Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: ...

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Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: ...
Chantal Camenisch, Universität Bern

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen
von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen
und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700:
Konzepte und Beispiele
                                                          Einleitung
Abstract
Societal climate impacts are complex social and           In der Vergangenheit waren menschliche
economic phenomena and processes, such as                 Gesellschaften immer wieder mit Klimavariationen,
subsistence crises, epidemic diseases or damage           extremen Witterungsereignissen und ihren teils
to infrastructure. They are triggered or influenced,      positiven, teils negativen Folgen konfrontiert. Ob
but not caused by extreme weather and climate             eine Bevölkerung gegenüber Klimavariationen
variability alone. This article briefly presents theo-    und extremen Witterungsbedingungen verletz-
retical approaches to climate impact on society and       lich war oder nicht, hing dabei nicht nur von der
discusses examples from Switzerland in the period         Intensität der klimatischen Schwankungen oder
from 1300 to 1700 with a view to application in           meteorologischen Ereignisse ab, sondern auch von
school teaching.                                          landwirtschaftlichen, ökonomischen, sozialen und
                                                          kulturellen Faktoren, die eine Gesellschaft präg-
                                                          ten, weshalb klimadeterministische und mono-
Keywords                                                  kausale Erklärungsmuster zu kurz greifen.1
Climate, climate impact on society, economic              Gesellschaftliche Klimafolgen betrafen und
history of Switzerland, famine, epidemic diseases,        betreffen den Alltag der Menschen direkt und
pre-industrial period                                     unmittelbar. Sie gehören deshalb zu den in der
                                                          Gegenwart und sehr wahrscheinlich auch in
                                                          der Zukunft für die Schüler*innen erfahrba-
                                                          ren Themen ihrer Alltagswelt und eignen sich
                                                          somit im Sinne von Wolfgang Klafki als für den
                                                          Unterricht geeignete Problemfelder.2 In ihrer
                                                          Behandlung im Unterricht gilt es allerdings, einige
                                                          Besonderheiten zu beachten, weshalb Bernd-
                                                          Stefan Grewe auf Fallstricke und Perspektiven der
                                                          Umweltgeschichte an der Schule verweist.3 Auf die

                                                          1  
                                                             Mauelshagen Franz, Klimageschichte der Neuzeit. 1500-1900,
Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaft-    Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), 2010, S. 85.
liche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klima-   2  
                                                              Klafki Wolfgang, «Didaktische Analyse als Kern der
variationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700:      Unterrichtsvorbereitung. Zur bildungstheoretischen Deutung der
                                                          modernen Didaktik», in Klafki Wolfgang (Hrsg.), Studien zur
Konzepte und Beispiele », in Didactica Historica          Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, 1963, S. 126-153.
7/2021, p. 1-10.                                          3  
                                                             Grewe Bern-Stefan, «Umweltgeschichte unterrichten: Für eine kri-
                                                          tische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern.»,
DOI : 10.33055/DIDACTICA HISTORICA.                       in Düselder Heike, Schmitt Annika, Westphal Siegrid (Hrsg.),
2021.02.07                                                Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum
                                                          und Schule, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2014, S. 37-54. Im

                                                                                                                                Dossier | 1
Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700: ...
Vergangenheit bezogen, gehören die gesellschaftli-                                 der Jahrhunderte schärfen, aber auch exemp-
                chen Klimafolgen exemplarisch in den Unterricht                                    larisch Orts- und Regionalgeschichte anhand
                im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften»                                     von Bauwerken, Bildern und schriftlichen
                (RZG) im 3. Zyklus des Lehrplans 21 sowie ins                                      Zeugnissen darstellen. Subsistenzkrisen und
                Fach «Geschichte» der Sekundarstufe II. In diesem                                  Epidemien gehören zur Alltagsgeschichte als
                Artikel werden Vorschläge vorgestellt, wie sich                                    eine Form von Wirtschaftskrisen, aber auch zum
                gesellschaftliche Klimafolgen der vorindustriel-                                   Kompetenzbereich «Schweiz in Tradition und
                len Zeit in den Unterricht der Sekundarstufe II                                    Wandel verstehen». Auf der Sekundarstufe II
                integrieren lassen und wo sich die Thematik auch                                   bieten viele kantonale Lehrpläne Platz für
                über die vorindustrielle Zeit hinaus erweitern                                     Alltagsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte des
                lässt.4 Zu diesem Zweck wurde der Fokus auf                                        Mittelalters und der frühen Neuzeit oder
                zwei Arten von Klimafolgen gelegt: Schäden an                                      Regionalgeschichte, wenn nicht sogar explizit
                der baulichen Verkehrsinfrastruktur infolge von                                    Umweltgeschichte oder das Themenfeld «Kleine
                Überschwemmungen und Hochwasser einerseits                                         Eiszeit» vorgeschlagen werden. Die Geschichte
                und Subsistenzkrisen, die oft Epidemien nach sich                                  der Hochwasserschäden ebenso wie diejenige
                zogen, andererseits.                                                               der Subsistenzkrisen und der Epidemien las-
                                                                                                   sen den Schüler*innen viel Spielraum, um ein
                                                                                                   Thema mit unterschiedlichen Quellengattungen
                Vorschläge zur Einbettung in den                                                   zu bearbeiten. So bietet es sich an, diese
                Lehrplan und in Unterrichtsgefässe                                                 Inhalte in Form von Gruppenarbeit oder eines
                auf der Sekundarstufe II                                                           «Gruppenpuzzles» erarbeiten zu lassen, indem
                                                                                                   beispielsweise jede Gruppe andere Quellen
                Um die Zusammenhänge von Klima,                                                    analysiert oder unterschiedliche Aspekte von
                Witterungsverlauf       und      menschlicher                                      Hochwasser oder Subsistenzkrisen unter-
                Gesellschaft in der Vergangenheit zu verstehen,                                    sucht. Da Klimafolgen fächerübergreifende
                greifen die Schüler*innen auf Kompetenzen                                          Themenfelder betreffen, ist eine interdiszi-
                zurück, die sie im 2. und 3. Zyklus des                                            plinäre Herangehensweise mit den Fächern
                Deutschschweizer Lehrplans 21 erworben                                             Geografie oder Wirtschaft eine Option, was
                haben.5 Die Geschichte der Hochwasser- und                                         sich auch in Form einer Projektwoche umset-
                Überschwemmungsschäden an der baulichen                                            zen lässt.6 Mit der entsprechenden Vorarbeit der
                Verkehrsinfrastruktur können dabei einerseits                                      Lehrperson, insbesondere der Formulierung von
                das Bewusstsein für landschaftliche und ver-                                       Aufträgen und einer engeren Begleitung eignet
                kehrsplanerische Veränderungen im Verlauf                                          sich die Thematik auch für die Sekundarstufe I.

