William Stern: Intelligenz und Begabung - Matthias Giger

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William Stern: Intelligenz und Begabung
Matthias Giger, school@gigers.com

    William Stern (1871-1938) war zu Lebzeiten ei-        Wilhelms bereits vier Jahre vor seiner Geburt gestor-
ner der bekanntesten Psychologen Deutschlands und         ben war, übte er als Vorbild einen starken Einfluss
der wichtigste Vertreter der differenziellen Psycholo-    auf den heranwachsenden Wilhelm aus. Bedeutend
gie. Die Intelligenzdiskussion prägte er über Jahre       war auch die Grossmutter mütterlicherseits, die „der
entscheidend mit. Trotzdem geriet das Werk des jüdi-      selbstverständliche Mittelpunkt eines grossen sie ver-
schen Mitbegründers der Universität Hamburg weitge-       ehrenden Kreises“ war (W. Stern, 1925, S. 7). Die
hend in Vergessenheit, und sein Schaffen wurde auf        intensiven Familienbande und der hauptsächliche Um-
den Intelligenzquotienten reduziert.                      gang mit Erwachsenen, so Stern selbst, hätten ihn zu
                                                          einem „altklugen“ Kind gemacht.
    Gegenstand dieses Artikels sind einerseits das Le-
ben William Sterns, das geprägt war von intensiven Fa-         Dem eigenen Vater stand der junge Wilhelm sehr
milienbeziehungen und der herausragenden Zusam-           kritisch gegenüber, denn dieser konnte neben dem
menarbeit mit seiner Frau Clara Stern; andererseits       idealisierten Überbild des Grossvaters nicht bestehen.
die äusserst differenzierten und sich im Laufe der        Stern beschreibt seinen Vater als wenig entschlosse-
Zeit entwickelnden Aussagen zur Intelligenz und ih-       nen, eher weichen Vater. Dessen Unvermögen, der
ren Messmethoden, sowie die sich daraus ergeben-          Familie ein Auskommen ohne finanzielle Sorgen zu
den schulpolitischen Forderungen. Auf die der Arbeit      schaffen, empfand Wilhelm als peinlich; den noncha-
Sterns zugrunde liegende Philosophie, wie er sie in       lanten Umgang des Künstlers mit der Zeit als lästig.
„Person und Sache“ (W. L. Stern, 1906; W. Stern,          Interessanterweise sollte sein eigener Sohn William
1918) dargelegt hat und seine bahnbrechenden Arbei-       Stern später in einem ebenso kritischen Licht betrach-
ten zur „Psychologie der Kindheit“ (W. Stern, 1930),      ten. Das Verhältnis zur Mutter empfand Stern als herz-
geht der Artikel nicht näher ein.                         lich und geistig anregend.

Aufstieg – Höhepunkte – Abstieg                               Wilhelm war vielseitig interessiert, seine musika-
                                                          lische Begabung lebte er im Klavierspiel aus, er las
      „Man begegnet ja einer Überschätzung
                                                          gerne, schrieb eigene Gedichte und verfasste ab sei-
      der Intelligenz im Rahmen der Gesamt-
                                                          nem achten Lebensjahr ein Tagebuch, sportlich war er
      heit des psychischen Lebens nicht selten;
                                                          hingegen nicht. Überhaupt kein Interesse entwickelte
      und gerade bei den eifrigen, aber einsei-
                                                          Wilhelm – vielleicht als Reaktion auf seinen Vater –
      tigen Vertretern der Intelligenzprüfung ist
                                                          im Zeichnen und Gestalten. In der Schule war er er-
      zuweilen der Wahn zu finden, als käme
                                                          folgreich und gehörte als jüngster Schüler gleichzeitig
      es nur auf die Intelligenzfeststellung an,
                                                          zu den besten. Stern selbst schreibt über seine Schul-
      um einen Menschen richtig zu bewerten,
                                                          zeit: „Die Schule war . . . nur selten ein Quell grösserer
      zu beraten und zu behandeln“ (W. Stern,
                                                          Aufregung. Es wurde ihm leicht, ihre Anforderungen
      1920, S. VII).
                                                          zu erfüllen, er hatte auch spontanes Interesse für die
Das Leben von William Stern wurde verschiedentlich        meisten Fächer. Da er stets zu den besten Schülern
in Biografien (Deutsch, 1991; Bühring, 1996; Lami-        gehörte, sind ihm die Qualen und Enttäuschungen
ell, 2010; Tschechne, 2010) beschrieben, meist liegt      erspart geblieben, die in der Jugend vieler Menschen
das Hauptaugenmerk dabei aber auf einer allgemei-         eine Rolle spielen“ (W. Stern, 1925, S. 8). Aber auch zu
nen Betrachtung seines Schaffens. An dieser Stelle        Hause erhielt der junge Wilhelm durch seine literarisch
sollen deshalb einige der Fakten genannt werden, die      und kulturell interessierte Verwandtschaft Anregungen
für die Begabungs- und Begabtenförderung von In-          durch den Besuch des Theaters, von Museen und ins-
teresse sind. Zudem hat Stern in „Anfänge der Reife-      besondere zahlreichen Konzerten.
