Wie lässt sich die Wirtschaft stabilisieren? Kontroversen um Konjunktur und Krisen
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Wie lässt sich die Wirtschaft stabilisieren? Kontroversen um Konjunktur und Krisen Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft alles andere als stetig. Sie ist ständig kleineren Schwankungen ausgesetzt und manchmal kommt es auch zu starken Einbrüchen. Doch warum entstehen diese Schwankungen? Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um für mehr Stabilität zu sorgen? Und was waren die Ursachen der großen globalen Wirtschaftskrisen nach 2007 aus Sicht verschiedener Perspektiven? Um was geht es in Kapitel 3? Abb. 3.0: Manchmal gleicht die wirtschaftliche Entwicklung einer Achterbahnfahrt. Besonders in Wirtschaftskrisen kann es abwärts gehen. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. In Kapitel 1 haben wir uns angeschaut, was das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist und was man unter realem Pro-Kopf-Wachstum des BIP verstehen kann. In einer geschichtlichen Betrachtung lässt sich erkennen, dass ein positives Pro-Kopf-Wachstum ein eher junges Phänomen ist: Bis vor etwas mehr als 200 Jahren wuchs das reale Pro-Kopf-BIP weltweit und im langfristigen Trend praktisch gar nicht, obwohl es immer wieder Zeiten mit guter und schlechter Wirtschaftsentwicklung gab, die zum Beispiel mit der klimatischen Entwicklung zusammenhingen. Erst seit dem Übergang zu einer industriellen (und in den meisten Ländern kapitalistischen) Produktionsweise ist ein anhaltender, langfristiger Wachstumstrend zu beobachten, der nach und nach immer mehr Länder erfasst hat. Das Wachstum in modernen Volkswirtschaften verläuft allerdings auch heute nicht immer stabil. Vielmehr ist es ständig kleineren regelmäßigen Schwankungen, und manchmal auch plötzlichen kräftigen Einbrüchen, ausgesetzt. In der Wirtschaftsforschung nennt man solche kleineren Schwankungen der Gesamtwirtschaft um einen Wachstumstrend herum „Konjunktur“. Deren Analyse unterscheidet man typischerweise von der Untersuchung größerer Einbrüche (Wirtschaftskrisen). Die Wirtschaftspolitik versucht dabei, mit der Konjunkturpolitik sowohl die kleineren Schwankungen in den Griff zu kriegen (schließlich hat sie sich dem Ziel des „stetigen Wachstums“ verpflichtet), als auch große Krisen zu vermeiden. Erstere sind zum Beispiel mit (konjunktureller) Arbeitslosigkeit verbunden, während letztere erhebliche wirtschaftliche, politische und soziale Probleme mit sich bringen. Das Auf und Ab des BIP in den vergangenen Jahren Auch in den letzten Jahrzehnten ist das konjunkturelle Auf- und Ab ein ständiger Begleiter der deutschen Wirtschaft gewesen. Aufschwungsphasen mit sinkender Arbeitslosigkeit und kräftigeren Lohnsteigerungen wechselten sich mit Abschwungphasen ab, in denen die Arbeitslosigkeit wieder anstieg. Doch wie genau ist die Entwicklung eigentlich verlaufen? Was hat die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahre geprägt? Das schauen wir uns im Auftakt an. Außerdem gucken wir, wie die Konjunkturaussichten zurzeit sind und wie Wissenschaftlerinnen versuchen, die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage zu
prognostizieren. Solche Prognosen spielen für die Politik, aber auch alle anderen wirtschaftlichen Akteure eine wichtige Rolle. Wer dabei eine Prognose zur Konjunkturentwicklung machen will, der muss sich darüber Gedanken machen, was für die Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten verantwortlich ist. Solche theoretischen Überlegungen lernen wir im ersten Schwerpunkt kennen. Wir schauen uns dabei ein Modell des Konjunkturzyklus an und lernen den Begriff der „Output-Lücke“ kennen. Wir begegnen außerdem zwei alten Bekannten – der Neoklassik und dem Keynesianismus. Und wir sehen, wie eine Synthese aus beiden Perspektiven aussieht. Sind mit dieser Synthese alle Kontroversen um die Konjunkturpolitik geklärt? Krise: Der außergewöhnliche Einschnitt Von Zeit zu Zeit kommt es schließlich auch zu großen Einschnitten in der wirtschaftlichen Entwicklung: Eine Wirtschaftskrise bricht aus. In einem solchen Fall sind meist auch andere gesellschaftliche Bereiche betroffen. Soziale Spannungen sowie politische Konflikte entstehen. Eine Wirtschaftskrise mit globalen Ausmaßen war die „Große Rezession“ von 2008. Sie begann als Krise am amerikanischen Immobilienmarkt und breitete sich dann über große Teile der Welt aus. Manche ihrer Nachwirkungen können wir bis heute spüren. Doch was waren eigentlich die Auslöser und Ursachen dieser Krise? Dieser Frage und den Kontroversen, die sich darum entwickelt haben, widmen wir uns in einem zweiten Schwerpunkt. Abb. 3.1: Concept Map zum Kapitel 3. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Zusatzinformationen: - Abb. 3.0 ist eine überarbeitete Version (Verfremdung des Originals durch einen Filter) des Originals „City Coaster“ von Henry Burrows, lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic Lizenz. ( https://www.flickr.com/photos/foilman/2762577980/ ) ( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/ ) - „Um was geht es in Kapitel 3?“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) - Abb. 3.1 „Concept Map zum Kapitel 3“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) Arbeitsaufträge: - Überlege, was dir spontan zum Begriff „Konjunktur“ einfällt. Trage deine Antwort zunächst hier ein? . Schau erst danach, was andere geschrieben haben? . - Erläutere, welche Ursachen es aus deiner Sicht für das „Auf und Ab“ der Wirtschaft geben könnte. -
