Wie sollte das Steuersystem in Deutschland reformiert werden? - Die Zeit
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DOI: 10.1007/s10273-017-2150-1 Zeitgespräch Wie sollte das Steuersystem in Deutschland reformiert werden? Seit langem hat es keine umfassende Reform im deutschen Steuersystem gegeben. Vor der Bundestagswahl und angesichts deutlicher und wohl auch längerfristiger gesamtstaatlicher Überschüsse werden zunehmend Vorschläge zur Entlastung der Steuerzahler gemacht. Dabei sind viele Aspekte zu berücksichtigen: beispielsweise die Frage, welche Einkommensgruppe entlastet werden sollte und welche tatsächlich durch die Vorschläge entlastet würde. Im Wesentlichen beziehen sich die Reformvorschläge auf die Einkommensteuer. Es müssen aber auch die Sozialabgaben und andere Steuerarten wie die Körperschaft-, Vermögen-, Erbschaft- und Energiesteuern in den Blick genommen werden. Katja Rietzler Steuerreform: das ganze Bild betrachten! Die öffentlichen Haushalte stehen so gut da wie schon lan- Niveau erreicht hat.2 Es ist zwar richtig, dass die Steuer- ge nicht mehr. Für das vergangene Jahr wurde trotz hoher quote in den vergangenen Jahren zugenommen hat, da Mehrausgaben zur Versorgung und Integration von Flücht- die Höhe der Besteuerung eine politische Frage ist, gibt lingen ein gesamtstaatlicher Überschuss von 26,4 Mrd. es jedoch keine objektiv „richtige“ Steuerquote. Zudem Euro ausgewiesen. Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ folgt der Anstieg der Steuerquote auf einen jahrzehntelan- hat seine Prognose vom vergangenen Herbst deutlich gen Abwärtstrend und es ist zu berücksichtigen, dass die nach oben revidiert und geht nun von zusätzlichen Steu- Steuerquote im Konjunkturverlauf erheblich schwankt. ereinnahmen in Höhe von rund 54 Mrd. Euro bis zum Jahr Angesichts der aktuell günstigen Entwicklung, insbeson- 2021 aus.1 Damit werden Rufe nach umfassenden Steuer- dere auf dem Arbeitsmarkt, nimmt vor allem das Aufkom- senkungen lauter, die bereits seit geraumer Zeit zu verneh- men der Lohn- und Einkommensteuer überproportional men sind. Im Mittelpunkt der Debatte steht dabei aktuell zu. Im Abschwung kehrt sich diese Wirkung um. Genau die Besteuerung der Einkommen, auf die sich daher auch das ist gemeint, wenn davon die Rede ist, die automati- dieser Beitrag konzentriert. Aktuelle Vorschläge zielen ins- schen Stabilisatoren wirken zu lassen. Noch 2010 war die besondere darauf, den sogenannten „Mittelstandsbauch“ Steuerquote infolge der Finanzkrise um 2 Prozentpunkte abzuflachen und den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. In niedriger. der Debatte darüber, ob Einkommensteuersenkungen jetzt die richtige wirtschaftspolitische Maßnahme sind, sollten Aufgrund der Finanzbeziehungen zwischen dem Bund zuerst die richtigen Fragen gestellt werden. Sind Steuer- und den Sozialversicherungen ist es zudem sinnvoller, die senkungen tatsächlich notwendig? Wenn ja, dann warum, Abgabenquote insgesamt zu betrachten. In der jüngeren für wen und in welchem Umfang? Wichtig ist auch die Fra- Vergangenheit wurden (insbesondere indirekte) Steuern ge nach den Opportunitätskosten der Steuersenkungen. verstärkt genutzt, um den Bundeszuschuss zu erhöhen und Beiträge zu senken.3 Dabei werden immer noch nicht Sind die Steuern zu hoch? alle gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die die Sozial- versicherungen erfüllen, wie es geboten wäre, aus Steu- Die Forderung nach Steuersenkungen wird regelmäßig damit begründet, dass die Steuerquote ein recht hohes 1 Bundesministerium der Finanzen: Anlage 2 zu Pressemitteilung 14 2 Z.B. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, August 2016, S. 61. vom 11.5.2017, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ 3 K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2014- Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/05/2017-05-11-pm-anlage2. 2018. Mehreinnahmen verantwortungsvoll nutzen – mit Rückschlägen pdf?__blob=publicationFile&v=3 (23.5.2017). rechnen, IMK Report, Nr. 93, April 2014. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 383
Zeitgespräch ermitteln finanziert.4 Betrachtet man die Einkommensteu- und wird erst ab dem sechsten Dezil progressiv. Das erbelastung für bestimmte Familienkonstellationen und Leistungsfähigkeitsprinzip ist somit nicht durchgehend Realeinkommen über die Zeit, so lässt sich feststellen, verwirklicht. dass die steuerliche Belastung aufgrund wiederholter deutlicher Steuersenkungen in den meisten Fällen unter Die Steuerpolitik hat dabei seit Ende der 1990er Jahre teil- der der frühen 1990er Jahre liegt.5 Weitere Anpassungen weise zu problematischen Verteilungswirkungen geführt. des Tarifs und der Freibeträge in den vergangenen Jahren Einerseits wurde die Einkommensteuer in sukzessiven sorgen dafür, dass dies bis 2018 so bleibt. Reformen deutlich gesenkt, wobei insbesondere die Sen- kung des Spitzensteuersatzes von 53% auf 42% (bzw. Auch im europäischen Vergleich ist die Belastung durch 45% einschließlich Reichensteuer) zu einer erheblichen Steuern und Sozialabgaben hierzulande keineswegs Entlastung bei Beziehern hoher Einkünfte führte, während hoch, wenn man die Daten der EU-Kommission her- die Entlastung bei der unteren Hälfte der Einkommens- anzieht.6 Sie war 2016 so hoch wie im Durchschnitt der verteilung aufgrund der ohnehin niedrigen Besteuerung Europäischen Union. Dabei beträgt die Spannweite zwi- entsprechend gering ausfiel. Andererseits trafen die schen dem höchsten und dem niedrigsten Wert über 20% gleichzeitigen Anhebungen indirekter Steuern die unteren des BIP. Darin zeigt sich schon, dass es hier einen erheb- Einkommensgruppen aufgrund ihrer hohen Konsumnei- lichen Gestaltungsspielraum gibt. gung besonders stark. Das führte zu einer Verschiebung der Steuerbelastung zulasten unterer Einkommensgrup- Ist die Steuerlast gerecht verteilt? pen. So war die Steuerlast für das ärmste Zehntel im Jahr 2015 relativ zum Bruttoeinkommen um 5,4 Prozentpunkte Die aktuelle Debatte dreht sich primär um die Höhe der höher als noch 1998, bei den ärmsten 5% waren es sogar Besteuerung, während die Verteilung der Steuerlast dabei 6,5 Prozentpunkte. Gleichzeitig verringerte sich die Steu- weniger im Fokus liegt. Bei der Frage, ob die Verteilung erbelastung für das oberste Dezil um 2,3 Prozentpunkte. der Steuerlast „gerecht“ ist, spielen subjektive Werturteile Für das reichste Prozent sank die Belastung sogar um 4,8 eine zentrale Rolle. Es besteht allerdings ein breiter Kon- Prozentpunkte.9 Vor diesem Hintergrund scheinen For- sens darüber, dass die Besteuerung nach dem Leistungs- derungen nach einer gezielten Entlastung für untere Ein- fähigkeitsprinzip erfolgen soll. Das rechtfertigt eine Steu- kommensgruppen nachvollziehbar, während sich weitere erprogression, die hierzulande