Mehr Chancen für Schüler - Wie sich mit Stipendienprogrammen Begabte finden und fördern lassen

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Discussion Paper     5

                                                      Berlin-Institut        für Bevölkerung
                                                                          und Entwicklung

                                                      gefördert von der

Mehr Chancen für Schüler
Wie sich mit Stipendienprogrammen
Begabte finden und fördern lassen
Von Tanja Kiziak, Vera Kreuter und Reiner Klingholz

                                                                             Berlin-Institut 1
Fehlende Mitarbeiter                              In Zukunft weniger Erwerbsfähige                       Deutschland 2009
                                                                                                         100 und älter   Männer       Frauen
                                                  Aktuell sind die Babyboomer-Jahrgänge noch im           95
Derzeit geht in Deutschland die Angst vor
                                                  erwerbsfähigen Alter. Wenn in den nächsten 15 Jah-      90
einem drohenden Fachkräftemangel um.              ren ein Großteil von ihnen in Rente geht, verringert    85
Wenn Unternehmen ihre Wertschöpfungs-             sich die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung um         80
                                                                                                          75
kapazitäten nicht nutzen können, weil Stellen     über fünf Millionen, bis 2050 sogar um 15 Millionen.    70
unbesetzt bleiben, kann dies zu einem Wohl-       Weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Alte            65
                                                  mitversorgen – in zweierlei Hinsicht: Zum einen         60
standsverlust führen.                             werden mehr Arbeitskräfte im Pflege- und Gesund-        55
                                                                                                          50
                                                  heitsbereich gebraucht; zum anderen müssen die          45
Als Ausweg wird zumeist die erhöhte Zuwan-        Arbeitenden mehr erwirtschaften, um den Wohlstand       40
derung qualifizierter Fachkräfte angeführt,       einigermaßen zu sichern.                                35
                                                                                                          30
die das Problem, dass es gegenwärtig zumin-                                                               25
dest in einigen Regionen etwa an Ingenieuren                                                              20
                                                                                                          15
mangelt, kurzfristig lösen könnte.1 Strategien,   Anteil der jeweiligen Altersjahrgänge in Prozent        10
                                                  der Gesamtbevölkerung, Erwerbsfähige in Rot              5
um vorhandene „Begabungsreserven“ stärker         (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt)                0
auszuschöpfen, werden in der Öffentlichkeit
dagegen vergleichsweise wenig diskutiert.                                                                Deutschland 2025
Maßnahmen dazu wären beispielsweise,                                                                     100 und älter
Facharbeiter weiterzubilden und höher zu          In jedem Schülerjahrgang geht ein großes                95
                                                                                                          90
qualifizieren oder die heutige Schülergenera-     Potenzial an hoch Qualifizierten verloren,              85
tion zu fördern.                                  weil der Erfolg im deutschen Bildungssystem             80
                                                                                                          75
                                                  nach wie vor stark von der sozialen Herkunft            70
                                                  abhängt – nur wenige Kinder von Eltern,                 65
                                                                                                          60
                                                  die selbst höchstens einen Hauptschul-                  55
                                                  abschluss haben, schaffen es aufs Gymna-                50
                                                                                                          45
                                                  sium. Offenbar gelingt es der Schule nicht,             40
                                                  herkunftsbedingte Benachteiligungen dieser              35
                                                                                                          30
                                                  Schüler auszugleichen. Ein Mittel, um dieses            25
                                                  brachliegende Potenzial besser auszuschöp-              20
                                                                                                          15
                                                  fen, besteht in der individuellen Förderung             10
                                                  begabter, aber benachteiligter Schüler durch             5
                                                                                                           0
                                                  Stipendienprogramme.
                                                                                                         Deutschland 2050
                                                  Solche Fördermaßnahmen bilden eine lang-               100 und älter
                                                  fristige Strategie: Schüler, die heute in die           95
                                                  fünfte Klasse gehen, werden frühestens in               90
                                                                                                          85
                                                  elf Jahren, also Anfang der 2020er Jahre, ein           80
                                                  Bachelor-Studium abschließen. Doch wie                  75
                                                                                                          70
                                                  wird sich der Fachkräftebedarf bis dahin                65
                                                                                                          60
                                                  überhaupt entwickeln?                                   55
                                                                                                          50
                                                                                                          45
                                                                                                          40
                                                                                                          35
                                                                                                          30
                                                                                                          25
                                                                                                          20
                                                                                                          15
                                                                                                          10
                                                                                                           5
                                                                                                           0
                                                                                                                  0,75 0,5 0,25   0   0,25 0,5 0,75

2 Mehr Chancen für Schüler
Die Arbeitswelt der Zukunft                    Künftig mehr Dienstleistungsberufe

                                               In Zukunft werden immer weniger Beschäftigte in der Produktion und in der Landwirtschaft arbeiten und immer
Das Problem bei weitreichenden Prognosen
                                               mehr im Dienstleistungssektor. Innerhalb dieses Sektors gewinnen aber nur Berufe an Bedeutung, die schwer-
des Fachkräftebedarfs besteht darin, dass      punktmäßig mit Forschen, Entwickeln, Managen, Pflegen, Beraten, Lehren und Publizieren befasst sind, also die
zwar relativ genau bekannt ist, wie viele      sogenannten sekundären Dienstleistungsberufe. Diese Tätigkeiten erfordern überdurchschnittlich häufig eine
Arbeitnehmer in den nächsten Jahren in den     hohe Qualifikation – mindestens Abitur, oft auch einen Hochschulabschluss. Die primären Dienstleistungsberufe
Ruhestand gehen und durch nachrückende         – zum Beispiel Verwaltungs- oder kaufmännische Berufe – bleiben in ihrem Anteil hingegen etwa gleich.
Generationen ersetzt werden müssen – das
ist der sogenannte Ersatzbedarf. Aber wie      2025    17,9                               47,6                                     34,5     Verteilung der
                                                                                                                                            Erwerbstätigen
viele akademisch qualifizierte Fachkräfte
                                               2020    18,6                               47,6                                     33,8     auf die Sektoren,
zusätzlich dazu gebraucht werden – der soge-                                                                                                in Prozent
nannte Expansionsbedarf – ist abhängig von     2015    19,3                               47,6                                     33,1     (Datengrundlage:
konjunkturellen und technologischen Ent-                                                                                                    IAB5)
wicklungen und lässt sich weit schwieriger     2010    20,2                               47,7                                     32,1

vorhersagen.2                                  2005    21,2                               47,9                                     30,9

                                                              10     20      30      40          50   60     70       80      90      100
Langfristig werden zwei Tendenzen die Ent-
wicklung von Angebot und Bedarf an Fach-          Produktion und Landwirtschaft       Primäre Dienstleistungsberufe        Sekundäre Dienstleistungsberufe
kräften bestimmen: erstens der demografisch
verursachte Rückgang des Erwerbspersonen-
potenzials von den 2020er Jahren an, und       wird dann aber auch unter diesen günstigen              Ausbau der Weiterbildungsmöglichkeiten
zweitens die Entwicklung zur Wissensgesell-    Bedingungen ab Mitte der 2020er Jahre die               für ältere Facharbeiter ist es daher sinnvoll,
schaft und damit einhergehend die Akademi-     Oberhand gewinnen. Das Arbeitskräfteange-               einen möglichst großen Anteil der nachwach-
sierung von Tätigkeitsbereichen, die bisher    bot wird sich zwischen 2020 und 2050 – je               senden Jahrgänge zu qualifizieren.
„nur“ eine mittlere Qualifikation erfordern.   nach Zuwanderung – von etwa 43 Millionen
                                               auf 34 bis 37 Millionen verringern.4 Zugleich           Zusätzlich zu dem erheblichen Ersatzbedarf
Aufgrund des Geburtenrückgangs in den          bleibt der Bedarf an Erwerbspersonen                    in den nächsten 15 Jahren, der durch knapp
letzten Jahrzehnten schrumpft die Bevöl-       insgesamt auf dem heutigen Niveau.5 Eine                zweieinhalb Millionen pensionierte Akade-
kerung im erwerbsfähigen Alter, das heißt      McKinsey-Studie rechnet bereits um das Jahr             miker der Babyboomer-Jahrgänge entstehen
zwischen 15 und 64 Jahren, bereits heute.      2020 mit einem flächendeckenden Mangel                  wird,7 werden zukünftig insgesamt mehr
Dieser Rückgang wird voraussichtlich           an qualifizierten Fachkräften, der sich nicht           Arbeitskräfte mit akademischer Qualifikation
bis etwa 2025 noch durch eine höhere           allein dadurch beheben lassen wird, dass die            gebraucht werden. Prognosen über langfris-
Erwerbsbeteiligung aufgefangen, sodass         Erwerbsbeteiligung weiter gesteigert wird.6             tige Entwicklungen des Fachkräftebedarfs
dem Arbeitsmarkt zunächst genauso viele                                                                in einzelnen Tätigkeitsbereichen gehen bis
Personen wie bisher zur Verfügung stehen.4     Da es künftig immer weniger Menschen im                 20255 oder 20308 von einem Stellenwachs-
Allerdings liegen diesen Berechnungen op-      erwerbsfähigen Alter geben wird, wird dieser            tum in den Gesundheitsberufen, in der
timistische Annahmen zugrunde: Der Anteil      Mangel alle Qualifikationsbereiche erfassen.5           Forschungs- und Beratungsbranche und im
der Frauen, die erwerbstätig sind, soll sich   Es handelt sich also um einen umfassenden               Managementbereich aus – also in Berufen,
demnach noch vergrößern, die schrittweise      Arbeitskräftemangel und nicht nur um eine               die eine akademische oder hohe berufliche
Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre soll    Fachkräftelücke im engeren Sinne. Jedoch                Qualifikation voraussetzen. Der Anteil der
die Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeit-     bilden die Lücken bei Fachkräften und hoch              Arbeitskräfte mit Tätigkeiten, die keine Aus-
nehmer steigern, und die Nettozuwanderung      Qualifizierten die größere Herausforderung,             bildung erfordern, wird in allen Bereichen
soll sich auf 100.000 bis 200.000 jährlich     weil ihre Schließung längerfristige Strategien          zurückgehen, während die Nachfrage nach
erhöhen. Der demografische Effekt – also die   verlangt. Für Tätigkeiten, die eine geringere           Arbeitskräften im mittleren Qualifikations-
Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge –     Qualifikation erfordern, können schneller und           segment gleich bleiben oder allenfalls leicht
                                               leichter Arbeitskräfte auch aus dem Ausland             sinken wird.5 Aufgrund all dieser Entwick-
                                               gefunden werden, während hoch qualifizier-              lungen werden bis 2020 etwa eine Million
                                               te Arbeitnehmer nicht nur in Deutschland
                                               gefragt sind und sein werden. Neben einem

