William Stern: Intelligenz und Begabung - Matthias Giger
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William Stern: Intelligenz und Begabung Matthias Giger, school@gigers.com William Stern (1871-1938) war zu Lebzeiten ei- Wilhelms bereits vier Jahre vor seiner Geburt gestor- ner der bekanntesten Psychologen Deutschlands und ben war, übte er als Vorbild einen starken Einfluss der wichtigste Vertreter der differenziellen Psycholo- auf den heranwachsenden Wilhelm aus. Bedeutend gie. Die Intelligenzdiskussion prägte er über Jahre war auch die Grossmutter mütterlicherseits, die „der entscheidend mit. Trotzdem geriet das Werk des jüdi- selbstverständliche Mittelpunkt eines grossen sie ver- schen Mitbegründers der Universität Hamburg weitge- ehrenden Kreises“ war (W. Stern, 1925, S. 7). Die hend in Vergessenheit, und sein Schaffen wurde auf intensiven Familienbande und der hauptsächliche Um- den Intelligenzquotienten reduziert. gang mit Erwachsenen, so Stern selbst, hätten ihn zu einem „altklugen“ Kind gemacht. Gegenstand dieses Artikels sind einerseits das Le- ben William Sterns, das geprägt war von intensiven Fa- Dem eigenen Vater stand der junge Wilhelm sehr milienbeziehungen und der herausragenden Zusam- kritisch gegenüber, denn dieser konnte neben dem menarbeit mit seiner Frau Clara Stern; andererseits idealisierten Überbild des Grossvaters nicht bestehen. die äusserst differenzierten und sich im Laufe der Stern beschreibt seinen Vater als wenig entschlosse- Zeit entwickelnden Aussagen zur Intelligenz und ih- nen, eher weichen Vater. Dessen Unvermögen, der ren Messmethoden, sowie die sich daraus ergeben- Familie ein Auskommen ohne finanzielle Sorgen zu den schulpolitischen Forderungen. Auf die der Arbeit schaffen, empfand Wilhelm als peinlich; den noncha- Sterns zugrunde liegende Philosophie, wie er sie in lanten Umgang des Künstlers mit der Zeit als lästig. „Person und Sache“ (W. L. Stern, 1906; W. Stern, Interessanterweise sollte sein eigener Sohn William 1918) dargelegt hat und seine bahnbrechenden Arbei- Stern später in einem ebenso kritischen Licht betrach- ten zur „Psychologie der Kindheit“ (W. Stern, 1930), ten. Das Verhältnis zur Mutter empfand Stern als herz- geht der Artikel nicht näher ein. lich und geistig anregend. Aufstieg – Höhepunkte – Abstieg Wilhelm war vielseitig interessiert, seine musika- lische Begabung lebte er im Klavierspiel aus, er las „Man begegnet ja einer Überschätzung gerne, schrieb eigene Gedichte und verfasste ab sei- der Intelligenz im Rahmen der Gesamt- nem achten Lebensjahr ein Tagebuch, sportlich war er heit des psychischen Lebens nicht selten; hingegen nicht. Überhaupt kein Interesse entwickelte und gerade bei den eifrigen, aber einsei- Wilhelm – vielleicht als Reaktion auf seinen Vater – tigen Vertretern der Intelligenzprüfung ist im Zeichnen und Gestalten. In der Schule war er er- zuweilen der Wahn zu finden, als käme folgreich und gehörte als jüngster Schüler gleichzeitig es nur auf die Intelligenzfeststellung an, zu den besten. Stern selbst schreibt über seine Schul- um einen Menschen richtig zu bewerten, zeit: „Die Schule war . . . nur selten ein Quell grösserer zu beraten und zu behandeln“ (W. Stern, Aufregung. Es wurde ihm leicht, ihre Anforderungen 1920, S. VII). zu erfüllen, er hatte auch spontanes Interesse für die Das Leben von William Stern wurde verschiedentlich meisten Fächer. Da er stets zu den besten Schülern in Biografien (Deutsch, 1991; Bühring, 1996; Lami- gehörte, sind ihm die Qualen und Enttäuschungen ell, 2010; Tschechne, 2010) beschrieben, meist liegt erspart geblieben, die in der Jugend vieler Menschen das Hauptaugenmerk dabei aber auf einer allgemei- eine Rolle spielen“ (W. Stern, 1925, S. 8). Aber auch zu nen Betrachtung seines Schaffens. An dieser Stelle Hause erhielt der junge Wilhelm durch seine literarisch sollen deshalb einige der Fakten genannt werden, die und kulturell interessierte Verwandtschaft Anregungen für die Begabungs- und Begabtenförderung von In- durch den Besuch des Theaters, von Museen und ins- teresse sind. Zudem hat Stern in „Anfänge der Reife- besondere zahlreichen Konzerten. zeit“ (W. Stern, 1925) das Tagebuch eines nicht näher genannten Knaben veröffentlicht und gibt darin über Die Kindheit und Jugend von Wilhelm L. Stern lässt dessen Lebensumstände Auskunft – ohne dem Leser sich gut behütet, aber gegenüber geistiger Anregung gegenüber zu erwähnen, dass er selbst dieser Knabe offen beschreiben. Für Aufregung im betulichen Fami- gewesen war. lienleben sorgten eigentlich nur die Todesfälle naher Verwandter. Wohl auch aus diesem Grund entwickelte Wilhelm Louis Stern kam 1871 als Sohn des jüdi- sich der junge Stern in seinen Jugendjahren nicht zu schen Ehepaars Sigismund und Rosa Stern in Berlin einem Revolutionär, sondern galt in der Familie, bei zur Welt. Er wuchs als Einzelkind auf. Sein künstle- Lehrern und Mitschülern als „Musterknabe“ (W. Stern, risch begabter Vater war Besitzer einer kleinen Fabrik, 1925, S. 91). Sein Freundeskreis ausserhalb der Ver- die aber nur gerade genug Gewinn abwarf, um die Fa- wandtschaft blieb während seiner Schulzeit auf einige milie zu unterhalten. Die Mutter kam aus einer Familie, wenige enge Freunde beschränkt, mit denen er einen die es wegen ihrem Vater zu beträchtlichem lokalen Lesezirkel gründete. Daneben füllten ihn das Klavier- Ansehen gebracht hatte. Obwohl dieser Grossvater spiel, die Besuche in der Leihbibliothek und seine SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011 41
