Monatsbericht des BMF - Mai 2019 - Bundesfinanzministerium

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Monatsbericht des BMF - Mai 2019 - Bundesfinanzministerium
Monatsbericht des BMF
Mai 2019
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Titelbild: Europe is for Lovers

Europa ist unser wichtigstes nationales Anliegen. Warum das so ist und warum man Europa einfach lieben muss, hat
das BMF zusammen mit anderen Bundesministerien im Rahmen des Festivals of Lights 2018 unterstrichen. Künstle-
rische Großbildprojektionen zeigten aus unterschiedlichen Perspektiven heraus, wie die Europäische Union unser Le-
ben positiv beeinflusst und unseren Alltag besser macht. Aus Sicht des BMF spielt dabei die gemeinsame Währung und
die Wirtschafts- und Währungsunion eine herausragende Rolle: Der Euro ist heute gesetzliches Zahlungsmittel für rund
337 Millionen Menschen. Die einheitliche Währung ist das bislang am weitesten reichende Ergebnis der europäischen In-
tegration und bringt Vorteile für Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Mitgliedstaaten gleichermaßen. Auch Kevin
Leo Schmidt und Patricia Anthea Oldenhave, die auf dem Titelbild zu sehen sind, haben ganz konkret von Europa profi-
tiert – sie sind im Rahmen des EU-Förderprogramms „Erasmus“ zum Paar geworden.

Weitere Informationen zum Bundesministerium der Finanzen und seinem Dienstgebäude finden Sie unter:
www.bundesfinanzministerium.de
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Monatsbericht des BMF
Mai 2019
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Editorial
           Editorial                                                                        Monatsbericht des BMF
                                                                                                         Mai 2019

                                                               Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ hat am 9. Mai
                                                               seine Ergebnisse vorgelegt. Wie erwartet werden die
                                                               Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommu-
                                                               nen weniger stark steigen als bei der letzten Schät-
                                                               zung im vergangenen Herbst angenommen. Für diese
                                                               Entwicklung gibt es vor allem zwei Gründe: Zum ei-
                                                               nen konnten jetzt die Entscheidungen der Koalition
                                                               berücksichtigt werden, die zu deutlichen Steuersen-
                                                               kungen führen und zu einer Verlagerung von Steu-
                                                               ereinnahmen vom Bund auf die Länder. Zum ande-
                                                               ren hat die konjunkturelle Eintrübung Folgen auch
                                                               für die erwarteten Steuereinnahmen. Wichtig für die
                                                               Einordnung der Ergebnisse ist, dass der ganz überwie-
                                                               gende Teil der geringeren Mehreinnahmen bereits in
Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                 die Haushaltsplanung des Bundes eingepreist wurde.
                                                               Gegenüber den im März vom Kabinett beschlossenen
am 26. Mai wird das neue Europäische Parlament ge-             Eckwerten für den Haushalt 2020 und die Finanzpla-
wählt. Wenn Europa in der Welt von morgen Einfluss             nung bis 2023 bleibt für den Bund ein Anpassungs-
ausüben will, geht dies nur über eine geeinte und              bedarf von insgesamt etwas über 10 Milliarden Euro
starke Europäische Union. Diese Überzeugung spie-              bis 2023. In diesem Zeitraum betragen die geplanten
gelt sich auch im Koalitionsvertrag wider, in dem die          Ausgaben des Bundes 1,375 Billionen Euro. Im Ver-
drei Koalitionspartner einen „neuen Aufbruch für               gleich zu dieser Summe sind die 10 Milliarden Euro
Europa“ versprochen haben.                                     überschaubar – und handhabbar. Ende Juni wird das
                                                               Kabinett den Regierungsentwurf für den Bundes-
Das Bundesministerium der Finanzen arbeitet hart               haushalt 2020 beschließen. Durch die richtige Prio-
an diesem Aufbruch in Europa. Gut ein Jahr nach Be-            ritätensetzung wird die Bundesregierung ihre Arbeit
ginn der Legislatur ist bereits viel erreicht, nicht zu-       für ein modernes Land und den gesellschaftlichen
letzt, weil die Zusammenarbeit mit den europäischen            Zusammenhalt fortsetzen.
Partnern weiter intensiviert wurde. So gehen etwa die
wichtigen Fortschritte, die bei der Wirtschafts- und           Zu den Maßnahmen, mit denen Deutschland fit
Währungsunion erzielt wurden, auf eine Einigung                für die Zukunft gemacht werden soll, gehört auch
von Finanzminister Olaf Scholz mit seinem franzö-              die steuerliche Förderung von Forschung und Ent-
sischen Kollegen Bruno Le Maire zurück. Im Ergebnis            wicklung. Olaf Scholz hat dazu einen Gesetzent-
werden wir ein neues Haushaltsinstrument für den               wurf vorgelegt, den das Bundeskabinett in den
Euroraum schaffen, den Europäischen Stabilitätsme-             nächsten Wochen beschließen wird. Mit der Förde-
chanismus fortentwickeln und die Bankenunion ver-              rung sollen zielgerichtet Anreize für höhere Unter-
tiefen. Das trägt zu gutem Wachstum in Europa bei,             nehmensinvestitionen in Forschung und Entwick-
hilft beim Aufholprozess der schwächeren Mitglied-             lung gesetzt werden. Dies ist ein wichtiger Beitrag
staaten und macht die Währungsunion insgesamt                  dazu, Deutschlands Innovationskraft weiter zu stär-
stabiler und solidarischer. Auch im Steuerbereich              ken, damit unser Land auch künftig auf den globa-
gibt es wichtige Schritte hin zu einem faireren Steu-          len Märkten eine Spitzenposition einnehmen wird.
ersystem. So arbeiten z. B. die Mitgliedstaaten der so-
genannten Verstärkten Zusammenarbeit intensiv an
einem gemeinsamen Modell für eine Finanztransak-
tionsteuer – nach jahrelangem Stillstand bei den Ver-
handlungen geht es nun endlich voran.                          Wolfgang Schmidt
                                                               Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen

                                                           3
Inhaltsverzeichnis

      Inhaltsverzeichnis
      Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich______________________________ 8
      Bedeutung des Brexits für die europäische Integration___________________________________________________ 22
      Neue Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung der Länder in wichtigen Investitionsbereichen______ 29
      Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe__________________________ 33

      Aktuelle Wirtschafts- und Finanzlage____________________________39
      Überblick zur aktuellen Lage_____________________________________________________________________________ 40
      Konjunkturentwicklung aus finanzpolitischer Sicht______________________________________________________ 41
      Steuereinnahmen im April 2019_________________________________________________________________________ 48
      Entwicklung des Bundeshaushalts bis einschließlich April 2019__________________________________________ 52
      Entwicklung der Länderhaushalte bis einschließlich März 2019__________________________________________ 57
      Finanzmärkte und Kreditaufnahme des Bundes__________________________________________________________ 59

      Aktuelles aus dem BMF__________________________________________67
      Im Portrait: Thomas Westphal, Leiter der Abteilung für Europapolitik____________________________________ 68
      Termine_________________________________________________________________________________________________ 71
      Publikationen___________________________________________________________________________________________ 72

      Statistiken und Dokumentationen_______________________________73
      Übersichten zur finanzwirtschaftlichen Entwicklung____________________________________________________ 74
      Übersichten zur Entwicklung der Länderhaushalte_______________________________________________________ 75
      Gesamtwirtschaftliches Produktionspotenzial und Konjunktur­komponenten des Bundes________________ 75
      Kennzahlen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung____________________________________________________ 76
Analysen
und Berichte

Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich    8

Bedeutung des Brexits für die europäische Integration                       22

Neue Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung der Länder
in wichtigen Investitionsbereichen                                          29

Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe    33
Analysen und Berichte                                                       Monatsbericht des BMF
                                                                                                   Mai 2019

Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum
im internationalen Vergleich

    ●● Die Einkommensungleichheit hat in vielen Ländern zugenommen. Das gilt für die meisten In-
       dustrieländer und insbesondere für die USA, auch wenn global und über Ländergrenzen hinweg
       betrachtet die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist.