                                                                                                                                             Berlin-Institut 3
zusätzliche Arbeitskräfte mit akademischer      Langfristig immer weniger Studierende
Qualifikation benötigt, und die Nachfrage
                                                Die Studierendenzahlen vorauszuberechnen, ist problematisch, weil das Hochschulsystem derzeit umgestaltet
nach ihnen steigt auch danach noch weiter
                                                wird. Daher hat das Statistische Bundesamt drei Varianten mit unterschiedlichen Annahmen beispielsweise zu
an.2 Der Bedarf an Akademikern wird bis         Studienanfängerquoten und Studiendauer berechnet. In allen drei Varianten nimmt die Zahl der Studienanfän-
2030 je nach Tätigkeitsbereich um zehn bis      ger noch bis 2013 zu. Die Ursache liegt vor allem in den doppelten Abiturientenjahrgängen, die in diesem Zeit-
über 50 Prozent zunehmen.8                      raum die Gymnasien verlassen werden. Diese „Bugwelle“ könnte in Wirklichkeit sogar noch größer ausfallen,
                                                weil ab Mitte 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wird und die betroffenen jungen Männer ein Jahr früher an die
                                                Hochschulen drängen. Danach sorgt die demografische Entwicklung dafür, dass die Zahl stetig zurückgeht, weil
Diese Entwicklung hin zu einem höheren An-
                                                die Abiturientenjahrgänge kleiner werden. Je nachdem, wie viele Abiturienten ein Studium aufnehmen wollen,
teil an hoch qualifizierten Tätigkeiten hängt   werden 2025 rund 20.000 bis 50.000 weniger junge Menschen als heute ein Studium beginnen.
damit zusammen, dass mit dem Übergang zur
nachindustriellen Gesellschaft theoretisches    480                                                                                                                                  Prognostizierte Ent-
Wissen immer wichtiger wird. Das zeigt sich                                                                                                                                          wicklung der Studien-
                                                460                                                                                                                                  anfängerzahlen bis 2025
auch in traditionell nicht-akademischen,
                                                                                                        Obere Variante                                                               in Tausend
zum Beispiel handwerklichen Bereichen.9 Es      440
                                                                                                                                                                                     (Datengrundlage: Bil-
gibt immer weniger Berufsfelder, in denen                                                                                                                                            dungsvorausberechnung
                                                420                                                     Basisvariante
Erfahrungswissen oder handwerkliches                                                                                                                                                 2010 des Statistischen
Geschick dominieren. Jobs in der Produk-        400                                                                                                                                  Bundesamtes13)
tion, die traditionell einem großen Teil
                                                380
der Menschen mit keinem oder niedrigem                                                                  Untere Variante
Schulabschluss Arbeit boten, verlieren damit    360
an Bedeutung. Beispielsweise ist der Beruf
                                                340
des KFZ-Mechanikers durch die Entwicklung
immer komplexerer Fahrzeugtechnik und den       320
                                                                                                 2014

                                                                                                                             2018
                                                       2008
                                                              2009
                                                                     2010
                                                                            2011
                                                                                   2012
                                                                                          2013

                                                                                                        2015
                                                                                                               2016
                                                                                                                      2017

                                                                                                                                    2019
                                                                                                                                           2020
                                                                                                                                                  2021
                                                                                                                                                         2022
                                                                                                                                                                2023
                                                                                                                                                                       2024
                                                                                                                                                                              2025
Einsatz von informationstechnischen Syste-
men wesentlich anspruchsvoller geworden
und wurde 2001 von dem neuen Berufsbild
des KFZ-Mechatronikers abgelöst. Es steigt      Bildung: Die Richtung stimmt                                                               verglichen mit anderen Ländern, unterdurch-
also nicht nur der Bedarf an Akademikern,                                                                                                  schnittlich: Nur 28 Prozent der 30- bis 35-Jäh-
sondern eine höhere schulische Vorbildung       Auf den ersten Blick scheint sich Deutschland                                              rigen verfügen über einen Tertiärabschluss.12
ist immer häufiger auch Voraussetzung für       auf den steigenden Bedarf an Akademikern                                                   Im EU-Durchschnitt sind es 31 Prozent, und
viele Ausbildungsberufe. Ein Hinweis darauf     und beruflich hoch Qualifizierten einzustel-                                               der EU-Zielwert für 2020 liegt bei 40 Pro-
ist die Tatsache, dass in bestimmten Berufen    len. Der Anteil der Studienberechtigten, der                                               zent. Die Absolventenquote ist in den letzten
hauptsächlich Abiturienten als Auszubilden-     ein Hochschulstudium aufnahm, lag 2008                                                     Jahrzehnten zwar konstant gestiegen, nimmt
de eingestellt werden, auch wenn formal ein     nach einer Phase der Stagnation erstmals                                                   in Deutschland allerdings langsamer zu als in
Haupt- oder Realschulabschluss ausreicht.10     über 40 Prozent und ist 2010 sogar auf 46                                                  anderen hoch entwickelten Ländern.12 Zudem
                                                Prozent gestiegen.11                                                                       brechen nach wie vor 20 bis 25 Prozent der
                                                                                                                                           Studierenden ihr Studium vorzeitig ab.
                                                Allerdings werden für die Bestimmung der
                                                Studienanfängerzahlen die in Deutschland                                                   Die niedrige Zahl an Hochschulabsolventen in
                                                studierenden Ausländer mit einbezogen,                                                     Deutschland relativiert sich, weil hierzulande
                                                die Deutschland häufig – auch aufgrund der                                                 das gut ausgebaute Berufsbildungssystem
                                                aktuellen Einwanderungspolitik – nach ihrem                                                vielen Arbeitskräften eine hohe Qualifikation
                                                Studium wieder verlassen. Sie stehen folglich                                              verleiht. Aber auch für diese nicht-akademi-
                                                dem Arbeitsmarkt mit ihrer Qualifikation                                                   schen Berufe wird eine höhere schulische
                                                nicht zur Verfügung.12 Der OECD-Durchschnitt                                               Vorbildung immer wichtiger. Insofern darf
                                                der Studienanfängerquote liegt bereits seit                                                sich die Bildungspolitik nicht allein auf eine
                                                2002 bei deutlich über 50 Prozent, mit                                                     Erhöhung der Hochschulabsolventenzahlen
                                                steigender Tendenz. Auch die Quote der                                                     konzentrieren.
                                                Hochschulabsolventen ist in Deutschland,

