Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: ...
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Chantal Camenisch, Universität Bern Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: Konzepte und Beispiele Einleitung Abstract Societal climate impacts are complex social and In der Vergangenheit waren menschliche economic phenomena and processes, such as Gesellschaften immer wieder mit Klimavariationen, subsistence crises, epidemic diseases or damage extremen Witterungsereignissen und ihren teils to infrastructure. They are triggered or influenced, positiven, teils negativen Folgen konfrontiert. Ob but not caused by extreme weather and climate eine Bevölkerung gegenüber Klimavariationen variability alone. This article briefly presents theo- und extremen Witterungsbedingungen verletz- retical approaches to climate impact on society and lich war oder nicht, hing dabei nicht nur von der discusses examples from Switzerland in the period Intensität der klimatischen Schwankungen oder from 1300 to 1700 with a view to application in meteorologischen Ereignisse ab, sondern auch von school teaching. landwirtschaftlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die eine Gesellschaft präg- ten, weshalb klimadeterministische und mono- Keywords kausale Erklärungsmuster zu kurz greifen.1 Climate, climate impact on society, economic Gesellschaftliche Klimafolgen betrafen und history of Switzerland, famine, epidemic diseases, betreffen den Alltag der Menschen direkt und pre-industrial period unmittelbar. Sie gehören deshalb zu den in der Gegenwart und sehr wahrscheinlich auch in der Zukunft für die Schüler*innen erfahrba- ren Themen ihrer Alltagswelt und eignen sich somit im Sinne von Wolfgang Klafki als für den Unterricht geeignete Problemfelder.2 In ihrer Behandlung im Unterricht gilt es allerdings, einige Besonderheiten zu beachten, weshalb Bernd- Stefan Grewe auf Fallstricke und Perspektiven der Umweltgeschichte an der Schule verweist.3 Auf die 1 Mauelshagen Franz, Klimageschichte der Neuzeit. 1500-1900, Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaft- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), 2010, S. 85. liche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klima- 2 Klafki Wolfgang, «Didaktische Analyse als Kern der variationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: Unterrichtsvorbereitung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik», in Klafki Wolfgang (Hrsg.), Studien zur Konzepte und Beispiele », in Didactica Historica Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, 1963, S. 126-153. 7/2021, p. 1-10. 3 Grewe Bern-Stefan, «Umweltgeschichte unterrichten: Für eine kri- tische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern.», DOI : 10.33055/DIDACTICA HISTORICA. in Düselder Heike, Schmitt Annika, Westphal Siegrid (Hrsg.), 2021.02.07 Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2014, S. 37-54. Im Dossier | 1
Vergangenheit bezogen, gehören die gesellschaftli- der Jahrhunderte schärfen, aber auch exemp- chen Klimafolgen exemplarisch in den Unterricht larisch Orts- und Regionalgeschichte anhand im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften» von Bauwerken, Bildern und schriftlichen (RZG) im 3. Zyklus des Lehrplans 21 sowie ins Zeugnissen darstellen. Subsistenzkrisen und Fach «Geschichte» der Sekundarstufe II. In diesem Epidemien gehören zur Alltagsgeschichte als Artikel werden Vorschläge vorgestellt, wie sich eine Form von Wirtschaftskrisen, aber auch zum gesellschaftliche Klimafolgen der vorindustriel- Kompetenzbereich «Schweiz in Tradition und len Zeit in den Unterricht der Sekundarstufe II Wandel verstehen». Auf der Sekundarstufe II integrieren lassen und wo sich die Thematik auch bieten viele kantonale Lehrpläne Platz für über die vorindustrielle Zeit hinaus erweitern Alltagsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte des lässt.4 Zu diesem Zweck wurde der Fokus auf Mittelalters und der frühen Neuzeit oder zwei Arten von Klimafolgen gelegt: Schäden an Regionalgeschichte, wenn nicht sogar explizit der baulichen Verkehrsinfrastruktur infolge von Umweltgeschichte oder das Themenfeld «Kleine Überschwemmungen und Hochwasser einerseits Eiszeit» vorgeschlagen werden. Die Geschichte und Subsistenzkrisen, die oft Epidemien nach sich der Hochwasserschäden ebenso wie diejenige zogen, andererseits. der Subsistenzkrisen und der Epidemien las- sen den Schüler*innen viel Spielraum, um ein Thema mit unterschiedlichen Quellengattungen Vorschläge zur Einbettung in den zu bearbeiten. So bietet es sich an, diese Lehrplan und in Unterrichtsgefässe Inhalte in Form von Gruppenarbeit oder eines auf der Sekundarstufe II «Gruppenpuzzles» erarbeiten zu lassen, indem beispielsweise jede Gruppe andere Quellen Um die Zusammenhänge von Klima, analysiert oder unterschiedliche Aspekte von Witterungsverlauf und menschlicher