Erörtere, welche Möglichkeiten die Wirtschaftspolitik haben könnte, um auf die Konjunktur einzuwirken und inwiefern sie Einfluss nehmen sollte. - Überlege, was dir spontan zum Thema „Wirtschaftskrise“ einfällt. Trage deine Antwort zunächst hier ein? . Schaue erst danach, was andere geschrieben haben? . - Erläutere, wodurch eine Wirtschaftskrise möglicherweise ausgelöst werden könnte. - Erörtere, welche Möglichkeiten die Wirtschaftspolitik haben könnte, um Krisen vorzubeugen bzw. zu bekämpfen. 1 Auftakt: Was schwankt denn da? Das Auf- und Ab des BIP in den vergangen Jahren 1.1 Wie bestimme ich nochmal eine Wachstumsrate? Unter Konjunktur versteht man üblicherweise kurzfristige Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts um einen Wachstumstrend herum. Diese Schwankungen des BIP bzw. seiner Wachstumsraten hängen wiederum mit anderen wirtschaftlichen Faktoren – z. B. der Arbeitslosenquote oder den Investitionen in einer Volkswirtschaft – eng zusammen. Um diese Zusammenhänge zu untersuchen, müssen wir erstmal unser Wissen aus Kapitel 1 auffrischen und erweitern. Abb. 3.1: Wirtschaftsmedien veröffentlichen die wichtigsten volkswirtschaftlichen Kennzahlen. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. In Kapitel 1 hast du gesehen, wie man Wachstumsraten des BIP errechnen kann und wie reales und nominales BIP voneinander unterschieden werden können. Erinnerst du dich noch? Hier nochmal eine kurze Wiederholung: reales BIP (Mrd. nominales BIP Preisniveau (2015 Wachstum: Wachstum: Wachstum: €, Preise von (Mrd. €) = 100) nominales BIP Preisniveau reales BIP 2015) 2010 2564,40 2783,18 92,14 + 129,16 + 5,0 % + 1,1 % + 3,9 %
2011 2693,56 2892,42 93,12 + 51,75 + 1,9 % + 1,5 % + 0,4 % 2012 2745,31 2904,53 94,52 + 66,04 + 2,4 % + 2,0 % + 0,4 % 2013 2811,35 2917,24 96,37 + 116,08 + 4,1 % + 1,9 % + 2,2 % 2014 2927,43 2981,7 98,18 + 98,75 + 3,4 % + 1,9 % + 1,5 % 2015 3026,18 3026,18 100,00 + 108,56 + 3,6 % + 1,3 % + 2,3 % 2016 3134,74 3093,66 101,33 + 125,12 + 4,0 % + 1,4 % + 2,6 % 2017 3259,86 3174,16 102,7 + 96,55 + 3,0 % + 1,7 % + 1,3 % 2018 3356,41 3214,41 104,42 + 92,64 + 2,8 % + 2,2 % + 0,6 % 2019 3449,05 3232,26 106,71 - 116,82 - 3,4 % + 1,6 % - 4,9 % 2020 3332,23 3073,99 108,4 Tabelle 3.1: Das BIP in Deutschland, 2010–2020. Quelle: Ameco-Datenbank der EU-Kommission?, eigene Berechnungen. Im Jahr 2015 betrug das nominale BIP in Deutschland 3030,07 Milliarden Euro (das sind rund 3,03 Billionen Euro). Im Jahr 2016 betrug das nominale BIP 3134,1 Milliarden Euro. In diesem Zeitraum ist das BIP also um 104,03 Milliarden Euro gewachsen. Das nominale BIP-Wachstum bezieht diese Veränderung des nominalen BIP von einem Ausgangsjahr (hier: 2015) zu einem Folgejahr (hier: 2016) auf das nominale BIP des Ausgangsjahres (hier also 2015). Daraus ergibt sich in diesem Fall: Das nominale BIP ist also gegenüber 2015 um 3,6 Prozent bzw. um den Faktor 1,036 gewachsen. Allerdings ist auch das allgemeine Preisniveau gestiegen (Inflation), und zwar vom Ausgangsniveau 100 im Jahr 2015 auf 101,33 im Jahr 2016, das heißt (gerundet) um den Faktor 1,013 bzw. um 1,3 Prozent. Das reale BIP-Wachstum entspricht ungefähr der Differenz aus dem nominalen BIP-Wachstum und der Inflation: Auch das reale BIP-Wachstum bezieht die Veränderung des realen BIP von einem Jahr auf das nächste, hier also von 2015 auf 2016, auf das reale BIP des Ausgangsjahres, hier also 2015. Daraus ergibt sich in diesem Fall: Das BIP im Jahresverlauf Diese Betrachtung müssen wir jetzt ein bisschen erweitern. Während wir uns bisher nur die jährliche Höhe des BIP und die jährlichen Wachstumsraten (real und nominal) angeschaut haben, spielen bei der Konjunkturentwicklung oft kürzere Zeiträume eine Rolle. So wird zum Beispiel auf die quartalsweise Entwicklung des BIP geschaut. Wenn man Quartale betrachtet, weist das BIP allerdings saisonale Schwankungen auf, die z. B. von der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft, der Tourismusbranche oder dem Weihnachtsgeschäft herrühren können. Solche Schwankungen (ebenso wie die von Jahr zu Jahr unterschiedliche Verteilung von Feiertagen, was ebenfalls Auswirkungen auf das BIP haben kann) versuchen Statistikerinnen herauszurechnen. Dieses Verfahren nennt man Saison- und Kalenderbereinigung. Auch hier kann man dann wiederum die Preisentwicklung herausrechnen, so dass
man das reale BIP pro Quartal erhält. Grafisch erkennt man gut, welche Effekte die Saison-, Kalender-, und Preisbereinigung hat (Abb. 3.2). Nominal, nicht preisbereinigt, saison- und Nominal, saison- und saisonbereinigt (in Mrd. kalenderbereinigt (in Mrd. Euro, Preise kalenderbereinigt (in Mrd. Euro) Euro) von 2015) 2018 1. Quartal 824,4 833,31 801,41 2. Quartal 833,72 842,35 805,87 3. Quartal 842,9 843,06 802,47 4. Quartal 866,84 853,61 805,57 2019 1. Quartal 852,62 862,88 814,06 2. Quartal 852,19 864,38 810,05 3. Quartal 876,75 873,00 813,38 4. Quartal 891,79 879,00 812,78 2020 1. Quartal 859,81 867,07 798,44 2. Quartal 774,06 785,47 718,62 3. Quartal 853,38 848,86 783,61 4. Quartal 880,31 858,83 789,44 Tabelle 3.2: Quartalswerte zum Bruttoinlandsprodukt (nominal, saisonbereinigt, real), 2018–2020. Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt ?. Abb. 3.2: Quartalswerte zum Bruttoinlandsprodukt (nominal, saisonbereinigt, real), 2018–2020. Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Das BIP der Eurozone Außerdem kann man das BIP auch jenseits eines Nationalstaates betrachten und zum Beispiel schauen, wie sich das BIP der ganzen Eurozone entwickelt hat. Je stärker man allerdings Werte aggregiert (= zusammenrechnet), um so vorsichtiger muss man auch mit Aussagen sein, die aufgrund dieser Aggregate getroffen werden. BIP nominal (in Mrd. Euro) BIP real (Preise von 2015, in Mrd. Euro) 2010 9533,2 10113,4 2011 9796 10282,3 2012 9834,6 10191,6 2013 9933,3 10167,5 2014 10167,2 10309,6
2015 10519,9 10519,9 2016 10815,6 10715,8 2017 11217,1 10994,8 2018 11588,1 11201,7 2019 11937,3 11346,2 2020 11323,2 10600,8 Tabelle 3.3: Bruttoinlandsprodukt der Eurozone. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission?. Zusatzinformationen: - Abb. 3.1 ist veröffentlicht unter der CC0 1.0 Universell (CC0 1.0) Public Domain Dedication. ( https://pxhere.com/en/photo/763767 ) ( https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/ ) - Der Text des Lernabschnitts „1.1 Wie bestimme ich nochmal eine Wachstumsrate?“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) - Abb. 3.2: „Quartalswerte zum Bruttoinlandsprodukt (nominal, saisonbereinigt, real), 2018–2020“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Datenbank des Statistischen Bundesamtes. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://www-genesis.destatis.de/genesis/online ) - Der Text in H5P 3.1 „Quartalswerte zum Bruttoinlandsprodukt (nominal, saisonbereinigt, real), 2018–2020“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Der H5P-Inhaltstyp „Fill the blanks“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://github.com/h5p/h5p-blanks ) - Der Text in H5P 3.2: „BIP-Wachstum in der Eurozone“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Der H5P-Inhaltstyp „Fill the blanks“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://github.com/h5p/h5p-blanks ) Arbeitsaufträge: - Bewerte die folgende Aussage: „Die Wirtschaftsleistung in der Eurozone ist auch während der Euro-Krise in jedem Jahr gestiegen.“ - Vergleiche die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland und in der Eurozone in den Jahren 2010-2015. Entwickele dazu eine geeignete Grafik. 1.2 „In the long run …“: 25 Jahre Konjunkturgeschichte Die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte spiegelt die allgemeine Tendenz moderner Volkswirtschaften wider: In den drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung ist sie gewachsen – allerdings war dies von mehreren Auf- und Abschwüngen begleitet. Es lassen sich für die Zeit zwischen 1991 und 2019 vier Phasen identifizieren. Anhand dieser Phasen kann man gut erkennen, welche wirtschaftlichen Faktoren eng mit dem BIP zusammenhängen. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrug 1991, im Jahr nach der Wiedervereinigung, etwa 3.090 Milliarden D-Mark. Umgerechnet in unsere aktuelle Währung wären das 1.580 Milliarden Euro. Im Jahr 2018 betrug das deutsche BIP 3.386 Milliarden Euro. So gesehen ist der volkswirtschaftliche Kuchen, der pro Jahr in Deutschland gebacken wird, heute mehr als doppelt so groß wie zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Berücksichtigt man die Inflation, also den allgemeinen Anstieg der Preise, ergibt sich immer noch eine Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts (also ein Anstieg der tatsächlichen Wirtschaftsleistung im Sinne einer größeren Menge bzw. einer besseren Qualität der in Deutschland produzierten Güter und Dienstleistungen) von über 40 Prozent. Man kann die Entwicklung grob in vier Phasen einteilen. Phase 1: Langer, mäßiger Aufschwung nach der Wiedervereinigung (1991 bis 2001)
In den neuen Bundesländern der ehemaligen DDR gab es einen großen Nachholbedarf an privaten und staatlichen Investitionen zur Modernisierung der Produktionsanlagen und der öffentlichen Infrastruktur. Gleichzeitig passten sich die ostdeutschen Konsumentinnen nach und nach an die Kaufgewohnheiten der Westdeutschen an. Ende der 1990er Jahre sprach man im Zusammenhang mit der Verbreitung des Internets und neuer Computertechnologien vermehrt vom Entstehen einer „New Economy“, welche ihren Ursprung in den USA genommen hatte und sich zunehmend auch in Deutschland etablierte. Die Erwartung hoher künftiger Unternehmensgewinne am „Neuen Markt“ ließen die Aktienkurse in die Höhe schnellen und Investitionen in neue Computertechnologien lohnend erscheinen. Umso plötzlicher kam das Platzen der sogenannten „Dotcom- Blase“ zunächst am US-amerikanischen und dann am deutschen Aktienmarkt im Frühjahr 2000. Weiter verschärft wurde der wirtschaftliche Abschwung nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001. Abb. 3.3: Das reale BIP in Deutschland, 1992-2002. Eigene Darstellung, Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU- Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Abb. 3.4: Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 1992-2002. Eigene Darstellung, Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt, AMECO-Datenbank der EU-Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Hinweise:
1. Die Wachstumsraten des realen BIP (blaue Balken) ergeben sich jeweils, indem man alle Wachstumsbeiträge des Jahres zusammenrechnet. Die blauen Balken haben also die Höhe aller übereinander gestapelten Balken mit positiven Werten abzüglich aller Balken mit negativen Werten (rot, grün, orange, gelb). 2. Die Wachstumsbeiträge der verschiedenen Bestandteile der Nachfrageseite des BIP werden berechnet, indem man die absolute Veränderung des entsprechenden Bestandteils von einem Jahr zum nächsten durch den absoluten Wert des Bruttoinlandsprodukts des ersten Jahres teilt. Beispiel: (Privater Konsum im Jahr 2015 – Privater Konsum im Jahr 2014) / BIP im Jahr 2014. Phase 2: Lange Stagnation (2001 bis 2005) Zwischen 2001 und 2005 befand sich die deutsche Wirtschaft in einer ungewöhnlich langen Stagnationsphase. Im Januar 2005 stieg die Arbeitslosigkeit zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg auf über fünf Millionen Personen. Deutschland galt in dieser Zeit als der „kranker Mann Europas“, nachdem 1999 die Gemeinschaftswährung Euro eingeführt worden war. Die von SPD und Grünen gebildete Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder, welcher 1998 den seit 1982 regierenden Kanzler Helmut Kohl von der CDU abgelöst hatte, reagierte auf diese Schwächephase mit einer Reihe von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen, welche als „Agenda 2010“ in die Geschichte eingegangen ist. Kanzler Schröder kündigte im März 2003 an: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen.“ Die Agenda 2010 führte zu sehr kontroversen Debatten, die letztlich in vorgezogenen Neuwahlen und der Abwahl der rot-grünen Bundesregierung bei der Bundestagswahl 2005 endeten. Abb. 3.5: Das reale BIP in Deutschland, 2001-2006. Eigene Darstellung, Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU- Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.
Abb. 3.6: Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2001-2006. Eigene Darstellung, Quelle: Statistisches Bundesamt, AMECO-Datenbank der EU-Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Phase 3: Kurzer kräftiger Boom und Finanzkrise (2005 bis 2009) In den Jahren 2005 bis 2007 kam die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland wieder in Schwung. Die Arbeitslosigkeit sank kräftig. Wirtschaftsforscherinnen streiten darüber, inwiefern diese zurückgewonnene wirtschaftliche Stärke als Ergebnis der vorangegangenen Strukturreformen der Agenda 2010 zu werten ist oder ob sie durch andere Faktoren erklärt werden kann. Ende 2007/Anfang 2008 wurde der Wirtschaftsaufschwung jäh beendet, durch die globale Finanzkrise, die wiederum in den USA ihren Ursprung nahm. Abb. 3.7: Das reale BIP in Deutschland, 2005-2010. Eigene Darstellung, Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU- Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.