    ●● In Deutschland ist die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen im internationalen Vergleich
       relativ niedrig und seit 2005 stabil. Insbesondere das deutsche Steuer- und Transfersystem wirkt
       hierbei ausgleichend.

    ●● Bei der Vermögensungleichheit hingegen offenbart der internationale Vergleich für Deutschland
       ein anderes Bild. Auch bei der Chancengleichheit im Bildungssystem liegen vor Deutschland
       weiterhin Herausforderungen.

    ●● Die Initiative Frankreichs, Ungleichheit zum wichtigen Thema der diesjährigen G7-Präsident-
       schaft zu machen, wird von der Bundesregierung unterstützt.

   Einleitung                                             nicht externe Faktoren über Erfolg und Misserfolg
                                                          entscheiden.
Soziale Ungleichheit spielt in der wirtschafts- und
sozialpolitischen Diskussion eine große Rolle. So-
ziale Ungleichheit und inklusives Wachstum sind                Inklusives Wachstum
seit Jahren auch wichtige Themen bei den Diskussi-             steht seit 2015 explizit auf der Agenda
onen im Kreis der G7 und der G20. Die französische             der G20 und wird seit 2016 in den Kom-
Regierung hat das Thema Ungleichheit zu einem                  muniqués explizit als G20-Ziel genannt
Schwerpunktthema ihrer diesjährigen G7-Präsi-                  („Strong, Sustainable, Balanced and Inclu-
dentschaft gemacht.                                            sive Growth“). Mit dem Konzept des „In-
                                                               klusiven Wachstums“ wird der Wille aus-
Um sich dem Thema sozialer Ungleichheit zu nä-                 gedrückt, dass vom Wirtschaftswachstum
hern, sind verschiedene Dimensionen sozialer                   möglichst alle Menschen profitieren sollen
Ungleichheit zu betrachten. Dabei kommt in der                 und niemand zurückgelassen werden darf.
öffentlichen Diskussion der Einkommensungleich-                Die Weltbank bringt ihr Maß „Shared Pros-
heit eine wichtige Bedeutung zu. Die Ungleich-                 perity“ in Zusammenhang mit inklusivem
heit der Vermögensverteilung ist eine weitere Di-              Wachstum, da damit gemessen werde, wie
mension sozialer Ungleichheit. Zudem gehört in                 viel Wirtschaftswachstum bei den Bevölke-
diesen Kontext die Chancengleichheit. Denn Un-                 rungsteilen mit niedrigem Einkommen tat-
gleichheiten werden eher als fair akzeptiert, wenn             sächlich ankommt.
diese Ergebnis individuellen Handelns sind und

                                                         8
Analysen und Berichte                                                                                  Monatsbericht des BMF
           Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                           Mai 2019

   Einkommensungleichheit                                                     reichsten 10 % der Bevölkerung am Gesamtein-
                                                                              kommen. Den Schwerpunkt auf das untere Ende
Zur Erfassung der Einkommensungleichheit lie-                                 der Einkommensverteilung legt hingegen die

                                                                                                                                                  Analysen und Berichte
gen vergleichsweise verlässliche Daten vor, zumin-                            Weltbank mit ihrem Maß des „Shared Prosperity”
dest für die Industrieländer. Allerdings gibt es eine                         (verteilter Wohlstand). Dabei werden die Wachs-
Vielzahl von Methoden und Messgrößen zur Mes-                                 tumsraten der Einkommen der ärmsten 40 % der
sung von Einkommensungleichheit. Dabei ist der                                Bevölkerung betrachtet.
Gini-Koeffizient der am häufigsten verwendete
Indikator.                                                                    Unabhängig vom verwendeten Ungleichheitsmaß
                                                                              muss bei der Analyse der Einkommensungleich-
                                                                              heit unterschieden werden zwischen Marktein-
    Der Gini-Koeffizient                                                      kommen (vor Umverteilung durch das Steuer- und
    misst die Abweichung der tatsächlichen Ein-                               Transfersystem) und verfügbarem Einkommen
    kommen von einer vollkommenen Gleich-                                     (nach Umverteilung). Während für die Analyse von
    verteilung. Sind die Einkommen für alle In-                               Marktprozessen die Markteinkommen interessant
    dividuen gleich, nimmt der Gini-Koeffizient                               sind, ist für die Wohlfahrtsanalyse das verfügbare
    den Wert 0 an. Verdient ein einziges Indivi-                              Einkommen von Bedeutung. Im Folgenden wer-
    duum das gesamte Einkommen, beträgt er 1.                                 den, sofern nicht explizit erwähnt, die Entwicklun-
    Problematisch am Gini-Koeffizienten ist,                                  gen für die verfügbaren Einkommen dargestellt.1
    dass er nicht die Struktur der Ungleichheit
    erfassen kann. Z. B. enthält eine Erhöhung
    des Gini-Koeffizienten keine Information                                       Ungleichheit auf globaler Ebene
    darüber, ob sich das Einkommen der Mittel-
    schicht im Vergleich zu den oberen Einkom-                                Betrachtet man die gesamte Weltbevölkerung,
    men verringert hat oder ob der ärmste Teil                                konstatieren die meisten Studien, dass die Ein-
    der Bevölkerung weiter abgehängt wurde.                                   kommensungleichheit – gemessen am Gini-Koef-
    Für eine politische Bewertung wäre eine sol-                              fizienten – in den vergangenen beiden Jahrzehnten
    che Unterscheidung aber wichtig.                                          abgenommen hat. Dies liegt vor allem an den Er-
                                                                              folgen bei der Armutsbekämpfung, insbesondere in
                                                                              Ostasien.
Während der Gini-Koeffizient die Ungleichheit
über die gesamte Verteilung betrachtet, betrachten                            Nicht alle Forschungspublikationen unterstüt-
andere Ungleichheitsmaße die Ränder der Vertei-                               zen allerdings die Aussage sinkender globaler Un-
lung. Das intuitive Maß des 80:20-Quintilverhält-                             gleichheit. So zeichnet der WIR 2018 ein anderes
nisses, das auch von der Organisation for Economic                            Bild. Betrachtet man den dort vorwiegend verwen-
Co-operation and Development (OECD) und von                                   deten Maßstab (Einkommen des reichsten 1 % re-
Eurostat erhoben wird, setzt das Durchschnittsein-                            lativ zum Einkommen der ärmsten 50 % einer Be-
kommen der reichsten 20 % einer Bevölkerung mit                               völkerung), so lässt sich die Aussage gesunkener
dem Durchschnittseinkommen der ärmsten 20 %                                   Einkommensungleichheit auf globaler Ebene nicht
in Beziehung. Der World Inequality Report (WIR)
wiederum, der u. a. von Thomas Piketty publi-
                                                                              1   Ferner spielt auch der Haushaltszusammenhang eine große
ziert wird, stellt die Einkommensentwicklung am                                   Rolle und wird häufig über sogenannte Äquivalenzeinkommen
oberen Rand der Verteilung in den Vordergrund                                     erfasst. Auf diese Thematik kann in diesem Artikel aus Platz-
                                                                                  gründen nicht näher eingegangen werden. Erläuterungen zum
und betrachtet hierfür insbesondere den Einkom-                                   Äquivalenzeinkommen finden sich z. B. unter
mensanteil des reichsten 1 % beziehungsweise der                                  http://www.bundesfinanzministerium.de/mb/20190512