Hochwasser oder Subsistenzkrisen unter- Gesellschaft in der Vergangenheit zu verstehen, sucht. Da Klimafolgen fächerübergreifende greifen die Schüler*innen auf Kompetenzen Themenfelder betreffen, ist eine interdiszi- zurück, die sie im 2. und 3. Zyklus des plinäre Herangehensweise mit den Fächern Deutschschweizer Lehrplans 21 erworben Geografie oder Wirtschaft eine Option, was haben.5 Die Geschichte der Hochwasser- und sich auch in Form einer Projektwoche umset- Überschwemmungsschäden an der baulichen zen lässt.6 Mit der entsprechenden Vorarbeit der Verkehrsinfrastruktur können dabei einerseits Lehrperson, insbesondere der Formulierung von das Bewusstsein für landschaftliche und ver- Aufträgen und einer engeren Begleitung eignet kehrsplanerische Veränderungen im Verlauf sich die Thematik auch für die Sekundarstufe I. Kleine Eiszeit und gesellschaftliche selben Band sind weitere geschichtsdidaktische Artikel enthalten, die auf die Integration von Umweltgeschichte in den Lehrplan eingehen. 4 Klimafolgen Eine Vielzahl an Unterrichtsmaterialien zu verschiedenen Epochen und Aspekten der Umwelt- und Klimageschichte sowie konzep- In den hier primär behandelten Untersuchungs- tionelle Ansätze für den Unterricht enthält zudem Kuhn Bärbel, Windus Astrid (Hrsg.), Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht, zeitraum fällt die «Kleine Eiszeit», die sich durch Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte 4, St. Ingbert: tiefere Durchschnittstemperaturen auszeichnete, Röhrig Universitätsverlag, 2013. 5 Zugang zum Lehrplan 21 für den Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG): https://v-fe.lehrplan.ch/index. php?code=b|6|0&la=yes. Im 3. Zyklus sind dies etwa die 6 Kompetenzbereiche RZG.1.2 «Geografie: Wetter und Klima», Ein sehr gelungenes und gut verständliches Beispiel für eine RZG.1.3 «Geografie: Naturphänomene und Naturereignisse» und fächerübergreifende Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen teilweise RZG.2.1 «Geografie: Bevölkerung und Migration», die zum Zusammenspiel von Vulkanausbrüchen, Klima und gesell- den Schüler*innen Wissen zu den meteorlogischen Phänomen schaftlichen Klimafolgen wird etwa in einer ARTE-Dokumentation vermitteln, welche auch für historische Witterungsereignisse zum Ausbruch des Samalas 1258 von Pascal Guérin gezeigt: Le gültig sind. Auch die Kompetenzbereiche RZG.5 «Schweiz in mystérieux volcan du Moyen Âge / Rätselhafter Vulkanausbruch. Tradition und Wandel» oder RZG.7 «Geschichtskultur» bieten https://www.srf.ch/sendungen/myschool/raetselhafter-vulkanaus- Voraussetzungen für diese Thematik. bruch, konsultiert am 30.08.2020. 2 | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
wobei die Temperaturen nicht permanent und kurzfristige, konjunkturelle oder langfristige konstant tiefer waren, sondern einzelne Kühlpha- Ereignisse, Prozesse oder Abfolgen von Prozessen sen, aber auch Normaljahre sowie Hitze- und Nie- erstrecken.9 derschlagsanomalien feststellbar sind.7 Welche gesellschaftlichen Folgen Klimavariationen Zu den gesellschaftlichen Klimafolgen zäh- und extreme Witterung nach sich ziehen und len verschiedene Phänomene und Prozesse, wie stark diese Folgen ausfallen, hängt von die einen mehr oder weniger direkten kausalen der Vulnerabilität und der Resilienz einer Zusammenhang mit Klimavariationen oder extre- Gesellschaft gegenüber diesen Phänomenen ab. men Witterungsereignissen aufweisen.8 Es können Die Vulnerabilität bestimmt dabei, in welchem dabei sehr unterschiedliche (bio-) physikalische, Ausmass und in welcher Art extreme Witterung sozio-ökonomische und kulturelle Ebenen betrof- und Klimavariationen Folgen auf ein System oder fen sein, wobei je nach Ebene neben dem Klima- eine Gesellschaft haben. Diese Vulnerabilität und Witterungsgeschehen weitere Faktoren hängt von verschiedenen Variablen ab – wie der die hier als Klimafolgen zusammengefassten topografischen Lage einer Siedlung, der Nähe Phänomene und Prozesse beeinflussen. Auch zum Entstehungsort von Naturgefahren, der Bewältigungs- und Adaptionsstrategien gehören Verkehrsanbindung und Marktintegration ebenso zum Bereich der Klimafolgen. Um wirtschaftliche wie von den politischen Gegebenheiten zu einem und gesellschaftliche Klimafolgen besser einord- bestimmten Zeitpunkt. Vulnerabilität ist im stän- nen zu können, ist es sinnvoll, auch eine zeitli- digen Wandel und nicht statisch. Mit der Resilienz che Unterscheidung vorzunehmen. Klimafolgen wird ausgedrückt, wie erfolgreich und wie schnell können sich ebenso wie deren Ursachen über ein System Störungen bewältigen kann.10 Letztlich bietet die Diskussion der Vulnerabilität einer Gesellschaft der Lehrperson die Möglichkeit, viele 7 Behringer Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Aspekte des Alltagslebens der Menschen in der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München: Verlag