zeit“ (W. Stern, 1925) das Tagebuch eines nicht näher
genannten Knaben veröffentlicht und gibt darin über            Die Kindheit und Jugend von Wilhelm L. Stern lässt
dessen Lebensumstände Auskunft – ohne dem Leser           sich gut behütet, aber gegenüber geistiger Anregung
gegenüber zu erwähnen, dass er selbst dieser Knabe        offen beschreiben. Für Aufregung im betulichen Fami-
gewesen war.                                              lienleben sorgten eigentlich nur die Todesfälle naher
                                                          Verwandter. Wohl auch aus diesem Grund entwickelte
    Wilhelm Louis Stern kam 1871 als Sohn des jüdi-       sich der junge Stern in seinen Jugendjahren nicht zu
schen Ehepaars Sigismund und Rosa Stern in Berlin         einem Revolutionär, sondern galt in der Familie, bei
zur Welt. Er wuchs als Einzelkind auf. Sein künstle-      Lehrern und Mitschülern als „Musterknabe“ (W. Stern,
risch begabter Vater war Besitzer einer kleinen Fabrik,   1925, S. 91). Sein Freundeskreis ausserhalb der Ver-
die aber nur gerade genug Gewinn abwarf, um die Fa-       wandtschaft blieb während seiner Schulzeit auf einige
milie zu unterhalten. Die Mutter kam aus einer Familie,   wenige enge Freunde beschränkt, mit denen er einen
die es wegen ihrem Vater zu beträchtlichem lokalen        Lesezirkel gründete. Daneben füllten ihn das Klavier-
Ansehen gebracht hatte. Obwohl dieser Grossvater          spiel, die Besuche in der Leihbibliothek und seine

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Tätigkeit als Nachhilfelehrer, durch die er sich einen      gegenüber dem Juden Stern zunächst noch in Gren-
Teil der Schulgebühren selbst finanzieren konnte, voll-     zen, wurden die Zustände ab 1933 unhaltbar. In einem
kommen aus. Von den Jugendlichen seines Alters und          Schreiben an den Präsidenten der Hamburger Hoch-
deren Gehabe hielt er nicht viel. Über sie schrieb er       schulbehörde wurde die Abberufung von Stern ver-
anlässlich eines Restaurantbesuchs, bei dem sie Kar-        langt. Zusammen mit anderen jüdischen Kollegen wird
ten spielten: „Die Menschen tun überhaupt schon so,         ihm der Zutritt zum eigenen Institut verboten. Sowohl
als ob sie erwachsen wären und benehmen sich ganz           Martha Muchow und Otto Lipmann begehen Selbst-
lächerlich. . . . Ich sehe, die Menschen passen nicht       mord. Stern selbst reist 1934 nach Holland aus, wo er
für mich“ (W. Stern, 1925, S. 72).                          sein letztes grosses Werk, die „Allgemeinen Psycholo-
                                                            gie“ (W. Stern, 1935) zum Abschluss bringt.
     Schon mit 14 Jahren war Wilhelm klar, welchen
Weg er nach dem Gymnasium einschlagen wollte. In                 Aber nicht nur die politische Verfolgung setzte
seinem Tagebuch schreibt er 1885: „Mein Entschluss          Stern zu. Auch die breite Verwendung von Massen-
steht fest, was ich werden will. Zuerst wollte ich Natur-   tests zur Messung des Intelligenzquotienten, wie sie
forscher werden. Dann eine lange Zeit Musiker. Davon        insbesondere Terman entwickelte, waren in Sterns
haben mir aber alle Verwandten . . . abgeraten. Nun         Augen eine Fehlentwicklung. Jahrelang hatte er sich
will ich Philologie studieren. Man sagt mir zwar immer,     dagegen gewehrt, dass der Mensch auf einen Ein-
dass dies für einen Juden schwer sei, aber ich habe ja      zelaspekt wie den Intelligenzquotienten reduziert wird,
Grosspapa als Beispiel“ (W. Stern, 1925, S. 92).            hatte er doch selbst in seinen Schriften die Überzeu-
                                                            gung vertreten, die Persönlichkeit eines Menschen sei
    Vier Jahre später, 1888, begann Stern sein Studi-       unteilbar, d. h. ein Psychologe dürfe einen Menschen
um, entdeckte aber bald, dass seine Wünsche als Vier-       nie auf nur eine Eigenschaft seiner Persönlichkeit re-
zehnjähriger nicht mehr seinen aktuellen Interessen         duzieren. Sterns Mahnungen stiessen in Anbetracht
entsprachen. Deshalb entschied er sich, Philosophie         der Erfolgswelle der Intelligenztests insbesondere in
mit dem Schwerpunkt Psychologie zu studieren. 1893          den USA auf taube Ohren. Hatte Stern 1909 auf Ein-
schloss er seine Studien als Doktor der Philosophie         ladung noch vier viel beachtete Vorträge an der Clark
ab. Da er in Berlin trotz entsprechender Bemühungen         Universität gehalten und Guy Whipple seine 1912 er-
keine Aussichten hatte, seine wissenschaftliche Kar-        schienen „Psychologischen Methoden der Intelligenz-
riere erfolgreich zu verfolgen, nahm er die Stelle eines    prüfung“ (W. Stern, 1912) ins Englische übersetzt,
Privatdozenten an der Universität in Breslau an, wo er      wurde Stern bereits im „NSSE Yearbook on educating
von 1907 bis 1916 als ausserordentlicher Professor für      gifted children“ nicht einmal mehr erwähnt (Schmidt,
Philosophie tätig war (Lamiell, 2010). Eine ordentliche     1994).
Professur wurde Stern in Breslau verweigert, da er
sich nicht taufen lassen wollte. Als er 1915 die Beru-           Umso bitterer muss es für Stern gewesen sein,
fung an das damalige Hamburger Kolonialinstitut als         den Lebensabend als Exilant in den USA zu verbrin-
Nachfolger von Ernst Meumann erhielt, welches später        gen, wo 1937 der seit langem schwelende Konflikt mit
dank seiner Mithilfe zur Universität ausgebaut wurde,       seinem Sohn zu einem letzten Ausbruch kommt. Gün-
war Stern national und international bekannt. Bereits       ther hatte seinen Vater ebenso als Schwächling be-
1912 hatte er sein Konzept des Intelligenzquotienten        trachtet wie der junge Wilhelm seinen eigenen Vater.