Abb. 3.8: Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2005-2010. Eigene Darstellung. Quelle: Statistisches Bundesamt, AMECO-Datenbank der EU-Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Phase 4: Erholung nach der Finanzkrise (2010 bis 2019) Während die Weltwirtschaft und insbesondere die Eurozone insgesamt sich bis heute nur schleppend von den Folgen der Finanzkrise erholt haben, sank in Deutschland die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren zunächst weiter - auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Allerdings kam international zunehmend Kritik an den dauerhaft hohen Exportüberschüssen Deutschlands auf, welche bereits seit Beginn der 2000er Jahre ein wichtiger Wachstumsmotor der deutschen Wirtschaft geworden waren. Im Ausland wurde kritisiert, dass Deutschland dauerhaft weniger Güter und Dienstleistungen nachfragt, als es produziert, und damit darauf angewiesen sei, dass andere Länder im Gegenteil mehr Güter und Dienstleistungen kaufen, als sie selbst produzieren. Abb. 3.9: Das reale BIP in Deutschland, 2010-2018. Eigene Darstellung. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU- Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.
Abb. 3.10: Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2010-2018. Eigene Darstellung. Quelle: Statistisches Bundesamt, AMECO-Datenbank der EU-Kommission. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Zusatzinformationen: - Der Text des Lernabschnitts „In the long run …“: 25 Jahre Konjunkturgeschichte“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) - Abb. 3.3: „Das reale BIP in Deutschland, 1992-2002“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Abb. 3.4: „Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 1992-2002“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Abb. 3.5: „Das reale BIP in Deutschland, 2001-2006“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Abb. 3.6: „Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2001-2006“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission, Statistisches Bundesamt. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) ( https://www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html ) - Abb. 3.7: „Das reale BIP in Deutschland, 2005-2010“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en )
- Abb. 3.8: „Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2005-2010“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Abb. 3.9: „Das reale BIP in Deutschland, 2010-2018“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Abb. 3.10: „Wachstum und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 2010-2018“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU- Kommission. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database- ameco/ameco-database_en ) - Video 3.1: „Die Erfurter Altstadt vor und nach der Wende“ ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von Youtube eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.youtube.com/watch?v=j4zVt8VPgHg ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) - Audio 3.1: „Gerhard Schröder kündigt ‚Agenda 2010" an“ ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von der Seite des SWR eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/gerhard-schroeder-kuendigt-agenda-2010-an-2003-100.html ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) - Video 3.3: „Made in Germany | Finanzkrise sind die Aktienmärkte noch zu retten?“, © DW Deutsch ist nicht unter einer CC- Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von Youtube eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.youtube.com/watch?v=axEqaE867xI ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) - Video 3.8: „Arbeitslosenquote sinkt auf unter fünf Prozent“, © tagesschau ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von Youtube eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.youtube.com/watch?v=wTOeBMuaYLk ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) Arbeitsaufträge: - Erläutere, von welchen Nachfragekomponenten (privater Konsum, staatlicher Konsum, Investitionen, Außenbeitrag) der lange mäßige Aufschwung nach der Wiedervereinigung vor allem getragen wurde. Welche Gründe könnten erklären, dass diese Wachstumsphase durch eine kräftige Binnenwirtschaft charakterisiert war? - Begründe, von welchen Nachfragekomponenten das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Zeitraum 2001-2012 vor allem abhing. - Stärkere Konjunktureinbrüche (starker Rückgang der Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr bei sehr niedrigem oder sogar negativem realem BIP-Wachstum) gab es in Deutschland in den Jahren 1993, 2002, 2009 und 2012. Analysiere, welche Nachfragekomponente(n) in diesen Phasen besonders stark eingebrochen sind. Was könnten Gründe dafür sein? - Die keynesianische Wirtschaftstheorie empfiehlt, dass der Staat in konjunkturellen Schwächephasen seine Ausgaben erhöht. Vergleiche die Entwicklung des staatlichen Konsums in der Stagnationsphase nach dem New Economy Crash (2001-2004) und in der Finanzkrise (2008/9). Ordne die Maßnahmen in das Spektrum wirtschaftspolitischer Theorien ein. 1.3 Wie wird das Wirtschaftswetter? Konjunkturindikatoren und -prognosen Viele verschiedene Institutionen – z. B. die Bundesregierung, der Sachverständigenrat, Wirtschaftsforschungsinstitute, Banken, Verbände – erstellen regelmäßig eigene Prognosen zur Konjunkturentwicklung. Diese Prognosen sollen Auskunft darüber geben, wie sich die Wirtschaft in naher Zukunft entwickelt. Dabei spielen Konjunkturindikatoren eine wichtige Rolle. Wie sehen die
Prognosen gegenwärtig aus? Und wie entsteht eine solche Prognose eigentlich? Welche Indikatoren werden hier herangezogen? Abb. 3.11: Müssen wir eher mit einem wirtschaftlichen Hoch- oder Tiefdruckgebiet rechnen? Diese Frage versuchen Konjunkturprognosen zu beantworten. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Warum ist es wichtig zu wissen, wie sich die Wirtschaft entwickelt? Woher können wir eigentlich wissen, ob eine wirtschaftliche Schwächephase als normale Konjunkturschwankung nur kurz anhält, oder ob sie Ausdruck längerfristiger, struktureller Probleme ist – möglicherweise gar den Beginn einer schweren Wirtschaftskrise darstellt? Im Nachhinein ist es immer vergleichsweise einfach, strukturelle Brüche und konjunkturelle Schwankungen zu unterscheiden. Aber Politikerinnen, Unternehmen und Konsumentinnen müssen in der Gegenwart Entscheidungen treffen und hierfür Erwartungen über die Zukunft bilden: Unternehmen müssen die künftigen Gewinnerwartungen einschätzen bei der Frage, ob sich beispielsweise die Investition einer neuen, größeren Fabrikhalle lohnen kann. Arbeitnehmerinnen müssen abschätzen, ob ihre Arbeitsplätze auch im nächsten Jahr noch sicher sind, wenn sie größere Ausgaben für einen Urlaub oder ein neues Auto planen. Politikerinnen müssen fragen, wie die Konjunktur im nächsten Jahr laufen wird, wenn sie die staatlichen Einnahmen und Ausgaben für das nächste Jahr planen. Sie müssen erkennen können, ob „bloß“ eine vorübergehende Schwächephase droht – oder eine ernste Wirtschaftskrise vor der Tür steht. Verschiedene Diagnosen über die Ursachen einer wirtschaftlichen Schwächephase oder über mögliche Gefahren für die Konjunkturentwicklung können zudem sehr unterschiedliche wirtschaftspolitische Rezepte zu ihrer Überwindung nötig erscheinen lassen, von denen einzelne Wählerinnengruppen mehr oder weniger stark betroffen sein können. Prognosen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung sind also ein wichtiger Teil der Ökonomie in Wissenschaft und Praxis und begegnen uns immer wieder in den Nachrichten. Wirtschaftsforschungsinstitute, politische Institutionen, aber z. B. auch große Banken liefern regelmäßig Vorhersagen ab, in denen sie Auskunft darüber geben, wie sich die Wirtschaftsleistung in den kommenden Jahren wohl entwickeln wird. Sie geben auch immer wieder Anlass zu unterschiedlichen Einschätzungen durch Vertreterinnen konkurrierender ökonomischer Perspektiven. Aktuelle Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung Im Video 3.4 wird die Konjunkturprognose der Bundesregierung für das Jahr 2021 vorgestellt.