                                                                             9
Analysen und Berichte                                                                               Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                        Mai 2019

nachvollziehen. Selbst in Ländern, die große Er-                               Jahrzehnten zugenommen, wie Abbildung 1 dar-
folge bei der Armutsbekämpfung vorweisen kön-                                  stellt. Bemerkenswerte Ausnahmen sind Norwe-
nen, wie z. B. China, sind die Einkommensanteile                               gen, Finnland und Island, wo die Ungleichheit, ge-
des reichsten 1 % der Bevölkerung stark gestiegen.                             messen am Gini-Koeffizienten, zurückgegangen ist.
Daher kommt der WIR insgesamt nicht zu dem Er-
gebnis, dass die Einkommensungleichheit weltweit                                 Dieses Ergebnis gilt auch, wenn man anstelle des
gesunken ist.                                                                    Gini-Koeffizienten das 80:20-Quintilverhältnis he-
                                                                                 ranzieht, was Abbildung 2 zeigt. Den stärksten An-
                                                                                 stieg der Ungleichheit in den G7-Staaten verzeich-
   Einkommensungleichheit in den                                                 nen nach beiden Konzepten die USA. Im Vergleich
   G7-Staaten und in Deutschland                                                 zu den USA ist in den europäischen Staaten sowohl
                                                                                 das Niveau als auch der Anstieg der Einkommens-
In den meisten Industrieländern hat die Ein-                                     ungleichheit moderat.
kommensungleichheit in den vergangenen zwei

     Gini-Koeffizienten1 der G7-Länder seit 1994                                                                               Abbildung 1

     in %

       0,41

       0,39

       0,37

       0,35

       0,33

       0,31

       0,29

       0,27

       0,25
               1994       1996       1998        2000       2002        2004         2006     2008   2010     2012      2014       2016

              Kanada           Frankreich           Deutschland            Italien          Japan    Vereinigtes Königreich        USA

     1 Gini-Koeffizienten der verfügbaren Einkommen, nach Steuern und Transfers.
     Quelle: OECD

                                                                            10
Analysen und Berichte                                                                               Monatsbericht des BMF
                Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                        Mai 2019

                                                                                                                                     Tabelle 12
                                                                                                                                   Abbildung
     80:20-Quintilverhältnis1 der G7-Länder seit 1994
     in %

                                                                                                                                                  Analysen und Berichte
            9

            8

            7

            6

            5

            4

            3
                  1994        1996       1998        2000       2002        2004         2006     2008   2010     2012      2014      2016

                 Kanada            Frankreich           Deutschland            Italien          Japan    Vereinigtes Königreich       USA

     1 Verhältnis des Durchschnittseinkommens der einkommenstärksten 20 % der Bevölkerung zum Durchschnittseinkommen
     der einkommensschwächsten 20 % der Bevölkerung. Hier: Verfügbare Einkommen, nach Steuern und Transfers.
     Quelle: OECD

Vergleicht man die Entwicklung der Ungleichheit                                      setzt zu den Einkommensanteilen der ärms-
in den USA und Westeuropa, fallen deutliche Un-                                      ten 50 %. Wie Abbildung 3 verdeutlicht, hat sich in
terschiede auf. Dies gilt insbesondere dann, wenn                                    den USA dieses Verhältnis annähernd umgekehrt,
man die Entwicklung des Anteils des einkommens-                                      während die Entwicklung in Europa sehr gemäßigt
reichsten 1 % der Bevölkerung am Gesamteinkom-                                       erscheint.
men betrachtet und diesen Anteil in Beziehung

                                                                                11
Analysen und Berichte                                                                              Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                       Mai 2019

                                                                                                                              Abbildung 3
     Anteil am Gesamteinkommen des einkommensreichsten Prozents der Bevölkerung in den
     USA und Westeuropa versus dem Anteil der einkommensschwächsten 50 % von 1980 bis 2016
     Anteil am Gesamteinkommen in %

      24                                                                       24

      22                                                                       22

      20                                                                       20

      18                                                                       18

      16                                                                       16

      14                                                                       14

      12                                                                       12

      10                                                                       10

       8                                                                         8
           1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015                                   1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015

                  Einkommensschwächste 50 % USA                                           Einkommensschwächste 50 % Westeuropa

                  Einkommensstärkste 1 % USA                                              Einkommensstärkste 1 % Westeuropa

     Abgetragen sind die Einkommen vor Steuern, nach Sozialabgaben. "Westeuropa" sind die zusammengefassten Daten von
     Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich.
     Quelle: World Inequality Report 2018

Auch in Deutschland ist die Einkommensun-                                      sehr hoch – ähnlich wie in Frankreich. Grund hier-
gleichheit heute etwas höher als vor zwei Jahr-                                für ist das vergleichsweise hohe Maß an Umvertei-
zehnten. Nach einem gewissen Anstieg nach der                                  lung, vor allem über das Steuer- und Transfersys-
deutschen Einheit ist die Ungleichheit der verfüg-                             tem, sodass trotz relativ ungleicher Verteilung der
baren Einkommen – gemessen am Gini-Koeffizi-                                   Markteinkommen die Ungleichheit der verfügba-
enten – in Deutschland seit 2005 stabil. Allerdings                            ren Einkommen im internationalen Vergleich rela-
zeigt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts                             tiv niedrig ist, wie Abbildung 4 zeigt.
für Wirtschaftsforschung, dass auch seit 2010 die
Schere der Einkommen wieder leicht, aber statis-
tisch signifikant auseinandergegangen ist. Insge-                                     Kommt das globale
samt ist die Einkommensungleichheit in Deutsch-                                       Wirtschaftswachstum bei allen
land mit einem Gini-Koeffizienten von etwa 0,29                                       Bevölkerungsschichten an?
im internationalen Vergleich relativ niedrig
und liegt knapp unter dem OECD-Durchschnitt                                    In Ostasien und in der Pazifik-Region, aber auch in
von 0,32. In Deutschland ist außerdem der Unter-                               Lateinamerika und der Karibik ist im Zeitraum von
schied zwischen Markteinkommen und verfüg-                                     2010 bis 2015 ein relativ hohes durchschnittliches
baren Einkommen im internationalen Vergleich                                   Wachstum des Einkommens und des Konsums der

                                                                            12
Analysen und Berichte                                                                                                                                          Monatsbericht des BMF
           Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                                                                                   Mai 2019

                                                                                                                                                                                                        Abbildung 4
     Gini-Koeffizienten der Markteinkommen versus Gini-Koeffizienten
     der verfügbaren Einkommen im internationalen Vergleich, 2015

                                                                                                                                                                                                                          Analysen und Berichte
     0,8

     0,7

     0,6

     0,5

     0,4

     0,3

     0,2
                                            Deutschland

                                                                                                                                                                                              Volksrepublik
                                                                                          Australien

                                                                                                                                     Russland

                                                                                                                                                                                                              Südafrika
                      Norwegen

                                 Schweden

                                                                                                                                                                        Brasillien
                                                                                                       Japan
           Dänemark

                                                                       Kanada

                                                                                Italien

                                                                                                                                                USA

                                                                                                                                                      Türkei
                                                          Frankreich

                                                                                                                       Vereinigtes

                                                                                                                                                               Mexiko
                                                                                                               Korea

                                                                                                                                                                                     Indien
                                                                                                                       Königreich

                                                                                                                                                                                                 China
                                             Gini (Verfügbares Einkommen)                                                     Gini (Markteinkommen)