4 Mehr Chancen für Schüler
Sinkende Schülerzahlen erfordern                         Aufgrund der demografischen Entwicklung                                                     In der Diskussion um (Hoch-)Begabung steht
bessere Talentabschöpfung                                wird der Pool an Kindern und Jugendlichen,                                                  oft die kognitive Begabung im Vordergrund:
                                                         aus dem sich die späteren Fachkräfte rekru-                                                 Die meisten Definitionen von Hochbegabung
Wenn etwa von 2020 an die Erwerbsbevöl-                  tieren, also kleiner. Bleiben Abiturienten- und                                             beziehen sich auf den Intelligenzquotienten,
kerung schrumpft, der Bedarf an Arbeits-                 Studierendenquoten gleich oder erhöhen                                                      den IQ. Eine gewisse kognitive Intelligenz,
kräften insgesamt etwa gleich bleibt und                 sich nur langsam, wird die absolute Zahl                                                    gemessen als IQ, ist auch jenseits der Hoch-
anteilig mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte           an neu ausgebildeten hoch qualifizierten                                                    begabung eine wichtige Voraussetzung für
gebraucht werden, muss die Zahl der Abitu-               Fachkräften sinken, während der Bedarf an                                                   schulische und akademische Bildung, weil
rienten ansteigen, um diesen Bedarf decken               ihnen steigt. Eine Lösung für dieses Problem                                                diese ein hohes Maß an Abstraktionsfähig-
zu können.                                               besteht darin, die „Abschöpfungsquote“ zu                                                   keit voraussetzt. Im Durchschnitt ist es für
                                                         erhöhen und pro Jahrgang mehr Talente zu                                                    Schüler mit hohem IQ leichter, die schuli-
Aber die nachrückenden Jahrgänge werden                  finden und zu einem höheren Abschluss zu                                                    schen Anforderungen zu erfüllen und einen
aufgrund der niedrigen Geburtenraten in                  motivieren als bisher.                                                                      hohen Bildungsabschluss zu erlangen. Das ist
Deutschland kleiner; bereits zwischen 2000                                                                                                           wenig überraschend, denn Intelligenztests
und 2010 ist die Zahl der Erstklässler um                Aber: Gibt es überhaupt genug Begabte? Wie                                                  sind so konstruiert, „dass sie das Bildungs-
knapp zwölf Prozent zurückgegangen.14                    groß sind die bislang ungenutzten „Bega-                                                    niveau möglichst gut vorhersagen, oder kurz:
Dieser Trend wird sich fortsetzen.                       bungsreserven“? Und wo sind sie zu finden?                                                  Intelligenztests messen die Befähigung zu
                                                                                                                                                     hoher Bildung“ 16.
In den nächsten Jahren wird die Zahl der
Schulabgänger zunächst noch zunehmen,                    Was ist Begabung überhaupt?                                                                 Dennoch ist der IQ keineswegs das einzige
weil in fast allen Bundesländern die Schul-                                                                                                          Merkmal, das die schulische und berufliche
zeit bis zum Abitur um ein Jahr verkürzt                 Allgemein wird „Begabung“ als Potenzial                                                     Leistungsfähigkeit einer Person bestimmt.
wurde.13 Von 2014 an aber wird die Zahl der              für herausragende Leistungen in einem oder                                                  Vielleicht ist der IQ noch nicht einmal die
Schulabgänger mit jedem Jahr sinken. 2025                mehreren Bereichen verstanden.15 Der Begriff                                                wichtigste Voraussetzung für gute Leistun-
werden es rund 300.000 weniger sein als                  wird also im Sinne von hoher Begabung ver-                                                  gen. Denn oberhalb einer gewissen Schwelle
2008 – das ist ein Rückgang um ein Viertel.              wendet – oft auch gleichbedeutend mit Hoch-                                                 sind dafür Persönlichkeitsmerkmale wie
Voraussichtlich wird der Rückgang bei den                begabung. Meist ist eine Begabung in einem                                                  Motivation und die Bereitschaft sich anzu-
Hauptschulabsolventen am größten ausfal-                 bestimmten Bereich gemeint, zum Beispiel in                                                 strengen sowie eine anregende, förderliche
len, aber es dürfte 2025 auch 50.000 und                 der Mathematik oder in der Musik.                                                           Umwelt entscheidend. Dies gilt insbesondere
damit rund ein Sechstel weniger Abiturienten                                                                                                         in nicht-akademischen Bereichen, also au-
geben als 2008.13                                                                                                                                    ßerhalb von Wissenschaft und Forschung.15

Abnehmende Schülerzahlen                                 1.400                                                                                                                                  Prognostizierte Zahl der
                                                                                                                                                                                                Absolventen allgemein-
Die nachrückenden Schülerjahrgänge werden etwa           1.200                                                                                                                                  bildender Schulen
von 2015 an immer kleiner. Die Zahl der Abiturienten                                                                                                                                            bis 2025 in Tausend
sinkt zwar langsamer als die Zahl der Schulabsol-        1.000                                                                                                                                  (Datengrundlage:
venten insgesamt (ohne Abschluss, Hauptschul-                    Absolventen allgemeinbildender Schulen                                                                                         Bildungsvorausberech-
abschluss, Mittlere Reife, Hochschulreife), der Anteil    800                                                                                                                                   nung 2010 des Statisti-
der Schüler, der die Schule mit der Allgemeinen oder                                                                                                                                            schen Bundesamtes13)
Fachhochschulreife verlässt, steigt aber nur mäßig:       600
von 36 Prozent im Jahr 2008 auf 40 Prozent im Jahr
2025.                                                     400
                                                                 Absolventen mit Allgemeiner oder Fachhochschulreife
                                                          200

                                                            0
                                                                                                           2014

                                                                                                                                       2018
                                                                 2008
                                                                        2009
                                                                               2010
                                                                                      2011
                                                                                             2012
                                                                                                    2013

                                                                                                                  2015
                                                                                                                         2016
                                                                                                                                2017

                                                                                                                                              2019
                                                                                                                                                      2020
                                                                                                                                                             2021
                                                                                                                                                                    2022
                                                                                                                                                                           2023
                                                                                                                                                                                  2024
                                                                                                                                                                                         2025

                                                                                                                                                                                                        Berlin-Institut 5
In die gängigen Begabungsmodelle werden                  Der Begabtenanteil                               gemäß sind 50 Prozent intelligenter als der
daher auch nicht-kognitive Eigenschaften der                                                              Durchschnitt. Von den 717.000 Erstklässlern
Person und Merkmale der sozialen Umwelt                  Wie groß ist also das Potenzial an Menschen,     im Jahr 201014 waren demnach etwa 115.000
einbezogen.                                              die allgemein oder in bestimmten Bereichen       deutlich überdurchschnittlich begabt; die
                                                         leistungsfähig und daher für eine akademi-       Hälfte, also etwa 358.000, lagen über dem
Ein Begabungsbegriff, der nicht allein auf               sche Ausbildung geeignet sind? Auf diese         Durchschnitt.
die kognitive Intelligenz abhebt, ist auch               Frage gibt es mehrere Antworten.
im Kontext der Suche nach mehr potenziel-                                                                 In den europäischen Ländern wird der Anteil
len Fachkräften sinnvoll: Es geht um die                 Die einfachste Antwort lautet: Es gibt genug     der besonders begabten beziehungsweise
Suche nach den Leistungsfähigen; ob diese                Begabte, weil die Leistung von der Motivation    hochbegabten Kinder auf zwischen drei
Leistungsfähigkeit auf einer herausragenden              und einer förderlichen Umgebung abhängt          und zehn Prozent geschätzt – die Differenz
Intelligenz oder auf besonderem Interesse,               und das abstrakte Denkvermögen, das für          kommt nicht dadurch zustande, dass die
besonderer Motivation und Anstrengung                    gute Leistung in wissensintensiven Berufs-       Kinder je nach Land unterschiedliches Poten-
beruht, ist dabei zweitrangig.                           feldern nötig ist, durch gezielte und frühe      zial haben, sondern durch unterschiedliche
                                                         Maßnahmen bei einem großen Teil der Kinder       Definitionen von Begabung und Schätz-
Nicht zu vergessen: Fachkräfte – mit oder                ausreichend ausgebildet werden könnte.           methoden.17 Von schulischen Fördermaß-
ohne akademische Ausbildung – müssen                                                                      nahmen und außerschulischen Angeboten
nicht unbedingt Spitzenleistungen erbringen,             Will man den Kreis der Begabten stärker          profitiert in allen Ländern nur ein Bruchteil
die der Begriff der (Hoch-)Begabung häufig               einschränken, lohnt sich ein Blick auf den IQ:   dieser Schüler. Untersuchungen in Frankreich
impliziert. Im Sinne des Innovationspoten-               Zwei Prozent der Menschen und damit auch         zeigen beispielsweise, dass nur fünf Prozent
zials und der internationalen Wettbewerbs-               der Schüler sind hochbegabt mit einem IQ         der Hochbegabten identifiziert werden;17
fähigkeit ist es sicherlich wünschenswert,               über 130. 16 Prozent liegen deutlich über        Schätzungen für Deutschland gehen dagegen
auch herausragende Talente zu entdecken                  dem Durchschnittsbereich, das heißt sie          davon aus, dass etwa die Hälfte der Begab-
und zu fördern; für die Erschließung von                 besitzen einen IQ von über 115;15 definitions-   ten gefunden wird.18 Das scheint zunächst
„Begabungsreserven“ kommt jedoch nicht                                                                    problematisch, muss es aber nicht sein:
nur die kleine Gruppe der intellektuell weit                                                              Viele (Hoch-)Begabte zeigen hohe Leistun-
überdurchschnittlich Begabten in Betracht.                                                                gen, ohne als hochbegabt identifiziert und
                                                                                                          speziell gefördert zu werden; und umgekehrt
                                                                                                          ist nicht nur das Potenzial der obersten zwei
                                                                                                          oder fünf Prozent verschenkt, wenn es nicht
Die Verteilung der Intelligenz                                                                            genutzt wird.