Tätigkeit als Nachhilfelehrer, durch die er sich einen gegenüber dem Juden Stern zunächst noch in Gren- Teil der Schulgebühren selbst finanzieren konnte, voll- zen, wurden die Zustände ab 1933 unhaltbar. In einem kommen aus. Von den Jugendlichen seines Alters und Schreiben an den Präsidenten der Hamburger Hoch- deren Gehabe hielt er nicht viel. Über sie schrieb er schulbehörde wurde die Abberufung von Stern ver- anlässlich eines Restaurantbesuchs, bei dem sie Kar- langt. Zusammen mit anderen jüdischen Kollegen wird ten spielten: „Die Menschen tun überhaupt schon so, ihm der Zutritt zum eigenen Institut verboten. Sowohl als ob sie erwachsen wären und benehmen sich ganz Martha Muchow und Otto Lipmann begehen Selbst- lächerlich. . . . Ich sehe, die Menschen passen nicht mord. Stern selbst reist 1934 nach Holland aus, wo er für mich“ (W. Stern, 1925, S. 72). sein letztes grosses Werk, die „Allgemeinen Psycholo- gie“ (W. Stern, 1935) zum Abschluss bringt. Schon mit 14 Jahren war Wilhelm klar, welchen Weg er nach dem Gymnasium einschlagen wollte. In Aber nicht nur die politische Verfolgung setzte seinem Tagebuch schreibt er 1885: „Mein Entschluss Stern zu. Auch die breite Verwendung von Massen- steht fest, was ich werden will. Zuerst wollte ich Natur- tests zur Messung des Intelligenzquotienten, wie sie forscher werden. Dann eine lange Zeit Musiker. Davon insbesondere Terman entwickelte, waren in Sterns haben mir aber alle Verwandten . . . abgeraten. Nun Augen eine Fehlentwicklung. Jahrelang hatte er sich will ich Philologie studieren. Man sagt mir zwar immer, dagegen gewehrt, dass der Mensch auf einen Ein- dass dies für einen Juden schwer sei, aber ich habe ja zelaspekt wie den Intelligenzquotienten reduziert wird, Grosspapa als Beispiel“ (W. Stern, 1925, S. 92). hatte er doch selbst in seinen Schriften die Überzeu- gung vertreten, die Persönlichkeit eines Menschen sei Vier Jahre später, 1888, begann Stern sein Studi- unteilbar, d. h. ein Psychologe dürfe einen Menschen um, entdeckte aber bald, dass seine Wünsche als Vier- nie auf nur eine Eigenschaft seiner Persönlichkeit re- zehnjähriger nicht mehr seinen aktuellen Interessen duzieren. Sterns Mahnungen stiessen in Anbetracht entsprachen. Deshalb entschied er sich, Philosophie der Erfolgswelle der Intelligenztests insbesondere in mit dem Schwerpunkt Psychologie zu studieren. 1893 den USA auf taube Ohren. Hatte Stern 1909 auf Ein- schloss er seine Studien als Doktor der Philosophie ladung noch vier viel beachtete Vorträge an der Clark ab. Da er in Berlin trotz entsprechender Bemühungen Universität gehalten und Guy Whipple seine 1912 er- keine Aussichten hatte, seine wissenschaftliche Kar- schienen „Psychologischen Methoden der Intelligenz- riere erfolgreich zu verfolgen, nahm er die Stelle eines prüfung“ (W. Stern, 1912) ins Englische übersetzt, Privatdozenten an der Universität in Breslau an, wo er wurde Stern bereits im „NSSE Yearbook on educating von 1907 bis 1916 als ausserordentlicher Professor für gifted children“ nicht einmal mehr erwähnt (Schmidt, Philosophie tätig war (Lamiell, 2010). Eine ordentliche 1994). Professur wurde Stern in Breslau verweigert, da er sich nicht taufen lassen wollte. Als er 1915 die Beru- Umso bitterer muss es für Stern gewesen sein, fung an das damalige Hamburger Kolonialinstitut als den Lebensabend als Exilant in den USA zu verbrin- Nachfolger von Ernst Meumann erhielt, welches später gen, wo 1937 der seit langem schwelende Konflikt mit dank seiner Mithilfe zur Universität ausgebaut wurde, seinem Sohn zu einem letzten Ausbruch kommt. Gün- war Stern national und international bekannt. Bereits ther hatte seinen Vater ebenso als Schwächling be- 1912 hatte er sein Konzept des Intelligenzquotienten trachtet wie der junge Wilhelm seinen eigenen Vater. vorgestellt, er hatte auch schon mehrfach zur Frage Dass William Stern bis zuletzt versuchte, seine Pflicht der Intelligenz und deren Messung publiziert, und die in einem zunehmend feindlicheren Deutschland zu er- von ihm und vor allem von seiner Frau Clara an den füllen, sich des Friedens willen unterordnete, konnte eigenen drei Kindern gemachten Beobachtungen, die und wollte ihm Günther nicht verzeihen. Günther gab genau in Tagebucheinträgen festgehalten wurden, hat- den Nachnamen Stern auf und wurde unter dem Na- ten ebenfalls ihren Niederschlag in Veröffentlichungen men Günther Anders bekannt. Ein Jahr später stirbt