     Quelle: OECD

einkommensschwächsten 40 % der Bevölkerung zu                                                                      Durchschnitt jährlich 0,18 % Einkommenseinbu-
verzeichnen. Insbesondere in Ostasien waren gute                                                                   ßen hinnehmen müssen.
Bildungserfolge und ein exportorientiertes Wachs-
tum des Verarbeitenden Gewerbes Wachstumsmo-
toren, vor allem auch für die Einkommen der ärms-                                                                          Ursachen steigender
ten 40 % der Bevölkerung. Häufig übertreffen dabei                                                                         Einkommensungleichheit
die Wachstumsraten der Einkommen der ärms-
ten 40 % der Bevölkerung die Wachstumsraten des                                                                    Einen Erklärungsansatz für die in den vergange-
Einkommens der Gesamtbevölkerung.                                                                                  nen beiden Jahrzehnten gestiegene Einkommens-
                                                                                                                   ungleichheit in einigen Industrieländern stellt die
In den meisten Industrieländern hingegen ist zwi-                                                                  sinkende Lohnquote dar, also die Verlagerung von
schen 2010 und 2015 nur ein geringes Wachstum,                                                                     Faktoreinkommen weg von Arbeit hin zu Kapital,
Stagnation oder sogar ein Rückgang bei den un-                                                                     die u. a. auf Automatisierung, aber auch auf die Ab-
teren Einkommen zu beobachten. Bezeichnend                                                                         wanderung von Produzierendem Gewerbe in Nied-
ist, dass in Ländern, die von einem Wirtschafts-                                                                   riglohnländer zurückzuführen sei.
abschwung betroffen waren, die Einkommen der
ärmsten 40 % der Bevölkerung überdurchschnitt-
lich stark zurückgegangen sind. Dies gilt z. B. für                                                                            Die Lohnquote
Spanien, Griechenland, Zypern, Portugal und Ita-                                                                               ist der Anteil an der Wirtschaftsleistung ei-
lien. Für Deutschland verzeichnet die Weltbank im                                                                              ner Volkwirtschaft, der durch den Faktor Ar-
Zeitraum von 2010 bis 2015 zwar durchschnittlich                                                                               beit erwirtschaftet wird. Kapitaleinkommen
ein leichtes Wachstum der realen Einkommen, die                                                                                wie z B. Zinsen, Dividenden oder Mietein-
ärmsten 40 % der Bevölkerung hätten jedoch im                                                                                  nahmen zählen nicht dazu.

                                                                                                               13
Analysen und Berichte                                                                               Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                        Mai 2019

Häufig wird argumentiert, dass durch die Verlage-                               Dies ist relevant für die Verteilung verfügbarer Ein-
rung von Arbeitsplätzen vom Produzierenden Ge-                                  kommen, da Kapitaleinkommen ungleicher ver-
werbe in den Dienstleistungssektor Produktivi-                                  teilt sind als Arbeitseinkommen. Seit 1970 ist die
täts- und Einkommensverluste entstünden. Der                                    Lohnquote in fast allen Industrieländern deutlich
Internationale Währungsfonds (IWF) zeigt jedoch,                                gesunken. Abbildung 5 zeigt aber auch, dass diese
dass die Verlagerung von Arbeitskräften in den                                  Entwicklung von Land zu Land seit 1970 sehr un-
Dienstleistungssektor nicht notwendigerweise mit                                terschiedlich verlaufen ist. Die OECD hält keine Da-
Produktivitätsverlusten verbunden ist und dass die                              ten für die Lohnquote vor 1970 vor.
Ungleichheit vielmehr innerhalb einzelner Wirt-
schaftssektoren gestiegen ist.                                                  Zieht man Daten des Statistischen Bundesamts he-
                                                                                ran, so zeigt sich für Deutschland, dass die Lohn-
Der Umstand, dass in einer globalisierten Wirt-                                 quote Anfang der 1980er Jahre ihren Höhepunkt
schaft der Faktor Kapital weitaus mobiler ist als der                           erreicht hatte. Wählt man als Basisjahr 1950, so än-
Faktor Arbeit, schlägt sich auch in der Faktorent-                              dert sich für Deutschland der Befund einer sin-
lohnung nieder. Der Anteil von Kapitaleinkom-                                   kenden Lohnquote im Zeitverlauf. Denn die Lohn-
men ist weltweit in den vergangenen Jahrzehnten                                 quote ist heute immer noch höher als 1950, wie
gestiegen, während die Lohnquote gesunken ist.                                  Abbildung 6 zeigt.

                                                                                                                          Abbildung 5
     Lohnquote ab 1970 im internationalen Vergleich
     in %

       84

       79

       74

       69

       64

       59
            1970          1975            1980           1985            1990           1995             2000   2005      2010
                   Kanada                 Frankreich                 Deutschland               Italien          USA

     Quelle: OECD

                                                                            14
Analysen und Berichte                                                                          Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                   Mai 2019

                                                                                                                      Abbildung 6
     Lohnquote in Deutschland
     in %

                                                                                                                                     Analysen und Berichte
     75

     73

     71

     69

     67

     65

     63

     61

     59

     57

     55
          1950        1957          1964          1971          1978          1985      1992     1999     2006      2013

     Quelle: Destatis

Ein weiterer Erklärungsansatz betrachtet die Ver-                              auf Einkommensverschiebungen vom Faktor Arbeit
änderung der Marktstrukturen. Ändert sich die                                  zum Faktor Kapital zurückzuführen sind. Der Rest
Marktstruktur, ändert sich auch die Möglichkeit                                habe seinen Ursprung in der ungleichen Verteilung
der Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmer,                                  innerhalb der jeweiligen Faktoren und dem Auftre-
„ökonomische Renten“ abzuschöpfen.                                             ten und Abschöpfen ökonomischer Renten. Diese
                                                                               sind z. B. beeinflusst durch Wettbewerbsintensität,
                                                                               Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerinnen und
    Ökonomische Renten                                                         Arbeitnehmer oder Netzwerkeffekte. Insbesondere
    In der Wohlfahrtsökonomie werden als                                       die digitale Wirtschaft ist gekennzeichnet durch
    „Renten“ diejenigen Erlöse bezeichnet, die                                 eine „winner-takes-most“-Dynamik. Starke Wettbe-
    über Erlöse hinausgehen, die in einem wett-                                werbsvorteile entstehen für rasant wachsende digi-
    bewerbsintensiven Marktprozess erzielt                                     tale Unternehmen z. B. durch Zugang zu größeren
    werden könnten. Beispiele für Renten sind                                  Datenmengen oder durch Reputations- und Netz-
    beispielsweise Monopolrenten, die ein mo-                                  werkeffekte. Entsprechend hoch sind die Monopol-
    nopolistisches Unternehmen allein aufgrund                                 renten und Gewinne der Marktführer. Zwar werden
    seiner Marktstellung erwirtschaftet.                                       in diesen Unternehmen – auch aufgrund der in die-
                                                                               sem Sektor sehr hohen „Qualifizierungsprämien“ –
                                                                               ausgesprochen hohe Gehälter gezahlt. Allerdings
Diese Renten können in die Einkommen sowohl von                                kommen die hohen Gewinne auch in diesen „Super-
Kapitaleignerinnen und Kapitaleignern als auch von                             star-Unternehmen“ vorwiegend dem Faktor Kapi-
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fließen.                                   tal zugute. Die Marktmacht einzelner Unternehmen
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass seit 1970 in                            und entsprechende makroökonomische Effekte
den USA lediglich 20 % der gestiegenen Ungleichheit                            sind insbesondere in den USA zu beobachten. In

                                                                            15
Analysen und Berichte                                                                          Monatsbericht des BMF
           Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                   Mai 2019

seinem Länderbericht über die USA für 2018 stellt                             empirischer Analysen unterstreicht die Rolle von
der IWF fest, dass die steigende Marktmacht ein-                              Arbeitnehmervertretungen in diesem Zusammen-
zelner Unternehmen wichtige makroökonomische                                  hang. So deuten Analysen von IWF-Ökonominnen
Effekte haben kann, wie z. B. eine abnehmende In-                             und -Ökonomen darauf hin, dass von einem Rück-
vestitionstätigkeit und weniger Ausgaben für For-                             gang der Gewerkschaftsdichte im Durchschnitt
schung und Entwicklung sowie eine weiter zurück-                              vor allem die oberen 10 % der Einkommensbezie-
gehende Lohnquote.                                                            herinnen und Einkommensbezieher profitieren.
                                                                              Ganz ähnlich argumentiert die Weltbank, dass so-
Ein Beitrag zur Erklärung steigender Ungleich-                                ziale Ungleichheit in einer Gesellschaft sinkt, wenn
heit in Industrieländern kann auch der zurückge-                              die Gewerkschaftsdichte sowie deren Mitglieder-
hende Organisationsgrad der Arbeitnehmerinnen                                 zahlen zunehmen, und steigt, wenn diese zurück-
und Arbeitnehmer in Gewerkschaften liefern. Ge-                               gehen. In vielen Industrieländern ist ein Rückgang
werkschaften stärken die Verhandlungsmacht der                                der in Gewerkschaften organisierten Arbeitneh-
Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen                                merinnen und Arbeitnehmer zu beobachten. Auch
und erhöhen in oben beschriebenem Zusammen-                                   geht in vielen Ländern die Tarifbindung zurück,
hang deren Möglichkeit, auftretende Renten ab-                                beispielhaft zeigt dies Abbildung 7 für Deutsch-
zuschöpfen, die ansonsten von einkommensstär-                                 land, die USA, das Vereinigte Königreich und den
keren Gruppen vereinnahmt würden. Eine Reihe                                  OECD-Durchschnitt.