vorgestellt, er hatte auch schon mehrfach zur Frage         Dass William Stern bis zuletzt versuchte, seine Pflicht
der Intelligenz und deren Messung publiziert, und die       in einem zunehmend feindlicheren Deutschland zu er-
von ihm und vor allem von seiner Frau Clara an den          füllen, sich des Friedens willen unterordnete, konnte
eigenen drei Kindern gemachten Beobachtungen, die           und wollte ihm Günther nicht verzeihen. Günther gab
genau in Tagebucheinträgen festgehalten wurden, hat-        den Nachnamen Stern auf und wurde unter dem Na-
ten ebenfalls ihren Niederschlag in Veröffentlichungen      men Günther Anders bekannt. Ein Jahr später stirbt
gefunden (Tschechne, 2010).                                 William Stern; sein Vermächtnis gerät unter der Herr-
                                                            schaft der Nationalsozialisten fast völlig in Vergessen-
                                                            heit. Sein eigener Sohn bezeichnete ihn vierzig Jah-
     In Hamburg fand der erfolgreiche Stern die Mög-
                                                            re später in einem Zeitungsartikel als „geköpfte Lilie“
lichkeit, ein eigenes Institut aufzubauen. Er beschäf-
                                                            (Lamiell, 2010).
tigte sich mit zahlreichen Aspekten der praktischen
Psychologie, testete Piloten, Kaufleute, Strassenbahn-
fahrer und ab 1917 auch Schülerinnen und Schüler für        Der Intelligenzbegriff Sterns
die „F-Zug“-Klassen in Hamburg, deren Ziel insbeson-
dere die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen                 „Intelligenz ist die personale Fähigkeit,
war. Zusammen mit Martha Muchow und Otto Lip-                     sich unter zweckmässiger Verfügung über
mann nahm Stern das Grossprojekt in Angriff, über                 Denkmittel auf neue Forderungen einzu-
1000 Schülerinnen und Schüler auf die entsprechen-                stellen“ (W. Stern, 1935, S. 424).
de Eignung zu untersuchen (Tschechne, 2010).
                                                            William Stern gilt zusammen mit Alfred Binet, Leta
    Sterns Niedergang begann mit dem Aufstieg des           Stetter Hollingworth (Giger, 2009a) und Lewis Terman
Nationalsozialismus. Hielten sich die Anfeindungen          (Giger, 2009b) zu denjenigen Psychologen, die den

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Intelligenzbegriff und insbesondere die Intelligenzmes-       reaktive oder spontane Intelligenz, die entweder auf
sung in den Anfängen entscheidend mitgeprägt haben.           Anregung von aussen eingesetzt wird oder von sich
Sterns Aussagen zur Intelligenz und deren Messung             aus in Aktion tritt; die objektive oder subjektive Intelli-
werden in diesem Abschnitt besprochen.                        genz, die Sachverhalte entweder hinnimmt oder diese
                                                              den eigenen Bedürfnissen anpasst; die analytische
     1912 definierte Stern Intelligenz wie folgt: „Intelli-   oder synthetische Intelligenz, die kritischer, zerglie-
genz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums,          dernder Natur ist oder „logische Ordnung und Einheit“
sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzu-               in das Chaos zu bringen versucht; die theoretische und
stellen; sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähig-         praktische Intelligenz, die direkt „mit logischen Opera-
keit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“             tionen und deren sprachlicher Bewältigung zu tun hat“
(W. Stern, 1912, S. 3). Diese Definition wählte Stern         oder „die Denkmittel unmittelbar dem Handeln“ un-
bewusst. Mit der Formulierung „neue Forderung“ woll-          terordnet und dienstbar macht (W. Stern, 1935, S.
te Stern die Intelligenz vom Gedächtnis abgrenzen,            429-430).
die „Anpassung“ sollte darauf hinweisen, dass Leis-
tung innerhalb eines Umfeldes erfolgt. Damit grenzt                Diese Intelligenztypen sind nicht bei allen Men-
Stern von der „Genialität“ ab, die eine „Neuschöpfung“        schen gleich ausgeprägt: „Jede Person hat . . . zwei-
bewirkt (W. Stern, 1912, S. 4).                               fellos ein gewisses geistiges Niveau . . . Das Niveau ist
                                                              freilich keine eben Fläche, sodass alle Teilfunktionen
     Ein weiterer Begriff, den Stern klar von der Intelli-    die gleiche Höhe haben müssten. Es ist vielmehr man-
genz unterscheidet ist das „Talent“: „Neben der Intelli-      nigfaltig profiliert; und die in ihm vorhandenen Erhe-
genz und ihren typischen Ausprägungen gibt es noch            bungen und Vertiefungen bewirken sehr verschieden-
eine andere Gruppe von geistigen Begabungen, die              artigen Ausfall verschiedener Teiltests. Die Profilierung
Talente. Während die Intelligenz das Gesamtverhalten          ist dadurch bedingt, dass die ’Intelligenz‘ als angebo-
des Menschen bestimmt, ist das Talent inhaltlich be-          rene Disposition ja nicht für sich allein funktioniert,
grenzt, es erstreckt sich nur auf eine Teilsphaere der        sondern durch Interessen und Charaktereigenschaf-
Person“ (W. Stern, 1935, 433). Und weiter schreibt er:        ten, durch Gewöhnung und Ausseneinflüsse gefärbt
„Im Talent drückt sich das besonders enge Verhältnis          und mitbestimmt ist“ (W. Stern, 1935, S.425).
einer Person zu einer Kultursphaere aus, ein Verhält-
nis, in welchem Liebe zum Gegenstand und Fähigkeit                 Die Messung der Intelligenz kann nach Stern mit
zu seiner Bemeisterung normaler Weise unscheid-               unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden.