gefunden (Tschechne, 2010). William Stern; sein Vermächtnis gerät unter der Herr- schaft der Nationalsozialisten fast völlig in Vergessen- heit. Sein eigener Sohn bezeichnete ihn vierzig Jah- In Hamburg fand der erfolgreiche Stern die Mög- re später in einem Zeitungsartikel als „geköpfte Lilie“ lichkeit, ein eigenes Institut aufzubauen. Er beschäf- (Lamiell, 2010). tigte sich mit zahlreichen Aspekten der praktischen Psychologie, testete Piloten, Kaufleute, Strassenbahn- fahrer und ab 1917 auch Schülerinnen und Schüler für Der Intelligenzbegriff Sterns die „F-Zug“-Klassen in Hamburg, deren Ziel insbeson- dere die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen „Intelligenz ist die personale Fähigkeit, war. Zusammen mit Martha Muchow und Otto Lip- sich unter zweckmässiger Verfügung über mann nahm Stern das Grossprojekt in Angriff, über Denkmittel auf neue Forderungen einzu- 1000 Schülerinnen und Schüler auf die entsprechen- stellen“ (W. Stern, 1935, S. 424). de Eignung zu untersuchen (Tschechne, 2010). William Stern gilt zusammen mit Alfred Binet, Leta Sterns Niedergang begann mit dem Aufstieg des Stetter Hollingworth (Giger, 2009a) und Lewis Terman Nationalsozialismus. Hielten sich die Anfeindungen (Giger, 2009b) zu denjenigen Psychologen, die den 42 SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011
Intelligenzbegriff und insbesondere die Intelligenzmes- reaktive oder spontane Intelligenz, die entweder auf sung in den Anfängen entscheidend mitgeprägt haben. Anregung von aussen eingesetzt wird oder von sich Sterns Aussagen zur Intelligenz und deren Messung aus in Aktion tritt; die objektive oder subjektive Intelli- werden in diesem Abschnitt besprochen. genz, die Sachverhalte entweder hinnimmt oder diese den eigenen Bedürfnissen anpasst; die analytische 1912 definierte Stern Intelligenz wie folgt: „Intelli- oder synthetische Intelligenz, die kritischer, zerglie- genz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, dernder Natur ist oder „logische Ordnung und Einheit“ sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzu- in das Chaos zu bringen versucht; die theoretische und stellen; sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähig- praktische Intelligenz, die direkt „mit logischen Opera- keit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ tionen und deren sprachlicher Bewältigung zu tun hat“ (W. Stern, 1912, S. 3). Diese Definition wählte Stern oder „die Denkmittel unmittelbar dem Handeln“ un- bewusst. Mit der Formulierung „neue Forderung“ woll- terordnet und dienstbar macht (W. Stern, 1935, S. te Stern die Intelligenz vom Gedächtnis abgrenzen, 429-430). die „Anpassung“ sollte darauf hinweisen, dass Leis- tung innerhalb eines Umfeldes erfolgt. Damit grenzt Diese Intelligenztypen sind nicht bei allen Men- Stern von der „Genialität“ ab, die eine „Neuschöpfung“ schen gleich ausgeprägt: „Jede Person hat . . . zwei- bewirkt (W. Stern, 1912, S. 4). fellos ein gewisses geistiges Niveau . . . Das Niveau ist freilich keine eben Fläche, sodass alle Teilfunktionen Ein weiterer Begriff, den Stern klar von der Intelli- die gleiche Höhe haben müssten. Es ist vielmehr man- genz unterscheidet ist das „Talent“: „Neben der Intelli- nigfaltig profiliert; und die in ihm vorhandenen Erhe- genz und ihren typischen Ausprägungen gibt es noch bungen und Vertiefungen bewirken sehr verschieden- eine andere Gruppe von geistigen Begabungen, die artigen Ausfall verschiedener Teiltests. Die Profilierung Talente. Während die Intelligenz das Gesamtverhalten ist dadurch bedingt, dass die ’Intelligenz‘ als angebo- des Menschen bestimmt, ist das Talent inhaltlich be- rene Disposition ja nicht für sich allein funktioniert, grenzt, es erstreckt sich nur auf eine Teilsphaere der sondern durch Interessen und Charaktereigenschaf- Person“ (W. Stern, 1935, 433). Und weiter schreibt er: ten, durch Gewöhnung und Ausseneinflüsse gefärbt „Im Talent drückt sich das besonders enge Verhältnis und mitbestimmt ist“ (W. Stern, 1935, S.425). einer Person zu einer Kultursphaere aus, ein Verhält- nis, in welchem Liebe zum Gegenstand und Fähigkeit Die Messung der Intelligenz kann nach Stern mit zu seiner Bemeisterung normaler Weise unscheid- unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden. bar verschmolzen sind. Daher ist es fast nie mehr Stern zählt eine Reihe von möglichen Testverfahren auseinanderzuhalten, ob die Neigung . . . die entspre- zur Bestimmung der Intelligenz auf: Assoziationen, chende Fähigkeit angeregt und gesteigert hat, oder Bildbetrachtung, Definitionen, Dreiwort- und Zweiwort- ob umgekehrt die besondere Begabung für bestimmte methode, Ergänzungstests, Erkennungstests, Finden Leistungsweisen und der erfolgreiche Fortschritt in ih- des Wesentlichen, Kenntnisprüfungen, Konzentrati- nen die Liebe zu dem Gebiet entzündet hat“ (W. Stern, on, Kritikfähigkeit, logisches Schliessen, Merkfähig- 1935, S. 434). keit, Ordnungstests, räumliche Vorstellung, Sprach- beherrschung, Suggestibilität, technische