                                                                                                                      Abbildung 7
     Tarifbindung
     % der Arbeitnehmer mit dem Recht auf Kollektivverhandlungen

      90

      80

      70

      60

      50

      40

      30

      20

      10

       0
           1985               1990                  1995                 2000            2005           2010              2015

                      Deutschland                     Vereinigtes Königreich               USA             OECD - Total

     Quelle: OECD

                                                                           16
Analysen und Berichte                                                                            Monatsbericht des BMF
          Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                     Mai 2019

   Vermögensungleichheit                                                     hierzulande für die Nettovermögen bei 0,74. Die-
                                                                             ser Wert entspricht auch dem Gini-Koeffizienten,
Vermögen sind hinsichtlich der Datenlage sehr viel                           der anhand der Einkommens- und Verbrauchs-

                                                                                                                                       Analysen und Berichte
schwieriger zu erfassen als Einkommen. Sowohl für                            stichprobe des Statistischen Bundesamts für das
hohe als auch geringe Vermögen liegen auf globaler                           Jahr 2013 berechnet wurde. Wie ungleich die Ver-
Ebene kaum verlässliche Daten vor.                                           teilung ist, lasse sich auch am Anteil des Vermö-
                                                                             gens ablesen, das den oberen 10 % der Nettovermö-
Der Global Wealth Report der Credit Suisse ist eine                          gensverteilung gehört. Dies sind laut Bundesbank
der umfassendsten Datenquellen zur globalen Ver-                             in Deutschland etwa 55 % des gesamten Nettover-
mögensverteilung. Allerdings sind auch dessen                                mögens. Diese Zahl dürfte jedoch den tatsächlichen
Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren. Hohe Ver-                             Anteil unterschätzen, da in solchen Befragungen
mögen sind typischerweise sehr viel konjunktur-                              typischerweise sehr große Vermögen nicht erfasst
abhängiger als geringe Vermögen; in der Rezession                            werden. Auch OECD-Zahlen zeigen eine ähnliche
geht die Ungleichheit regelmäßig zurück, im Auf-                             Größenordnung und legen zudem nahe, dass das
schwung steigt sie an. Neben Aktien- und Kapital-                            Vermögen in Deutschland stärker konzentriert ist
markt- können auch Wechselkursbewegungen die                                 als in vielen anderen Ländern. Nach den OECD-Da-
Ergebnisse stark verzerren. Der jüngste Bericht der                          ten für 2017 halten 10 % der Deutschen circa 60 %
Credit Suisse beschreibt eine seit der globalen Fi-                          des gesamten Nettohaushaltsvermögens. Der
nanzkrise stark ansteigende Anzahl an Millionä-                              Durchschnitt in den OECD-Staaten beträgt 52 %.
rinnen und Millionären und sogenannten Ultrarei-                             Ansprüche an staatliche Rentenversicherungssys-
chen mit einem Vermögen von mehr als 50 Mio. $,                              teme bleiben allerdings im Ländervergleich in allen
insbesondere in den USA und Europa, sowie ein                                diesen zitierten Daten unberücksichtigt, wodurch
stetig steigendes Medianvermögen in den meisten                              die Vermögen in Deutschland unterschätzt werden.
Regionen (Ausnahme: Afrika). Gemessen am An-
teil des reichsten 1 % der Bevölkerung am Gesamt-
vermögen ist die Vermögensungleichheit seit der                                   Chancengleichheit
globalen Finanzkrise angestiegen, nachdem sie in
den Jahren vor der Finanzkrise gefallen war: Laut                            Nicht jede Ungleichheit wird per se als „unge-
der Credit Suisse ist dieser Anteil in der Zeit zwi-                         recht“ empfunden; ohne Ungleichheit ist eine auf
schen 2000 und 2008 von 47 % auf 42 % zurückge-                              Wettbewerb basierende Ökonomie auch gar nicht
gangen. Nach 2008 ist der Wert wieder gestiegen                              denkbar. So sollten sich z. B. Anstrengung bei der
und übertrifft seit 2016 den für 2000 geschätzten                            Ausbildung, harte Arbeit und Risikobereitschaft fi-
Wert leicht.                                                                 nanziell lohnen, ansonsten stimmen die Anreize in
                                                                             einer Volkswirtschaft nicht. Allerdings ist für das Ge-
In Deutschland ist die Verteilung der Vermögen                               rechtigkeitsempfinden wichtig, dass alle Menschen
deutlich konzentrierter als die der verfügbaren Ein-                         dieselben Grundvoraussetzungen und Startbedin-
kommen. Dies bestätigt auch die Deutsche Bundes-                             gungen haben. Entsprechend ist die normative Ver-
bank in ihrem Monatsbericht vom April 2019. Da-                              teilungsdiskussion stark geprägt von der Diskussion
rin stellt sie die Ergebnisse ihrer Panel-Befragung                          um Chancengleichheit. Werden Einkommens- oder
vor, die alle drei Jahre durchgeführt wird und eine                          Vermögensunterschiede durch persönliche Leistung
Stichprobe von 5.000 Haushalten umfasst. Die Bun-                            bestimmt, so sind sie mit dem Gerechtigkeitsemp-
desbank kommt zu dem Ergebnis, dass eine ver-                                finden einer Gesellschaft sehr viel eher zu vereinba-
gleichsweise hohe Ungleichverteilung der Ver-                                ren, als wenn sie durch externe Umstände bestimmt
mögen in Deutschland vorliegt. Hinsichtlich der                              werden, auf die das Individuum selbst keinen Ein-
Entwicklung der Vermögensungleichheit ließe sich                             fluss hat. Solche externen Umstände sind z. B. die
in den vergangenen Jahren jedoch kein eindeu-                                sozioökonomische Stellung des Elternhauses, das
tiger Trend feststellen. Der Gini-Koeffizient liege                          Geschlecht oder die Herkunft. Mit Analysen zur

                                                                          17
Analysen und Berichte                                                                          Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                   Mai 2019

sozialen Mobilität, zur Durchlässigkeit des Bildungs-                          schwächsten Bevölkerungsteile seien in Entwick-
systems oder zur unterschiedlichen Entlohnung von                              lungsländern sogar zurückgegangen.
Frauen und Männern (Gender Pay Gap) wird daher
versucht, sich dem Konzept der Chancengleichheit                               Hinsichtlich der Bildungsmobilität zeichnet die
empirisch zu nähern.                                                           OECD für Deutschland im internationalen Ver-
                                                                               gleich immer noch ein relativ ungünstiges Bild. Die
In einer umfassenden Studie zur sozialen Mobili-                               OECD-Daten weisen darauf hin, dass akademische
tät zeichnet die Weltbank hinsichtlich der Situa-                              Abschlüsse hierzulande mehr als anderswo abhän-
tion auf globaler Ebene ein unbefriedigendes Bild.                             gig vom Bildungsstand der Eltern sind, wie Abbil-
Demnach habe sich die Durchlässigkeit von Ge-                                  dung 8 illustriert. Demnach weisen fast 60 % der
sellschaften in den vergangenen 30 Jahren nicht                                Bevölkerung intergenerationelle Stagnation in der
verbessert und die Aufstiegschancen für die sozial                             Bildung auf und nur etwas mehr als 20 % schaffen
                                                                               einen Bildungsaufstieg gegenüber ihren Eltern.