Wachstumsprognosen für die Jahre 2021 und 2022 Quelle Prognose vom Prognose für 2021 Prognose für 2022 Bundesbank Juni 2021 3,7 % 5,2 % Bundesregierung April 2021 3,5 % 3,6 % Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Juni 2021 3,2 % 4,3 % EU-Kommission Juli 2021 3,6 % 4,6 % Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute April 2021 3,7 % 3,9 % Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) Juni 2021 3,0 % 3,0 % ifo Institut für Wirtschaftsforschung Juni 2021 3,3 % 4,3 % Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) März 2021 3,0 % 4,0 % Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) Juni 2021 4,5 % 4,9 % Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) Juni 2021 3,9 % 4,8 % Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) Juni 2021 3,9 % 4,0 % Internationaler Währungsfonds (IWF) Juli 2021 3,6 % 4,1 % OECD Mai 2021 3,3 % 4,4 % Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung RWI Juni 2021 3,7 % 4,7 % Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen März 2021 3,1 % 4,0 % Entwicklung (SVR) Tabelle 3.4: Prognosen für das BIP-Wachstum 2021 und 2022. Quelle: Zusammenstellung auf tagesschau.de?. Konjunkturindikatoren - was ist das? Verschiedene ökonomisch relevante Kennziffern können verwendet werden, um den Verlauf der Konjunktur zu betrachten und zu untersuchen. Mithilfe mancher Indikatoren kann man außerdem versuchen, den Verlauf der Konjunktur vorherzusagen und somit Konjunkturprognosen anzufertigen. Dabei werden recht unterschiedliche Messgrößen betrachtet - das Statistische Bundesamt listet auf seiner Homepage zum Beispiel 21 verschiedene Indikatoren auf?, es gibt aber noch zahlreiche weitere. Konjunkturindikatoren lassen sich in drei Gruppen einteilen: vorlaufende Indikatoren können anzeigen, wie die Konjunktur sich in Zukunft entwickeln wird. Sie sind der Konjunktur sozusagen „immer einen Schritt voraus“ und eignen sich somit gut für Konjunkturprognosen. gleichlaufende Indikatoren entwickeln sich parallel zur Konjunktur nachlaufende Indikatoren hängen der Konjunktur immer einen Schritt hinterher Vorauslaufende Indikatoren Gleichlaufende Indikatoren Nachlaufende Indikatoren (Frühindikatoren) (Präsenzindikatoren) (Spätindikatoren) Auftragseingang in Industrie Bruttoinlandsprodukt Arbeitslosenquote Baubewilligungen Industrielle Produktion Zahl der Erwerbstätigen Aktienkurse / Aktienindizes Umsätze Steuereinnahmen Erwartungen der Konsumenten und Unternehmen Sparquote Preisentwicklung (Inflation/Deflation) (z. B. Ifo-Geschäftsklima?, ZEW Konjunkturerwartungen?) Tabelle 3.6: Eine Auswahl von Konjunkturindikatoren. Ifo-Geschäftsklimaindex: Ein wichtiger Frühindikator Im Video 3.4 ist vom Ifo-Geschäftsklimaindex die Rede. Doch was ist das eigentlich? Ein Geschäftsklimaindex soll zeigen, ob die Stimmung in den Unternehmen eher gut oder schlecht ist: Wie wird in den Unternehmen die Lage im Hinblick auf Aufträge, Umsätze usw. eingeschätzt? Herrschen eher optimistische oder pessimistische Einschätzungen vor? Dies kann Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung zulassen. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist der wichtigste Indikator dieser Art in Deutschland und gilt als Frühindikator für die konjunkturelle Entwicklung. Er wird vom Ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut? in München veröffentlicht: Monatlich werden dazu 7.000 Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, des Baugewerbes, des Großhandels und des Einzelhandels befragt. Sie sollen ihre gegenwärtige Geschäftslage beurteilen und ihre Erwartungen für das nächste halbe Jahr äußern. Hieraus wird dann das
Geschäftsklima ermittelt. Die Indexreihe (Abb. 3.12) zeigt die Entwicklung des Geschäftsklimas über einen längeren Zeitraum. Dafür wird aktuell der Wert des Jahres 2015 (Basisjahr) gleich 100 gesetzt. Abb. 3.12: Der Ifo-Geschäftsklimaindex und seine Bestandteile. Quelle der Daten: Ifo-Institut. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Der Konjunkturverlauf und seine Indikatoren Die Geogebra-Anwendung 3.1 ermöglicht, die Entwicklung der Konjunktur seit dem Jahr 2005 mit Hilfe verschiedener Indikatoren zu betrachten. Es können fünf Zeitreihen eingeblendet werden (Indexreihen, 2005 = 100) und beliebige Zeiträume genauer betrachtet werden (hier bieten sich natürlich die Phasen der jüngeren Konjunkturgeschichte an). In der Anwendung kann man zum Beispiel erkennen, inwiefern einzelne Indikatoren der BIP-Entwicklung einen Schritt voraus sind, während andere eher hinterherlaufen. Vergleiche dazu beispielsweise die Entwicklung von BIP, ifo-Geschäftsklimaindex, Investitionen und Arbeitslosenquote im Zeitraum 2006 bis 2011. Quellen der Daten: Reales BIP (saison- und kalenderbereinigt, Quartalsdaten), private Investitionen (Bruttoanlageinvestitionen des nicht-staatlichen Sektors, konstante Preise, saison- und kalenderbereinigt, Quartalsdaten), Konsum der privaten Haushalte (konstante Preise, saison- und kalenderbereinigt, Quartalsdaten): Statistisches Bundesamt. Arbeitslosenquote (saisonbereinigt): Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Nürnberg. ifo-Geschäftsklima: ifo-Institut. Zusatzinformationen: - GeoGebra 3.1 „Der Konjunkturverlauf und seine Indikatoren“ von Julian Becker, erzeugt mit GeoGebra ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported Lizenz. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz. ( https://www.geogebra.org/m/xgyuhrwr ) ( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/ ) ( https://www.geogebra.org/license ) - - Die Videos in H5P 3.15: „Wie entstehen Konjunkturprognosen?“ von © tageschau sind nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht. Sie werden hier von tagesschau.de eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Interactive Book“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunkturprognosen106~_origin-7a416d47-4e55-49f3-b630-a795a0a8e6e2.html ) ( https://github.com/h5p/h5p-interactive-book/blob/master/LICENSE ) - Abb. 3.11 ist ein Ausschnitt aus dem Werk „Wetterlage beim Orkan Emma“ von Markus Aebischer Marketing & Verkauf, Geschäftsfeld Flugwetter Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz, Krähbühlstrasse 58, Postfach 514, CH-8044 Zürich, das lizenziert ist unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.5 Switzerland Lizenz. ( https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Windstorm_Emma.png ) ( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/ch/deed.en )