C. H. Beck, vorindustriellen Zeit zu thematisieren und auch 2009, 120; zu den verschiedenen Phasen während der «Kleinen aufzuzeigen, welche Veränderungen im Zuge der Eiszeit»: Pfister Christian, Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen, Bern et al.: Haupt, 1999; Industrialisierung diese Vulnerabilität beeinflusst Pfister Christian, «Weeping in the Snow. The Second Period of haben. Als Beispiele seien hier die Intensivierung Little Ice Age-type Impacts, 1570-1630», in Behringer Wolfgang, Lehmann Hartmut, Pfister Christian (Hrsg.), Kulturelle der Landwirtschaft oder die Veränderungen im Konsequenzen der «Kleinen Eiszeit»/Cultural Consequences of the Transportwesen durch den Bau von Eisenbahnen «Little Ice Age», Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2005, genannt. S. 31-86; Camenisch Chantal, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 5, Basel: Schwabe, 2015; Camenisch Chantal, «The Quellen und Materialien Potential of Late Medieval and Early Modern Narrative Sources from the Area of Modern Switzerland for the Climate für den Unterricht History of the Fourteenth Century», in Bauch Martin, Schenk Gerrit Jasper (Hrsg.), The Crisis of the 14th Century. Teleconnections between Environmental and Societal Change?, Das Die Forschung zu gesellschaftlichen Klimafolgen Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 13, stützt sich auf historische Quellen, welche gesell- Berlin & Boston: de Gruyter, 2020, S. 43-61; Rohr Christian, schaftliche und wirtschaftliche Ereignisse und Camenisch Chantal, «Klima und extreme Naturereignisse in der Schweiz, 1350-1850. Nutzen und Potenziale historischer und Prozesse festhalten. Für die Zeitspanne von 1300 naturwissenschaftlicher Klimaforschung für die Archäologie», bis 1700 bieten sich einerseits erzählende Texte in Niffeler Urs (Red.), Die Schweiz von 1350 bis 1850 im Spiegel archäologischer Quellen / La Suisse de 1350 à 1850 à tra- vers les sources archéologiques. Akten des Kolloquiums / Actes du Colloque, Bern, 25.-26.1.2018, Basel: Verlag Archäologie 9 Schweiz, 2018, S. 479-487, auch online unter http://www. Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh». Die letzte archaeologie-schweiz.ch/Kolloquiumsakten-SPM.338.0.html, grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Wirtschafts-, Sozial- und konsultiert am 30.08.2020. Umweltgeschichte (WSU) 4, Basel: Schwabe, 2015, S. 104-108, 8 205-209. Eine genauere Beschreibung findet sich auch in einer Mauelshagen Franz, Pfister Christian, « Vom Klima zur Gesellschaft. Klimageschichte im 21. Jahrhundert », in kürzeren Version dieses Artikels in der Didactica Historica 7/2021, Welzer Harald, Soeffner Hans-Georg, Giesecke Dana (Hrsg.), S. 23-28. 10 KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt: Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…, Campus Verlag, 2010, S. 241-269. S. 205-212. Dossier | 3
aus dem Bereich der Historiografie an, etwa zusätzlich für einen Grössenvergleich auf ein Chroniken oder Annalen. Viele Quellen die- architektonisches Element am Münster – einen ser Art sind in edierter Form oder als Original Bären – das seinen Lesern wohl bekannt war. auf frei zugänglichen Repositorien und in Diese riesigen Hagelkörner haben alle Früchte, Datenbanken erhältlich und können somit übers das Laub und das Gras erschlagen, dazu noch Internet konsultiert werden. Mit Euro-Climhist viel Geflügel, Wildtiere und Vieh. Ausserdem steht eine frei verfügbare Klima-Datenbank hat der Hagel auch Fenster und Dächer beschä- der Universität Bern mit einer Vielzahl von digt. Anhand der Quelle von Anshelm liesse Einträgen zu unterschiedlichen klimabezoge- sich eine kritische Quellenanalyse durchführen. nen Themen und Epochen zur Verfügung, die Für wie glaubwürdig halten die Schüler*innen von den Schüler*innen selbstständig oder im diese Schilderung und haben sie Vergleichbares Klassenverband ausgewertet werden kann. Die schon selbst erlebt? Wieso wählte Anshelm den Chronik des Berner Chronisten Valerius Anshelm Vergleich mit den Hühner- und Gänseeiern ist beispielsweise über DigiBern als Pdf erhält- oder mit der Verzierung am Münster? lich.11 Valerius Anshelm beschreibt immer wie- Welche Folgen mochte ein Hagelsturm die- der extreme Witterung und die Folgen, die sich ser Grössenordnung für die Gesellschaft wohl daraus für die Gesellschaft ergaben. Im folgen- gehabt haben? den Zitat aus seiner Chronik berichtet er von Neben schriftlichen Quellen können auch einem zerstörerischen Hagelzug, der sich laut Bildquellen, alte Karten und Pläne, Bauwerke, Julianischem Kalender am 22. Juni 1502 ereig- Spuren in der Landschaft und archäologische nete (im aktuellen Gregorianischen Kalender Überreste nicht nur wertvolle Informationen, entspricht dies dem 1. Juli): sondern auch interessante Grundlagen für das methodische Arbeiten liefern.13 Je nachdem, wel- «Demnach uf den 22. tag Junii