     Personen, die Bildungsstagnation erfahren                                                                             Abbildung 8

     in %

                                                                                                              Deutschland

                                                                                                              USA

                                                                                                              Frankreich

                                                                                                              Korea

      70             60             50           40             30            20           10             0
                      Status quo: Unterhalb der Sekundarstufe 2
                      Status quo: Sekundarstufe 2 oder darüber, aber keine Hochschulbildung
                      Status quo: Hochschulbildung

     Personen, die Bildungsmobilität erfahren
     in %

              Deutschland

                       USA

                Frankreich

                     Korea

                              0               10              20              30          40        50           60            70

                           Aufwärtsgerichtete Mobilität               Abwärtsgerichtete Mobilität

     Quelle: OECD, 2013

                                                                            18
Analysen und Berichte                                                                          Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                   Mai 2019

                                                                                                                      Abbildung 9
     Prozentsatz der durch den sozioökonomischen Status der Schülerinnen und Schüler
     erklärten Varianz bei den Leistungen in Naturwissenschaften, 2015

                                                                                                                                     Analysen und Berichte
     in %

                     Kanada

                       Italien

                       Japan

     Vereinigtes Königreich

                         USA

                Deutschland

                  Frankreich

                                 0                     5                     10              15             20              25

     Quellen: OECD, PISA-Studie 2015

Die PISA-Studie 2015 untersuchte, wie stark der                                Ausgangsvoraussetzungen der einzelnen Schüle-
sozioökonomische Hintergrund der Schülerinnen                                  rinnen und Schüler relativ ungleich verteilt sind.
und Schüler deren schulische Leistungen in Natur-
wissenschaften bestimmt. Das in Abbildung 9 dar-                               Chancenungleichheit und Ungleichbehandlung
gestellte Ergebnis zeigt, dass unter den G7-Staa-                              kann sich auch in einer unterschiedlichen Ent-
ten die schulischen Leistungen von 15-jährigen                                 lohnung von Männern und Frauen manifestieren.
Schülerinnen und Schülern in Frankreich und in                                 Diese liegt vor, wenn bei gleicher Leistung Frauen
Deutschland am stärksten von deren sozioökono-                                 weniger verdienen als Männer. In den G7-Staaten
mischem Hintergrund beeinflusst werden.                                        sind signifikante Unterschiede zwischen den Ein-
                                                                               kommen der beiden Geschlechter erkennbar. Aller-
Auch diese Zahlen suggerieren, dass in Deutsch-                                dings geht diese „Gender Pay Gap“ in allen G7-Staa-
land nicht alle Potenziale im Bildungssystem ge-                               ten zurück, wie Abbildung 10 zeigt.
hoben werden, die möglich wären, und dass die

                                                                            19
Analysen und Berichte                                                                               Monatsbericht des BMF
            Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                        Mai 2019

                                                                                                                                Abbildung 10
     Geschlechtsspezifisches Lohngefälle
     in %

      35

      30

      25

      20

      15

      10

       5

       0
            2000           2002           2004           2006           2008            2010      2012        2014            2016

             Kanada            Frankreich           Deutschland            Italien        Japan      Vereinigtes Königreich          USA

     Quelle: OECD

In Abbildung 10 ist die unbereinigte „Gender Wage                              Entlohnung zeigen, dass die Bemühungen zur
Gap“ angegeben. D. h., diese Zahl ist nicht bereinigt                          Gleichstellung von Frauen und Männern weiterhin
um die strukturellen Unterschiede in den Beschäf-                              konsequent fortgeführt werden müssen.
tigungsverhältnissen von Männern und Frauen.
Das statistische Bundesamt hingegen errechnet
alle drei Jahre eine „bereinigte Gender Pay Gap“ für                                 Fazit
Deutschland unter Berücksichtigung der Auswir-
kungen der Berufswahl, des Bildungsstands sowie                                Nach einem gewissen Anstieg nach der deutschen
der Berufserfahrung und berücksichtigt z. B. auch                              Einheit ist die Ungleichheit der verfügbaren Ein-
den geringeren Anteil von Frauen in Führungsposi-                              kommen in Deutschland seit 2005 stabil. Auch
tionen. Auch nach dem Herausrechnen dieser Fak-                                was die Höhe dieser Ungleichheit anbelangt, steht
toren bleiben für das Jahr 2014 immer noch Lohn-                               Deutschland dank der umfassenden Umvertei-
unterschiede in Höhe von 6 % bestehen, die nicht                               lung innerhalb des Steuer- und Transfersystems
erklärbar sind. Zwar wird das Thema geschlechter-                              im internationalen Vergleich gut da. Bei der Ver-
spezifische Lohndiskriminierung in vielen Staaten                              mögensungleichheit sieht das Bild etwas anders
durch Maßnahmen, wie z. B. Diskriminierungs-                                   aus. Im internationalen Vergleich ist für Deutsch-
verbote oder Transparenzinitiativen angegangen.                                land eine stärkere Vermögenskonzentration als in
Es wird jedoch ganz entscheidend sein, in diesen                               den meisten anderen Industrieländern zu konsta-
Bemühungen nun nicht nachzulassen. Im Ge-                                      tieren. Auch bei der Chancengleichheit schneidet
genteil, die weiterhin hohen Unterschiede in der                               Deutschland im internationalen Vergleich nicht

                                                                            20
Analysen und Berichte                                                                          Monatsbericht des BMF
          Soziale Ungleichheit und inklusives Wachstum im internationalen Vergleich                                   Mai 2019

gut ab. Die Daten der OECD zur Chancengleichheit                             international abgestimmten Ansatzes zur ange-
zeigen, wie wichtig gut funktionierende Bildungs-                            messenen Besteuerung globaler Unternehmen,
systeme sind – von der frühkindlichen Bildung                                wofür sich Deutschland international mit Nach-

                                                                                                                                   Analysen und Berichte
über die Schul- und Hochschulausbildung bis hin                              druck einsetzt.
zu Weiterbildungsmöglichkeiten für (ältere) Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer.                                                Eine immer weitergehende Flexibilisierung des Ar-
                                                                             beitsmarkts und eine Schwächung der Arbeitneh-
Die Forschungsergebnisse zum Einfluss der Wett-                              mervertretung können die Einkommensungleich-
bewerbsintensität und der Abschöpfung ökono-                                 heit verschärfen. Daher sollte versucht werden, die
mischer Renten lassen den Schluss zu, dass nicht                             Einhaltung von Arbeitsstandards zu verbessern, die
protektionistische Maßnahmen, sondern mehr                                   Arbeitnehmervertretungen zu stärken und für si-
funktionierender Wettbewerb die Ungleichheit                                 cherere Beschäftigungsverhältnisse insbesondere
verringern hilft. Dynamisch betrachtet können                                in unteren Lohnsegmenten zu sorgen.
Monopolrenten zwar in einer Ökonomie durch-
aus Sinn machen, etwa um Innovations- und For-                               Angesichts der steigenden Ungleichheit der ver-
schungsanreize zu schaffen. Allerdings sprechen                              fügbaren Einkommen in den meisten G7-Staaten,
die über Jahre hinweg sehr hohen Erträge mancher                             insbesondere in den USA, ist es zu begrüßen, dass
(häufig digitaler) Unternehmen für die Notwendig-                            Frankreich dem Thema im Rahmen seiner G7-Prä-
keit einer effektiveren Sicherung eines fairen Wett-                         sidentschaft eine hohe Bedeutung beimisst. Insbe-
bewerbs, eines angemessenen Marktzugangs und                                 sondere ist der Ansatz der französischen Präsident-
der Innovationskraft der Industrie. Hinzu kommt,                             schaft zu begrüßen, für eine verbesserte Einhaltung
dass viele dieser großen global tätigen Unterneh-                            internationaler Arbeitsstandards in Form der Kern­
men nur unzureichend besteuert werden. Dies un-                              arbeitsnormen der International Labour Organiza-
terstreicht die Notwendigkeit eines umfassenden,                             tion zu sorgen.