- Der Text des Lernabschnitts „Wie wird das Wirtschaftswetter? Konjunkturindikatoren und -prognosen“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) - Video 3.4: „Jahreswirtschaftsbericht: Bundesregierung erwartet geringeres Wachstum“, © tagesschau ist nicht unter einer CC- Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von Youtube eingebettet. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.youtube.com/watch?v=Cp-lmszMOF8 ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) - Video 3.5: „ifo Geschäftsklimaindex leicht gestiegen (April 2021)“ von © ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von Youtube eingebettet. Der H5P- Inhaltstyp „Iframe embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://www.youtube.com/watch?v=kJrWpG2ci8o ) ( https://github.com/h5p/h5p-iframe-embed/blob/master/LICENSE.txt ) - Abb. 3.12 „Der Ifo-Geschäftsklimaindex und seine Bestandteil“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Ifo-Institut. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) ( https://www.ifo.de/sites/default/files/2019-12/gsk-d-201912.xlsx ) Arbeitsaufträge: - Erschließe die Videos 3.4 und 3.5. - Ermittele, welche Begriffe in den Videos häufig benutzt werden und warum. Ermittele auch dir unklare Begriffe und recherchiere ihre Erklärung. - Analysiere die Videos im Hinblick auf - Recherchiere weitere Indizes für Konjunkturprognosen und stelle diese vor. - Erweitere die Geogebra-Anwendung um (einen) weitere(n) Konjunkturindikator(en) oder gestalte eine eigene Abbildung. 2 Im Schwerpunkt: Wie lassen sich die Schwankungen erklären? Kontroversen um die Konjunktur 2.1 Nachfrage, Angebot oder beides? Neoklassik, Keynesianismus und ihre Synthese In der Wirtschaftspolitik gibt es eine Kontroverse zwischen angebotsorientierter Wirtschaftspolitik, die sich auf die Denkschule der Neoklassik bezieht, und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik, die auf die Theorie des Keynesianismus zurückgreift. Auch in der Konjunkturtheorie findet sich diese Kontroverse wieder. In einer Synthese wird versucht, beide Theorien miteinander zu verbinden. Technisch formuliert versteht man unter Konjunktur kurzfristige Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts (Schaubild 1, rote Kurve) um einen Wachstumstrend herum (Schaubild 2, blaue gestrichelte Linie). Der Wachstumstrend wird dabei auch als Anstieg des Produktionspotenzials bezeichnet. Das Produktionspotenzial gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft ohne größere Verwerfungen produziert werden kann – unter Berücksichtigung der verfügbaren Technik in den Unternehmen und der Anzahl und Qualifikation der Beschäftigten. Die Konjunkturentwicklung kann so auch als Schwankung des Auslastungsgrades einer Volkswirtschaft verstanden werden: Das, was für die Produktion in der Wirtschaft zur Verfügung steht (also beispielsweise die Arbeitskraft der Beschäftigten oder die vorhandenen Maschinen) wird nicht immer gleich stark beansprucht. Manchmal werden die Produktionskapazitäten unterbeansprucht – dann kommt es zu konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit und tendenziell fallender Inflation oder sogar Deflation. Und manchmal werden sie zeitweise überbeansprucht – dann erleben die Unternehmen einen Mangel an qualifizierten Arbeitnehmerinnen und es kommt zu kräftigeren Lohn- und Preissteigerungen. Die Überbeanspruchung oder Unterauslastung der Produktionskapazitäten wird in Schaubild 3 durch die Fläche zwischen roter und blauer Kurve dargestellt. Keynesianische vs. neoklassische Modelle Doch wie lassen sich diese Schwankungen im Auslastungsrad eigentlich erklären? Hier setzen Konjunturtheorien an. Diese Theorien vertreten unterschiedliche Auffassungen dazu, was letztendlich der Auslöser für Konjunkurschwankungen ist.
Keynesianische Modelle begründen die Konjunkturzyklen mit der Instabilität des privaten Sektors. Demnach sind Schwankungen in der privaten Konsum- und Investitionsnachfrage und in den Nettoexporten (Exporte minus Importe) ursächlich für Konjunkturschwankungen. Diese beschreiben nach keynesianischer Auffassung nachfragebedingte Ungleichgewichte, welche die privaten Wirtschaftssubjekte davon abhalten, ihre Ziele hinsichtlich der Erzielung von Arbeitszeit, Einkommen, Konsum, Ersparnis usw. zu erreichen. Bei einer Unterauslastung der Wirtschaft auf Grund einer Nachfrageschwäche sollte die Zentralbank bzw. der Staat durch einen Mix aus Zinssenkungen, Steuersenkungen und höheren Ausgaben (sog. expansive Geld- und Fiskalpolitik) eingreifen, um die Nachfrage und die Beschäftigung zu stabilisieren. Bei einer Überhitzung der Nachfrage sollten umgekehrt Zinserhöhungen, Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen durchgeführt werden. Neoklassische Modelle sehen dagegen den Staat als Hauptverantwortlichen für das Auftreten von Konjunkturzyklen, während der Privatsektor aus ihrer Sicht eher zu Stabilität neigt. Die beobachteten Schwankungen im Bruttoinlandsprodukt und der Beschäftigung erklären einige neoklassische Modelle zum Teil damit, dass die Individuen sich je nach Situation (hohe oder niedrige Löhne oder Zinsen) rational entscheiden, mehr oder weniger zu arbeiten und zu produzieren. Eingriffe des Staates, um solche „gleichgewichtigen Konjunkturzyklen", die auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft entstehen, zu bekämpfen, sind aus dieser Sicht kontraproduktiv. Eine unsystematische Geld- und Fiskalpolitik führe vielmehr zu Unsicherheit und Anpassungsreaktionen der Marktteilnehmer, was Konjunkturschwankungen herbeiführe. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger aufgrund von Wirkungsverzögerungen („Time-Lags“) und der Komplexität der Zusammenhänge die Wirtschaft nicht gut steuern können. Politische Maßnahmen, die eigentlich der Stabilisierung dienen sollen, kämen dadurch zu spät (wodurch sie genau das Gegenteil dessen bewirken können, was sie eigentlich erreichen wollten) oder seien grundsätzlich verkehrt, weil die Politik sich ein Wissen anmaße, über das sie gar nicht verfügen würde. Kurzfristig die Nachfrage, langfristig das Angebot: Die Theorie der „Neuen neoklassischen Synthese“ Kaum eine Ökonomin würde heute allerdings die extreme Annahme treffen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gar keine Rolle spielt. Und auch keynesianische Ökonominnen würden nicht argumentieren, dass sich das gesamtwirtschaftliche Angebot stets ohne Weiteres an die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anpasst. Vielmehr steht in der modernen Makroökonomik das Zusammenspiel zwischen angebotsseitigem Produktionspotenzial und nachfrageseitigen Konjunkturschwankungen im Mittelpunkt der Analyse. Zwischen Ökonominnen ist allerdings weiterhin sehr umstritten, ob eher neoklassischen oder eher keynesianischen Denkmustern eine dominante Rolle zukommen sollte. Im Rahmen der so genannten „Neuen Neoklassischen Synthese“, die zumindest bis zu den weltweiten Finanzkrisen seit 2008 innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sehr verbreitet war, wird argumentiert, dass zwar kurzfristig keynesianische Prinzipien gelten, langfristig aber neoklassische. Es wird davon ausgegangen, dass Produktion und Arbeitsvolumen kurzfristig nachfrageseitig bzw. konjunkturell bedingt sind, während langfristig das Produktionspotenzial und die Situation auf dem Arbeitsmarkt angebotsseitig bzw. strukturell bestimmt werden. Das Produktionspotenzial gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen nachhaltig produziert werden kann. Das bedeutet, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion zwar zeitweise sogar oberhalb des Produktionspotenzials liegen kann (Fall A), aber nicht auf Dauer. Andererseits ist es auch möglich, dass gesamtwirtschaftliche Produktion unterhalb des Produktionspotenzials liegt (Fall B).