kam ein gru- che Kompetenzen die Schüler*innen erwerben sol- samer hagel, ging von Jenf uber Bern, Zuͤ rich len, lohnt sich ein Besuch in einem Staats- oder und den Costentzerse hinuss in Swaben, zuͦ m Gemeindearchiv. schmaͤ lsten einer halben mil breit, mit steinen als hiener- und gaͤ nseier, ouch groͤ sser, wie der baͤ r zeigt uf dem undren lantwerk am muͤ ns- Hochwasserschäden an Brücken ter – desse jars mit dem strebbogen gemacht – im Gebiet der Stadt und Republik dieser linien dik. Erschluͦ g in herd alle fruͤ cht, Bern low und gras, vil gfigel und tier, zam und wild; taͤ t ouch grossen schaden an fenstern und Die Schweiz mit den Alpen und dem Jura ist daͤ chern.»12 von einer grossen Zahl an Fliessgewässern und Seen durchzogen, die jeweils eigene hydrolo- Wie Anshelm berichtet, zog der Hagelsturm gische Dynamiken aufweisen. Es gibt deshalb von Westen kommend über Genf, Bern, Zürich Grossereignisse, die mehrere Gewässer und und den Bodensee bis nach Schwaben, wobei Regionen betreffen, jedoch hat jeder Fluss oder er an seiner schmalsten Stelle mindestens eine Bach bedingt durch sein Einzugsgebiet und andere halbe Meile breit war. Die Hagelkörner waren Eigenschaften seine eigene Hochwassergeschichte so gross wie Hühner- oder Gänseeier, wenn und letztlich jede Infrastrukturbaute ihre eigene nicht sogar noch grösser. Anshelm verweist Schadenschronik.14 11 Z. B. https://www.e-codices.unifr.ch/de, https://www.digibern. ch/ oder https://www.euroclimhist.unibe.ch/de/. Zu Euro-Climhist 13 siehe auch den spezifischen Artikel dazu in der Didactica Historica Rohr Christian, Camenisch Chantal, «Klima und extreme 7/2021, S. 149-155. Naturereignisse in der Schweiz, 1350-1850…», S. 479-480. 12 14 Blösch Emil (Hrsg.), Die Berner Chronik des Valerius Anshelm, Hügli Andreas, Aarewasser. 500 Jahre Hochwasserschutz zwischen Bd. 2, Bern: K. J. Wyss, 1886, S. 363. Thun und Bern, Bern: Ott Verlag, 2007, S. 32. 4 | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Überschwemmungen können anhand der Grösse des betroffenen Gebiets und anhand des Ausmasses der Schäden klassifiziert werden, die von leich- ten Schäden an Feldern, Gärten und Wäldern in Ufernähe bis zu grossräumiger Zerstörung von Ernten und Infrastrukturen in mehreren Gemeinden reichen.18 Mit den Quellen vor 1700 lassen sich oft nur mehr grosse und sehr grosse Hochwasserereignisse nachbilden. Eine Ausnahme stellen in der Schweiz die Wochenausgabenbücher der Stadt Basel dar, die sehr detailliert Auskunft auch über kleinere Reparaturen geben.19 Auch im Herrschaftsgebiet des Berner Stadtstaats kam Brücken grosse Bedeutung für den Verkehr und Warentransport zu. Das Städtchen Aarberg lag im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit auf einer kleinen Insel in der Aare, wo sich die Strassen von Bern nach Nidau und Biel sowie von Solothurn nach Murten und Avenches kreuzten. Es ist dabei wichtig, sich vor Augen zu halten, wie sehr sich die Landschaft und der Verlauf der Aare über die Jahrhunderte verändert haben. Heute fliesst die Alte Aare nur mehr an einer Seite der Altstadt von Aarberg vorbei, da der eigent- Abb. 1. Bau der «Untertorbrücke» in Bern 1255/56. Diebold Schilling, Spiezer Chronik, Bern, Burgerbibliothek, Mss.h.h.I.16, S. 81.15 liche Fluss im Zuge der Juragewässerkorrektion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Hageneckkanal in den Bielersee umgeleitet wurde.20 Als Aarberg noch von der Aare umflossen wurde, Brücken gehören für eine Gesellschaft zu den überspannten zwei Holzbrücken, die aus demsel- zentralen Infrastrukturbauten, da sie Zugänge zu ben Zeitraum stammten und 1271 erstmals in den Siedlungen ermöglichen, Verkehrswege passierbar Quellen erwähnt wurden, die beiden Flussarme. machen sowie Waren- und Personentransporte Die Geschichte dieser Brücken zeigt, wie vulner- beschleunigen und vereinfachen.16 Am Beispiel abel solche Bauten gegenüber Hochwasser waren von Aarberg soll hier vorgestellt werden, wie und vor allem auch wie kostspielig deren Unterhalt anfällig Brücken jedoch gegen Hochwasser und und gelegentlicher Wiederaufbau war. So wurde Überschwemmungen waren.17 Hochwasser und Schweiz. Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berichte des 15 BWG, Serie Wasser 5, Bern: Bundesamt für Wasser und Geologie https://www.e-codices.ch/en/list/one/bbb/Mss-hh-I0016, konsultiert am 04.08.2020. BWG, 2003, S. 9-13. 16 18 Bähler Anna, «Die Aare macht Geschichte», in Bähler Anna, Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz an der Gürbe …, Däpp Walter, Gruner Ueli, Lüthi Christian, Stalder Lisa, S. 92-97. 19 Steiner Markus, Witschi Franziska (Hrsg.), Berns Aare, Bern: Wetter Oliver, Pfister Christian, Weingartner Rolf, Haupt Verlag, 2013, S. 59-75, hier S. 64-67. Luterbacher Jürg, Reist Tom, Trösch Jürg, «The largest floods 17 in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and Zur Unterscheidung der Begriffe Hochwasser (überdurchschnitt- licher Wasserstand oder Abflussmenge eines Gewässers) und instrumental evidence», Hydrological Sciences Journal, Nr. 56/5, Überschwemmung (Überflutung einer Fläche ausserhalb des 2011, S. 733-758. 