                                                                          21
Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
                                                                                                 Mai 2019

Bedeutung des Brexits für die europäische
Integration

    ●● Die vom 23. bis 26. Mai 2019 stattfindenden Europawahlen sind geprägt von der seit mehr als drei
       Jahren im Wege eines Referendums getroffenen Entscheidung über einen Austritt des Vereinigten
       Königreichs aus der Europäischen Union (EU).

    ●● Das BMF hat angesichts der Wichtigkeit der Wirtschafts- und Finanzstabilität umfassende Vorbe-
       reitungen im Finanzbereich für den Fall eines Austritts ohne Abkommen getroffen.

    ●● Der Umfang dieser Vorbereitungen und die Komplexität der Austrittsfragen haben die engen Ver-
       flechtungen innerhalb der EU in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht aufgezeigt.

   Brexit und die Europawahl                            gestärkt wurde. Die vom 23. bis 26. Mai 2019 in den
                                                        Mitgliedstaaten stattfindenden neunten Europa-
Die Europäische Union gilt gemeinhin als das be-        wahlen, sind nun – 40 Jahre später – geprägt von der
deutenste Friedensprojekt nach dem Zweiten Welt-        seit mehr als drei Jahren im Wege eines Referend-
krieg. Es hat die europäischen Nationalstaaten und      ums getroffenen Entscheidung über einen Austritt
vor allem ihre Bürgerinnen und Bürger zusammen-         des Vereinigten Königreichs aus der EU, dem Brexit.
gebracht. Dieses Projekt, das von überzeugten Euro-
päerinnen und Europäern immer weiterentwickelt          Die innerbritischen Entscheidungsprozesse zum
wurde und wird, unternahm in den 1970er Jahren          Austritt beziehungsweise zur Ratifizierung des
zwei wesentliche Schritte: Zum einen trat 1972 das      von der britischen Regierung mit der EU ausge-
Vereinigte Königreich der Gemeinschaft bei und          handelten Austrittsabkommens prägen die Euro-
brachte damit neue Perspektiven in die Gemein-          pawahlen bereits deshalb, weil auch die Bürgerin-
schaft. Zum anderen fanden 1979 die ersten Di-          nen und Bürger in den anderen 27 Mitgliedstaaten
rektwahlen zum Europäischen Parlament statt,            ihre Wahlentscheidung vor dem Hintergrund des
wodurch der demokratische Charakter der Union           Brexits treffen werden.

                                                      22
Analysen und Berichte                                                                       Monatsbericht des BMF
             Bedeutung des Brexits für die europäische Integration                                                    Mai 2019

 Zeitablauf zu den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) und der Ernennung                                             Tabelle 1
 der neuen EU-Kommission
           18. April 2019 Letzte Plenartagung des scheidenden EP

                                                                                                                                     Analysen und Berichte
            15. Mai 2019 Debatte der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten im Plenarsaal des EP in Brüssel
     23. bis 26. Mai 2019 EP-Wahlen in allen Mitgliedstaaten, in Deutschland am 26. Mai 2019
              1. Juli 2019 Ende der 8. Wahlperiode des scheidenden EP
              2. Juli 2019 Konstituierende Plenarsitzung des neugewählten EP
               Juli¹ 2019 Erste Möglichkeit, die Präsidentin/den Präsidenten der EU-Kommission zu wählen (Abbildung der Mehrheits-
                          verhältnisse im EP)
             Oktober/ Ernennung der Kommissarinnen und Kommissare durch die Präsidentin/den Präsidenten der EU-Kommission
       November¹ 2019 und Bestätigung durch das EP
 1   Noch nicht genauer terminiert.

Aber auch „technisch“ wird sich ein Brexit auf die                        Königreichs gewählten) Parlaments würde das Ver-
politischen Ergebnisse der Europawahl auswirken.                          einigte Königreich zunächst 73 Abgeordnete in das
Vom Zeitpunkt eines Austritts des Vereinigten Kö-                         Europaparlament entsenden. Mit einem späteren
nigreichs hängt nicht nur die künftige Zusammen-                          Austritt des Vereinigten Königreichs würden diese
setzung des Europäischen Parlaments ab, sondern                           britischen Abgeordneten dann ausscheiden und
auch die Besetzung zentraler Ämter, insbesondere                          27 Abgeordnete der unterrepräsentierten Mitglied-
der Europäischen Kommission, da das Europäi-                              staaten nachrücken.
sche Parlament die neue EU-Kommission mit der
Mehrheit seiner Mitglieder bestätigt. Die britische
Regierung hat inzwischen bestätigt, dass die Britin-                         Vorbereitungen auf den Brexit
nen und Briten an den Europawahlen teilnehmen                                und europapolitischer Ausblick
werden. Die Regierung kündigte aber an, weiterhin
zu versuchen, das Austrittsabkommen noch vor                              Sowohl die Europäische Kommission als auch die
der Konstituierung des neuen Europäischen Parla-                          Bundesregierung sind der festen Überzeugung, dass
ments am 2. Juli 2019 zu ratifizieren, um eine Ent-                       ein geordneter Austritt des Vereinigten Königreichs
sendung der britischen Abgeordneten zu verhin-                            auf der Grundlage des mit der Regierung des Verei-
dern. Bei einem Austritt des Vereinten Königreichs                        nigten Königreichs verhandelten und vom Europä-
nach Durchführung der Europawahlen, aber noch                             ischen Rat am 25. November 2018 angenommenen
vor der Konstituierung des Europaparlaments am                            Austrittsabkommens eine ausgewogene Lösung
2. Juli 2019 würden keine britischen Abgeordne-                           für die komplexe Entflechtung von EU und Verei-
ten mehr in das Parlament entsandt. In diesem Fall                        nigtem Königreich darstellen würde. Die Anstren-
würden dem neuen Europaparlament dann nur                                 gungen der Bundesregierung sind daher weiter
noch 705 statt 751 Abgeordnete angehören. Von                             auf das Erreichen dieser Lösung gerichtet. Mit der
den 73 britischen Sitzen verblieben 46 Sitze als Re-                      Entscheidung des Europäischen Rates vom 10. Ap-
serve für mögliche EU-Erweiterungen und 27 Sitze                          ril 2019, die Austrittsfrist bis zum 31. Oktober 2019
würden auf 14 Mitgliedstaaten verteilt, die bisher                        zu verlängern, wurde zudem erneut eine auch zeit-
leicht unterrepräsentiert waren. Bei einem Aus-                           lich flexible Lösung zur Entscheidungsfindung im
tritt des Vereinigten Königreichs nach der Kons-                          Vereinigten Königreich gefunden.
tituierung des (unter Teilnahme des Vereinigten

                                                                     23
Analysen und Berichte                                                                           Monatsbericht des BMF
            Bedeutung des Brexits für die europäische Integration                                                        Mai 2019

  Bisheriger Verlauf des Brexits                                                                                            Tabelle 2

    23. Juni 2016 Referendum im Vereinigten Königreich: knapp 52 % der Wählerinnen und Wähler stimmen für den sogenannten Brexit
   29. März 2017 Austrittsantrag des Vereinigten Königreichs nach Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union
                 Beginn zweijähriger Frist bis zum Brexit
    19. Juni 2017 Offizieller Beginn der Austrittsverhandlungen
 November 2018 Einigung Verhandlungsführer der EU-Kommission und des Vereinigten Königreichs auf Wortlaut des Austrittsabkom-
               mens
               Billigung des Austrittsabkommens und der Politischen Erklärung durch die EU-Kommission und den Europäischen Rat
   20. März 2019 Vereinigtes Königreich beantragt Verlängerung des Austrittsdatums bis zum 30. Juni 2019 zur Ratifizierung des Aus-
                 trittsabkommens, weil keine Mehrheit im britischen Unterhaus für Austrittsabkommen zustande kommt
   22. März 2019 Europäischer Rat gewährt Austrittsverlängerung bis zum 12. April 2019 (beziehungsweise bis zum 22. Mai 2019, falls
                 das Austrittsabkommen vor dem 29. März 2019 vom Vereinigten Königreich ratifiziert worden wäre)
   29. März 2019 Keine Einigung im britischen Unterhaus über eine Ratifizierung des Austrittabkommens
    5. April 2019 Vereinigtes Königreich bittet um Verlängerung der Austrittsfrist bis zum 30. Juni 2019
   10. April 2019 Sonder-Europäischer Rat entscheidet: Flexible Verlängerung bis 31. Oktober 2019 mit Pflicht des Vereinigten Königreichs
                  zur Teilnahme an Europawahlen, wenn kein Austritt des Vereinigten Königreichs vor dem 22. Mai 2019 erfolgt