Die Höhe der Balken gibt die Häufigkeit des jeweili-
gen IQ-Wertes in der deutschen Bevölkerung an. Die
IQ-Tests sind so geeicht, dass der Mittelwert bei 100
liegt – jeweils die Hälfte der Bevölkerung hat einen
niedrigeren beziehungsweise einen höheren IQ-Wert.
Je weiter die Werte von der Mitte entfernt sind, desto
seltener sind sie. Nur je gut zwei Prozent haben einen
IQ von über 130 oder unter 70; 16 Prozent liegen
über 115 und haben damit deutlich überdurchschnitt-
liche intellektuelle Fähigkeiten.

Häufigkeitsverteilung der Intelligenz-
quotienten in der Bevölkerung
(Normalverteilung mit Mittelwert 100
und Standardabweichung 1515)

40                  55                   70                  85               100                115             130               145              160

6 Mehr Chancen für Schüler
Klassische Begabtenförderung                     sogenanntes Enrichment-Programm, in dem           Schlummernde Talente
                                                 Experten Kurse für hochbegabte Schüler
Die Notwendigkeit individueller Förderung        anbieten.21 Ein anderes Beispiel ist das Schü-    Einen Hinweis auf mögliche Begabungs-
über den Schulunterricht hinaus, um Bega-        lerforschungszentrum Südwürttemberg, in           reserven geben die gravierenden Unterschie-
bungen zur Entfaltung zu bringen, wird bis-      dem besonders interessierte und begabte           de zwischen den sozialen Schichten sowie
lang vor allem im Bereich der Hochbegabung       Schüler mit Wissenschaftlern an Forschungs-       zwischen Schülern mit und ohne Migrations-
erkannt und umgesetzt. Innerhalb des Schul-      projekten arbeiten können.22 Auch die Stif-       hintergrund, was Leistung und Schulerfolg
systems besteht einerseits die Möglichkeit,      tung „Bildung für Thüringen“ bietet für enga-     angeht. Diese Disparitäten werden seit der
eine oder mehrere Klassen zu überspringen.       gierte Schüler mit hohen Leistungen speziell      Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie 2001
Andererseits gibt es für die betroffenen Schü-   in mathematisch-naturwissenschaftlichen           auch in der Öffentlichkeit immer wieder
ler manchmal Zusatzangebote zum normalen         Fächern Seminare und ideelle Förderung an,        diskutiert. Sie deuten darauf hin, dass es
Unterricht, etwa anspruchsvollere Aufgaben       zum Beispiel ein Mentoringprogramm.23 An          gesellschaftliche Gruppen gibt, die aufgrund
oder zusätzliche Projekte. Eine weitere          eine ähnliche Zielgruppe wenden sich auch         äußerer Umstände nicht so viel erreichen,
Möglichkeit besteht in einer vollständigen       Förderprogramme von großen Unternehmen,           wie sie eigentlich könnten.
Trennung hochbegabter von den übrigen            etwa das Bayer-Stipendium.24
Schülern, indem sie besondere Schulen                                                              Ein großer Teil des unentdeckten Potenzials
besuchen. Außerhalb des Schulsystems gibt        Alle diese Angebote erreichen ausschließlich      liegt sicherlich in den sogenannten bildungs-
es für Schüler, die – allgemein oder in einem    Schüler, die bereits unter Beweis gestellt        fernen Schichten: Kinder aus Arbeiterfamilien
bestimmten Bereich – besonders begabt            haben, dass sie auf einem Gebiet oder allge-      haben selbst bei gleicher Begabung und
sind, ebenfalls eine Reihe von Angeboten. In     mein besonders begabt und motiviert sind.         gleichen Schulleistungen eine um das zwei-
Wettbewerben, die es für alle Fachrichtun-       Dadurch werden keine bislang unbekannten          bis dreifach geringere Wahrscheinlichkeit,
gen gibt, können Schüler ihre besonderen         Potenziale entdeckt, sondern erkennbare           aufs Gymnasium zu gehen, als Kinder, deren
Fähigkeiten unter Beweis stellen und sich mit    Potenziale für herausragende Leistungen           Eltern der oberen Dienstklasse angehören.26
anderen messen. Bekannte Beispiele sind die      werden gezielt gefördert. Im Einzelfall mag
Bundeswettbewerbe, etwa für Mathematik           das bei den Wettbewerben anders sein: In          Schüler, bei denen mindestens ein Elternteil
oder Fremdsprachen, oder auch „Jugend            der Auseinandersetzung mit anspruchsvollen        nicht in Deutschland geboren wurde, besu-
forscht“.15                                      Aufgaben aus einem Fachgebiet, das sie            chen ebenfalls seltener das Gymnasium.12
                                                 besonders interessiert, können Schüler, die       Dies gilt selbst dann, wenn der sozioökono-
Auch bei den Schüler-19 und Juniorakade-         im Schulunterricht unauffällig sind, auf ein-     mische Status der Eltern hoch ist – der Mig-
mien20 steht die intensive Beschäftigung         mal hervorragende Leistungen zeigen. Un-          rationshintergrund hat also einen Effekt auf
mit einem Fachgebiet im Mittelpunkt. Aus-        tersuchungen zeigen aber, dass Teilnehmer         den Bildungserfolg, der sich nicht dadurch
gewählte Schüler können an Sommerkursen          an Wettbewerben vorwiegend aus Familien           erklären lässt, dass Zuwanderer einen niedri-
zu einem bestimmten Thema teilnehmen.            mit akademischem Bildungshintergrund und          geren Berufsstatus oder ein schlechteres Ein-
Auswahlkriterien sind herausragende Schul-       hohem beruflichem Status der Eltern stam-         kommen haben. Eine Befragung der Schüler
leistungen und besonders hohe Motivation;        men, in denen sie schon frühzeitig in ihren       nach ihrer Motivation in der Schule hat keine
Schüler können sich nur in Ausnahmefällen        Begabungen gefördert werden.25 So eine            Unterschiede zwischen Jugendlichen mit oder
selbst bewerben, normalerweise werden sie        Förderung von „Spitzentalenten“ ist zweifel-      ohne Migrationshintergrund ergeben. Auch
von ihrer Schule vorgeschlagen.                  los wichtig – bei diesen Schülern handelt es      das erklärt also die Leistungsunterschiede
                                                 sich aber nicht um unentdeckte Potenziale         nicht.27
Neben diesen annähernd bundesweit zu-            oder „Begabungsreserven“.
gänglichen Angeboten gibt es in der Hoch-                                                          Etwa 30 Prozent der unter sechsjährigen
begabtenförderung eine Vielzahl kleiner,         Wo sind diese nun zu finden; wo wird das          Kinder haben in Deutschland einen Migra-
größtenteils regionaler Fördermöglichkeiten,     Potenzial an intellektueller Leistungsfähigkeit   tionshintergrund28 und rund 27 Prozent aller
die vom Konzept her den Schülerakademien         zurzeit noch nicht voll ausgeschöpft? Diese       Schüler haben Eltern, die selbst höchstens
ähneln. In Schleswig-Holstein fördert das        Frage ist insofern schwierig zu beantworten,      einen Hauptschulabschluss haben.12 In den
Bildungsministerium beispielsweise ein           als „nicht erkanntes und nicht genutztes
                                                 Potenzial“ definitionsgemäß nicht unmittel-
                                                 bar sichtbar ist.

                                                                                                                                  Berlin-Institut 7
100                                                                               Verteilung der 15-jährigen
Wessen Kinder kein Abitur machen                                          13                                   11
                                                       90                                             22                                 Schüler auf die Schularten
                                                                                                                        26
Der Anteil der Schüler, die nach der Grundschule                                  33                                                     nach sozioökonomischem
                                                       80        37
das Gymnasium besuchen, unterscheidet sich stark                          26                                   29               50       Hintergrund der Eltern und
                                                        70                                61                                             Migrationshintergrund, in
zwischen den sozialen Schichten und je nach ethni-                                                    27
scher Herkunft. Kinder aus Familien mit hohem sozio-   60                                                               29               Prozent
ökonomischem Status gehen fast fünfmal so häufig       50        27               30                                                        Gymnasium
aufs Gymnasium wie Kinder aus sozial benachteilig-                        31
                                                       40                                                                           22      Realschule
ten Verhältnissen; Schüler mit Migrationshintergrund                                                           46
sind auch bei gleichem Status der Eltern weniger       30                                             36                30                  Hauptschule
                                                                 16               16      20
erfolgreich im deutschen Bildungssystem.                                  11                                                                Integrierte Gesamtschule
                                                        20                                                                          16
                                                                  9               10          6                                             Schule mit mehreren
                                                        10                19                  7       12       12       11          9       Bildungsgängen
                                                                 11                11
                                                                                              6        3        3        4          2
                                                             Gesamt Niedrig Mittel      Hoch      Gesamt Niedrig    Mittel   Hoch
                                                                                                                                         (Datengrundlage: Pisa-E
                                                                      Sozioökonomischer Status             Sozioökonomischer Status      2006; Quelle: Autoren-
                                                                Beide Eltern in Deutschland          Mindestens ein Elternteil im        gruppe Bildungsbericht-
                                                                          geboren                        Ausland geboren                 erstattung 201012)