20 Gewässerbetts) siehe Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz Speich Chassé Daniel, «Die Korrektion der Natur», an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855-2010), in Mathieu Jon, Bakchaus Norman, Hürlimann Katja, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 7, Basel: Bürgi Matthias (Hrsg.) Geschichte der Landschaft in der Schweiz. Schwabe, 2017, S. 78-79. Zu den Ursachen für Hochwasser siehe Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, Zürich: Orell Füssli, 2016 Vischer Daniel L., Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der S. 175-188. Dossier | 5
eine der Brücken 1414 bei einem Hochwasser, Auch die Aare führte zu dieser Zeit Hochwasser, wel- das durch einen Eisstau verursacht wurde, schwer ches beide Brücken in Aarberg weggeschwemmte. beschädigt. Da in den Jahrzehnten davor die Stadt Sie wurden bereits 1557/1558 wieder aufgebaut. Bern ihren Einfluss bereits auf Aarberg ausgeweitet Weniger als zehn Jahre später, 1566, war Aarberg hatte, traten die dortigen Bürger anlässlich dieses erneut von einem schweren Hochwasser betrof- kostspieligen Wiederaufbaus ihre Rechte an der fen.26 Ausgelöst wurde dieses vorwiegend durch eine Brücke, welche die Erhebung von Brückenzöllen wegen kalter und nasser Frühlingsmonate verzögert einschloss und somit auch die finanzielle Last an einsetzenden Schneeschmelze Ende Mai, bei der in den Berner Stadtrat ab.21 kurzer Zeit die hohen Massen eines schneereichen Im Sommer 1480 ereigneten sich Ende Juli und langen Winters tauten.27 Der Berner Chronist Überschwemmungen an der Aare, der Saane und Johann Haller beschreibt Schnee und Hochwasser dem Rhein. Ursache dafür waren eine siebenwö- in seiner Chronik: «[…] war die Aare so groβ, von chige Regenperiode, die mit drei Tagen sintflutar- vielewegen der Schneen, so vergangenen Winter gefal- tiger Regengüsse zu Ende ging. Die Schäden dieses len, deren Etlich bey den 40 gezählt […].»28 Ende Ereignisses waren überwältigend und betrafen Juni ereigneten sich zudem heftige Regenfälle, wie eine ganze Reihe von Infrastrukturbauten entlang Franz Rudella aus dem nahen Freiburg berichtet: der genannten Flüsse.22 In den Chroniken ist die «[…] regnet es den ganzen tag im ganzen land so unge- Zerstörung der Brücke bei Aarberg zwar nicht stuͤmicklichen, das die wassern gar gross wurdend.»29 beschrieben, aber nachweislich musste in den Jahren Die Zerstörungen in Aarberg stellt wiederum danach, um 1490, dort eine neue Brücke errichtet Johann Haller in seiner Chronik dar: «zu Aarberg werden. Sehr wahrscheinlich war die Ursache für stieβ es die äussere Brücke hinweg, die ward folgen- diesen Neubau das beschriebene Hochwasser 1480, den Winter und Frühling mit groβem Kosten wieder denn in diesem Jahr wurde der Abt des Klosters erbauen […].»30 Laut diesem Bericht wurde also die Frienisberg dazu aufgefordert, 30 Baumstämme äussere, westliche Brücke fortgerissen, wobei der für den Wiederaufbau der Brücke in Aarberg zu kurz darauf erfolgte Wiederaufbau sehr teuer war. liefern. Offenbar zogen sich die Bauarbeiten über Mitverursacht wurden die hohen Kosten durch die längere Zeit hin, denn noch 1485 wurden Wagen neuen steinernen Pfeiler, die wohl die Brücke stabiler dazu angehalten, den Weg über Aarberg zu mei- machen sollten – mit Erfolg, denn es ist bis heute den, da sich die Aare dort nicht passieren liesse.23 bei dieser Konstruktion geblieben.31 Hochwasser der Als Ursache für den verzögerten Wiederaufbau Aare gab es auch in der Folgezeit. Ein besonders könnten finanzielle Engpässe der Stadt Bern schlimmes Ereignis dieser Art im Jahr 1651 hatte infrage kommen, aber auch die Verkehrsplanung aber wohl auch durch die baulichen Veränderungen des Stadtrats, denn dieser wollte die Strasse über keine schweren Folgen für die Brücken von Aarberg. Gümmenen und Freiburg fördern.24 Im Sommer 1556 verursachten ausgiebige Regenfälle an vielen Orten in Europa Überschwemmungen.25 26 Camenisch Chantal, «From the alpine mountain height to the Swiss Lake District: climate and society in the city and Republic of Bern from the 14th to the 16th centuries», in Kiss Andrea, 21 Pribyl Kathleen (Hrsg.), The Dance of Death in late Medieval and Die Landvogtei Aarberg war zwar prestigeträchtig, aber keines- wegs besonders einträglich. Siehe dazu auch Gerber Roland, Renaissance Europe. Environmental stress, mortality and social res- Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft ponse, London & New York: Routledge, S. 89-106, hier S. 96-98. 