bar verschmolzen sind. Daher ist es fast nie mehr             Stern zählt eine Reihe von möglichen Testverfahren
auseinanderzuhalten, ob die Neigung . . . die entspre-        zur Bestimmung der Intelligenz auf: Assoziationen,
chende Fähigkeit angeregt und gesteigert hat, oder            Bildbetrachtung, Definitionen, Dreiwort- und Zweiwort-
ob umgekehrt die besondere Begabung für bestimmte             methode, Ergänzungstests, Erkennungstests, Finden
Leistungsweisen und der erfolgreiche Fortschritt in ih-       des Wesentlichen, Kenntnisprüfungen, Konzentrati-
nen die Liebe zu dem Gebiet entzündet hat“ (W. Stern,         on, Kritikfähigkeit, logisches Schliessen, Merkfähig-
1935, S. 434).                                                keit, Ordnungstests, räumliche Vorstellung, Sprach-
                                                              beherrschung, Suggestibilität, technische Aufgaben,
     Damit Intelligenz in Leistung umgesetzt werden           technisch-physikalische Verhältnisse, Vergleichen,
kann oder als Talent sichtbar wird, braucht es nach           Verhalten zu vorgestellten Situationen, Zuordnungs-
Stern die weiteren Eigenschaften der Aufmerksam-              tests (W. Stern, 1920). Nicht alle dieser Methoden
keit, des Wollens und des Übens. Nach Stern ist Auf-          hält er für gleich geeignet. Er spricht sich aber dafür
merksamkeit „derjenige personale Zustand, der die             aus, dass ein Intelligenztest stets mehrere Teilfunktio-
unmittelbare Vorbedingung zum Zustandekommen ei-              nen der Intelligenz überprüfe und nicht nur ein einzi-
ner personalen Leistung darstellt. Wissensmerkmale            ges Merkmal: „. . . ein einzelner Test für sich, er mag
der Aufmerksamkeit sind: Klärung des Zieles im Be-            noch so gut sein, darf niemals zum Werkzeug einer
wusstsein, und Konzentration der verfügbaren Kraft            individuellen IP. [Intelligenzprüfung] gemacht werden
auf Klärung und Zielerfüllung“ (W. Stern, 1935, S. 653).      (W. Stern, 1912, S. 14).
Unter dem Wollen versteht Stern ein „aus den Tiefen
der Bedürfnissphaere gespeistes Streben, das durch                Nach Stern muss ein guter Intelligenztest mindes-
bewusste Vorwegnahme von Ziel und Weg geleitet und            tens drei Kriterien erfüllen: „a) es müssen Testserien
geordnet wird, und dessen Verwirklichung durch einen          hergestellt werden, die die verschiedenen Teilfunktio-
besonderen personalen Akt eingeleitet wird“ (W. Stern,        nen der I. ins Spiel treten lassen; b) es muss hierfür
1935, S. 547). Und „Übung ist die spezifische Lei-            eine weise Auswahl der Tests erfolgen, indem . . . nur
stungssteigerung durch willentliche Wiederholung von          solche mit hohem und sicherem Symptomwert, allge-
Leistungen“ (W. Stern, 1935, 678). Erst durch das Zu-         meiner Anwendbarkeit, objektiver Messfähigkeit her-
sammenspiel dieser und weiterer Faktoren wird aus             ausgegriffen werden; c) es muss ein System geschaf-
einem Potenzial eine Kompetenz.                               fen werden, nach welchen die einzelnen Ergebnisse
                                                              einer Prüfung zu einem Resultantenwert, also zu einer
    Innerhalb seines Intelligenzbegriffes unterscheidet       objektiven Gesamtformel . . . vereinigt werden können,
Stern vier Typen mit unterschiedlicher Ausprägung: die        wobei verschiedenwertige Leistungen sich in gewis-

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ser Weise kompensieren müssen.“ (W. Stern, 1912,            der ursprünglichen Anlagen ist ein charakteristischer
S. 16). Die so erhaltenen Ergebnisse sollten nach           Zug der Individualpsychologie, die alles wesentliche
Stern dazu dienen, „das heute so dringlich geäusserte       Können des Menschen auf Training bezw. Ermutigung
Verlangen im Unterricht möglichst zu individualisieren“     zurückführen möchte. In Wirklichkeit tragen stets beide
(W. Stern, 1912, S. 7) zu unterstützen. Weil Intelligenz-   Faktoren gemeinsam bei zur Entwicklung der mensch-
messungen bei einer grossen Anzahl von Versuchs-            lichen Fertigkeiten“ (W. Stern, 1935, S.435). Und in
personen eine Verteilung ergeben, die „eine gewis-          Bezug auf den Schulalltag schreibt er: „Immerhin darf
se Ähnlichkeit mit dem einfachsten Verteilungsgesetz        man nicht vergessen, dass auch die von der Schu-
(der Gaussschen Häufigkeitskurve) besitzt“, schliesst       le gebotene intellektuelle Übung immer nur innerhalb
Stern, dass eine Niveau-Gruppeneinteilung dieser Ge-        der Spielraumbreite wirksam sein kann, die nun ein-
setzmässigkeit zu folgen habe: „Wo wir gezwungen            mal durch die Anlage gewährt wird; und so schimmert
sind, eine Menschenmasse nach ihrer geistigen Leis-         doch durch alle schulbestimmten Leistungen immer
tungsfähigkeit in eine gute, mittlere und schwache          die Grundfarbe der ursprünglichen und immanenten
Gruppe zu teilen, kommt die bequeme und oft gewähl-         Begabung hindurch“ (W. Stern, 1920, S.16).
te Einteilung in drei gleich starke Gruppen sicherlich
weniger den wirklichen Abstufungen nahe, als die Ab-             Sterns Beiträge zur Intelligenzforschung gehen al-
spaltung eines guten und eines schlechten Viertels          so weit über den bereits 1912 gemachten Vorschlag
von der kompakten mittleren Hälfte“ (W. Stern, 1912,        hinaus, den Unterschied zwischen Intelligenz und In-
S. 31f.).                                                   telligenzalter nicht als Differenz zu betrachten, son-
                                                            dern deren Quotienten zu berechnen. Terman hat spä-
    Allerdings können nach Stern auch die besten            ter diesen Vorschlag aufgegriffen. Indem er den Quo-
Intelligenzprüfungen nur einen Beitrag zur Einschät-        tienten zusätzlich mit dem Faktor 100 multiplizierte,
zung und allenfalls Einteilung eines Kindes in einen        erhielt er die IQ-Werte seiner Probanden. Erst David
bestimmten Schultyp leisten: „Man darf die Tests nicht      Wechsler sollte dann den IQ neu als Standardabwei-
überschätzen, als seien sie automatisch wirkende al-        chung der Normalkurve definieren.