Aufgaben, Damit Intelligenz in Leistung umgesetzt werden technisch-physikalische Verhältnisse, Vergleichen, kann oder als Talent sichtbar wird, braucht es nach Verhalten zu vorgestellten Situationen, Zuordnungs- Stern die weiteren Eigenschaften der Aufmerksam- tests (W. Stern, 1920). Nicht alle dieser Methoden keit, des Wollens und des Übens. Nach Stern ist Auf- hält er für gleich geeignet. Er spricht sich aber dafür merksamkeit „derjenige personale Zustand, der die aus, dass ein Intelligenztest stets mehrere Teilfunktio- unmittelbare Vorbedingung zum Zustandekommen ei- nen der Intelligenz überprüfe und nicht nur ein einzi- ner personalen Leistung darstellt. Wissensmerkmale ges Merkmal: „. . . ein einzelner Test für sich, er mag der Aufmerksamkeit sind: Klärung des Zieles im Be- noch so gut sein, darf niemals zum Werkzeug einer wusstsein, und Konzentration der verfügbaren Kraft individuellen IP. [Intelligenzprüfung] gemacht werden auf Klärung und Zielerfüllung“ (W. Stern, 1935, S. 653). (W. Stern, 1912, S. 14). Unter dem Wollen versteht Stern ein „aus den Tiefen der Bedürfnissphaere gespeistes Streben, das durch Nach Stern muss ein guter Intelligenztest mindes- bewusste Vorwegnahme von Ziel und Weg geleitet und tens drei Kriterien erfüllen: „a) es müssen Testserien geordnet wird, und dessen Verwirklichung durch einen hergestellt werden, die die verschiedenen Teilfunktio- besonderen personalen Akt eingeleitet wird“ (W. Stern, nen der I. ins Spiel treten lassen; b) es muss hierfür 1935, S. 547). Und „Übung ist die spezifische Lei- eine weise Auswahl der Tests erfolgen, indem . . . nur stungssteigerung durch willentliche Wiederholung von solche mit hohem und sicherem Symptomwert, allge- Leistungen“ (W. Stern, 1935, 678). Erst durch das Zu- meiner Anwendbarkeit, objektiver Messfähigkeit her- sammenspiel dieser und weiterer Faktoren wird aus ausgegriffen werden; c) es muss ein System geschaf- einem Potenzial eine Kompetenz. fen werden, nach welchen die einzelnen Ergebnisse einer Prüfung zu einem Resultantenwert, also zu einer Innerhalb seines Intelligenzbegriffes unterscheidet objektiven Gesamtformel . . . vereinigt werden können, Stern vier Typen mit unterschiedlicher Ausprägung: die wobei verschiedenwertige Leistungen sich in gewis- SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011 43
ser Weise kompensieren müssen.“ (W. Stern, 1912, der ursprünglichen Anlagen ist ein charakteristischer S. 16). Die so erhaltenen Ergebnisse sollten nach Zug der Individualpsychologie, die alles wesentliche Stern dazu dienen, „das heute so dringlich geäusserte Können des Menschen auf Training bezw. Ermutigung Verlangen im Unterricht möglichst zu individualisieren“ zurückführen möchte. In Wirklichkeit tragen stets beide (W. Stern, 1912, S. 7) zu unterstützen. Weil Intelligenz- Faktoren gemeinsam bei zur Entwicklung der mensch- messungen bei einer grossen Anzahl von Versuchs- lichen Fertigkeiten“ (W. Stern, 1935, S.435). Und in personen eine Verteilung ergeben, die „eine gewis- Bezug auf den Schulalltag schreibt er: „Immerhin darf se Ähnlichkeit mit dem einfachsten Verteilungsgesetz man nicht vergessen, dass auch die von der Schu- (der Gaussschen Häufigkeitskurve) besitzt“, schliesst le gebotene intellektuelle Übung immer nur innerhalb Stern, dass eine Niveau-Gruppeneinteilung dieser Ge- der Spielraumbreite wirksam sein kann, die nun ein- setzmässigkeit zu folgen habe: „Wo wir gezwungen mal durch die Anlage gewährt wird; und so schimmert sind, eine Menschenmasse nach ihrer geistigen Leis- doch durch alle schulbestimmten Leistungen immer tungsfähigkeit in eine gute, mittlere und schwache die Grundfarbe der ursprünglichen und immanenten Gruppe zu teilen, kommt die bequeme und oft gewähl- Begabung hindurch“ (W. Stern, 1920, S.16). te Einteilung in drei gleich starke Gruppen sicherlich weniger den wirklichen Abstufungen nahe, als die Ab- Sterns Beiträge zur Intelligenzforschung gehen al- spaltung eines guten und eines schlechten Viertels so weit über den bereits 1912 gemachten Vorschlag von der kompakten mittleren Hälfte“ (W. Stern, 1912, hinaus, den Unterschied zwischen Intelligenz und In- S. 31f.). telligenzalter nicht als Differenz zu betrachten, son- dern deren Quotienten zu berechnen. Terman hat spä- Allerdings können nach Stern auch die besten ter diesen Vorschlag aufgegriffen. Indem er den Quo- Intelligenzprüfungen nur einen Beitrag zur Einschät- tienten zusätzlich mit dem Faktor 100 multiplizierte, zung und allenfalls Einteilung eines Kindes in einen erhielt er die IQ-Werte seiner Probanden. Erst David bestimmten Schultyp leisten: „Man darf die Tests nicht Wechsler sollte dann den IQ neu als Standardabwei- überschätzen, als seien sie automatisch wirkende al- chung der Normalkurve definieren. lein genügende Geistesproben. Sie sind höchstens das psychographische Minimum, das eine erste Ori- entierung gestattet bei Individuen, die man sonst gar Sterns Forderungen an die