letzten Jahren ist dabei vor allem der Anteil          mikerkindern bei fast 62 Prozent.29 Von den             und schulischer Leistung enger ist als die
an Kindern stetig gestiegen, deren Eltern              717.000 Schulanfängern im Jahr 2010 hatten              zwischen sozialer Herkunft und Intelligenz“31
keinerlei allgemeinen Schulabschluss vorwei-           etwa 194.000 Eltern, die selbst höchstens               – das heißt, dass zumindest ein Teil der Leis-
sen können.12                                          einen Hauptschulabschluss besitzen; von                 tungsdefizite, die die Pisa-Studie offenbarte,
                                                       diesen werden – wenn sich die Quoten nicht              darauf zurückzuführen ist, dass Kinder aus
Dass Jugendliche je nach Herkunft unter-               verändern – nur 28.000 aufs Gymnasium                   den sozial benachteiligten Schichten ihre
schiedliche Bildungschancen haben, ist                 gehen. Um die Dimension der ungenutzten                 Begabung weniger gut entfalten können,
nicht allein problematisch, weil potenzielle           Begabungsreserve abzuschätzen, kann man                 und nicht darauf, dass sie weniger begabt
Fachkräfte verloren gehen. Da politisches              berechnen, wie viele von diesen Kindern                 wären. Möglicherweise wäre eine sehr hohe
Interesse, ehrenamtliches Engagement oder              den Weg zum Abitur einschlagen würden,                  Übergangsquote ans Gymnasium – wie die
auch das Gesundheitsbewusstsein direkt                 wenn sie die gleichen Übergangsquoten aufs              der Kinder von Akademikern – für Kinder von
mit dem Bildungsstand zusammenhängen,                  Gymnasium hätten wie die restlichen Kinder.             Eltern mit geringem Bildungsstand unrealis-
zieht die mangelnde Chancengleichheit                  Läge diese Quote für sie bei 35 Prozent, wie            tisch. Aber selbst eine moderate Erhöhung
auch hier einen Verlust für die Gesellschaft           bei der „mittleren“ Gruppe, würden es etwa              der Quote von 14 auf 35 Prozent würde im ak-
nach sich. Darüber hinaus wirken sich die              67.000 aufs Gymnasium schaffen; läge sie so             tuellen Schulanfängerjahrgang fast 40.000
schlechteren Bildungsaussichten negativ auf            hoch wie bei den Akademikerkindern, wären               zusätzliche Abiturienten bringen.
den Einzelnen aus, etwa was das Einkommen,             es sogar fast 120.000. Je nach Schätzgrund-
aber auch die Selbsteinschätzung des Ge-               lage liegt die Begabungsreserve bei Kindern             In gleicher Weise lassen sich die Reserven
sundheitszustands und des zwischenmensch-              aus „bildungsfernen“ Elternhäusern also bei             bei den Schülern mit Migrationshintergrund
lichen Vertrauens angeht.12                            gut 39.000 oder sogar knapp 92.000.                     abschätzen. Hätten sie die gleichen Chan-
                                                                                                               cen, das Gymnasium zu besuchen, wie die
Die Wahrscheinlichkeit, nach der Grund-                In diesen Abschätzungen wird eine Ungleich-             deutschstämmigen Kinder, würden vom
schule aufs Gymnasium zu wechseln, ist                 verteilung von Leistung und Begabung zwi-               Einschulungsjahrgang 2010 rund 30.000
also stark von der Herkunft abhängig. Von              schen den sozialen Schichten nicht berück-              zusätzlich den Weg zum Abitur einschlagen.
Kindern, deren Eltern selbst höchstens über            sichtigt. Schüler von Eltern mit niedrigem
einen Hauptschulabschluss verfügen, schaff-            Bildungsabschluss zeigen im Durchschnitt                Warum aber haben Schüler aus benachteilig-
ten das im Jahr 2007 gut 14 Prozent. Bei               schlechtere Leistungen.27 Aber auch bei glei-           ten Familien so viel schlechtere Chancen als
Kindern von Eltern mit mittlerem Abschluss             cher Schulleistung gehen Kinder aus den obe-            ähnlich begabte aus den oberen Schichten,
lag die Quote bei etwa 35 Prozent, bei Akade-          ren Sozialschichten häufiger aufs Gymnasium             einen hohen Schulabschluss zu erreichen?
                                                       als Kinder aus sozial weniger begünstigten              Welchen Hürden begegnen sie während ihrer
                                                       Familien.30 Es gibt außerdem Belege dafür,              Schullaufbahn?
                                                       dass „die Beziehung zwischen Sozialstatus

8 Mehr Chancen für Schüler
Hürden auf dem Bildungsweg                        Neben dem schulischen Abschluss der              die Familie verbunden. Diese Investition
                                                  Eltern kann auch ihre berufliche Stellung        zahlt sich zwar in der Regel langfristig aus,
Häufig fällt im Zusammenhang mit den              eine wichtige Rolle für den Bildungsverlauf      weil eine höhere Qualifikation ein höheres
unteren Sozialschichten der Begriff „Bil-         der Kinder spielen. Wenn die Eltern auf dem      Einkommen ermöglicht und das Risiko der
dungsferne“. Damit wird in der Regel nicht        Arbeitsmarkt erfolgreich sind, bieten ihre       Arbeitslosigkeit senkt;12 wenn die finanziel-
nur auf ein geringes Bildungsniveau der           beruflichen Erfahrungen ihnen Informations-      len Ressourcen jedoch knapp sind, fällt die
Erziehungsberechtigten verwiesen, sondern         vorteile: Sie wissen häufig besser, welche       Entscheidung dennoch häufiger zugunsten
es wird zugleich angedeutet, dass Bildung         Qualifikationen für bestimmte Positionen         einer niedrigeren Qualifikation und einem
in diesen Schichten bestenfalls eine geringe      notwendig oder erfolgversprechend sind, und      früheren Eintritt in den Arbeitsmarkt aus.
Wertschätzung erfährt.                            können damit wichtige Kenntnisse an ihre         Je geringer das verfügbare Einkommen ist,
                                                  Kinder weitergeben.32                            desto stärker fallen die erwarteten Kosten
Ersteres geht aber nicht zwangsläufig mit                                                          eines längeren Schulbesuchs ins Gewicht
letzterem einher. Auch Eltern, die selbst         Insgesamt schätzen Kinder aus sozial be-         und beeinflussen die Entscheidung.
keinen oder nur einen Hauptschulabschluss         nachteiligten Schichten beziehungsweise
haben, können für ihre Kinder eine hohe           deren Eltern ihre Erfolgswahrscheinlichkeit      Die Gründe dafür, dass Begabung in unteren
Bildung anstreben. Sie sind dann nicht „bil-      auf dem Gymnasium oder später im Studium         Schichten häufiger als in den höheren nicht
dungsfern“ im herkömmlichen Sinn, sondern         schlechter ein. Das kann wiederum mit feh-       in Leistung und Schulerfolg umgesetzt wird,
höchstens „bildungssystemfern“, das heißt         lenden Kenntnissen über die tatsächlichen        liegen also teilweise in der finanziellen
sie sind mit dem System der höheren Bildung       schulischen Anforderungen zusammenhän-           Ausstattung der Familien und teilweise
nicht vertraut und kennen seine Institutionen     gen, aber auch damit, dass Familien aus          – vermutlich zu einem größeren Teil – in
und Inhalte nicht. Diesen Eltern fällt es daher   sozial benachteiligten Schichten weniger         Faktoren, die sich unter dem Schlagwort der
auch schwerer, strategisch günstige Entschei-     Ressourcen zur Verfügung stehen, um ihre         „Bildungs(system)ferne“ zusammenfassen
dungen für die Schullaufbahn ihrer Kinder         Kinder zu unterstützen. Wenn Eltern selbst       lassen: geringere subjektive Erfolgsaus-
zu treffen und die Kinder auf einem höheren       nur über eine geringe Schulbildung verfügen,     sichten, geringeres Wissen über berufliche
Bildungsweg beratend zu begleiten.32 Ähnlich      haben sie zum Beispiel geringere Möglich-        Chancen, geringere Kenntnisse über Optio-
stellt sich die Lage bei Zuwanderern dar, die     keiten, ihren Kindern bei den Hausaufgaben       nen im Bildungssystem.
in ihrem Herkunftsland zwar einen mittleren       kompetent zu helfen.32 Und für Nachhilfe fehlt
oder höheren Schulabschluss gemacht ha-           oftmals das Geld.                                Will man Begabungsreserven heben, so
ben, die aber über die Rahmenbedingungen                                                           muss man den Kindern und Jugendlichen
des deutschen Schulsystems wenig wissen.          Finanzielle Hürden können auch im Sozial-        helfen, diese Hürden zu überwinden. Im
In den Befragungen für die Pisa-Studie 2009       staat, in dem der Einzelne weitgehend gegen      Idealfall sollte dies direkt vom Schulsystem
geben etwa einige türkische Zuwanderer            echte materielle Not abgesichert ist, einen      geleistet werden. Die Pisa-Ergebnisse zur
an, dass ihre Kinder ein Hochschulstudium         großen Einfluss auf den Bildungsverlauf          Bildungsgerechtigkeit in Deutschland wer-
absolvieren sollen, obwohl die Kinder derzeit     nehmen: Studien zur Kinderarmut zeigen,          fen – trotz aller Verbesserungen seit 2001
die Hauptschule besuchen.27 In vielen Fällen      dass insbesondere dauerhafte Armut die           – allerdings erhebliche Zweifel daran auf,
ist also ein Bewusstsein über die Wichtigkeit     Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder er-         dass die Schulen dieser Anforderung derzeit
von Bildung vorhanden, aber die Vertraut-         heblich beeinträchtigt – auch im schulischen     gerecht werden können. Was aber sind die
heit mit den tatsächlichen Regelungen und         Bereich.33 Es ist also davon auszugehen, dass    Alternativen?
Optionen fehlt.                                   ein Teil der Begabungspotenziale aufgrund
                                                  von finanziellen Problemen nicht ausge-
                                                  schöpft wird.