bei den direkten Steuern Steuersenkungen für Besserverdiener damit nicht recht- auch stark ausgeprägt ist. So entfielen 2015 knapp 60% fertigen lassen. der von Haushalten geleisteten direkten Steuern auf das reichste Zehntel, während die untere Hälfte der Einkom- Steuerentlastungen für mehr Steuergerechtigkeit? mensverteilung fast keine Steuern auf das Einkommen zahlte.7 Berücksichtigt man jedoch auch die indirekten In den vergangenen Wochen hat die steuerpolitische Dis- Steuern, die für sich genommen regressiv wirken, so wird kussion noch einmal Fahrt aufgenommen und es wurden die Steuerprogression stark abgeschwächt und verkehrt verschiedene Vorschläge von der Wissenschaft durchge- sich in Teilen der Einkommensverteilung ins Gegenteil. rechnet.10 Die vorliegenden Konzepte unterscheiden sich Am unteren Ende ist die gesamte Steuerbelastung dann in mehrfacher Hinsicht. Modellen mit gezielten Entlastun- relativ zum Einkommen höher als für alle übrigen Einkom- gen für Bezieher niedriger Einkommen und Mehrbelastun- mensgruppen mit Ausnahme des obersten Zehntels.8 Das gen für Bezieher höherer Einkommen stehen Modelle mit Steuersystem ist in den untersten drei Dezilen regressiv spürbaren Entlastungen für alle Steuerzahler gegenüber. Entsprechend unterschiedlich sind die Aufkommenswir- 4 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Versiche- kungen. Sie reichen von annähernder Aufkommensneu- rungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung tralität bis zu Mindereinnahmen von über 40 Mrd. Euro. sowie in der Sozialen Pflegeversicherung. Dokumentation WD 9 – 3000 – 051/16, Deutscher Bundestag, 2016, Drucksache 18/9513. 5 K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: Abbau der kalten Progression: Das Konzept der Mittelstands- und Wirtschaftsvereini- nüchterne Analyse geboten, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 12, gung der CDU/CSU (MIT) strebt explizit eine Entlastung S. 864-871, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2014/12/abbau- der-kalten-progression-nuechterne-analyse-geboten/ (8.6.2017).. 6 AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission, https:// 9 Ebenda, S. 67. ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/ 10 S. Bach, H. Buslei: Wie können mittlere Einkommen beim Einkom- economic-databases/macro-economic-database-ameco/download- mensteuertarif entlastet werden?, in: DIW Wochenbericht, Nr. 20, annual-data-set-macro-economic-database-ameco_en (Mai 2017). 2017, S. 391-399; C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: 7 S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutsch- Reform der Einkommensteuer: Vorschläge für einen „Niedersachsen- land? – Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfer- Tarif“, Studie des ifo Instituts im Auftrag des Landes Niedersachsen, systems, DIW Politikberatung Kompakt, Nr. 114, September 2016, München, April 2017; K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger: Berlin, S. 61. IMK-Steuerschätzung 2017-2021. Staatliche Handlungsfähigkeit nicht 8 Ebenda, S. 60. aufs Spiel setzen, IMK Report, Nr. 126, Mai 2017. Wirtschaftsdienst 2017 | 6 384
Zeitgespräch Zeitgespräch Prof. Dr. Niklas Potrafke leitet das ifo für alle in drei Stufen an. In der ersten Stufe soll 2018 der Zentrum für öffentliche Finanzen und Arbeitnehmerfreibetrag auf 2000 Euro verdoppelt wer- politische Ökonomie und lehrt Volks- den, 2019 soll die zweite Stufe mit einer Tarifanpassung wirtschaftslehre an der Universität erfolgen, bei der die Progression im mittleren Bereich München. stark abgeflacht würde und der Spitzensteuersatz erst ab einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro greifen würde. Die für 2020 vorgesehene dritte Stufe wür- de den Kinderfreibetrag auf das Niveau des Freibetrags für Erwachsene anheben und das Kindergeld deutlich er- höhen. Berechnungen des Instituts für Makroökonomie Dr. Stefan Bach ist wissenschaftlicher und Konjunkturforschung (IMK) zeigen, dass die Tarifän- Mitarbeiter am Deutschen Institut für derung für sich genommen Einkommen erheblich ober- Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin halb des Durchschnitts am stärksten entlasten würde. und Autor des 2016 erschienenen Bu- Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch das Deutsche ches „Unsere Steuern. Wer zahlt? Wie Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), nach dessen Da- viel? Wofür?“. ten fast drei Viertel der Entlastungswirkung von 33 Mrd. Dr. Philipp Breidenbach ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter im Kompe- tenzbereich „Wachstum, Konjunktur, Öffentliche Finanzen“ am RWI – Leib- niz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Die Autoren des Zeitgesprächs Dr. Katja Rietzler leitet das Refe- Prof. Dr. Roland Döhrn leitet den rat Steuer- und Finanzpolitik des Kompetenzbereich „Wachstum, Instituts für Makroökonomie und Konjunktur, Öffentliche Finanzen“ am Konjunkturforschung in der Hans- RWI – Leibniz-Institut für Wirtschafts- Böckler-Stiftung in Düsseldorf. forschung in Essen. Prof. Dr. Clemens Fuest ist Präsi- Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist dent des ifo Instituts und Direktor Vorsitzender des Sachverständigenra- des Center for Economic Studies tes zur Begutachtung der gesamtwirt- (CES). Er lehrt zudem Volkswirt- schaftlichen Entwicklung, Präsident schaftslehre an der Universität des RWI – Leibniz-Institut für Wirt- München. schaftsforschung in Essen und lehrt an der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Björn Kauder ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter und Dr. Margit Schratzenstaller ist Re- stellvertretender Leiter des ifo Zen- ferentin für Öffentliche Finanzen und trums für öffentliche Finanzen und stellvertretende Leiterin am Österrei- politische Ökonomie in München. chischen Institut für Wirtschaftsfor- schung (WIFO) in Wien. Sie ist Expertin im Fiskalrat und Lehrbeauftragte an der Universität Wien. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 385