Begabten- nicht kennt; und sie sind geeignet, die anderweitige förderung Beobachtung psychologischer, pädagogischer, ärztli- „Diesen Verschiedenheiten der Fähigkei- cher Art zu ergänzen und sie vergleichbar und objektiv ten gegenüber kann die wahrhaft sittliche graduierbar zu machen, nicht aber sie zu ersetzen“ Gleichheitsforderung nur darin bestehen, (W. Stern, 1912, S. 9f.). dass allen Menschen die gleiche Mög- lichkeit gegeben wird, sich nach ihrer Art Damit unterscheidet sich Stern fundamental von und gemäss ihren Fähigkeiten in ihrer be- den Absichten Lewis Termans, mittels und aus- sonderen Weise zu entwickeln. So müs- schliesslich von Massenintelligenztests, Schülerinnen sen Gleichheit und Verschiedenheit zu ei- und Schüler in ein bis zu fünfstufiges Schulsystem nem grossen ethischen Ideal verschmol- einzubinden, und dies wenn möglich bereits zum Be- zen werden“ (W. Stern, 1926, S. 13). ginn des Schuleintritts (Schmidt, 1994). Auch in der bereits von Francis Galton (Giger, 2008) begonnenen William Stern stand in den 20er Jahren des 20. Jh. Debatte zum Einfluss von Vererbung und kulturellem im Brennpunkt der Diskussion der Begabtenförderung. Umfeld unterscheidet sich Stern deutlich von Termans Seine Standpunkte wurden in „Probleme der Schü- Gewichtung der Erbfaktoren. lerauslese“ (W. Stern, 1926) publiziert und basierten auf seinen Voten während der „Schulpolitischen Wo- Stern schreibt dazu: „Die Intelligenz ist zweifellos che“ in Altona im Juni 1925. Die damals gemachten eine angeborene Disposition; angeboren aber ist sie Aussagen sollen in diesem Abschnitt diskutiert und nur Anlage, d. h. als noch nicht fest abgezirkelte Be- teilweise mit aktuellen Forderungen der Begabungs- tätigungsmöglichkeit mit breitem Spielraum, als eine und Begabtenförderung verglichen werden. Vieldeutigkeit, die erst der Vereindeutigung im Laufe der Entwicklung und unter Beteiligung der Einflüs- Grundsätzlich geht Stern davon aus – um es mit se des Lebens harrt. Je mehr diese Vereindeutigung einer modernen Formulierung zu nennen –, dass der fortschreitet, je mehr sich feste Betätigungsweisen Unterricht den ersten Förderort bildet: „Erst gemeinsa- herausbilden, um so mehr wird aus der Anlage eine me Erziehung aller Kinder, dann für die Bestbegabten Eigenschaft, die nun nach Art und Grad ein gemeinsa- unter ihnen eine gesonderte weiterführende Erzie- mes Erzeugnis der inneren und äusseren Bedingun- hung (W. Stern, 1926, S. 10).“ Diese Förderung reicht gen ist“ (W. Stern, 1920, S. 12). aber nicht aus. Deshalb ist er klar der Meinung, dass im Klassenunterricht nicht alle Bedürfnisse der „best- Ebenso empfindlich wie auf die Eugeniker reagiert begabten“ Schülerinnen und Schüler entsprechend Stern auf Vertreter der ausschliesslich umweltbeding- berücksichtigt werden können. So sagt er über die Be- ten Beeinflussung der Intelligenz: „Die Unterschätzung fürworter eines integrativen Unterrichts, diese würden 44 SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011
sich mit den Worten „durch den modernen Arbeitsun- beachtet wird: sie lernen nicht arbeiten! Es wird ihnen terricht sei viel mehr als früher die Möglichkeit gege- zu leicht, es fliegt ihnen alles zu. Der Schulbetrieb ben, dass innerhalb der gemeinsamen Klasse doch langweilt sie, vermag sie nicht anzuregen und anzu- genügend differenziert werde, um auch den höher Be- spornen. Was Fleiss bedeutet, lernen sie vielleicht gar gabten die ihnen angemessene geistige Nahrung zu nie kennen . . . “ (W. Stern, 1926, S. 20). Oder mit ande- geben“ (W. Stern, 1926, S. 18) aus der Verantwortung ren Worten, durch die fehlenden Herausforderungen gegenüber den hochbegabten Kindern stehlen, denn lernen die Hochbegabten weder zu lernen, noch zu „Was unseren Sorgenkindern recht ist, muss unseren arbeiten. Hoffnungskindern billig sein. Ein langes Festhalten der weit über dem Durchschnitt stehenden Begabung in Stern ist davon überzeugt, dass entsprechende einem einfacheren und langsameren Schulgange ist Herausforderungen für hochbegabte Kinder und Ju- ein Unrecht gegen diese Begabte, gegen die wir auch gendliche ein wichtiger Schritt in der Heranreifung Pflichten haben. . . . durch die Gemeinschaft mit einer der eigenen Persönlichkeit bilden: „Im Gegensatz zu Masse, die zum grössten Teil weniger begabt ist, wird dem Bedenken also, dass durch Zusammenbringen doch das Tempo der Entwicklung verzögert, die Höhe der Befähigten in weiterführenden Schulen Hochmut der schliesslich erreichbaren Bildung herabgedrückt“ gezüchtet werde, glaube ich, dass ein solches sehr (W. Stern, 1926, S. 19). befähigtes Kind dort, wo es seine Kräfte energisch an- strengen muss, um mit den anderen ebenso begabten Nach Stern sind auch die immer wieder gehörten oder vielleicht begabteren Schritt zu halten, viel eher Befürchtungen, eine Separation der Hochbegabten zu Bescheidenheit und Einsicht in die Grenzen seines würde zu Hochmut führen und die „ausgekämmten“ Könnens geführt werden kann“ (W. Stern, 