lein genügende Geistesproben. Sie sind höchstens
das psychographische Minimum, das eine erste Ori-
entierung gestattet bei Individuen, die man sonst gar
                                                            Sterns Forderungen           an    die    Begabten-
nicht kennt; und sie sind geeignet, die anderweitige        förderung
Beobachtung psychologischer, pädagogischer, ärztli-
                                                                  „Diesen Verschiedenheiten der Fähigkei-
cher Art zu ergänzen und sie vergleichbar und objektiv
                                                                  ten gegenüber kann die wahrhaft sittliche
graduierbar zu machen, nicht aber sie zu ersetzen“
                                                                  Gleichheitsforderung nur darin bestehen,
(W. Stern, 1912, S. 9f.).
                                                                  dass allen Menschen die gleiche Mög-
                                                                  lichkeit gegeben wird, sich nach ihrer Art
    Damit unterscheidet sich Stern fundamental von                und gemäss ihren Fähigkeiten in ihrer be-
den Absichten Lewis Termans, mittels und aus-                     sonderen Weise zu entwickeln. So müs-
schliesslich von Massenintelligenztests, Schülerinnen             sen Gleichheit und Verschiedenheit zu ei-
und Schüler in ein bis zu fünfstufiges Schulsystem                nem grossen ethischen Ideal verschmol-
einzubinden, und dies wenn möglich bereits zum Be-                zen werden“ (W. Stern, 1926, S. 13).
ginn des Schuleintritts (Schmidt, 1994). Auch in der
bereits von Francis Galton (Giger, 2008) begonnenen              William Stern stand in den 20er Jahren des 20. Jh.
Debatte zum Einfluss von Vererbung und kulturellem          im Brennpunkt der Diskussion der Begabtenförderung.
Umfeld unterscheidet sich Stern deutlich von Termans        Seine Standpunkte wurden in „Probleme der Schü-
Gewichtung der Erbfaktoren.                                 lerauslese“ (W. Stern, 1926) publiziert und basierten
                                                            auf seinen Voten während der „Schulpolitischen Wo-
     Stern schreibt dazu: „Die Intelligenz ist zweifellos   che“ in Altona im Juni 1925. Die damals gemachten
eine angeborene Disposition; angeboren aber ist sie         Aussagen sollen in diesem Abschnitt diskutiert und
nur Anlage, d. h. als noch nicht fest abgezirkelte Be-      teilweise mit aktuellen Forderungen der Begabungs-
tätigungsmöglichkeit mit breitem Spielraum, als eine        und Begabtenförderung verglichen werden.
Vieldeutigkeit, die erst der Vereindeutigung im Laufe
der Entwicklung und unter Beteiligung der Einflüs-              Grundsätzlich geht Stern davon aus – um es mit
se des Lebens harrt. Je mehr diese Vereindeutigung          einer modernen Formulierung zu nennen –, dass der
fortschreitet, je mehr sich feste Betätigungsweisen         Unterricht den ersten Förderort bildet: „Erst gemeinsa-
herausbilden, um so mehr wird aus der Anlage eine           me Erziehung aller Kinder, dann für die Bestbegabten
Eigenschaft, die nun nach Art und Grad ein gemeinsa-        unter ihnen eine gesonderte weiterführende Erzie-
mes Erzeugnis der inneren und äusseren Bedingun-            hung (W. Stern, 1926, S. 10).“ Diese Förderung reicht
gen ist“ (W. Stern, 1920, S. 12).                           aber nicht aus. Deshalb ist er klar der Meinung, dass
                                                            im Klassenunterricht nicht alle Bedürfnisse der „best-
    Ebenso empfindlich wie auf die Eugeniker reagiert       begabten“ Schülerinnen und Schüler entsprechend
Stern auf Vertreter der ausschliesslich umweltbeding-       berücksichtigt werden können. So sagt er über die Be-
ten Beeinflussung der Intelligenz: „Die Unterschätzung      fürworter eines integrativen Unterrichts, diese würden

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sich mit den Worten „durch den modernen Arbeitsun-         beachtet wird: sie lernen nicht arbeiten! Es wird ihnen
terricht sei viel mehr als früher die Möglichkeit gege-    zu leicht, es fliegt ihnen alles zu. Der Schulbetrieb
ben, dass innerhalb der gemeinsamen Klasse doch            langweilt sie, vermag sie nicht anzuregen und anzu-
genügend differenziert werde, um auch den höher Be-        spornen. Was Fleiss bedeutet, lernen sie vielleicht gar
gabten die ihnen angemessene geistige Nahrung zu           nie kennen . . . “ (W. Stern, 1926, S. 20). Oder mit ande-
geben“ (W. Stern, 1926, S. 18) aus der Verantwortung       ren Worten, durch die fehlenden Herausforderungen
gegenüber den hochbegabten Kindern stehlen, denn           lernen die Hochbegabten weder zu lernen, noch zu
„Was unseren Sorgenkindern recht ist, muss unseren         arbeiten.
Hoffnungskindern billig sein. Ein langes Festhalten der
weit über dem Durchschnitt stehenden Begabung in               Stern ist davon überzeugt, dass entsprechende
einem einfacheren und langsameren Schulgange ist           Herausforderungen für hochbegabte Kinder und Ju-
ein Unrecht gegen diese Begabte, gegen die wir auch        gendliche ein wichtiger Schritt in der Heranreifung
Pflichten haben. . . . durch die Gemeinschaft mit einer    der eigenen Persönlichkeit bilden: „Im Gegensatz zu
Masse, die zum grössten Teil weniger begabt ist, wird      dem Bedenken also, dass durch Zusammenbringen
doch das Tempo der Entwicklung verzögert, die Höhe         der Befähigten in weiterführenden Schulen Hochmut
der schliesslich erreichbaren Bildung herabgedrückt“       gezüchtet werde, glaube ich, dass ein solches sehr
(W. Stern, 1926, S. 19).                                   befähigtes Kind dort, wo es seine Kräfte energisch an-
                                                           strengen muss, um mit den anderen ebenso begabten
    Nach Stern sind auch die immer wieder gehörten         oder vielleicht begabteren Schritt zu halten, viel eher
Befürchtungen, eine Separation der Hochbegabten            zu Bescheidenheit und Einsicht in die Grenzen seines
würde zu Hochmut führen und die „ausgekämmten“             Könnens geführt werden kann“ (W. Stern, 1926, S. 20).