Zeitgespräch Euro auf die drei reichsten Dezile entfallen.11 Die Umver- würden 10,7 Mrd. Euro betragen, wobei es durch die Ab- teilungswirkung der Einkommensteuer würde folglich ver- schaffung des Solidaritätszuschlags, der dem Bund allein ringert. Berücksichtigt man auch die Anpassungen beim zusteht, bei gleichzeitigen leichten Mehreinnahmen bei Kindergeld, so würden sich in der Maximalvariante insbe- der Einkommensteuer zu einer Umverteilung des Aufkom- sondere für Familien mit geringen Einkommen relativ zum mens vom Bund zu den Ländern kommt. Einkommen deutliche Entlastungen ergeben. Allerdings würde das gesamte Modell der MIT mit Mindereinnahmen Die reine Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre von rund 40 Mrd. Euro einhergehen.12 aus verteilungspolitischer Sicht sehr problematisch. Da der Zuschlag auf die progressive Einkommensteuer er- Beim sogenannten „Bayern-Tarif“ des bayerischen Fi- hoben wird, wirkt er selbst stark progressiv. Für Famili- nanzministers Söder würde eine Senkung der Progressi- en wird die progressive Wirkung noch dadurch verstärkt, onswirkung im mittleren Bereich dadurch erreicht, dass dass bei der Ermittlung des relevanten zu versteuernden die erste Progressionszone erst bei einem zu versteu- Einkommens einer Familie der Kinderfreibetrag auch ernden Einkommen von 16 250 Euro bei unverändertem dann angesetzt wird, wenn das Kindergeld für die Fami- Grenzsteuersatz von 23,97% enden würde. Wenngleich lie günstiger ist. Dadurch zahlt eine Familie mit zwei Kin- bis auf das ärmste Dezil, das keine Steuern zahlt, alle dern und einem durchschnittlichen Vollzeitverdienst noch entlastet würden, würden hier fast zwei Drittel der Entlas- überhaupt keinen Solidaritätszuschlag. Das gilt sowohl tungswirkung auf die drei reichsten Dezile entfallen. Mit für das Durchschnittseinkommen als auch für den (nied- gut 9 Mrd. Euro wären die Steuerausfälle allerdings deut- rigeren) Median.14 Da die Belastung durch den Solidari- lich geringer als beim Modell der MIT. tätszuschlag mit dem Einkommen stark zunimmt, würde seine Abschaffung auch die Haushalte mit den höchsten Damit würden diese beiden Konzepte die Steuerpolitik Einkommen am stärksten entlasten. Viele Niedrigverdie- der vergangenen beiden Jahrzehnte zugunsten der Be- ner würden hingegen nicht profitieren, da sie keinen Soli- zieher höherer Einkommen fortsetzen statt sie zu korrigie- daritätszuschlag zahlen. Dem Bund würden im Jahr 2020 ren. Die Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbun- zudem 20 Mrd. Euro entgehen. des (DGB) und der Partei „Die Linke“ würden die Umver- teilungswirkung des Steuersystems hingegen verstärken. Das ganze Bild Bis auf das ärmste und das reichste Zehntel würden in beiden Konzepten alle Einkommensgruppen geringer be- Für die nächste Legislaturperiode geht es nicht allein dar- steuert. Allerdings entfällt auch hier der größte Teil der um, ob die Einkommensbesteuerung etwas mehr oder et- Entlastungen auf die Dezile oberhalb der Mitte. Was die was weniger gesenkt werden soll. Es geht um die finanz- Entlastung relativ zum Einkommen angeht, hat das DGB- politische Gesamtausrichtung. Die fiskalischen Spielräu- Modell jedoch sein Maximum beim fünften Dezil, während me sollten dabei nicht überschätzt werden. Der positive die übrigen Modelle höhere Einkommensgruppen auch Finanzierungssaldo des Gesamtstaats von 26,4 Mrd. Eu- relativ am stärksten entlasten würden. Für sich genom- ro im vergangenen Jahr entfiel zu einem Drittel auf die So- men würde die Umsetzung des Tarifvorschlags der Partei zialversicherungen. Für 2017 und 2018 rechnen die an der „Die Linke“ Mindereinnahmen von 28 Mrd. Euro verursa- Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Institute mit einem chen. Diese sollen durch Mehreinnahmen insbesondere spürbaren Rückgang der Überschüsse.15 Berücksichtigt bei vermögensbezogenen Steuern kompensiert werden. werden müssen auch die Schwächen bei der Konjunktur- Der DGB-Vorschlag, bei dem die Entlastungen deutlich bereinigung im Rahmen der Fiskalregeln.16 niedriger ausfallen, würde hingegen nur geringe Ausfälle verursachen. Gleichzeitig bestehen weiterhin erhebliche Mehrbedar- fe auf der Ausgabenseite. Das gilt insbesondere für die Der kürzlich in die Debatte gebrachte sogenannte „Nie- Beseitigung des seit über einem Jahrzehnt aufgelaufe- dersachsen-Tarif“ propagiert in der Reformoption I die nen Investitionsstaus. Er ist seit geraumer Zeit ein Thema Abschaffung des Solidaritätszuschlags kombiniert mit in der wirtschaftspolitischen Debatte, und es fehlt auch einer Tarifreform, die untere und mittlere Einkommen ent- lastet und höhere Einkommen belastet.13 Hier würden die 14 Nach Berechnungen des IMK dürfte das Durchschnittseinkommen oberen beiden Dezile mehr belastet, während untere Ein- bei einer Vollzeittätigkeit in diesem Jahr knapp 49 915 Euro betragen, während das Medianeinkommen auf 41 742 Euro geschätzt wird. Vgl. kommensdezile entlastet werden. Die Mindereinnahmen K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O., S. 13. 15 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung festigt sich trotz weltwirtschaftlicher Risiken, Frühjahrsgutachten 2017, Berlin 11 S. Bach, H. Buslei, a.a.O., S. 397. April 2017. 12 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O., S. 14 ff. 16 A. Truger, H. Will: Prozyklisch und gestaltungsanfällig: Die deutsche 13 C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, a.a.O. Schuldenbremse in der Detailanalyse, IMK Working Paper, Nr. 88, 2012. Wirtschaftsdienst 2017 | 6 386
Zeitgespräch nicht an Lippenbekenntnissen der Politik. Dennoch liegt Für weniger umfassende Steuersenkungen wie beispiels- die Bruttoinvestitionsquote des Staates seit 2013 unver- weise beim „Bayern-Tarif“ oder beim „Niedersachsen-Ta- ändert bei 2,1% des Bruttoinlandsprodukts. Die gesamt- rif“ dürfte der fiskalische Spielraum ausreichen. Allerdings staatlichen Nettoinvestitionen sind weiterhin negativ, würden auch hier nur begrenzte Mittel für die öffentlichen was an den nach wie vor deutlich negativen Nettoinves- Investitionen und zusätzliches Personal in wichtigen Be- titionen der Gemeinden liegt. An dem Befund, dass der reichen des öffentlichen Dienstes zur Verfügung stehen. Staat mittelfristig einen zweistelligen Milliardenbetrag pro Da die Investitionen wie die Personalausgaben aufgrund Jahr zusätzlich investieren muss, um die Versäumnisse von Engpässen nur schrittweise angehoben werden kön- der Vergangenheit nachzuholen und das Entstehen neu- nen, wären diese Varianten möglicherweise sogar reali- er Lücken zu verhindern, hat sich also nichts geändert.17 sierbar. Zu beachten wären dabei die stark unterschied- Zudem ist auch die Beschäftigung im öffentlichen Dienst lichen Verteilungswirkungen, die beim „Niedersachsen- für die anstehenden Aufgaben unzureichend. Es fehlen Tarif“ günstiger wären. 110 000 Stellen vor allem bei der Bildung und Kinderbe- treuung, in der Verwaltung und bei der Polizei. Will man Die reine Machbarkeit ist allerdings noch kein ausreichen- hier Abhilfe schaffen, so entstehen Mehrausgaben von des Argument, sich für diese Variante zu entscheiden. 