1926, S. 20). Klassen würden ihre Zugpferde verlieren und dadurch zu Ansammlungen von kaum mehr zu unterrichtenden Nebst der getrennten Beschulung in den höheren Restgruppen führen, nicht haltbar. In der integrativen Klassen sieht Stern auch die Notwendigkeit der Ak- Beschulung von hochbegabten Kindern und Jugend- zeleration in der Primarschule: „Deshalb wird es sich lichen sieht Stern vor allem zwei Gefahren: die der empfehlen, dort, wo die Diagnose einer überragenden Langeweile und die der Überheblichkeit. Begabung schon früher möglich ist, das Kind bereits nach einem oder zwei Grundschuljahren eine Klasse Zur Langeweile und Unterforderung sagt Stern: überspringen zu lassen, damit es dann besser nach „. . . diese Kinder, welche das doppelte Futter brau- drei Grundschuljahren den Anschluss nach oben fin- chen, bekommen doch nur das einfache. So ernsthaft det“ (W. Stern, 1926, S. 46). man auch eine Individualisierung innerhalb der Klas- se anstrebt – es bleibt ein gewisses Gesamtniveau Da aber erhöhte schulische Anforderungen oder des Unterrichts, das meistens bestimmt wird durch die raschere Verarbeitung von Inhalten nicht für alle die schwächere Mitte der Klasse . . . “ (W. Stern, 1926, Kinder und Jugendliche geeignet sind, wie das Bei- S. 19). Diese Kritik ist nach wie vor berechtigt. Zwar spiel der „Sorgenkinder“ zeigt, ist es für Stern äusserst wird unterdessen in vielen Unterrichtssituationen ver- wichtig, die entsprechende Auslese, d. h. Identifikation sucht, das Lernangebot zu differenzieren oder sogar richtig durchzuführen, wobei nicht die Intelligenz allein zu individualisieren, die entsprechenden Anstrengun- Kriterium für diese Auslese sein kann: „Wir müssen gen stecken aber häufig noch in den Kinderschuhen erst einmal wissen, welche Verschiedenheiten der Fä- oder beziehen sich vor allem auf die Oberflächen- higkeiten es überhaupt gibt, also Begabungsforschung struktur des Unterrichts statt auf dessen Tiefenstruktur betreiben. Wir müssen ferner wissen, mit welchen (Reusser, 2005), und sie greifen, wie beispielsweise Hilfsmitteln wir im einzelnen feststellen können, ob ein Reis (Reis, 2009) ausführt, häufig zu kurz oder wer- Kind die Fähigkeit besitzt, die es zu einem berech- den zu wenig häufig eingesetzt. Stern selbst vertritt tigten Anwärter für eine weiterführende Schullaufbahn die Meinung, eine Einheitsschule sei nur bis zum vier- und damit auch für einen höher gearteten Beruf macht: ten Schuljahr wünschenswert: „Mir scheint ein sechs d. h. wir müssen Begabungsdiagnose und Begabungs- Jahr währendes Zusammenbleiben aller Kinder ei- prognose betreiben (W. Stern, 1926, S. 16f.)“. ne schwer zu rechtfertigende Beeinträchtigung der begabteren Kinder zu sein; denn je stärker mit stei- Stern ist sich aber auch bewusst, dass eine Iden- gendem Alter sich die Befähigungsgrade und -arten tifikation mit einem Testverfahren immer nur eine Mo- differenzieren, umso mehr wirkt der noch andauern- mentaufnahme ist. Überhaupt empfiehlt er, möglichst de gemeinschaftliche Unterricht als eine Hemmung viele Faktoren zu berücksichtigen. Deshalb fordert er und Verschleppung für diejenigen, die einem anderen “. . . dass die Auslese elastisch sei und an mehreren Unterrichtstempo gewachsen wären“ (W. Stern, 1920, Zeitpunkten stattfinden kann„ (W. Stern, 1926, S. 24). S.247). Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher: „. . . niemals darf eine einzige Auslese auf einer bestimm- Diese Unterforderung kann zu Verhaltensproble- ten Altersstufe endgültig und unwiderruflich über das men und unerwünschten Charaktereigenschaften füh- Schul- (und damit Lebens-)schicksal des Kindes ent- ren. Stern dazu: „Daraus folgt aber zweitens eine cha- scheiden“ (W. Stern, 1920, S. 277). rakterliche Gefährdung der Begabten, die zu wenig SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011 45
Ausserdem ist es Stern wichtig, dass die entspre- Stern selbst relativiert seine Aussage allerdings in ei- chenden Untersuchungen nicht nur das vorhandene ner Fussnote zum entsprechenden Abschnitt, indem Wissen der infrage kommenden Schülerinnen und er von „seltenen Ausnahmefällen“ spricht. Allerdings Schüler überprüfen, sondern vielmehr gelte: „Bega- dürfe die elterliche Gewalt nur dann eingeschränkt bungsdiagnose ist nicht Kenntnisdiagnose und nicht werden, wenn ein entsprechendes Gutachten vorlie- Fertigkeitsdiagnose. Wir wollen nicht feststellen, was gen würde: „Hält dieses Gutachten die vorliegende die Kinder gelernt haben auf der Schule, in der sie Begabung für so aussergewöhnlich und aussichts- bisher waren, sondern wir wollen umgekehrt eigent- reich, dass ihre Ausbildung – nicht nur im Interesse lich das Unerlernbare, das, was ihnen von der Natur des Individuums selbst, sondern auch in dem der All- mitgegeben ist an Anlagen und Entwicklungsmög- gemeinheit – dringend zu fordern ist, dann besteht ein lichkeiten feststellen“ (W. Stern, 1926, S. 34). Damit sittliches Recht, die elterliche Machtvollkommenheit