27 zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich, Forschungen Pfister Christian, Wetternachhersage …, S. 229-230. zur Mittelalterlichen Geschichte 39, Weimar: Böhlau, 2001, 28 Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen S. 439–441. Handschriften des Joh. Haller und Abraham Müslin, von 1550 22 Siehe dazu auch Pfister Christian, Wetter Oliver, «Das bis 1580, Zofingen: D. Gutermeister, 1829, S. 112. Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein», Berner 29 Zehnder-Jörg Silvia (Hrsg.), «Die Grosse Freiburger Chronik Zeitschrift für Geschichte, Nr. 73/4, 2011, S. 41-49. des Franz Rudella. Edition nach dem Exemplar des Staatsarchivs 23 Hunger Felix, Geschichte der Stadt Aarberg, Aarberg: Burger- Freiburg. Teil II», Freiburger Geschichtsblätter, Nr. 85, 2007, S. 670. und Einwohnergemeinde Aarberg, 1930, S. 129 30 Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen 24 Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis…», S. 73-80; Handschriften …, S. 112. Geber Roland, Gott ist Burger …, S. 322-323. 31 Domeniconi Eneas, «Brücken im Seeland und im Berner Jura», 25 Glaser Rüdiger, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre in Schüpbach Hans (Hrsg.), Berner Brückengeschichten, Chapelle- Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt: Primus, 2013, S. 113. sur-Moudon: Ketty und Alexandre, 1997, S. 95-117, hier S. 98. 6 | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Abb. 2. Die Stadt Aarberg mit ihren beiden Brücken, Druckgrafik von Johann Ludwig Nöthinger, 1744, Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung.32 Nach ähnlichem Muster wie in Aarberg ist es sogar alte Karten und Pläne vorhanden, die den für viele Gemeinden und Infrastrukturbauten ursprünglichen Fluss- oder Bachverlauf aufzei- möglich, eine Schadenschronik oder auch eine gen.34 Die meisten Schweizer Fliessgewässer, an Hochwasserchronik mit den Schüler*innen denen sich Siedlungen befinden, sind im Verlauf zusammenzustellen, die sich nicht auf die vor- der letzten beiden Jahrhunderte in irgend- industrielle Zeit beschränken muss. Für die einer Form korrigiert worden. Anhand von Recherche kommen einerseits die bereits beschrie- Kartenmaterial und einer Hochwasserchronik benen historischen Quellen infrage, aber auch kann somit auch diskutiert werden, weshalb diese Ortschroniken und ältere Geschichtswerke, die Gewässer verbaut wurden und welche Folgen für fast alle Gemeinden in der Schweiz existieren. dies für die Siedlungsstruktur hatte. Mit solchen Vielleicht gibt es in der Gemeinde neben alten Überlegungen soll bei den Schüler*innen neben Brücken auch Hochwassermarken zu besich- der Kompetenz, verschiedenartige Quellen zu lesen tigen, die an einem exponierten Gebäude oder und zu interpretieren, auch das Bewusstsein für einer Infrastrukturbaute angebracht sind?33 Die die Zusammenhänge von Klima, Naturgefahren Hochwasser- und Schadenschronik könnte mit- und Gesellschaft geschärft werden. hilfe von alten Zeitungsberichten, Fotos und durch die Befragung älterer Bewohner*innen der Gemeinde erweitert werden. Vielleicht sind 34 Alte Fotos, Ortansichten und Darstellungen sind beispielsweise über die ETH Zürich erhältlich https://www.e-pics.ethz.ch/de/ 32 home/. Auch Pläne und Karten sind oft online erhältlich, z. B. https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=480568, für Bern: https://www.unibe.ch/universitaet/dienstleistungen/ konsultiert am 04.08.2020. universitaetsbibliothek/recherche/sondersammlungen/kartensam- 33 Zu den Hochwassermarken Rohr Christian, Extreme mlungen/500_jahre_thomas_schoepf/index_ger.html oder für Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter Freiburg: https://www.fr.ch/de/mahf/sickingerplan-und-martini- und am Beginn der Neuzeit, Umwelthistorische Forschungen 4, plan-im-museum-fuer-kunst-und-geschichte-freiburg, konsultiert Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2007, S. 89-91. am 30.08.2020. Dossier | 7
Missernten, Hungersnöte einging. Auslöser waren mehrere Jahre mit kalten und Epidemien und nassen Frühlings- und Sommerjahreszeiten, wobei die Ursachen insgesamt aber vielschichtig Eine andere Art von Klimafolgen stellen sind.37 Die nächste grössere Krise, welche auch Subsistenzkrisen oder Hungersnöte dar. Am das Gebiet der heutigen Schweiz betraf, erfolgte Anfang dieses vielschichtigen Phänomens ste- in den 1430er-Jahren. Im Zusammenhang mit hen auf der (bio-)physikalischen Ebene eine mehreren langen und kalten Winterjahreszeiten Temperatur- oder Niederschlagsanomalie oder kam es europaweit zu einer Serie von Missernten, ein oder mehrere extreme Witterungsereignisse die eine Hungersnot zur Folge hatte. Weitere wie Spätfröste, Dürren, Hagelstürme oder Subsistenzkrisen ereigneten sich zwischen 1477 ausgedehnte Regenperioden. Diese Auslöser und 1483 sowie kurz darauf zwischen 1487 führen zu einem Rückgang von Erntemenge und 1493. Auch diese Krisen stehen mit wit- und -qualität von Kulturpflanzen, beispiels- terungsbedingten Missernten, aber ebenso