Klassen würden ihre Zugpferde verlieren und dadurch
zu Ansammlungen von kaum mehr zu unterrichtenden               Nebst der getrennten Beschulung in den höheren
Restgruppen führen, nicht haltbar. In der integrativen     Klassen sieht Stern auch die Notwendigkeit der Ak-
Beschulung von hochbegabten Kindern und Jugend-            zeleration in der Primarschule: „Deshalb wird es sich
lichen sieht Stern vor allem zwei Gefahren: die der        empfehlen, dort, wo die Diagnose einer überragenden
Langeweile und die der Überheblichkeit.                    Begabung schon früher möglich ist, das Kind bereits
                                                           nach einem oder zwei Grundschuljahren eine Klasse
      Zur Langeweile und Unterforderung sagt Stern:        überspringen zu lassen, damit es dann besser nach
„. . . diese Kinder, welche das doppelte Futter brau-      drei Grundschuljahren den Anschluss nach oben fin-
chen, bekommen doch nur das einfache. So ernsthaft         det“ (W. Stern, 1926, S. 46).
man auch eine Individualisierung innerhalb der Klas-
se anstrebt – es bleibt ein gewisses Gesamtniveau               Da aber erhöhte schulische Anforderungen oder
des Unterrichts, das meistens bestimmt wird durch          die raschere Verarbeitung von Inhalten nicht für alle
die schwächere Mitte der Klasse . . . “ (W. Stern, 1926,   Kinder und Jugendliche geeignet sind, wie das Bei-
S. 19). Diese Kritik ist nach wie vor berechtigt. Zwar     spiel der „Sorgenkinder“ zeigt, ist es für Stern äusserst
wird unterdessen in vielen Unterrichtssituationen ver-     wichtig, die entsprechende Auslese, d. h. Identifikation
sucht, das Lernangebot zu differenzieren oder sogar        richtig durchzuführen, wobei nicht die Intelligenz allein
zu individualisieren, die entsprechenden Anstrengun-       Kriterium für diese Auslese sein kann: „Wir müssen
gen stecken aber häufig noch in den Kinderschuhen          erst einmal wissen, welche Verschiedenheiten der Fä-
oder beziehen sich vor allem auf die Oberflächen-          higkeiten es überhaupt gibt, also Begabungsforschung
struktur des Unterrichts statt auf dessen Tiefenstruktur   betreiben. Wir müssen ferner wissen, mit welchen
(Reusser, 2005), und sie greifen, wie beispielsweise       Hilfsmitteln wir im einzelnen feststellen können, ob ein
Reis (Reis, 2009) ausführt, häufig zu kurz oder wer-       Kind die Fähigkeit besitzt, die es zu einem berech-
den zu wenig häufig eingesetzt. Stern selbst vertritt      tigten Anwärter für eine weiterführende Schullaufbahn
die Meinung, eine Einheitsschule sei nur bis zum vier-     und damit auch für einen höher gearteten Beruf macht:
ten Schuljahr wünschenswert: „Mir scheint ein sechs        d. h. wir müssen Begabungsdiagnose und Begabungs-
Jahr währendes Zusammenbleiben aller Kinder ei-            prognose betreiben (W. Stern, 1926, S. 16f.)“.
ne schwer zu rechtfertigende Beeinträchtigung der
begabteren Kinder zu sein; denn je stärker mit stei-             Stern ist sich aber auch bewusst, dass eine Iden-
gendem Alter sich die Befähigungsgrade und -arten          tifikation mit einem Testverfahren immer nur eine Mo-
differenzieren, umso mehr wirkt der noch andauern-         mentaufnahme ist. Überhaupt empfiehlt er, möglichst
de gemeinschaftliche Unterricht als eine Hemmung           viele Faktoren zu berücksichtigen. Deshalb fordert er
und Verschleppung für diejenigen, die einem anderen        “. . . dass die Auslese elastisch sei und an mehreren
Unterrichtstempo gewachsen wären“ (W. Stern, 1920,         Zeitpunkten stattfinden kann„ (W. Stern, 1926, S. 24).
S.247).                                                    Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher: „. . .
                                                           niemals darf eine einzige Auslese auf einer bestimm-
    Diese Unterforderung kann zu Verhaltensproble-         ten Altersstufe endgültig und unwiderruflich über das
men und unerwünschten Charaktereigenschaften füh-          Schul- (und damit Lebens-)schicksal des Kindes ent-
ren. Stern dazu: „Daraus folgt aber zweitens eine cha-     scheiden“ (W. Stern, 1920, S. 277).