Abb. 3.13: Eine Überhitzung des Ofens der Volkswirtschaft ist ein Szenario, dass die Wirtschaftspolitik zu vermeiden versucht. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Fall A: „Überhitzung“ der Wirtschaft Wenn die Güternachfrage so kräftig ist, dass die Unternehmen oberhalb des Produktionspotenzials produzieren, liegt eine so genannte positive Output-Lücke vor (Schaubild 4). Dann steigt zwar zunächst das Arbeitsvolumen (die Arbeitslosigkeit fällt). Dies wird aber mittelfristig zu immer höherer Inflation führen. Der Grund hierfür ist, dass bei geringer Arbeitslosigkeit die Arbeitnehmerinnen bzw. die Gewerkschaften höhere Löhne fordern werden, weil sie keine besondere Gefahr vor Arbeitsplatzverlusten sehen und ihre Arbeit von den Unternehmen stark nachgefragt wird. Gleichzeitig werden die Unternehmen ihre Preise erhöhen, weil sie mit ihren Produktionskapazitäten die hohe Nachfrage nicht mehr bedienen können und ihre Gewinne nur noch durch höhere Preise steigern können und weil sie die höheren Lohnkosten ausgleichen wollen. Der Grund für diese inflationäre Lohn-Preis-Spirale besteht letztlich darin, dass Arbeitnehmerinnen bei geringer Arbeitslosigkeit höhere Reallöhne anstreben, und die Arbeitgeberinnen den Anstieg des Reallohns verhindern wollen. Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass der Reallohn nichts anderes ist als der Nominallohn im Verhältnis zum Preisniveau: Die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen steigt nur, wenn die Nominallöhne (d. h. die Löhne, die tatsächlich gezahlt werden) stärker steigen als die Preise der Güter, die die Arbeitnehmerinnen mit ihren Löhnen bezahlen müssen. Wenn die Arbeitnehmerinnen bzw. Gewerkschaften bei geringer Arbeitslosigkeit höhere Reallöhne fordern, die Unternehmen diese aber nicht zu zahlen bereit sind, kann es zu einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale kommen, die einen ungelösten Verteilungskonflikt zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeberinnen um die Höhe der Reallöhne widerspiegelt: Die Spirale entsteht dadurch, dass die Arbeitnehmerinnen auf einen Anstieg der Preise (in Reaktion auf eine Erhöhung der Nominallöhne) wiederum mit höheren Lohnforderungen reagieren. So treiben die Löhne die Preise in die Höhe, welche wiederum die Löhne in die Höhe treiben. Eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale kann laut Neuer Neoklassischer Synthese nur gebrochen werden, indem die Güternachfrage durch staatliche Politik reduziert wird (geringere Staatsausgaben, höhere Steuern oder höhere Zentralbank-Zinsen). Die Geldpolitik sollte nach Empfehlung der Neuen Neoklassischen Synthese von politikunabhängigen Experten der Zentralbank bestimmt werden. Die meisten modernen Zentralbanken verfolgen ein sogenanntes Inflationsziel: Die Europäische Zentralbank
beispielsweise peilt eine mittelfristige Inflationsrate von zwei Prozent an. Für die Fiskalpolitik (Staatseinnahmen und –ausgaben) spielen aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese die sogenannten automatischen Stabilisatoren eine wichtige Rolle, welche in modernen Volkswirtschaften durch die Funktionsweise des Steuersystems und der sozialen Sicherung stark ausgeprägt sind. Im hier betrachteten Fall einer kräftigen privaten Nachfrageentwicklung steigen aus einer Reihe von Gründen die Einnahmen des Staates automatisch stark an: Beispielsweise zahlen Beschäftigte, die früher arbeitslos oder geringfügig beschäftigt waren und nun mehr verdienen, nun Einkommensteuern, und Haushalte mit Einkommenssteigerungen rutschen in höhere Steuerklassen (progressive Einkommensteuer). Gleichzeitig fallen die staatlichen Ausgaben etwa für Arbeitslosenunterstützung. Im Ergebnis kommt es zu einer konjunkturbedingten Verbesserung des staatlichen Budgetsaldos (geringeres Haushaltsdefizit oder höherer Haushaltsüberschuss). Durch die Wirkung der automatischen Stabilisatoren und entsprechende Zinserhöhungen sollte der Staat in der Lage sein, einer Überhitzung der privaten Nachfrage entgegen zu wirken. Wenn der Staat nicht entsprechend reagiert, kommt es früher oder später zur Hyperinflation und damit zur vollständigen Zerstörung des Geldsystems. Denn wenn die Preise sehr rasant steigen, ist es für die wirtschaftlichen Akteure kaum noch möglich, sinnvolle Kauf- und Sparentscheidungen zu treffen, weil ihre Einkommen durch die Hyperinflation praktisch sofort entwertet werden. Unter anderem aus diesem Grund gilt in den meisten entwickelten Volkswirtschaften eine stabile Inflationsrate als wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Abb. 3.14: Nicht nur eine Überhitzung, sondern auch eine Unterkühlung der Wirtschaft soll verhindert werden. Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts. Fall B: Nachfragemangel Bei einem Nachfragemangel hingegen ist die Output-Lücke negativ (Schaubild 4). Dann steigt die Arbeitslosigkeit, und es kommt mittelfristig zu deflationären Lohn-Preis-Spiralen: Die Arbeitnehmer nehmen aus Angst vor noch höherer Arbeitslosigkeit ein geringeres Lohnwachstum oder sogar Lohnkürzungen in Kauf. Die Unternehmen senken die Preise aus Angst vor weiterem Nachfragerückgang und um volle Lager mit unverkauften Gütern zu vermeiden. Wenn aber die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften feststellen, dass sich wegen fallender Inflation oder sogar Deflation ihre Kaufkraft verbessert, bewegt sie dies in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit umso mehr zu zurückhaltenden Lohnforderungen.