                                                  Denn die Entscheidung für einen längeren
                                                  Schulbesuch und ein Hochschulstudium ist,
                                                  etwa im Vergleich mit einer betrieblichen
                                                  Ausbildung, zunächst mit Mehrkosten für

                                                                                                                                   Berlin-Institut 9
Begabte durch individuelle Förderung           Der Schulbesuch stellt dagegen aufgrund der                 um Begabten trotz sozialer Benachteiligung
aus der Reserve locken                         allgemeinen Schulpflicht erstens ein Muss für               ein Studium zu ermöglichen, im Oberstufen-
                                               alle dar. Zweitens kann von einem Verdienst-                bereich der Schule in ähnlicher Weise greifen
Es gibt mittlerweile eine große Anzahl an      ausfall zunächst keine Rede sein. Und drittens              könnten.
außerschulischen Akteuren, die sozial benach- handelt es sich bei den Bildungsteilnehmern
teiligten Schülern zu größeren Bildungs- und   um minderjährige Kinder und Jugendliche, für                Allerdings wird die Entscheidung für oder
Berufserfolgen verhelfen möchten. Dazu         die die Erziehungsberechtigten verantwort-                  gegen das Abitur nicht erst kurz vor dem
gehören Initiativen aus der Zivilgesellschaft, lich sind.                                                  Eintritt in die Oberstufe getroffen. Durch die
etwa Mentorenprogramme wie „Rock your                                                                      frühe Aufteilung in verschiedene Bildungsgän-
life“34 oder „Agabey-Abla – Großer Bruder,     Aber die Schulpflicht deckt nicht alle Etappen              ge werden die Schüler in Deutschland bereits
große Schwester“35, aber auch die vom Bund     der schulischen Bildung ab. Bereits die Ober-               in jungen Jahren in eine bestimmte Bahn
finanzierten „Bildungslotsen“36. Viele der     stufe, die zum Abitur führt, und nicht erst das             gelenkt, die später oft nur noch schwer zu
Programme richten sich an Hauptschüler,        Studium, ist Teil eines freiwilligen Bildungs-              verlassen ist.10 Geht es darum, durch eine in-
einige auch an Abiturienten; „Arbeiterkind“37 wegs. Bei sozial Benachteiligten dürfte die                  dividuelle Förderung möglichst viele begabte
beispielsweise möchte Kinder aus Nicht-        Entscheidung für oder gegen das Abitur daher                sozial Benachteiligte zum Abitur zu führen, ist
Akademiker-Familien durch ein breites Infor-   der Entscheidung für oder gegen ein Studium                 abzuwägen, in welchem Alter die Förderung
mationsangebot zur Aufnahme eines Studiums ähneln. Entsprechend ist auch anzunehmen,                       ansetzen sollte; am Übergang zur Sekundar-
ermutigen.                                     dass Maßnahmen, die bereitgestellt werden,                  stufe II könnte es bereits zu spät sein.

Im Rahmen dieses Discussion Papers können
die vielfältigen Initiativen nicht alle gewürdigt Wie die soziale Herkunft den Bildungsweg beeinflusst
werden. Hier liegt der Schwerpunkt auf An-
sätzen, die erstens auf einen möglichst hohen Die Entscheidung für oder gegen einen längeren Schulbesuch beziehungsweise höheren Abschluss wird auf
                                                  mehreren Wegen von der sozialen Herkunft beeinflusst. Nicht zuletzt wegen ihrer mangelnden Ausstattung
Schulabschluss zielen und die sich zweitens       mit Ressourcen wie Büchern oder einem PC fällt die Schulleistung bei benachteiligten Kindern im Allgemeinen
die studentische Förderung zum Vorbild neh- schlechter aus. Lehrer empfehlen diesen Kindern daher seltener den Besuch eines Gymnasiums; die Kinder
men. Die individuelle Unterstützung durch         schätzen ihre Erfolgsaussichten aber selbst auch schlechter ein. Die Herkunft beeinflusst darüber hinaus,
Leistungen nach dem Bundesausbildungsför- wie stark die Kosten eines längeren Bildungsweges ins Gewicht fallen und wie hoch die möglichen Erträge
derungsgesetz (Bafög) und Stipendien gehört eingestuft werden. Somit hängt selbst bei gleicher Leistung die Entscheidung für oder gegen den Besuch
                                                  eines Gymnasiums von der sozialen Herkunft ab. Finanzielle Förderung kann dazu beitragen, die Kosten eines
im tertiären Bildungsbereich schon lange          längeren Bildungswegs abzufedern; eine Berufsorientierung kann über die Erträge eines höheren Abschlusses
zur gängigen Praxis, denn hier hat sich das       informieren; zusätzliche Bildungsangebote und individuelle Betreuung und Beratung können die Schulleistung
Bewusstsein durchgesetzt, dass es Begabten        verbessern und die subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen.
unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund
möglich sein sollte, ein Studium aufzunehmen. Modell für Bildungsentscheidungen in
                                                     Abhängigkeit von der sozialen Herkunft                       finanzielle
                                                     (Eigene, erweiterte Darstellung nach                         Förderung              Berufsorientierung
Dagegen scheint es bislang nicht zum etab-           Maaz/Baumert/Trautwein 200926)
lierten Meinungsbild zu gehören, dass auch
im schulischen Bereich eine vergleichbare
individuelle Unterstützung – das heißt: die                                                                                                Einschätzung
Gewährung einer Förderleistung auf der                                                Ressourcen                                          der Kosten und
                                                                                                                                         möglichen Erträge
Grundlage eines Einzelantrags – sinnvoll sein
könnte. Dies mag an einer unterschiedlichen
                                                                                                             Erfolgserwartung,
Wahrnehmung von Studium und Schulbesuch                                                                       Beurteilung der
liegen: Die Studierenden nehmen freiwillig                                                                  Realisierungschancen
einen um Jahre verzögerten Berufseintritt
in Kauf und tragen als Erwachsene auch die
Verantwortung für diese Bildungsentschei-                                                                         zusätzliche
dung. Dass sozial Benachteiligte nur dann                                              schulische             Bildungsangebote               Bildungs-
                                                                                        Leistung                und Beratung               entscheidung
ein Studium aufnehmen können, wenn sie
gefördert werden, erscheint nahe liegend.