rakterliche Gefährdung der Begabten, die zu wenig

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Ausserdem ist es Stern wichtig, dass die entspre-     Stern selbst relativiert seine Aussage allerdings in ei-
chenden Untersuchungen nicht nur das vorhandene            ner Fussnote zum entsprechenden Abschnitt, indem
Wissen der infrage kommenden Schülerinnen und              er von „seltenen Ausnahmefällen“ spricht. Allerdings
Schüler überprüfen, sondern vielmehr gelte: „Bega-         dürfe die elterliche Gewalt nur dann eingeschränkt
bungsdiagnose ist nicht Kenntnisdiagnose und nicht         werden, wenn ein entsprechendes Gutachten vorlie-
Fertigkeitsdiagnose. Wir wollen nicht feststellen, was     gen würde: „Hält dieses Gutachten die vorliegende
die Kinder gelernt haben auf der Schule, in der sie        Begabung für so aussergewöhnlich und aussichts-
bisher waren, sondern wir wollen umgekehrt eigent-         reich, dass ihre Ausbildung – nicht nur im Interesse
lich das Unerlernbare, das, was ihnen von der Natur        des Individuums selbst, sondern auch in dem der All-
mitgegeben ist an Anlagen und Entwicklungsmög-             gemeinheit – dringend zu fordern ist, dann besteht ein
lichkeiten feststellen“ (W. Stern, 1926, S. 34). Damit     sittliches Recht, die elterliche Machtvollkommenheit
unterscheidet sich Sterns Forderung nach einem Auf-        einzuschränken und den jungen Menschen mit staatli-
nahmeverfahren von gängigen Aufnahmeprüfungen,             chen Mitteln in der ihm gemässen Schule auszubilden“
bei denen aufgrund des vorhandenen Wissens und             (W. Stern, 1926, S. 46).
Könnens auf einen zukünftigen Erfolg geschlossen
wird. Die entsprechenden, umfangreichen von Stern                Gerade weil die Auslese mit derart vielen Schwie-
und seinen Mitarbeitern dazu durchgeführten Verfah-        rigkeiten verknüpft ist, sei die „Schulter des einzel-
ren hätten, so Stern selbst, bei der Auslese von 1000      nen Lehrers viel zu schwach, um diese ganze Ver-
Schülerinnen und Schülern von 1500 getesteten nach         antwortung zu tragen“ (W. Stern, 1926, S.37). Des-
anderthalb Jahren nur zu einer Fehlerquote von 2           halb benötige es die Unterstützung durch die Psycho-
% geführt (W. Stern, 1926, S. 38). Stern selbst aber       logie: Man werde „eben mit der Zeit um die Einführung
betont: „Mathematisch sichere Prognosen gibt es im         von Schulpsychologen (die natürlich zugleich pädago-
Menschenleben überhaupt nicht“ (W. Stern, 1926, S.         gische Praktiker sein müssen) nicht herumkommen“
36).                                                       (W. Stern, 1926, S. 47f. ). Trotz aller Bemühungen,
                                                           so ist Stern überzeugt, wird es aber nicht gelingen,
                                                           alle infrage kommenden Kinder und Jugendliche rich-
      Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Bevöl-
                                                           tig zu platzieren, trotzdem müsse man es versuchen,
kerungsgruppen geht Stern davon aus, dass sich vor
                                                           denn „Wir werden . . . gerade diese Ausnahmefälle,
allem Kinder aus gutbürgerlichen Haushalten für die
                                                           vor allem die Genies, nie mit Sicherheit in der Ausle-
höheren Schulen eigneten, da diese durch Erziehung
                                                           se erfassen . . . Genieschulen kann man nicht errich-
aber auch ihr Erbe bereits eine Auslese durchlaufen
                                                           ten. . . . Was wir aber doch tun sollen und müssen, das
hätten. Er ist sich aber durchaus bewusst, dass sich
                                                           ist, für eine gewisse Schicht von hochqualifizierten Ta-
auch in anderen Schichten der Bevölkerung begabte
                                                           lenten und Intelligenzen die geeigneten Massnahmen
Kinder finden: „Was wir fordern müssen, ist ja lediglich
                                                           treffen; und dabei kann und muss die Psychologie hel-
dies, dass den hochbegabten Kindern der anderen
                                                           fen“ (W. Stern, 1926, S. 41).
Schichten die Tore weit geöffnet werden; was wir aber
nicht wünschen dürfen, ist eine plötzliche Massenab-
wanderung von Kindern des Volkes in andere Schulen,        Fazit
andere Schichten und andere Berufe (W. Stern, 1926,
                                                                   „Nicht darauf kommt es an, welche Bega-
S. 28).“ Damit spricht er sich einerseits gegen eine
                                                                   bungen ein Mensch hat, sondern welche
Verschulung von Personen aus, welche von dieser
                                                                   Verpflichtungen er aus ihr ableitet und
nicht vollumfänglich profitieren können, möchte aber
                                                                   wie er dieser Verpflichtung nachkommt.
sicherstellen, dass die höheren Schulen nicht auf die
                                                                   (W. Stern, 1926, S. 44)
Kinder des Bildungsbürgertums beschränkt bleiben:
„. . . es ist eine der vornehmsten Aufgaben der Intelli-   Obwohl William Stern mehr als 30 Bücher und 200
genzprüfung, an der Auffindung solcher hochbegabten        Artikel veröffentlichte und seine Schriften bis in die
Kinder mitzuwirken“ (W. Stern, 1935, 428).                 30er Jahre des 20. Jh. auf eine grosse Aufmerksam-
                                                           keit stiessen, gerieten seine Arbeiten zur Begabungs-
    Eher befremdlich mutet seine damalige Forderung        und Begabtenförderung mit dem Aufstieg der Natio-
an, dass nur Schüler zugelassen werden dürften, „de-       nalsozialisten in Deutschland und dem darauf folgen-
ren Eltern es wünschen“ (W. Stern, 1926, S. 29). Eine      den Exil im deutschen Sprachraum weitgehend in Ver-
solche Forderung wird inzwischen als Einschränkung         gessenheit (Bühring, 2000). Stern wurde jahrelang vor
der Entfaltungsmöglichkeiten des jungen Menschen           allem mit seinem entwicklungspsychologischen Werk
verstanden. Nicht nur, weil sich unterdessen die Hal-      über die frühe Kindheit (W. Stern, 1930) in Verbin-
tung gegenüber der Erziehungsverantwortung der El-         dung gebracht und in den Kreisen der Begabungs-
tern verändert hat, sondern auch weil dadurch gerade       förderung entweder ignoriert oder fast ausschliesslich
Minoritäten aus einem so genannten „bildungsfernen         auf den Intelligenzquotienten reduziert (Weinert, 1967;
Umfeld“ zusätzlich benachteiligt werden könnten, ge-       Clark, 2002; Colangelo & Davis, 2003; Rost, 2006; Ro-
hen doch viele Erziehungsverantwortliche immer noch        binson & Clinkenbeard, 2008; Woolfolk, 2008). Einzig
davon aus, dass zumindest ein Teil der Migranten           Mönks und Katzko (Mönks & Katzko, 2005) erwäh-
weniger Wert auf den Schulerfolg der eigenen Kin-          nen zumindest die weiteren Verdienste Sterns um die
der legen würden, als dies im Bürgertum der Fall ist.      Begabungs- und Begabtenförderung.