6 Mrd. Euro pro Jahr.18 Da die Bedarfe mit der Integration Es braucht eine klare Zielsetzung. Will man Verteilungs- der Flüchtlinge eher gestiegen als gesunken sind, ist die gerechtigkeit und Wachstum miteinander verbinden, so Annahme von Mehrbedarfen in einer Größenordnung von spricht viel für aufkommensneutrale Änderungen des 20 Mrd. Euro jährlich nicht unrealistisch. Einkommensteuertarifs in Kombination mit dauerhaften Mehrinvestitionen in Bildung, Integration und Infrastruk- Vor diesem Hintergrund gehen Steuersenkungen zulasten tur. Einige neuere Forschungsergebnisse zeigen eine wichtiger Zukunftsinvestitionen. Großzügige Steuersen- signifikant negative Wirkung von Ungleichheit auf das kungen für alle wie beim Konzept der MIT wären mit er- Wachstum.22 Diese Effekte scheinen besonders stark heblichen Steuerausfällen für die öffentliche Hand verbun- ausgeprägt zu sein, wenn das untere Ende der Einkom- den. Dies wäre auch in der aktuell günstigen Lage für die mensverteilung deutlich abgehängt ist.23 Da die unteren öffentlichen Haushalte nicht ohne weiteres zu verkraften. Einkommensgruppen kaum Steuern zahlen, ist allerdings Was die Umsetzung des MIT-Konzepts in Zeiten der Schul- auch das Entlastungspotenzial begrenzt. Das ist ein wei- denbremse für den Bundeshaushalt und für die Makroöko- teres Argument für die genannten Maßnahmen auf der nomie bedeutet, hat das IMK in einer Simulationsrechnung Ausgabenseite. Infrastrukturinvestitionen und ein erst- untersucht.19 Obwohl die Steuersenkung für sich genom- klassiges Bildungssystem kommen gerade auch den un- men die Konjunktur stimulieren würde, wären ab 2020 teren Einkommensgruppen zugute. Dorthin müssen die spürbare Ausgabenkürzungen mit entsprechend negativen Ressourcen gelenkt werden. Die Aussichten, dass dies Multiplikatorwirkungen notwendig, um die Schuldenbrem- gelingen kann, sind aktuell sehr günstig. Das Kommunal- se einzuhalten.20 Dennoch würde das Finanzierungsdefizit panel der Kreditanstalt für Wiederaufbau meldet einen allein für den Bund vorübergehend auf 10 Mrd. Euro anstei- leichten Rückgang des Investitionsstaus am aktuellen gen und der Schuldenstand wäre 2021 um 50 Mrd. Euro Rand.24 Auch die Kassenkredite der Kommunen sind im höher als ohne Steuersenkungen. Dass die oben genann- vergangenen Jahr erstmals seit Jahren deutlich gesun- ten Mehrausgaben noch getätigt werden können, ist dann ken. Der Bund hat eine Reihe von Maßnahmen auf den nahezu ausgeschlossen. Mit großer Wahrscheinlichkeit Weg gebracht, um gerade auch finanzschwachen Kom- würden die öffentlichen Investitionen geringer und nicht munen die Investitionstätigkeit zu erleichtern.25 Diese höher ausfallen. Noch deutlich ungünstiger würde die Ent- Chance für eine umfassende Modernisierung des Landes wicklung verlaufen, wenn es in den Jahren 2018 bis 2020 sollte jetzt nicht leichtfertig durch erhebliche Steuersen- zu einer spürbaren Abschwächung der Konjunktur käme.21 kungen verspielt werden. 17 K. Rietzler: Anhaltender Verfall der Infrastruktur. Die Lösung muss bei 22 J. Ostry, A. Berg, C. Tsangarides: Redistribution, Inequality, and den Kommunen ansetzen, IMK Report, Nr. 94, Juni 2014. Growth, IMF Staff Discussion Note, Nr. SDN/14/02, Washington, Feb- 18 D. Vesper: Aktuelle Entwicklungstendenzen und zukünftiger Perso- ruar 2014. nalbedarf im Öffentlichen Dienst, Gutachten erstellt im Auftrag des 23 F. Cingano: Trends in Income Inequality and Its Impact on Econo- IMK in der Hans-Böckler-Stiftung, IMK Studies, Nr. 51, 2016. mic Growth, OECD Social, Employment and Migration Working Pa- 19 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O. pers, Nr. 163, Paris 2014, http://dx.doi.org/10.1787/5jxrjncwxv6j-en 20 Für die Simulation wurde ein Steuermultiplikator von 0,5 und ein Aus- (23.5.2017). gabenmultiplikator von 1 angenommen, vgl. S. Gechert: What fiscal 24 KfW Bankengruppe (Hrsg.): KfW-Kommunalpanel 2017, Frankfurt policy is most effective? A meta-regression analysis, in: Oxford Eco- a.M., Mai 2017. nomic Papers, 67. Jg. (2015), H. 3, S. 553-580. 25 Bundesministerium der Finanzen: Kommunalfinanzen 2016 im Lichte 21 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung gesamtstaatlicher Herausforderungen, in: Monatsbericht des BMF, 2017-2021, a.a.O., S. 16 ff. Januar 2017, S. 20-26. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 387
Zeitgespräch Clemens Fuest, Björn Kauder, Niklas Potrafke Entlastungen bei der Einkommensteuer möglich Steuerliche Entlastungen geringer und mittlerer Einkom- hungen“ durch die kalte Progression. Die Realeinkom- men stehen gegenwärtig im Zentrum der wirtschaftspoli- men der Bürger blieben konstant, wenn die Einkommen tischen Debatte. Sinnvoll erscheinen solche Entlastungen mit der Inflation steigen würden. Doch basiert der pro- im Rahmen einer Einkommensteuerreform. Szenarien gressive deutsche Einkommensteuertarif auf nominalen für mögliche Tarifänderungen zur Abflachung des Mittel- Werten und lässt die Realeinkommen schrumpfen (kal- standsbauchs implizieren Steuerentlastungen zwischen te Progression im engeren Sinne). Im Zeitraum 2011 bis 10 Mrd. und 40 Mrd. Euro. Wenn das Konstanthalten der 2016 führte diese kalte Progression im engeren Sinne zu Steuerquote auf dem Niveau des Jahres 2014 als sinnvol- Steuermehreinnahmen von ca. 33,5 Mrd. Euro.2 Im Okto- le Leitlinie betrachtet wird, wären bis 2020 Entlastungen ber 2016 hat die Bundesregierung beschlossen, künfti- von bis zu 40 Mrd. Euro möglich. Steuerentlastungen ge Mehrbelastungen auszugleichen, indem die Eckwer- würden weitere öffentliche Investitionen nicht gefährden. te des Einkommensteuertarifs in den Jahren 2017 bzw. 2018 um die erwartete Inflationsrate des jeweiligen Jahres Die Steuerschätzung vom Mai 2017 hat die Diskussion nach rechts verschoben werden.3 Die kalte Progression um mögliche Steuersenkungen weiter beflügelt. Bis zum im weiteren Sinne, die auch steigende Realeinkommen in Jahr 2021 könnten Bund, Länder und Gemeinden zusam- der Volkswirtschaft berücksichtigt (gegebenenfalls auch men 54 Mrd. Euro mehr Steuern einnehmen als noch im ohne Preissteigerungen von Konsumgütern), hatte noch letzten Herbst errechnet. Die Steuerschätzer prognosti- größere Ausmaße: Im Zeitraum 2011 bis 2016 führte sie zu zieren für die kommenden fünf Jahre einen Anstieg der Steuermehreinnahmen von ca. 70,2 Mrd. Euro.4 Der Staat Einnahmen von 732,4 Mrd. Euro 2017 auf 852,2 Mrd. Euro absorbiert somit einen immer größer werdenden Anteil im Jahr 2022.1 Das weckt Begehrlichkeiten im politischen der Wirtschaftsleistung. Prozess. Die Rufe nach Steuerentlastungen sind schon in den vergangenen Monaten immer lauter geworden. Was das richtige Maß an Steuern und Abgaben ist, bleibt Andere Politiker halten Steuersenkungen für nicht not- eine politische Frage. Eine sinnvolle Leitlinie könnte sein, wendig oder finanzierbar – einige meinen sogar, dass bei die Steuerquote (Anteil der Steuereinnahmen am Brutto- Steuersenkungen keine Mittel mehr für dringend notwen- inlandsprodukt – BIP) konstant zu halten. Wenn die Steu- dige Investitionen übrig seien und Deutschland so seine erquote aus dem Jahr 2014 mit 22% konstant gehalten Zukunft verspiele. werden soll, so könnte das Steueraufkommen bis 2020 um knapp 40 Mrd. Euro sinken. Mit dem Ziel einer