10 Mehr Chancen für Schüler
Schülerstipendien – eine                         Einigen Stiftungen geht es darum, arme oder      dabei gezielt, auch Haupt- oder Realschüler
Bestandsaufnahme                                 in anderer Weise benachteiligte Familien bei     für diesen Abschluss zu gewinnen. Es gibt
                                                 der Ausbildungsfinanzierung ihrer Kinder         darüber hinaus auch erste Ansätze, sehr
Es wird schnell klar, dass für Schüler weitaus   zu entlasten. Sie kommen für Schulgeld,          viel früher mit der ideellen Förderung zu
weniger individuelle Fördermöglichkeiten         Lernmaterial, Nachhilfe, Schulexkursionen,       beginnen, um Kindern einen möglichst hohen
bereitstehen als für Studierende: Bafög etwa     Instrumente oder auch den allgemeinen            Schulabschluss zu ermöglichen. Die Roland
kann nur von Schülern beantragt werden,          Lebensunterhalt auf.                             Berger Stiftung beispielsweise fördert Kin-
die nicht mehr bei ihren Eltern leben.38 Der                                                      der bereits ab der ersten Klasse ideell, und
Bund engagiert sich stark bei studentischen      Mit so einer finanziellen Unterstützung lassen   das Diesterweg-Stipendium richtet sich an
Stipendien, indem er die zwölf bundesweit        sich zwar die Kosten des schulischen Bil-        Grundschüler am Übergang zur weiterführen-
tätigen Begabtenförderungswerke mit finan-       dungswegs abfedern, aber nicht die weiteren      den Schule.
ziellen Mitteln ausstattet. Zu den Förder-       Hürden umgehen, die sich aus mangelndem
werken zählen unter anderem die politischen      Wissen über Chancen und Möglichkeiten oder       Bei fast allen Programmen, die auf die Bega-
und kirchlichen Stiftungen, aber auch die        aus fehlendem Selbstvertrauen ergeben. Mit       bungsreserven abzielen, erfahren die Schüler
Studienstiftung des Deutschen Volkes oder        einer rein finanziellen Unterstützung dürften    neben der ideellen Förderung auch eine
die Stiftung der deutschen Wirtschaft.39         daher vor allem Schüler zu einem hohen           finanzielle Unterstützung. Sie dürfen sich
Zusätzliche finanzielle Mittel werden für das    Schulabschluss gelangen, die einerseits zwar     beispielsweise ein Laptop oder Fachbücher
2010 neu geschaffene „Deutschlandstipendi-       bedürftig sind, die andererseits ihren Weg       kaufen oder können Kursgebühren für zusätz-
um“ bereitgestellt; hier wird die Hälfte eines   im Bildungssystem aber – eventuell unter         liche Bildungsangebote davon bezahlen.
Stipendiums vom Bund und die andere von          Mithilfe engagierter Eltern oder Lehrer – ge-
privaten Geldgebern finanziert.40                funden haben. Ungemein schwieriger ist es,       Die Art der Förderleistung – rein finanziell,
                                                 Schüler zum Abitur zu führen, die nicht allein   rein ideell oder eine Mischform aus beidem
Eine derartige vom Bund geförderte               von ihrer finanziellen Lage zurückgehalten       – gibt einen Hinweis darauf, wie die Auswahl
Stiftungslandschaft ist für Schüler nicht        werden.                                          der Stipendiaten von den jeweiligen Program-
vorhanden, was auch daran liegt, dass die                                                         men getroffen wird. Geht es allein um die
Schulbildung Ländersache ist. Doch auch auf      Zu diesem Zweck wurden in den letzten Jah-       finanzielle Förderung eines Schülers, stellt
Länderebene gibt es keine vergleichbaren,        ren von einigen Stiftungen Programme ein-        Bedürftigkeit meist das Hauptkriterium dar.
von der öffentlichen Hand getragenen Stipen-     geführt, bei denen die ideelle Förderung eine    Dies gilt beispielsweise für die Förderpro-
dienprogramme für Schüler.                       zentrale Stellung einnimmt. In Seminaren         gramme, die sich an Waisenkinder richten.
                                                 und Workshops können die Schüler Schlüs-         Neben der Bedürftigkeit wird allerdings in
Neben den zwölf Begabtenförderungswerken         selkompetenzen wie Zeitmanagement oder           den meisten Fällen auch eine gewisse Leis-
gibt es für Studierende eine Vielzahl an Stif-   Lern- und Arbeitstechniken erwerben und          tungsbereitschaft vorausgesetzt. Begabung
tungen, die Stipendien aus eigenen finanziel-    Orientierung in Bildungsfragen erhalten. Sie     und Motivation stehen dagegen stärker
len Mitteln anbieten und die damit das staat-    dürfen an Exkursionen teilnehmen, und teil-      im Vordergrund, wenn es um die ideelle
lich finanzierte Angebot ergänzen.41 Bei Schü-   weise stehen ihnen auch Mentoren zur Seite.      Förderung geht. Beides sollte sich in guten
lerstipendien kommt den Stiftungen dagegen       Derartige ideelle Förderprogramme beziehen       Schulnoten und/oder Empfehlungsschreiben
nicht nur eine ergänzende Rolle zu – sie sind    ein Stück weit auch immer die Eltern mit ein,    von Lehrern widerspiegeln – wobei die Schul-
in diesem Bereich Vorreiter und Hauptakteur,     die in der Regel über keinen akademischen        noten nicht immer überragend sein müssen,
das heißt sie bestreiten die existierenden       Hintergrund verfügen. Diese können ihre          etwa wenn schwierige familiäre Verhältnisse
Schülerstipendienprogramme allein oder           Kinder beispielsweise zum festlichen Auftakt     vorliegen. Darüber hinaus wird bei den Aus-
initiieren Kooperationen mit Landesministe-      des Stipendiatendaseins begleiten oder an        wahlkriterien dem sozialen Engagement der
rien, Vereinen, Unternehmen, Wirtschaftsver-     Informationsveranstaltungen teilnehmen.          Schüler sehr viel Bedeutung beigemessen.
bänden oder auch Privatpersonen. Die Profile     Die meisten ideellen Programme richten sich
der einzelnen Schülerstipendienprogramme         an Schüler der Mittel- und Oberstufe. Je älter
unterscheiden sich dabei zum Teil beträcht-      die Zielgruppe ist, desto eher geht es bereits
lich. Je nach Zielsetzung variieren die Aus-     um den Übergang zwischen Schule und
wahlkriterien, die praktische Umsetzung und      Studium. Bei jüngeren Schülern steht dage-
auch die Förderleistungen.                       gen erst noch das Bildungsziel „Abitur“ im
                                                 Vordergrund. Einige Programme versuchen

                                                                                                                                Berlin-Institut 11
Flickwerk statt Flächendeckung                     Ähnlich beschränkt ist der Zugang bei För-      Nun zu den ideellen Stipendienprogrammen.
                                                   derprogrammen, die einen ganz bestimmten        Als größere Initiativen, bei denen auch eine
Es gibt also durchaus eine ganze Palette an        beruflichen Hintergrund von mindestens          finanzielle Förderung vorgesehen bezie-
Schülerstipendien. Doch reicht das Angebot         einem Elternteil voraussetzen. Zwei Beispie-    hungsweise möglich ist, sind die Programme
aus? Die Suche in gängigen Stipendien-             le: Die August-Schmidt-Stiftung wendet sich     „Chance2“, „grips gewinnt“, die Roland Berger
Datenbanken, etwa beim Bundesministe-              an Waisen verunglückter Arbeitnehmer aus        Schülerstipendien „Fair Talent“ und „Fit für
rium für Bildung und Forschung42 oder bei          Bergbau, Energie und Chemie, während die        Verantwortung“, „Start – Das Stipendien-
E-Fellows43, liefert zunächst erfreulich viele     Emilie-Porzersche Stiftung bedürftige bayeri-   programm für engagierte Schülerinnen und
Treffer. Allerdings verbergen sich hinter          sche Beamtentöchter fördert.                    Schüler mit Migrationshintergrund“, „Talent
einem Großteil von ihnen lediglich Finanzie-                                                       im Land – Schülerstipendien für begabte
rungsmöglichkeiten für ein zeitlich begrenz-       Neben diesen kleineren, in Bezug auf die        Zuwanderer“ sowie das „Diesterweg-Stipen-
tes Vorhaben wie etwa ein Austauschjahr.           Zielgruppe äußerst beschränkten Stipendien-     dium für Kinder und ihre Eltern“ zu nennen.
Derartige Programme sollen hier nicht weiter       vergebern finden sich kaum größere Akteure,     Letzteres stellt eine Besonderheit dar, da es
beachtet werden. Im Vordergrund steht die          bei denen Schüler sich um eine finanzielle      sich nicht als Schülerstipendium, sondern
dauerhafte Förderung eines Schülers in sei-        Förderung bewerben können. Bedürftige           als Bildungsstipendium für die ganze Familie
nem normalen schulischen Umfeld, wobei die         Schüler mit Wohnsitz in Bayern können sich      versteht. Mit dem „Studienkompass“ gibt es
Bestandsaufnahme in zwei Schritten erfolgt:        an die Gustav-Schickedanz-Stiftung wenden,      des Weiteren noch ein Programm, das sich
Erst werden die finanziellen, dann die ide-        die 70 Plätze pro Jahr vergibt. Hinzu kommen    auf die ideelle Förderung beschränkt.
ellen Förderprogramme betrachtet. Details          mit dem Kölner Gymnasial- und Stiftungs-
zu den Programmen finden sich im Anhang.           fonds und dem Reemtsma Begabtenför-             Die Namen lassen bereits erkennen, dass
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass          derungswerk zwei Stipendienanbieter, bei        zwei der Programme auf eine ganz bestimm-
weitere Schülerstipendienprogramme exis-           denen sich Schüler aus der ganzen Republik      te Untergruppe der sozial benachteiligten
tieren – diese sind dann aber weder in den         bewerben können. Zusammengenommen               Schüler zugeschnitten sind, nämlich auf
genannten Datenbanken noch durch einschlä-         vergeben sie jährlich etwa 80 Stipendien.       diejenigen mit Migrationshintergrund. Die
gige Suchbegriffe im Internet zu finden.                                                           anderen Programme fassen ihre Zielgruppe
                                                                                                   weiter und wenden sich auch an Kinder aus
Bei den finanziellen Förderprogrammen zeigt
sich, dass sie meist nur einem äußerst eng
begrenzten Personenkreis zugutekommen.
                                                                             Regionale Ausdehnung               Neuzugänge pro Jahr (Trend)
Dies ist vor allem bei Stipendien der Fall, die
von sehr kleinen Stiftungen ermöglicht und         Chance2                   Duisburg, Essen und umliegende 25
auf städtischer beziehungsweise kommuna-                                     Städte
ler Ebene verwaltet werden. Insbesondere in        Diesterweg-               Frankfurt am Main                  32 alle zwei Jahre
Bayern findet sich eine ganze Reihe derarti-       Stipendium
ger Zusammenschlüsse von Stiftungen und
                                                   grips gewinnt             Bremen, Hamburg,                   50
Stadtverwaltungen, bei denen ausschließlich
                                                                             Mecklenburg-Vorpommern
einheimische Schüler (und teilweise auch
Studierende) eine finanzielle Förderung            Roland Berger             Hessen, Sachsen, Thüringen         frei werdende Plätze
beantragen können.                                 Schülerstipendium                                            werden neu belegt
                                                   Fair Talent                                                  (Gesamtkapazität: 150)
                                                   Roland Berger             Baden-Württemberg,                 frei werdende Plätze
Angebote für ideelle Förderung                     Schülerstipendium         Bayern, Berlin, Brandenburg,       werden neu belegt
Die Zugangsmöglichkeiten zu ideellen Förderpro-
                                                   Fit für Verantwortung     Nordrhein-Westfalen                (Gesamtkapazität: 210)
grammen sind sowohl regional als auch aufgrund     Start-Stipendien          Alle Bundesländer außer Baden-     knapp 200
der Teilnehmerzahlen beschränkt. Zu beachten
                                                                             Württemberg und Bayern
ist, dass die Gesamtzahl der geförderten Schüler
höher liegt als die Zahl der Neuzugänge, wenn      Studienkompass            23 Regionen in Deutschland         knapp 500
mehrere Stipendiaten-Jahrgänge gleichzeitig
betreut werden.                                    Talent im Land            Baden-Württemberg, Bayern          100