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Dies ist umso erstaunlicher, als sich Stern nicht nur              Giger, M. (2009a). Leta Stetter Hollingworth. SwissGifted, Vol. 2
in verschiedenen Publikationen mit der Intelligenzmes-                         (Nr. 1), S. 32-36.
                                                                       Giger, M. (2009b). Termans Kinder: Erkenntnisse aus der Langzeit-
sung bei Kindern und Jugendlichen sowohl theoretisch
                                                                               studie. SwissGifted, Vol. 2 (Nr. 2), S. 73-78.
als auch praktisch beschäftigt hat, sondern sich eben                  Lamiell, J. T. (2010). William Stern (1871-1938): A brief introduction
auch schulpolitisch klar geäussert hat. Wie im Ab-                             to his life and works. Lengerich: Pabst Science Publisher.
schnitt Sterns Forderungen an die Begabungs- und                       Mönks, F. J. & Katzko, M. W. (2005). Giftedness and gifted educati-
                                                                               on. In R. J. Sternberg & J. E. Davidson (Hrsg.), Conceptions
Begabtenförderung ausgeführt, war Stern die Förde-
                                                                               of giftedness. New York: Cambridge University Press.
rung der Begabten ein zentrales Anliegen, wobei er                     Reis, S. M. (2009). Turning points and future directions in gifted
den Begabungsbegriff – für die damalige Zeit unüblich                          education and talent development. In T. Balchin, B. Hymer &
– weit über die reine IQ-Diskussion hinaus definierte.                         D. J. Matthews (Hrsg.), The routledge international compa-
                                                                               nion to gifted education (S. 317-324). London: Routledge.
                                                                       Reusser, K. (2005). Problemorientiertes Lernen – Tiefenstruktur,
     Die ausgewählten Zitate machen deutlich, dass                             Gestaltungsformen, Wirkung. Beiträge zur Lehrerbildung,
Sterns bald hundert Jahre alte Forderungen im neu-                             23 (2), S. 159-182.
en Jahrtausend immer noch aktuell sind und sich zu                     Robinson, A. & Clinkenbeard, P. R. (2008). History of gifted-
einem grossen Teil mit Forderungen und Zukunftsvisio-                          ness: Perspectives from past presage modern scholarship.
                                                                               In S. I. Pfeiffer (Hrsg.), Handbook of giftedness in children
nen bekannter Persönlichkeiten der Begabungs- und
                                                                               (S. 13-31). New York: Springer.
Begabtenförderung decken (Balchin, Hymer & Matt-                       Rost, D. H. (Hrsg.). (2006). Handwörterbuch pädagogische Psycho-
hews, 2009). Und noch immer gilt für die Begabungs-                            logie (3. Auflage Aufl.). Weinheim: Beltz.
und Begabtenförderung, was Stern bereits 1925 sag-                     Schmidt, W. (1994, September). William Stern (1871-1938) und
                                                                               Lewis Terman (1877-1956): Deutsche und amerikanische
te: “ . . . dass es sich um eine Aufgabe ganz grossen
                                                                               Intelligenz- und Begabungsforschung im Lichte ihrer an-
Formats handelt, bei der Politiker und Soziologen,                             dersartigen politischen und ideologischen Voraussetzun-
Fachpädagogen, Eltern und Psychologen zusammen-                                gen. Psychologie und Geschichte, Vol. 6 (Heft 1/2), S. 3-26.
arbeiten müssen. Ich möchte diese Aufgabe bezeich-                     Stern, W. (1912). Die psychologischen Methoden der Intelligenz-
                                                                               prüfung und deren Anwendung an Schulkindern. Leipzig:
nen als geistige Schatzhebung . . . und die kostbarsten
                                                                               Verlag von Johann Ambrosius Barth.
Schätze . . . sind die geistigen Kräfte, die in unserer Ju-            Stern, W. (1918). Person und Sache. System der philosophischen
gend stecken“ (W. Stern, 1926, S.42 f.).                                       Weltanschauung (Bd. Zweiter Band: Die menschliche Per-
                                                                               sönlichkeit). Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth.
                                                                       Stern, W. (1920). Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und
                                                                               die Methoden ihrer Untersuchung. An Stelle einer dritten
                                                                               Auflage des Buches: Die Intelligenzprüfung an Kindern und
Literatur                                                                      Jugendlichen. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth.
                                                                       Stern, W. (1925). Anfänge der Reifezeit. Ein Knabentagebuch in
Balchin, T., Hymer, B. & Matthews, D. J. (Hrsg.). (2009). The Rout-
                                                                               psychologischer Bearbeitung. Leipzig: Verlag von Quelle.
        ledge international companion to gifted education. London:
                                                                       Stern, W. (1926). Probleme der Schülerauslese. Leipzig: Verlag
        Routledge.
                                                                               Quelle & Meyer.
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        furt am Main: Peter Lang Verlag.                               Stern, W. (1930). Psychologie der frühen Kindheit. Bis zum sechsten
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        zensionen. Psychologie und Geschichte, Jahrgang 8 (Heft        Stern, W. (1935). Allgemeine Psychologie auf personalitischer
        3/4), 190-199.                                                         Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff.
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        NJ: Merill Prentice Hall.                                              Weltanschauung (Bd. Erster Band: Ableitung und Grundleh-
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SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011                                                                            47
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