unterscheidet sich Sterns Forderung nach einem Auf- einzuschränken und den jungen Menschen mit staatli- nahmeverfahren von gängigen Aufnahmeprüfungen, chen Mitteln in der ihm gemässen Schule auszubilden“ bei denen aufgrund des vorhandenen Wissens und (W. Stern, 1926, S. 46). Könnens auf einen zukünftigen Erfolg geschlossen wird. Die entsprechenden, umfangreichen von Stern Gerade weil die Auslese mit derart vielen Schwie- und seinen Mitarbeitern dazu durchgeführten Verfah- rigkeiten verknüpft ist, sei die „Schulter des einzel- ren hätten, so Stern selbst, bei der Auslese von 1000 nen Lehrers viel zu schwach, um diese ganze Ver- Schülerinnen und Schülern von 1500 getesteten nach antwortung zu tragen“ (W. Stern, 1926, S.37). Des- anderthalb Jahren nur zu einer Fehlerquote von 2 halb benötige es die Unterstützung durch die Psycho- % geführt (W. Stern, 1926, S. 38). Stern selbst aber logie: Man werde „eben mit der Zeit um die Einführung betont: „Mathematisch sichere Prognosen gibt es im von Schulpsychologen (die natürlich zugleich pädago- Menschenleben überhaupt nicht“ (W. Stern, 1926, S. gische Praktiker sein müssen) nicht herumkommen“ 36). (W. Stern, 1926, S. 47f. ). Trotz aller Bemühungen, so ist Stern überzeugt, wird es aber nicht gelingen, alle infrage kommenden Kinder und Jugendliche rich- Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Bevöl- tig zu platzieren, trotzdem müsse man es versuchen, kerungsgruppen geht Stern davon aus, dass sich vor denn „Wir werden . . . gerade diese Ausnahmefälle, allem Kinder aus gutbürgerlichen Haushalten für die vor allem die Genies, nie mit Sicherheit in der Ausle- höheren Schulen eigneten, da diese durch Erziehung se erfassen . . . Genieschulen kann man nicht errich- aber auch ihr Erbe bereits eine Auslese durchlaufen ten. . . . Was wir aber doch tun sollen und müssen, das hätten. Er ist sich aber durchaus bewusst, dass sich ist, für eine gewisse Schicht von hochqualifizierten Ta- auch in anderen Schichten der Bevölkerung begabte lenten und Intelligenzen die geeigneten Massnahmen Kinder finden: „Was wir fordern müssen, ist ja lediglich treffen; und dabei kann und muss die Psychologie hel- dies, dass den hochbegabten Kindern der anderen fen“ (W. Stern, 1926, S. 41). Schichten die Tore weit geöffnet werden; was wir aber nicht wünschen dürfen, ist eine plötzliche Massenab- wanderung von Kindern des Volkes in andere Schulen, Fazit andere Schichten und andere Berufe (W. Stern, 1926, „Nicht darauf kommt es an, welche Bega- S. 28).“ Damit spricht er sich einerseits gegen eine bungen ein Mensch hat, sondern welche Verschulung von Personen aus, welche von dieser Verpflichtungen er aus ihr ableitet und nicht vollumfänglich profitieren können, möchte aber wie er dieser Verpflichtung nachkommt. sicherstellen, dass die höheren Schulen nicht auf die (W. Stern, 1926, S. 44) Kinder des Bildungsbürgertums beschränkt bleiben: „. . . es ist eine der vornehmsten Aufgaben der Intelli- Obwohl William Stern mehr als 30 Bücher und 200 genzprüfung, an der Auffindung solcher hochbegabten Artikel veröffentlichte und seine Schriften bis in die Kinder mitzuwirken“ (W. Stern, 1935, 428). 30er Jahre des 20. Jh. auf eine grosse Aufmerksam- keit stiessen, gerieten seine Arbeiten zur Begabungs- Eher befremdlich mutet seine damalige Forderung und Begabtenförderung mit dem Aufstieg der Natio- an, dass nur Schüler zugelassen werden dürften, „de- nalsozialisten in Deutschland und dem darauf folgen- ren Eltern es wünschen“ (W. Stern, 1926, S. 29). Eine den Exil im deutschen Sprachraum weitgehend in Ver- solche Forderung wird inzwischen als Einschränkung gessenheit (Bühring, 2000). Stern wurde jahrelang vor der Entfaltungsmöglichkeiten des jungen Menschen allem mit seinem entwicklungspsychologischen Werk verstanden. Nicht nur, weil sich unterdessen die Hal- über die frühe Kindheit (W. Stern, 1930) in Verbin- tung gegenüber der Erziehungsverantwortung der El- dung gebracht und in den Kreisen der Begabungs- tern verändert hat, sondern auch weil dadurch gerade förderung entweder ignoriert oder fast ausschliesslich Minoritäten aus einem so genannten „bildungsfernen auf den Intelligenzquotienten reduziert (Weinert, 1967; Umfeld“ zusätzlich benachteiligt werden könnten, ge- Clark, 2002; Colangelo & Davis, 2003; Rost, 2006; Ro- hen doch viele Erziehungsverantwortliche immer noch binson & Clinkenbeard, 2008; Woolfolk, 2008). Einzig davon aus, dass zumindest ein Teil der Migranten Mönks und Katzko (Mönks & Katzko, 2005) erwäh- weniger Wert auf den Schulerfolg der eigenen Kin- nen zumindest die weiteren Verdienste Sterns um die der legen würden, als dies im Bürgertum der Fall ist. Begabungs- und Begabtenförderung. 46 SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011
