
um den gesamten ländlichen Wirtschaftsraum, um                               und Forum Synergies sowie Beiratsmitglied des
                                                                             Institute for Agriculture & Trade Policy (IATP).
die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen He-
rausforderungen. Die schlechte Nachricht: Es gibt                            hansmartin.lorenzen@gmail.com
keinerlei Bezug zur Reform der GAP, weil sie bereits                         www.arc2020.eu, www.forum-synergies.eu

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