mit weise von Brotgetreide. Dadurch steigen in der kriegerischen Auseinandersetzungen in verschie- Folge auf einer sozioökonomischen Ebene die denen Teilen Europas im Zusammenhang. Im Lebensmittelpreise, wodurch eine Subsistenzkrise zeitlichen Umfeld aller drei Subsistenzkrisen des mit Mangelernährung und einer erhöhten 15. Jh. berichten die Chronisten von Epidemien.38 Sterberate sowie niedrigen Geburtenrate auftre- Im Verlauf des 16. Jh. nahm die Zahl der ten kann. Sie kann dabei auch Auslöser für soziale Subsistenzkrisen im Raum der heutigen Schweiz Spannungen und Migrationsbewegungen sein. Auf sogar noch zu. Berner Getreidepreisreihen zeigen der kulturellen Ebene kann eine Subsistenzkrise mehrere starke Preissteigerungen, die sich auch kirchliche Bittprozessionen oder die Ausgrenzung durch beschreibende Quellen bestätigen lassen, und Bestrafung von zu Sündenböcken erklärten wodurch sich Subsistenzkrisen oder zumindest Minderheiten und anderen Personengruppen eine sehr angespannte Versorgungslage für ins- zur Folge haben. Mangelernährung und krisen- gesamt sechs mehrjährige Phasen feststellen las- bedingte schlechte hygienische Zustände begüns- sen. Betroffen waren in der ersten Hälfte des tigen zudem die Verbreitung von Epidemien.35 Jahrhunderts die Jahre von 1500 bis 1504, 1515 Abhängig von der Art der Krankheit können das bis 1518, 1528 bis 1533 und 1543 bis 1546.39 Klima und der Witterungsverlauf die Vermehrung Die beiden späteren Krisen in den Jahren 1571 und das Verhalten von Zwischen- sowie Endwirten bis 1575 und 1586 bis 1593 hatten schwer- oder Überträgern und somit die Epidemie an sich wiegende Folgen für die Bevölkerung, die sich beeinflussen.36 Auf allen diesen Ebenen spielen nicht zuletzt in mehreren Teilen Europas, weitere Faktoren eine wichtige Rolle und der aber besonders in der Schweiz, in grausamen Prozess verläuft nicht deterministisch, sondern Hexenverfolgungen niederschlugen.40 Zeitliche kann unter entsprechenden Umständen auf jeder Überschneidungen mit Pestwellen gab es Ebene unterbrochen werden. vor allem in den 1570er- bis 1590er-Jahren. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ereigneten sich zwischen 1300 und 1700 in unregelmässigen Abständen zahlreiche Subsistenzkrisen, die mit 37 extremer Witterung zusammenhingen. So war die Camenisch Chantal, «The Potential of Late Medieval…», S. 52-54. Schweiz auch von der «Grossen Hungersnot» zwi- 38 Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis: Famines and schen 1315 und 1322 betroffen, welche als schwere Dearth During the 1480s and 1490s in Western and Central Mortalitätskrise in die europäische Geschichte Europe», in Collet Domini, Schuh Maximilian (Hrsg.), Famines During the « Little Ice Age » (1300-1800). Socionatural Entaglements in Premodern Societies, Cham: Springer, 2018, S. 69-90. 39 Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or three months.” Subsistence Crises in the City and Republic of Bern, 1315-1715», Food & History, Nr. 17/1, 2019, S. 37-64, 35 Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…, hier S. 51-55. S. 133-138. 40 Siehe zu den Zusammenhängen von extremer Witterung und 36 Hoffmann Richard C., An environmental History of medieval Hexenverfolgungen Behringer Wolfgang, Witches and Witch- Europe, Cambridge: University Press, 2014, S. 279-303. Hunts. A Global History, Cambridge: Polity Press, 2004, S. 90-101. 8 | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Zahlreiche Jahre mit hohen Getreidepreisen und die Krisengewinner derselben Gesellschaftsschicht Beschreibungen von Lebensmittelknappheit wur- angehörten wie die Ratsherren selbst.42 Krisen, den auch im 17. Jh. vermeldet. Vor der Mitte die ihren Ursprung in einem Ernteausfall hatten, des Jahrhunderts ereigneten sich bereits sechs betrafen somit mit unterschiedlicher Intensität solcher Krisen in den Jahren 1609 bis 1615, auch Gewerbe fernab der Agrarwirtschaft. 1622 bis 1624, 1628 bis 1631, 1635 bis 1639, Da Subsistenzkrisen oft vorkamen, sind viele 1642 bis 1645 und 1650 bis 1652. In der zwei- Zeugnisse überliefert worden. Erneut bietet Euro- ten Hälfte des Jahrhunderts lösten ungünstige Climhist einen guten Einstieg in die entsprechen- Witterungsverläufe drei weitere Krisen in den den Quellen, während die vollständigen – oft Jahren 1661 bis 1666, 1675 bis 1677 und 1690 älteren – Texteditionen nicht selten online auf- bis 1695 aus. In mindestens vier Fällen ereigneten findbar sind. Anhand des Themenkomplexes der sich Pestepidemien während oder auch unmit- Subsistenzkrisen können sich die Schüler*innen telbar nach den Hungersnöten. Neben extre- ein Bild von den Lebensumständen der Menschen men Witterungsereignissen und den folgenden in der Schweiz und der wirtschaftlichen Abläufe Missernten sind auch politische Geschehnisse in der vorindustriellen Epoche machen. Es gibt wie Kriege Ursache für die Krisen.41 Die hohe dabei viele Aspekte, die zusammen oder auch Zahl der Krisenjahre zeigt, dass es sich nicht als einzelne Schwerpunkte untersucht werden um Ausnahmefälle gehandelt hat, sondern können. Es kann beispielsweise diskutiert wer- um in unregelmässigen Abständen wiederkeh- den, womit die Menschen ihren Lebensunterhalt rende Ereignisse, die ein Mensch, wenn er das verdient haben und durch welche Umstände Erwachsenenalter erreichte, mehrmals im Leben dieser Unterhalt gefährdet sein konnte. Gab bewältigen musste. Es sind somit Ereignisse, es Möglichkeiten, sich gegen diese Gefahren die auch zur Alltagsgeschichte der Schweiz abzusichern? In diesem Zusammenhang sind gehören. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Strategien der Bauern zu nennen, die Ernteausfälle Subsistenzkrisen nicht alle Bevölkerungsgruppen abfedern sollten, aber auch die Vorratshaltung im gleichen Masse betrafen. Arme und auf Lohn von Individuen und Institutionen. Welche angewiesene Menschen, die wenig Vorräte hal- Massnahmen ergriffen die Obrigkeiten zur ten konnten, litten schneller an Hunger und Bekämpfung von Subsistenzkrisen und welche Mangelernährung und selbst innerhalb einer Verantwortung übernahmen sie dabei für ihre Familie wurde das Essen nicht gleichmässig ver- Untertanen? Wen machten die Menschen für ihr teilt. Bei längerem Andauern einer Krise und Leid verantwortlich? In welchem Zusammenhang steigenden Lebensmittelpreisen verzichteten stehen Subsistenzkrisen und ihre Ursachen mit zudem viele auf nicht unmittelbar notwendige der Verfolgung von Sündenböcken wie etwa Anschaffungen, um sich Essen kaufen zu können. Minderheiten oder am Rande der Gesellschaft Dadurch verloren aber Handwerker und Händler stehenden Personengruppen?43 Die Antworten auf von nicht lebensnotwendigen Produkten ihren solche Fragen fallen wiederum in den Bereich von Absatzmarkt und letztlich selbst an Kaufkraft. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Es gab aber auch Personengruppen, beispiels- der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt, weise Getreidehändler und Grossgrundbesitzer, wie sie etwa im Lehrplan des Kantons Bern und die sogar an einer Krise verdienen konnten. Die darüber hinaus als Grobziel für die Gymnasialstufe Obrigkeiten versuchten diese Bereicherung in formuliert sind. der Regel zu unterbinden oder zumindest einzu- dämmen, wobei es aber zu bedenken gilt, dass 42 Camenisch Chantal, «Wider den verderblichen Fürkauf. Spekulation auf Getreidepreise und obrigkeitliche Massnahmen gegen diese Praxis in der Stadt und Republik Bern, 1480-1750», 41 traverse n° 24/3, 2017, S. 35-50. Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or 43 three months.” …», S. 51-57; Eckert Edward A., «Spatial and Antworten dazu beispielsweise in Pfister Christian, Das Klima temporal distribution of plague in a region of Switzerland in the der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte years 1628 and 1629», Bulletin of the History of Medicine, Nr. 56/2, von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bd. 2: Bevölkerung, Klima und 1982, S. 175-194, hier S. 175. Agrarmodernisierung 1525-1860, Bern: Haupt Verlag, 1984. Dossier | 9
Die Beschäftigung mit Klima und klimain- historische Reflexion über den gegenwärtigen duzierten Krisen in der Vergangenheit kann Umgang mit Klimaerwärmung, Umweltkrisen und Schüler*innen vor Augen führen, wie fundamen- der COVID-19-Pandemie und kann dabei unter- tal menschliche Gesellschaften von den «natürli- stützen, diesbezügliches menschliches Handeln zu chen» Gegebenheiten und von Umweltereignissen hinterfragen und Verhaltensänderungen sowie abhängig sind. Dies ermöglicht eine vertiefte, Handlungen folgen zu lassen. Die Verfasserin Klimavariabilität angestossen oder beeinflusst, aber nicht nur durch diese verursacht werden, Chantal Camenisch ist promovierte Historikerin. wie Subsistenzkrisen, Epidemien oder Schäden Sie forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am an Infrastruktur. In diesem Artikel werden theo- Historischen Institut der Universität Bern und am retische Ansätze zu gesellschaftlichen Klimafolgen Oeschger Centre for Climate Change Research zum kurz vorgestellt und Beispiele aus der Schweiz in Klima und den gesellschaftlichen Klimafolgen in der Zeitspanne von 1300 bis 1700 im Hinblick auf der Vergangenheit. eine Anwendung im Schulunterricht besprochen. chantal.camenisch@hist.unibe.ch Keywords https://www.hist.unibe.ch/ueber_uns/personen/ camenisch_chantal/index_ger.html Klima, gesellschaftliche Klimafolgen, Wirtschaftsge- schichte der Schweiz, Subsistenzkrisen, Epidemien, Zusammenfassung vorindustrielle Zeit Gesellschaftliche Klimafolgen sind komplexe soziale und wirtschaftliche Phänomene sowie Prozesse, die durch extreme Witterung und 10 | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
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