12 Mehr Chancen für Schüler
Nicht-Akademiker-Familien oder an bedürf-        die Diskrepanz zwischen Bewerber- und            beiter. Darüber hinaus räumen die Schüler
tige Schüler. Dennoch ist fraglich, für wie      Teilnehmerzahlen verweist auf den Mangel an      dem Austausch mit den Mit-Stipendiaten
viele sozial Benachteiligte die Programme        Schülerstipendien. Dieser Mangel wird auch       und Alumni einen hohen Stellenwert ein. Die
tatsächlich zugänglich sind. Das liegt auch      in einem anderen Vergleich offensichtlich:       finanzielle Unterstützung, die bei „Talent im
daran, dass die ideellen Förderangebote an       Die genannten acht ideellen Förderprogram-       Land“ und beim Start-Stipendienprogramm
konkrete Orte gebunden und damit regional        me zusammen schreiben weniger als 1.000          hinzukommt, wird gegenüber der ideellen
beschränkt sind. Die größte Ausdehnung           neue Stipendienplätze pro Jahr aus – dem         Förderung zwar als zweitrangig erachtet.
erreicht die Start-Stiftung, die in vierzehn     steht, wie weiter oben diskutiert wurde,         Aber sie wird dennoch wertgeschätzt, ins-
Bundesländern vertreten ist.                     eine geschätzte Begabungsreserve von etwa        besondere wenn es um Ausgaben für eine
                                                 40.000 Kindern pro Jahrgang gegenüber.           grundlegende „Bildungsinfrastruktur“, etwa
Eine flächenmäßig breite Ausrichtung ist                                                          eine PC-Ausrüstung, geht. Dass die Teilnahme
jedoch noch kein Garant für große Aufnahme-      Hinzu kommt, dass es sich bei den Schüler-       für den Einzelnen einen persönlichen Gewinn
kapazitäten. Zwar betreut die Start-Stiftung     stipendienprogrammen um Projekte handelt,        bedeutet, steht somit außer Frage.
pro Jahr insgesamt rund 700 Stipendiaten         die zunächst nur auf Zeit finanziert sind. Wie
in 14 Bundesländern; diese stammen jedoch        es mit ihnen in Zukunft weitergeht, ist noch     Doch wie steht es mit dem erklärten Ziel, Kin-
aus mehreren Jahrgängen, da die Schüler          offen, auch wenn von den Stiftungen bereits      der und Jugendliche aus den Begabungsre-
drei bis vier Jahre lang gefördert werden. Neu   Konzepte zur Skalierung und Fortführung          serven für einen höheren Bildungsabschluss
aufnehmen kann die Start-Stiftung pro Jahr       erarbeitet werden.                               zu gewinnen? Zwei Teilfragen müssen hier
nur 200 Stipendiaten – das sind im Schnitt                                                        separat beantwortet werden: Erstens, lassen
nicht einmal 15 Schüler pro teilnehmendem                                                         sich die Schüler auf das erklärte Bildungsziel
Bundesland.                                      Lob und Kritik                                   ein? Und zweitens, erreichen die Programme
                                                                                                  die Zielgruppe?
Auch bei den meisten anderen ideellen            Allem Anschein nach stehen in Deutschland
Stipendienprogrammen fällt das jährliche         zu wenig Schülerstipendien zur Verfügung.        Die erste Frage wird in den Evaluationen im
Kontingent an Stipendien nicht großzügi-         Bevor nun allerdings der Ruf nach einem Aus-     Wesentlichen bejaht. Bei „Talent im Land“
ger aus. Ein benachteiligter, aber begabter      bau der Stipendienprogramme ertönt, muss         etwa wechselte ein beträchtlicher Anteil der
Jugendlicher hat insgesamt also geringe          zunächst die Frage gestellt werden, ob die       Stipendiaten während der Förderung auf eine
Aussichten, von einem Stipendienprogramm         ideellen Förderprogramme denn überhaupt          Schulform, an der das Abitur gemacht wer-
zu profitieren. Für einen sozial benachteilig-   ihre Ziele erreichen.                            den kann. Beim Start-Stipendienprogramm
ten Schüler ohne Migrationshintergrund aus                                                        erlangten 97 Prozent der Stipendiaten das
dem Saarland oder aus Schleswig-Holstein         Zur Beantwortung der Frage können unab-          Abitur. Und beim Studienkompass lag die
ist die Chance sogar gleich null, weil es hier   hängige Evaluationen herangezogen werden,        Brutto-Studier-Quote, das heißt die Quote
kein passendes Stipendienprogramm gibt.          da die Stiftungen ihre Programme wissen-         derer, die möglichst bald nach dem Abitur
Zwar ist die Start-Stiftung in beiden Bundes-    schaftlich begleiten lassen, um Verbesse-        studiert beziehungsweise studieren will, bei
ländern aktiv – aber sie nimmt nur Bewerber      rungsmöglichkeiten aufzudecken und Erfolge       93 Prozent.
mit Migrationshintergrund auf. Von einem         glaubwürdig kommunizieren zu können.
flächendeckenden, allgemein zugänglichen         Beispielhaft sollen hier die Evaluationen        Die Antwort auf die zweite Frage zur Ziel-
Angebot an Fördermöglichkeiten für Schüler       für „Talent im Land Baden-Württemberg“44,        gruppe fällt dagegen gemischt aus. Der
kann derzeit nicht die Rede sein – auch wenn     das Start-Stipendienprogramm45 und den           Studienkompass nahm im Förderjahr 2009
es erste, lobenswerte Ansätze gibt.              Studienkompass46 vorgestellt werden.             zu über 90 Prozent Teilnehmer aus Nicht-
                                                                                                  Akademiker-Haushalten auf und erreichte
Bei allen Programmen lagen die Bewerber-         Die Stipendiaten äußern sich insgesamt sehr      damit seine Zielgruppe in hohem Maße. Bei
zahlen nach Auskunft der Stiftungen deutlich     positiv über die Programme. Sie betonen          den beiden anderen Programmen war der
über den Teilnehmerzahlen. Bei „Talent im        dabei insbesondere den Wert der ideellen         Anteil an Stipendiaten aus Elternhäusern mit
Land“ beispielsweise bewerben sich pro           Förderung, die ihnen Orientierung, Wissens-      niedrigem Bildungsstand deutlich geringer –
Jahr etwa sieben Mal so viele Schüler wie        vorteile aber auch Kompetenzerweiterung          beim Start-Stipendienprogramm lag er zum
aufgenommen werden können. Schon allein          bietet. Als wichtig erweist sich neben Kursen
                                                 und Workshops vor allem auch die persön-
                                                 liche Betreuung durch die Programm-Mitar-

                                                                                                                                 Berlin-Institut 13
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