Da angesichts der Unsicherheiten mit Blick auf die                       auch der Mitgliedstaaten und der Bürgerinnen und
Ratifizierung des Austrittsabkommens durch das                           Bürger von enormer Bedeutung sind.
britische Parlament ein Ausscheiden ohne Abkom-
men weiterhin nicht ausgeschlossen werden kann,
haben die Europäische Kommission, alle EU-Or-                                Steuern
gane und die Mitgliedstaaten zahlreiche Maßnah-
men zur Vorbereitung aller möglichen Szenarien                           Das am 29. März 2019 in Kraft getretene Brexit-Steu-
für den Austritt des Vereinigten Königreichs ge-                         erbegleitgesetz sieht in verschiedenen Bereichen des
troffen und eng mit jeweils betroffenen privaten                         deutschen Steuerrechts Übergangs- beziehungs-
Interessenträgern zusammengearbeitet, um mög-                            weise Vertrauensschutzregelungen vor, um ins-
liche negative Auswirkungen eines No-Deal-Sze-                           besondere in bereits weitgehend abgeschlossenen
narios abzumildern. Aufgrund dieser kollektiven                          Sachverhalten, deren rechtliche Wirkungen aber
Anstrengungen ist die EU der 27 heute auch auf ei-                       über den Zeitpunkt des Brexits hinaus andauern,
nen ungeordneten Austritt vorbereitet. Maßnah-                           nachteilige Folgen allein aufgrund des Brexits zu ver-
men und Vorgaben der Europäischen Kommission                             meiden. Dies betrifft Sachverhalte aus dem Bereich
dienen in erster Linie dem Schutz der EU-Bürge-                          der Unternehmensbesteuerung, der „Riester“-För-
rinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich so-                         derung, des Außensteuergesetzes, der Grunderwerb-
wie der Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten                           steuer sowie der Erbschaft- und Schenkungsteuer.
Königreichs in der EU. Auf nationaler Ebene ha-
ben in Deutschland alle Bundesressorts gesetzliche
und untergesetzliche Maßnahmen für den Fall ei-                              Vorbereitung des Finanzmarkts
nes No-Deal-Szenarios ausgearbeitet. Die Vorbe-
reitungen im Zuständigkeitsbereich des BMF bil-                          Auf europäischer Ebene hat die Europäische Kom-
den dabei einen wesentlichen Eckpfeiler, da sie für                      mission dem wichtigsten Risiko für die Finanz-
die wirtschaftliche Lage der Union als Ganzes, aber                      marktstabilität aus einem Austritt ohne Abkom-
                                                                         men durch ihre für diesen Fall übergangsweise (auf

                                                                      24
Analysen und Berichte                                                                      Monatsbericht des BMF
          Bedeutung des Brexits für die europäische Integration                                                   Mai 2019

zwölf Monate befristete) getroffene positive Äqui-                  Sterbekassen und kleinen Versicherungsunterneh-
valenz-Entscheidung zu britischen zentralen Kon-                    men genommen werden.1
trahenten (Central Counterparties beziehungs-

                                                                                                                             Analysen und Berichte
weise CCPs) Rechnung getragen. CCPs treten im
Wertpapier- und Derivatehandel auf als Mittler                          Stärkung des Finanzstandorts
zwischen Gegenparteien. Das Clearing über CCPs                          Deutschland
dient der Ausschaltung des Gegenparteiausfallri-
sikos. In diesem Bereich wäre der ungeregelte Bre-                  Wenngleich die Entscheidung des Vereinigten Kö-
xit besonders folgenreich, da britische CCPs derzeit                nigreichs, die EU zu verlassen, von der Bundesre-
stark von EU-Marktteilnehmern genutzt werden.                       gierung nach wie vor bedauert wird, führt diese
                                                                    gleichzeitig bereits jetzt zu einer Neuorientierung
Zudem hat die Europäische Wertpapier- und                           in der Standortpolitik vieler Finanzdienstleister
Marktaufsichtsbehörde (ESMA) sich für die euro-                     und zur Verlagerung entsprechender Geschäfts-
päischen Finanzaufsichtsbehörden mit der briti-                     aktivitäten in die EU-27. Da aus Sicht der Bundes-
schen Financial Conduct Authority (FCA) auf ein                     regierung Deutschland als zentraler europäischer
Muster-Memorandum-of-Understanding (MoU)                            Finanzstandort hervorragende Bedingungen als
zur Zusammenarbeit der Finanzaufsichtsbehör-                        künftiger Standort nicht nur für diese zur Verla-
den im Wertpapierbereich geeinigt. Die Bundesan-                    gerung anstehenden Aktivitäten, sondern auch für
stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat                 die Schaffung zahlreicher weiterer hochqualifizier-
dieses MoU mit der FCA unterzeichnet. Ein MoU                       ter Arbeitsplätze im deutschen Finanzsektor bietet,
ist eine Voraussetzung für den grenzüberschreiten-                  setzt sie sich dafür ein, auch weitere internationale
den Austausch von Finanzdienstleistungen, z. B. im                  Unternehmen der Realwirtschaft und internatio-
Investmentfondsbereich.                                             nale Finanzdienstleister in Deutschland anzusie-
                                                                    deln. Dementsprechend hat sie Deutschland glo-
Auf nationaler Ebene hat das Brexit-Steuerbegleit-                  bal als attraktiven Wirtschafts- und Finanzstandort
gesetz u. a. für bestimmte langfristige grenzüber-                  positioniert und arbeitet kontinuierlich an einer
schreitende Finanzdienstleistungsverträge zeitlich                  weiteren Erhöhung der Attraktivität des Standorts.
befristete Notfallbefugnisse für die BaFin geschaf-                 Im Rahmen des Brexit-Steuerbegleitgesetzes wurde
fen, um Nachteile für die Funktionsfähigkeit und                    der Kündigungsschutz für bestimmte Risikoträge-
die Stabilität der Finanzmärkte sowie für deutsche                  rinen und Risikoträger von bedeutenden Finan-
Versicherungsnehmerinnen und Versicherungs-                         zinstituten an die Regelungen für leitende Ange-
nehmer zu vermeiden. Zudem sieht dieses Gesetz                      stellte angeglichen. Hierdurch werden die Risiken
u. a. Bestandsschutzregelungen für Pfandbriefban-                   für diese Institute weiter verringert und die Attrak-
ken und Bausparkassen vor; ebenso sind bestands-                    tivität des Finanzstandorts Deutschland gesteigert.
schützende Regelungen in der Anlageverordnung
sowie der Pensionsfonds-Aufsichtsverordnung be-                     Das BMF setzt sich gemeinsam mit anderen Akteu-
treffend die Kataloge der in diesen Verordnungen                    ren und der hessischen Landesregierung sowohl
zulässigen Anlageformen vorgesehen. Andernfalls                     aktiv für den Finanzplatz Rhein-Main als auch für
müssten mit dem Ausscheiden des Vereinigten Kö-                     den Finanzstandort Deutschland insgesamt ein.
nigreichs aus dem Europäischen Wirtschaftsraum                      Hierzu werden im jeweils angemessenen Rahmen
sonst ordnungsgemäß erworbene Vermögensge-
genstände gegebenenfalls aus dem Sicherungs-
                                                                    1 Vergleiche hierzu vertiefend den Monatsbericht BMF
vermögen der Pensionskassen, Pensionsfonds,                           April 2019, Das Brexit-Steuerbegleitgesetz.

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