Auch diese Abwärtsspirale kann nur gebrochen werden, indem der Staat für eine höhere Nachfrage sorgt (höhere Staatsausgaben, niedrigere Steuern, niedrigere Zentralbank-Zinsen). Aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese sollte auch im Abschwung die Stabilisierung der Konjunktur vor allem von der Geldpolitik (Zinssenkungen) und von den automatischen Stabilisatoren der Fiskalpolitik (z. B. automatischer Anstieg der Arbeitslosenunterstützung und Rückgang der Einnahmen aus der Einkommensteuer bei Anstieg der Arbeitslosigkeit und Rückgang der Haushaltseinkommen) ausgehen. Durch die Wirkung der automatischen Stabilisatoren kommt es zu einem konjunkturbedingten Anstieg des staatlichen Haushaltsdefizits. Allerdings können in einer Krise zusätzliche fiskalpolitische Maßnahmen („Konjunkturpakete“) notwendig werden, wenn die Zentralbank die Zinsen bereits auf Null gesenkt hat, die automatischen Stabilisatoren bereits voll wirken und die Output-Lücke trotzdem negativ bleibt. Der Grund, dass eine solche sogenannte „diskretionären Fiskalpolitik“ vor allem in Krisenzeiten, und nicht im Boom, gefordert wird, ist, dass die Zentralbank die Zinsen zwar beliebig erhöhen kann, um die private Nachfrage zu dämpfen, aber negative Zinsen in der Praxis nicht möglich sind (sogenannte Nullzinsfalle oder Liquiditätsfalle). Reagiert der Staat auf den privaten Nachfragemangel nicht, fallen Preise und Löhne immer weiter, so dass Unternehmen und Haushalte ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, es vermehrt zu Bankrotten kommt und die Wirtschaft früher oder später in eine Depression gerät. Arbeitslosigkeit und staatliche Haushaltsdefizite bei geschlossener Output-Lücke? Langfristig kommt es nur dann zu einer Stabilisierung der Inflation, wenn die Güternachfrage dem Produktionspotenzial entspricht, d. h. die Output-Lücke geschlossen, also gleich Null, ist. Dann ist auch der Arbeitsmarkt im Gleichgewicht. Dies bedeutet nicht, dass es keine Arbeitslosigkeit gibt. Vielmehr wird die Arbeitslosigkeit, die nicht durch eine höhere Güternachfrage beseitigt werden kann, ohne dass hierdurch Lohn-Preis-Spiralen ausgelöst werden, als strukturelle Arbeitslosigkeit bezeichnet. Wenn diese strukturelle Arbeitslosigkeit gesenkt werden soll, sind nach Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese so genannte Angebotsreformen nach neoklassischen Prinzipien (Deregulierung des Arbeitsmarkts, Schwächung der Gewerkschaften, Senkung der Arbeitslosenunterstützung zur Steigerung von Arbeitsanreizen) zu empfehlen. Analog gilt für staatliche Haushaltsdefizite, die trotz geschlossener Output-Lücke verbleiben, dass sie aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese als strukturell einzuschätzen sind. Will der Staat sein strukturelles Haushaltsdefizit reduzieren, muss er seine Einnahmen dauerhaft erhöhen und/oder seine Ausgaben dauerhaft senken. Aus den Überlegungen oben ergeben sich somit die vier Phasen eines idealtypischen Konjunkturzyklus im Sinne der „neuen neoklassischen Synthese“, die in Schaubild 4 zu sehen sind. Zusatzinformationen: - H5P 3.4: „Konjunkturverlauf“: Quellen- und Lizenzangaben zu den Abbildungen und Texten unter „Rights of use“ im H5P- Element. Der H5P-Inhaltstyp „Course Presentation“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://github.com/h5p/h5p-course-presentation/blob/master/LICENCE.md ) - Der Text des Lernabschnitts „Nachfrage, Angebot oder beides? Neoklassik, Keynesianismus und ihre Synthese“ von Till van Treeck ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ( http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ) - Abb. 3.13 ist ein Ausschnitt aus dem Bild „finnish mass oven“ von Karen Eliot, lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic Lizenz. ( https://www.flickr.com/photos/kareneliot/357357213/in/photolist-xzxRg-xySsJ-xyhr1-awPNed-3UpH64-cgtFG-dzDaPv- 8EY77o-cgtwU-3UpGKi-oHTtAq-xySsx-8bUgNx-96yNnZ-3Uu2e5-23M1kRo-23LZKyW-97d2rj-979Uwi-DaU1T5-979Zh6- 979TVH-97cZvb-979Z7P-979VuX-97cZmW-97cYN5-25rdrB5-23LZPsN-97cZ5y-v9vYC-sQwMrL-t7ZWTx-anGcrr-LRmrfs- YuuvDi-Hck5-TfbUNs-Vu4vye-n3cnbP-YwfnjD-97cZDq-97d29J-GSRr9g-Di9KsC-S7jioM-97cYVs-5fdCKp-979Te2-dGJEB3 ) ( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/ ) - H5P 3.5: „Inflationäre Lohn-Preis-Spirale“: Genauere Quellenangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P- Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://github.com/h5p/h5p-drag-question ) - Abb. 3.14 „Eis“ von Jan Beck ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 2.0 Generic Lizenz. ( https://www.flickr.com/photos/jancbeck/7818782686/in/photolist-cUViG3-24RkF93-7znGn2-FnsXA6-25PQJRu-q3suF7- TZ9mSm-qK9nPS-QXBtVq-SAmvV3-aQ9NPF-2e2Vr7W-2d1xi7s-Qrnpi1-ESBZas-FhTXTQ-9uXeeP-bq4Ldv-27GKYXu- bq4L1p-FkhmKV-25TF3sg-kTXoPU-aQ9NPZ-S42Dj1-qhQd9f-24Nyr6h-Wk7TbT-24wsevc-25TF3Bz-25TF4Vr-25TF256- SgqE4c-FbUD3c-dcbVov-e6PebY-QWqiGS-bp18Ra-dVhjPE-bKqkfV-boZLc6-bjB2Gs-qBKXyt-bxoSdk-9mNPC8-24QCGG7- 25PQUof-QU43HL-GeuVM2-GeuH9X ) ( https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/ ) - H5P 3.6: „Deflationäre Lohn-Preis-Spirale“: Genauere Quellenangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P- Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz. ( https://github.com/h5p/h5p-drag-question )
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