kon- Kalte Progression und Mittelstandsbauch stanten Steuerquote obläge es ebenso den politischen Entscheidungsträgern festzulegen, welche Steuern ge- Insbesondere die steuerliche Belastung geringer und senkt werden sollen. Die Steuerschätzungen zeigen je- mittlerer Einkommen wird in der öffentlichen Debatte doch schon seit Längerem, dass insbesondere die Ein- als Problem angesehen. Geringe Einkommen über dem kommensteuereinnahmen ansteigen. Im Vergleich zu an- Grundfreibetrag sehen sich besonders schnell steigen- deren Steuern nimmt ihr Gewicht zu. Will man also auch den Grenzsteuersätzen gegenüber. Diese starke Progres- sion wird in der politischen Debatte teils als leistungs- 2 F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Heim- feindlich und ungerecht angesehen. Im oberen Bereich liche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progres- mittlerer Einkommen ist zudem problematisch, dass die sion und Entlastungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern, ifo Forschungsberichte, Nr. 76, München 2016; F. Dorn, C. Zahl der vom Spitzensteuersatz betroffenen Steuerzah- Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Steuererhöhun- ler massiv gestiegen ist. Im Jahr 1960 war beispielswei- gen durch die Hintertür – fiskalische Aufkommenswirkungen der Kal- se noch das Achtzehnfache des Durchschnittseinkom- ten Progression, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 2, S. 51-58. 3 Zum „Tarif auf Rädern“ vgl. ebenda; F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. mens nötig, um vom Spitzensteuersatz betroffen zu sein, Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Die Kalte Progression – Verteilungs- während gegenwärtig das Anderthalbfache genügt. Eine wirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern, in: ifo Schnell- wesentliche Ursache dafür sind „heimliche Steuererhö- dienst, 70. Jg. (2017), H. 3, S. 28-39. 4 Erzielt haben wir diese Ergebnisse mithilfe des ifo-Einkommensteuer- Simulationsmodells (ifo-ESM) auf Basis von Mikrodaten der Lohn- 1 Bundesministerium der Finanzen: Ergebnisse der 151. Sitzung des Ar- und Einkommensteuerstatistik des Erhebungsjahrs 2010. Das ifo- beitskreises „Steuerschätzungen“ vom 9. bis 11. Mai 2017 in Bad Mus- ESM ist ein statisches Modell, das durch die Steuerreformen hervor- kau, Pressemitteilung vom 11.5.2017, http://www.bundesfinanzministe- gerufene fiskalische Multiplikatoreffekte auf das gesamtwirtschaftli- rium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/05/2017- che Produktionsniveau sowie dynamische Arbeitsangebotseffekte 05-11-pm-steuerschaetzung.html (8.6.2017).. nicht berücksichtigt. Wirtschaftsdienst 2017 | 6 388
Zeitgespräch Abbildung 1 von 14% auf ca. 24% an (erste Progressionszone). Der Einkommensteuertarif 2016 und Verteilung der Anstieg des Grenzsteuersatzes in der zweiten Progressi- Steuerzahler nach zu versteuerndem Einkommen onszone für zu versteuernde Einkommen zwischen 13 670 % % Euro und 53 665 Euro verläuft dagegen bis zum Spitzen- 50 5 steuersatz von 42%6 vergleichsweise langsamer. Die ge- 45 4,5 genwärtige Gestalt des Einkommensteuertarifs mit zwei 40 4 linear-progressiven Zonen ähnelt somit eher einer „Mittel- 35 3,5 standsecke“ (Bund der Steuerzahler), bzw. wenn man be- Grenzsteuersatz 30 (linke Skala) 3 rücksichtigt, dass die Ecke im Einkommensbereich rund 25 2,5 um 13 670 Euro liegt, einer „Geringverdienerecke“. 20 2 Steuerpflichtige 15 (rechte Skala) 1,5 Szenarien für mögliche Tarifänderungen 10 1 5 0,5 Simuliert haben wir drei mögliche Reformvorschläge zur 0 0 Abflachung des Mittelstandsbauchs, die geringe und 0 10 20 30 40 50 60 70 zu versteuerndes Einkommen in 1000 Euro mittlere Einkommen entlasten würden:7 Quelle: eigene Darstellung basierend auf der in das Jahr 2016 fortge- schriebenen faktisch anonymisierten Lohn- und Einkommensteuerstatis- 1. eine stufenweise Rechtsverschiebung der Einkom- tik 2010, vgl. Statistische Ämter: Mikrodaten der Lohn- und Einkommen- menseckwerte zu Beginn der zweiten Progressions- steuerstatistik 2010, 2016, ohne Darstellung der fünften Steuertarifzone. zone. Damit verbunden wären Steuerentlastungen im Die Verteilung bezieht sich auf Steuerpflichtige ohne zusammen Veran- lagte. Entnommen aus F. Dorn, C. Fuest, F. Häring, B. Kauder, L. Lorenz, Umfang von ca. 15,7 Mrd. bis 31,4 Mrd. Euro. M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Reformoptionen zur Einkommensteuer und ihre fiskalischen Kosten, in: ifo Schnelldienst, 2. eine Rechtsverschiebung der Einkommensschwelle, 70. Jg. (2017), H. 9, S. 31-38. ab welcher der Spitzensteuersatz greift. Eine mode- rate Rechtsverschiebung der Einkommensschwel- le um 5000 Euro brächte Steuerentlastungen von ca. das Verhältnis aus den Aufkommen der einzelnen Steuern 3,7 Mrd. Euro, eine starke Rechtsverschiebung der in etwa konstant lassen, so sollte die Einkommensteuer Einkommensschwelle um 25 000 Euro brächte Steuer- gesenkt werden. entlastungen von ca. 14,7 Mrd. Euro. Eine Einkommensteuersenkung verlangt eine Anpassung 3. eine Kombination der ersten beiden Reformoptionen, des Steuertarifs. Schon in den vergangenen Monaten ist die die Steuerzahler um 19 Mrd. bis 37 Mrd. Euro ent- öffentlich so intensiv wie selten zuvor diskutiert worden, lasten würde. neben der kalten Progression den Mittelstandsbauch zu beseitigen.5 Der Name Mittelstandsbauch stammt noch Eine mögliche Gegenfinanzierung dieser Steuerentlas- aus den 1980er Jahren, da bis zum Jahr 1989 der Anstieg tung ist die Einführung einer neuen linear-progressiven des Einkommensteuertarifs konkav verlief. Die meisten Zone für Einkommen zwischen 53 665 Euro und 254 446 Steuerzahler liegen beim Mittelstandsbauch: Abbildung 1 Euro (ab diesem zu versteuernden Einkommen greift der zeigt, dass sich ein Großteil der Steuerpflichtigen im Be- Reichensteuersatz von 45%). Der Grenzsteuersatz würde reich niedriger und mittlerer Einkommen mit stark an- sich hier graduell von 42% auf 45% erhöhen. Allerdings steigenden Grenzsteuersätzen befindet. Reformen des liegt das zusätzlich zu generierende Steueraufkommen Steuertarifs in diesem Bereich würden also viele Bürger nur zwischen 690 Mio. und 1 Mrd. Euro, sodass sich diese betreffen; sie könnten zu deutlichen Steuerentlastun- Maßnahme nicht zur Gegenfinanzierung der Abflachung gen führen und wären selbstredend mit entsprechenden des Mittelstandsbauchs eignet. Würde man zusätzlich Steuermindereinnahmen verbunden. den Eckwert, ab dem der Reichensteuersatz von 45% greift, halbieren und bei 125 000 Euro einsetzen lassen, Der Einkommensteuertarif 2016 sieht einen Grundfrei- betrag von 8652 Euro vor (vgl. Abbildung 1). Im sich an- schließenden Einkommensbereich zwischen 8653 Euro 6 Der eigentliche Spitzensteuersatz wäre der „Reichensteuersatz“ von 45%, auf den wir im Folgenden noch eingehen. und 13 669 Euro steigt der Grenzsteuersteuersatz schnell 7 F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Varianten und Kosten, ifo Forschungsbe- richte, Nr. 77, München 2016; F. Dorn, C. Fuest, F. Häring, B. Kauder, 5 Zum Beispiel C. Fuest: Einkommensteuerentlastungen sind finanzier- L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Re- bar, ifo Standpunkt, Nr. 177, auch erschienen unter dem Titel „Gerin- formoptionen zur Einkommensteuer und ihre fiskalischen Kosten, in: gere Steuern sind möglich“, Zeit Online, 15.8.2016. ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 9, S. 31-38. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 389