Dies ist umso erstaunlicher, als sich Stern nicht nur Giger, M. (2009a). Leta Stetter Hollingworth. SwissGifted, Vol. 2 in verschiedenen Publikationen mit der Intelligenzmes- (Nr. 1), S. 32-36. Giger, M. (2009b). Termans Kinder: Erkenntnisse aus der Langzeit- sung bei Kindern und Jugendlichen sowohl theoretisch studie. SwissGifted, Vol. 2 (Nr. 2), S. 73-78. als auch praktisch beschäftigt hat, sondern sich eben Lamiell, J. T. (2010). William Stern (1871-1938): A brief introduction auch schulpolitisch klar geäussert hat. Wie im Ab- to his life and works. Lengerich: Pabst Science Publisher. schnitt Sterns Forderungen an die Begabungs- und Mönks, F. J. & Katzko, M. W. (2005). Giftedness and gifted educati- on. In R. J. Sternberg & J. E. Davidson (Hrsg.), Conceptions Begabtenförderung ausgeführt, war Stern die Förde- of giftedness. New York: Cambridge University Press. rung der Begabten ein zentrales Anliegen, wobei er Reis, S. M. (2009). Turning points and future directions in gifted den Begabungsbegriff – für die damalige Zeit unüblich education and talent development. In T. Balchin, B. Hymer & – weit über die reine IQ-Diskussion hinaus definierte. D. J. Matthews (Hrsg.), The routledge international compa- nion to gifted education (S. 317-324). London: Routledge. Reusser, K. (2005). Problemorientiertes Lernen – Tiefenstruktur, Die ausgewählten Zitate machen deutlich, dass Gestaltungsformen, Wirkung. Beiträge zur Lehrerbildung, Sterns bald hundert Jahre alte Forderungen im neu- 23 (2), S. 159-182. en Jahrtausend immer noch aktuell sind und sich zu Robinson, A. & Clinkenbeard, P. R. (2008). History of gifted- einem grossen Teil mit Forderungen und Zukunftsvisio- ness: Perspectives from past presage modern scholarship. In S. I. Pfeiffer (Hrsg.), Handbook of giftedness in children nen bekannter Persönlichkeiten der Begabungs- und (S. 13-31). New York: Springer. Begabtenförderung decken (Balchin, Hymer & Matt- Rost, D. H. (Hrsg.). (2006). Handwörterbuch pädagogische Psycho- hews, 2009). Und noch immer gilt für die Begabungs- logie (3. Auflage Aufl.). Weinheim: Beltz. und Begabtenförderung, was Stern bereits 1925 sag- Schmidt, W. (1994, September). William Stern (1871-1938) und Lewis Terman (1877-1956): Deutsche und amerikanische te: “ . . . dass es sich um eine Aufgabe ganz grossen Intelligenz- und Begabungsforschung im Lichte ihrer an- Formats handelt, bei der Politiker und Soziologen, dersartigen politischen und ideologischen Voraussetzun- Fachpädagogen, Eltern und Psychologen zusammen- gen. Psychologie und Geschichte, Vol. 6 (Heft 1/2), S. 3-26. arbeiten müssen. Ich möchte diese Aufgabe bezeich- Stern, W. (1912). Die psychologischen Methoden der Intelligenz- prüfung und deren Anwendung an Schulkindern. Leipzig: nen als geistige Schatzhebung . . . und die kostbarsten Verlag von Johann Ambrosius Barth. Schätze . . . sind die geistigen Kräfte, die in unserer Ju- Stern, W. (1918). Person und Sache. System der philosophischen gend stecken“ (W. Stern, 1926, S.42 f.). Weltanschauung (Bd. Zweiter Band: Die menschliche Per- sönlichkeit). Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth. Stern, W. (1920). Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung. An Stelle einer dritten Auflage des Buches: Die Intelligenzprüfung an Kindern und Literatur Jugendlichen. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth. Stern, W. (1925). Anfänge der Reifezeit. Ein Knabentagebuch in Balchin, T., Hymer, B. & Matthews, D. J. (Hrsg.). (2009). The Rout- psychologischer Bearbeitung. Leipzig: Verlag von Quelle. ledge international companion to gifted education. London: Stern, W. (1926). Probleme der Schülerauslese. Leipzig: Verlag Routledge. Quelle & Meyer. Bühring, G. (1996). William Stern oder Streben nach Einheit. Frank- furt am Main: Peter Lang Verlag. Stern, W. (1930). Psychologie der frühen Kindheit. Bis zum sechsten Bühring, G. (2000). Zur Rezeption William Sterns im Spiegel der Re- Lebensjahr. Leipzig: Verlag Quelle & Meyer. zensionen. Psychologie und Geschichte, Jahrgang 8 (Heft Stern, W. (1935). Allgemeine Psychologie auf personalitischer 3/4), 190-199. Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff. Clark, B. (2002). Growing up gifted (6th Aufl.). Upper Saddle River, Stern, W. L. (1906). Person und Sache. System der philosophischen NJ: Merill Prentice Hall. Weltanschauung (Bd. Erster Band: Ableitung und Grundleh- Colangelo, N. & Davis, G. A. (Hrsg.). (2003). Handbook of gifted re). Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth. education. Boston: Pearson Education. Tschechne, M. (2010). William Stern. Hamburg: Ellert & Richter Deutsch, W. (Hrsg.). (1991). Über die verborgene Aktualität von Verlag. William Stern. Frankfurt am Main: Institut für Psychologie, Weinert, F. (Hrsg.). (1967). Pädagogische Psychologie. Köln: Kie- Technische Universität Braunschweig. penheuer & Witsch. Giger, M. (2008). Sir Francis Galton: Wird Genie vererbt? SwissGif- Woolfolk, A. (2008). Pädagogische Psychologie (10. Auflage Aufl.). ted, Vol. 1 (Nr. 2), S. 27-31. München: Pearson Studium. SwissGifted, Vol. 4, Nr. 1 und 2 (Doppelnummer), Oktober 2011 47
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