Zeitgespräch so ließen sich 1,5 Mrd. bis 2 Mrd. Euro zusätzliches Steu- benkürzungen oder neue Schulden gesenkt werden kön- eraufkommen schaffen. Die oben genannten Steueraus- nen, sofern der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoin- fälle von bis zu 37 Mrd. Euro ließen sich so aber ebenso landsprodukt nicht zunimmt. Nach der aktuellen Steuer- wenig gegenfinanzieren. schätzung vom Mai 2017 wird die Steuerquote bis 2020 auf 23,1% des BIP ansteigen. Wenn man als Leitlinie eine Weitere Varianten zur Tarifanpassung beinhalten neben konstante Steuerquote auf dem Niveau des Jahres 2014 der Entlastung geringer und mittlerer Einkommen eine anstrebt, ergäbe sich ein Entlastungsvolumen von knapp stärkere Belastung höherer Einkommen. Fuest et al. ha- 40 Mrd. Euro pro Jahr. Wenn die Steuereinnahmen spru- ben vier Reform-Szenarien auf Basis des ifo-Einkommen- deln, weckt das Begehrlichkeiten, und die Ausgabenwün- steuer-Simulationsmodells (ifo-ESM) simuliert.8 In allen sche steigen entsprechend an. Grundsätzlich gilt, dass Szenarien wird unterstellt, dass der Solidaritätszuschlag Steuerentlastungen einen Verzicht auf Staatsausgaben abgeschafft wird während Grundfreibetrag und Eingang- bedeuten. Es mag den Landtagswahlen im Saarland, steuersatz unverändert bleiben. Zudem wird das Ende Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie den der zweiten linear-progressiven Zone auf 58 000 Euro bei anstehenden Bundestagswahlen geschuldet sein, dass einem Grenzsteuersatz von 45% erhöht. Daran schließt Ausgabenkürzungen zur Flankierung der Steuersenkun- sich eine neue linear-progressive Zone bis 150 000 Euro gen nahezu gar nicht in der öffentlichen Debatte diskutiert an, ab deren Ende der neue Höchststeuersatz von 49% wurden. Das ist höchst problematisch. Eine regelmäßige gilt. Die vier Szenarien unterscheiden sich darin, wie sehr und kritische Ausgabenüberprüfung ist dringend notwen- die geringen und mittleren Einkommen steuerlich entlas- dig, um Handlungsspielräume in den öffentlichen Haus- tet werden – durch Veränderungen der Grenzsteuersätze halten zu bewahren und überflüssige Steuerlasten zu ver- und der Grenze zwischen den ersten beiden linear-pro- meiden. gressiven Zonen. Im ersten Reformszenario wird das En- de der ersten Tarifzone von knapp 14 000 Euro auf 25 000 Eine Möglichkeit zur Begrenzung der Staatsausgaben, Euro nach rechts verschoben und der Grenzsteuersatz an die bereits zur Finanzierung der staatlichen Mehrausga- dieser Grenze von 24% auf 30,5% erhöht. Verteilungsana- ben durch die Flüchtlingssituation diskutiert wurde, ist die lysen zeigen, dass bei dieser Reform Einkommensbezie- Rücknahme der Rente mit 63 und insgesamt eine Anhe- her der obersten beiden Dezile belastet werden. Die Steu- bung des Renteneintrittsalters.9 Der mit Abstand größte erausfälle würden insgesamt 10,7 Mrd. Euro betragen. Im Posten konsumtiver Ausgaben im Bundeshaushalt ist mit zweiten Reformszenario wird der Grenzsteuersatz am En- ca. 80 Mrd. Euro der Bundeszuschuss zur Rentenversi- de der ersten Tarifzone nicht auf 30,5% erhöht, sondern cherung. Simulationsrechnungen auf Basis des Modells bei 24% belassen. Das entlastet die geringen und mittle- von Werding haben gezeigt, dass wenn die Rente mit 63 ren Einkommen erheblich. Die fiskalischen Kosten dieser rasch abgeschafft worden wäre, die Rentenausgaben bis Variante liegen bei 39,3 Mrd. Euro. Die wichtige Erkennt- zum Jahr 2020 um gut 10 Mrd. Euro und der Bundeszu- nis aller vier Reformszenarien ist, dass Steuerentlastun- schuss um 1,5 Mrd. hätten sinken können.10 Eine radika- gen geringer und mittlerer Einkommen große fiskalische le Heraufsetzung der Altersgrenze bis 2020 auf 68 Jahre Wirkungen haben, weil sich eben der Großteil der Steuer- hätte sogar Einsparungen bei Renten und Bundesmitteln pflichtigen im Bereich niedriger und mittlerer Einkommen von rund 50 Mrd. bzw. 6 Mrd. Euro gebracht.11 Eine Er- mit stark ansteigenden Grenzsteuersätzen befindet. höhung der Altersgrenze für Beamte von 67 auf 68 Jahre (eine Rente mit 63 gibt es für Beamte nicht), hätte Einspa- Begrenzung der Staatsausgaben rungen von bis zu 9 Mrd. Euro bringen können, die vor allem Länder und Kommunen entlastet hätten. Vor die- Eine Hoffnung der Befürworter von Steuersenkungen ist, sem Hintergrund sehen wir auch gegenwärtig diskutierte dass die Steuersenkungen in der kurzen Frist die Kon- Reformmaßnahmen wie beispielsweise die erneute Aus- junktur beflügeln und langfristig sogar einen positiven weitung der Mütterrente oder das „Arbeitslosengeld Q“ Effekt auf das Wirtschaftswachstum haben. Wenn die kritisch. Rechnung aufgeht, finanzieren sich die Steuersenkungen also teilweise selbst. Von einer vollständigen Selbstfinan- zierung kann man aber nicht ausgehen. Deshalb stellt sich die Frage der Gegenfinanzierung. Eine steigende 9 N. Potrafke: Rentenalter wieder erhöhen, in: Die Welt vom 22.9.2015; N. Potrafke, M. Werding: Wir müssen wieder länger arbeiten, in: Wirt- Steuerquote bedeutet, dass Steuern ohne Staatsausga- schaftswoche vom 13.11.2015. 10 M. Werding: Modell für flexible Simulationen zu den Effekten des de- mographischen Wandels für die öffentlichen Finanzen in Deutschland 8 C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Reform der Ein- bis 2060: Daten, Annahmen und Methoden, Bertelsmann-Stiftung, kommensteuer: Vorschläge für einen „Niedersachsen-Tarif“, ifo For- Gütersloh 2013. schungsberichte, Nr. 82, München 2017. 11 N. Potrafke, M. Werding, a.a.O. Wirtschaftsdienst 2017 | 6 390
Zeitgespräch Einige Politiker meinen, dass es keinen Raum für Steu- festgestellte Projekte vor, oder Investitionen scheitern am ersenkungen gäbe, weil der Staat wieder mehr investie- Widerstand der Bevölkerung (Stromtrassen) oder an der ren müsse. Wir stimmen zu, dass Deutschland wieder Unfähigkeit der Verantwortlichen (Flughafen Berlin). Die mehr öffentliche Investitionen gut täten, doch meinen Politik hat daher bislang andere Prioritäten gesetzt (z.B. wir keineswegs, dass durch Steuersenkungen weiteren in der Rentenpolitik). Darüber hinaus haben Politiker of- öffentlichen Investitionen zwangsweise eine Absage er- fenbar geringe Anreize, in Erhaltung und Reparaturen zu teilt werden würde. Es sind genug Mittel zum Investieren investieren, weil ihnen das weniger Wählerstimmen bringt vorhanden, doch liegen mitunter nicht genügend plan- als neue Projekte. Stefan Bach Steuerreformen in der nächsten Legislaturperiode: Wie kann die arbeitende Mitte entlastet werden? Die Steuerpolitik ist ein wichtiges Thema für die anste- „warme“ Progression beigetragen, denn der Einkommen- hende Bundestagswahl und für die nächste Legislatur- steuertarif ist in den letzten Jahren nur wenig zurückge- periode. Die seit 2013 regierende Große Koalition hat nommen worden. die Steuerpolitik weitgehend ausgeklammert, auch un- ter der vorangehenden schwarz-gelben Regierung ist in der Steuerpolitik nicht viel passiert. Anders als früher sind die öffentlichen Haushalte derzeit gut bei Kasse. Abbildung 1 Dank der günstigen Einnahmenentwicklung bei Steuern Steuern und Sozialbeiträge in Deutschland und Sozialbeiträgen liefen zuletzt beträchtliche Haus- % des Bruttoinlandsprodukts haltsüberschüsse auf. Daher werden Entlastungen der 45 Steuerzahler reklamiert, vornehmlich für die mittleren 40 Abgabenquote Einkommensgruppen, deren hohe Steuer- und Abga- 35 benlasten beklagt werden. Politiker und Verbände haben hierzu bereits Steuerentlastungen in Größenordnungen 30 Steuerquote von bis zu 40 Mrd. Euro im Jahr vorgeschlagen. Andere 25 wollten mit dem Geld vordringlich mehr öffentliche Leis- 20 tungen finanzieren oder die Staatsschulden abbauen. Sozialbeitragsquote 15 Einkommensteuerquote 10 Steuer- und Abgabenlasten: Konzentration in der Mitte 5 Die kräftig sprudelnden Steuereinnahmen der letzten 0 Jahre lösen in bürgerlich-neoliberalen Kreisen regelmä- 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 ßig postfaktische Eruptionen aus. „Die Gier des Staates Anmerkung: Die Abgabenquote ergibt sich als Summe aus Steuerquote hat kleptokratische Züge angenommen“, hieß es nach und Sozialbeitragsquote. Zugrunde gelegt werden empfangene Steu- der letzten Steuerschätzung. Zwar sind „Rekordsteuer- ern und Sozialbeiträge des Staatssektors. Ab 1970 Steuereinnahmen einnahmen“, wie sie von den Medien regelmäßig gemel- einschließlich vermögenswirksamer Steuern und Steuereinnahmen an die EU. Sozialbeiträge einschließlich unterstellter Sozialbeiträge für die det werden, bei nominal steigendem Sozialprodukt nicht Beamtenversorgung, abzüglich der Beiträge des Staates für Empfänger sonderlich überraschend. Doch ist auch die gesamtwirt- sozialer Leistungen. 1925 bis 1939: Deutsches Reich, Kassenmäßiges schaftliche Steuerquote – das Steueraufkommen (in Ab- Abgabenaufkommen, BIP-Schätzungen von Ritschl und Spoerer, vgl. A. Ritschl, M. Spörer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den grenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktstatistiken 1901-1995, – VGR) in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) – in in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 38. Jg. (1997), Nr. 2, S. 27-54. den letzten Jahren gegenüber ihren historischen Tief- 1950 bis 1969: Früheres Bundesgebiet (bis 1959 ohne Berlin-West und Saarland), VGR-Revision 1991. 1970 bis 1990: Früheres Bundesgebiet, punkten 2005 und 2010 wieder deutlich gestiegen (vgl. VGR-Revision 2005; 1991 bis 2016: Deutschland, VGR-Revision 2014. Abbildung 1). Derzeit bewegt sie sich bei knapp 24% des 2017 und 2018: Prognose des DIW Berlin. BIP. Hierzu haben vor allem die überproportionalen Ein- Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechun- nahmen aus der Einkommensteuer durch die „kalte“ und gen; Berechnungen des DIW Berlin. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 391
Zeitgespräch Abbildung 2 Abbildung 3 Struktur der Steuereinnahmen in Deutschland Steuern und Sozialbeiträge 20151 % % des Haushaltseinkommens 100 90 50 80 40 70 Sozialbeiträge2 60 30 Tabak-, Alkohol- und Wettsteuern 50 40 Grund-, Kfz- und sonstige Steuern 20 30 20 10 Energiesteuern und EEG-Umlage Mehrwert- und 10 Einkommen- und Versicherungsteuer Unternehmensteuern 0 0 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 Perzentile Haushaltsbruttoäquivalenzeinkommen3 Lohnsteuer Sonstige Produktionsabgaben 1 Werte polynomisch geglättet. 2 Hälftige Aufteilung der Sozialbeiträge. 3 Übrige Einkommensteuer Äquivalenzgewichtet mit der neuen OECD-Skala. Übrige sonstige Gütersteuern Körperschaftsteuer Energiesteuern Quelle: Integrierte Datenbasis SOEP und Einkommens- und Verbrauchs- stichprobe sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015. Gewerbesteuer Tabak- und Alkoholsteuern Sonstige direkte Steuern und Umsatz-/Mehrwertsteuer Abgaben wurde und Verbrauchsteuern sowie sonstige Gütersteuern Anmerkung: Zugrunde gelegt werden empfangene Steuereinnahmen des Staatssektors einschließlich vermögenswirksamer Steuern und Steuer- außer den Energiesteuern an Bedeutung verloren, hat die einnahmen an die EU. 1950 bis 1969: Früheres Bundesgebiet (bis 1959 Steuerpolitik seit den 1990er Jahren die umgekehrte Ent- ohne Berlin-West und Saarland), VGR-Revision 1991. 1970 bis 1990: Frü- wicklung eingeschlagen. Unter den Vorzeichen von hoher heres Bundesgebiet, VGR-Revision 2005; 1991 bis 2016: Deutschland, VGR-Revision 2014. Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche, Globalisierung, Standortwettbewerb und Steuerflucht wurden hohe Ein- Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechun- gen; Berechnungen des DIW Berlin. kommen und Vermögen entlastet – durch die Senkung von Einkommensteuer-Spitzensätzen, Unternehmensteuern und Kapitaleinkommensteuern sowie die Abschaffung der Vermögensteuer. Die indirekten Steuern wurden dagegen Allerdings war die gesamtwirtschaftliche Steuerquote durch mehrfache Erhöhungen von Mehrwertsteuer und schon Ende der 1990er Jahre oder Mitte der 1970er Jahre Energiesteuern sowie durch die Umlage nach dem Erneu- ähnlich hoch.1 Überhaupt fällt im säkularen Trend auf, dass erbare-Energien-Gesetz (EEG) ausgeweitet. sie seit Beginn der 1950er Jahre bemerkenswert konstant verlief – sie schwankte seitdem in einer Bandbreite von Diese Strukturverschiebungen haben die Steuer- und Ab- 21% bis 25%. Deutlich gestiegen sind die Sozialbeiträge. gabenbelastungen stärker auf die mittleren und höheren Die sind zwar keine reinen Steuern, da sie grundsätzlich Einkommen verlagert. Mikrodatenbasierte Analysen zei- zurechenbare Versicherungsleistungen finanzieren, vor al- gen, dass das Steuersystem in Deutschland nur mode- lem bei Rente und Arbeitslosengeld I. Bei Krankenkasse rat progressiv wirkt.2 Abbildung 3 zeigt die durchschnitt- und Pflege wirken sie aber wie Bruttoeinkommensteuern, lichen Belastungen mit Steuern und Sozialbeiträgen in denn hier bekommt jeder Versicherte die gleichen Leistun- Relation zum Bruttoeinkommen 2015 nach der Höhe des gen, unabhängig von den Beitragszahlungen. Bruttoäquivalenzeinkommens.3 Deutlich progressiv sind die Einkommen- und Unternehmensteuern, wie vom Ge- Innerhalb des Steueraufkommens haben sich die Gewichte setzgeber beabsichtigt. Durch die Abzüge vom Einkom- im Laufe der letzten Jahrzehnte von den direkten Steuern men sowie den Grundfreibetrag bleiben niedrige Einkom- auf Einkommen und Vermögen hin zu den indirekten Steu- ern verlagert (vgl. Abbildung 2). Während in den 1960er und 1970er Jahren die Einkommensteuer deutlich ausgeweitet 2 S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutsch- land? Steuerbelastung nur schwach progressiv, in: DIW Wochenbe- richt, Nr. 51 und 52, 2016. Vgl. auch RWI: Steuer- und Abgabenlast in 1 Durch die Revisionen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Deutschland – Eine Analyse auf Makro- und Mikroebene, RWI Pro- (VGR), mit denen das BIP ermittelt wird, sind die Steuerquoten im jektbericht 2017. Zeitverlauf nicht vollständig vergleichbar. Da das BIP in früheren Jahr- 3 Dabei wird ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Bruttoeinkommen er- zehnten systematisch niedriger berechnet wurde, fallen die Steuer- mittelt und die Bevölkerung nach diesem in 100 gleich große Gruppen und Abgabenquoten in diesen Zeiträumen etwas höher aus. (Perzentilen) geordnet. Wirtschaftsdienst 2017 | 6 392
Zeitgespräch men steuerfrei. Bei höheren Einkommen steigen die Be- Das würde allerdings nicht die Mittelschichten, sondern lastungen deutlich. die Besserverdiener und Hocheinkommensbezieher entlasten. Denn das Einkommensteueraufkommen ist Dagegen sind die indirekten Steuern, auf die knapp die sehr stark auf die oberen Dezile und Perzentile der Ein- Hälfte des Steueraufkommens entfällt, deutlich regressiv, kommensverteilung konzentriert (vgl. auch Abbildung sie belasten ärmere Haushalte relativ stärker als reiche. 3). Die reichsten 10% der Bevölkerung zahlen 56% des Dadurch wird die gesamte Steuerbelastung im unteren gesamten Einkommensteueraufkommens, die reichsten Einkommensbereich regressiv. Auch bei mittleren Ein- 20% knapp zwei Drittel.6 Entsprechend verteilt sind die kommen kompensieren sich progressive Einkommen- Entlastungen, wenn man den Steuertarif auf Räder stellt. steuer und regressive indirekte Steuern weitgehend. Die Politisch und ideologisch ist das völlig in Ordnung – wenn gesamte Steuerbelastung steigt bis in die obersten Ein- man den derzeitigen Steuertarif für gerecht hält. Eine Ent- kommensgruppen nur recht moderat. Nimmt man ferner lastung der Mittelschichten sieht aber anders aus. vereinfachend an, dass die Hälfte der Sozialbeiträge den Steuern zuzurechnen ist, erhöhen sich die Steuerbelas- Die Mutter aller Einkommensteuer-Tarifreformen ist die tungen der mittleren und höheren Einkommen beträcht- „Abmagerung“ des „Mittelstandsbauchs“. Der schnelle lich. Bei hohen Einkommen sinkt die relative Belastung Anstieg der (Grenz-)Steuersätze im Eingangsbereich des durch die Beitragsbemessungsgrenzen wieder. Insge- Steuertarifs gilt als ungerecht und leistungsfeindlich. Be- samt haben Top-Verdiener und Superreiche nur wenig vorzugt wird ein durchgängig linear-progressiver Tarif mit höhere Durchschnittsteuersätze als Mittelschichtbürger, konstantem Anstieg der Grenzbelastung über die gesam- wenn man die indirekten Steuern und Teile der Sozialbei- te Progressionszone. Das sieht auch tarifästhetisch schö- träge mitrechnet. Und wenn Bezieher von hohen Unter- ner aus. Eine solche Reform würde beim derzeitigen Tarif nehmens- und Kapitaleinkommen Steuervergünstigun- 35 Mrd. Euro Steuermindereinnahmen im Jahr kosten.7 Da gen nutzen, können ihre Steuerbelastungen niedriger lie- bei ansonsten gleichem Tarifverlauf davon auch die Steu- gen als in Abbildung 3 ausgewiesen. erpflichtigen mit den hohen Einkommen profitieren, fallen bei dieser Reform immer noch 29% der Steuerentlastun- Vom „Tarif auf Rädern“ bis zur Erhöhung der gen auf die reichsten 10% der Bevölkerung und 53% auf Spitzensteuersätze die reichsten 20%. Auch das ist politisch und ideologisch völlig in Ordnung – wenn man einen linear-progressiven Die auf die mittleren und höheren Einkommen gestauchte Steuertarif mit den heutigen Spitzensteuersätzen für ge- Progression der Einkommensteuer wurde in den letzten recht hält. Jahren nur wenig zurückgenommen. Dadurch sind inzwi- schen erhebliche progressionsbedingte Mehreinnahmen Wenn man dagegen stärker die unteren und mittleren Ein- gegenüber der letzten größeren Einkommensteuertarifre- kommen entlasten und hohe Steuerausfälle vermeiden form im Jahr 2010 aufgelaufen. Diese werden derzeit auf will, muss man die Steuersätze im oberen Einkommens- jährlich 20 Mrd. bis 25 Mrd. Euro geschätzt.4 bereich anheben. Politisch und ideologisch kann man das mit den steuerlichen Entlastungen für hohe Einkommen Um diese den Steuerzahlern zurückzugeben oder künf- und Vermögen über die letzten Jahrzehnte sowie der ge- tig zu vermeiden, muss der Einkommensteuertarif „nach stiegenen Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermö- rechts“ verschoben werden, indem der Grundfreibetrag gensverteilung begründen. und die Einkommensgrenzen der Abschnitte des Einkom- mensteuertarifs um die aufgelaufenen durchschnittlichen Eine moderate Anhebung der Spitzensteuersätze erzielt nominalen Einkommenszuwächse je Steuerzahler erhöht aber nur begrenzte Mehreinnahmen. Würde man beim werden. Ein „Steuertarif auf Rädern“, also die regelmä- geltenden Einkommensteuertarif die linear-progressive ßige Anpassung an die Einkommensentwicklung oder Grenzsteuersatzfunktion der zweiten Progressionszone zumindest an die Inflationskomponente, ist eine beliebte über die derzeitige Einkommensgrenze von 54 057 Euro Forderung.5 hinaus bis zu einem Spitzensteuersatz von 49% „verlän- gern“, entstünden gerade einmal Mehreinnahmen von gut 4 C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke, F. Dorn: Heim- 10 Mrd. Euro im Jahr. Eine separate Erhöhung des „Rei- liche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progres- chensteuersatzes“ würde bei derzeitiger Einkommens- sion und Entlastungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rä- dern, ifo Forschungsberichte, Nr. 76, 2016. grenze je Prozentpunkt weitere 0,5 Mrd. Euro ergeben. 5 Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte dazu 2012 ein Gesetz vor- gelegt: Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/8683. Dazu S. Bach: Abbau 6 S. Bach, H. Buslei: Wie können mittlere Einkommen beim Einkommen- der kalten Progression: Nicht die einzige Herausforderung beim Ein- steuertarif entlastet werden?, in: DIW Wochenbericht, Nr. 20, 2017. kommensteuertarif, in: DIW Wochenbericht, Nr. 12, 2012. 7 Ebenda. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 393
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