                                                                                                   Kleine Eiszeit und gesellschaftliche
                selben Band sind weitere geschichtsdidaktische Artikel enthalten, die
                auf die Integration von Umweltgeschichte in den Lehrplan eingehen.
                4  
                                                                                                   Klimafolgen
                   Eine Vielzahl an Unterrichtsmaterialien zu verschiedenen Epochen
                und Aspekten der Umwelt- und Klimageschichte sowie konzep-                         In den hier primär behandelten Untersuchungs-
                tionelle Ansätze für den Unterricht enthält zudem Kuhn Bärbel,
                Windus Astrid (Hrsg.), Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht,                   zeitraum fällt die «Kleine Eiszeit», die sich durch
                Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte 4, St. Ingbert:                     tiefere Durchschnittstemperaturen auszeichnete,
                Röhrig Universitätsverlag, 2013.
                5  
                   Zugang zum Lehrplan 21 für den Fachbereich Natur,
                Mensch, Gesellschaft (NMG): https://v-fe.lehrplan.ch/index.
                php?code=b|6|0&la=yes. Im 3. Zyklus sind dies etwa die
                                                                                                   6  
                Kompetenzbereiche RZG.1.2 «Geografie: Wetter und Klima»,                             Ein sehr gelungenes und gut verständliches Beispiel für eine
                RZG.1.3 «Geografie: Naturphänomene und Naturereignisse» und                        fächerübergreifende Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen
                teilweise RZG.2.1 «Geografie: Bevölkerung und Migration», die                      zum Zusammenspiel von Vulkanausbrüchen, Klima und gesell-
                den Schüler*innen Wissen zu den meteorlogischen Phänomen                           schaftlichen Klimafolgen wird etwa in einer ARTE-Dokumentation
                vermitteln, welche auch für historische Witterungsereignisse                       zum Ausbruch des Samalas 1258 von Pascal Guérin gezeigt: Le
                gültig sind. Auch die Kompetenzbereiche RZG.5 «Schweiz in                          mystérieux volcan du Moyen Âge / Rätselhafter Vulkanausbruch.
                Tradition und Wandel» oder RZG.7 «Geschichtskultur» bieten                         https://www.srf.ch/sendungen/myschool/raetselhafter-vulkanaus-
                Voraussetzungen für diese Thematik.                                                bruch, konsultiert am 30.08.2020.

2   | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
wobei die Temperaturen nicht permanent und                          kurzfristige, konjunkturelle oder langfristige
konstant tiefer waren, sondern einzelne Kühlpha-                    Ereignisse, Prozesse oder Abfolgen von Prozessen
sen, aber auch Normaljahre sowie Hitze- und Nie-                    erstrecken.9
derschlagsanomalien feststellbar sind.7                             Welche gesellschaftlichen Folgen Klimavariationen
Zu den gesellschaftlichen Klimafolgen zäh-                          und extreme Witterung nach sich ziehen und
len verschiedene Phänomene und Prozesse,                            wie stark diese Folgen ausfallen, hängt von
die einen mehr oder weniger direkten kausalen                       der Vulnerabilität und der Resilienz einer
Zusammenhang mit Klimavariationen oder extre-                       Gesellschaft gegenüber diesen Phänomenen ab.
men Witterungsereignissen aufweisen.8 Es können                     Die Vulnerabilität bestimmt dabei, in welchem
dabei sehr unterschiedliche (bio-) physikalische,                   Ausmass und in welcher Art extreme Witterung
sozio-ökonomische und kulturelle Ebenen betrof-                     und Klimavariationen Folgen auf ein System oder
fen sein, wobei je nach Ebene neben dem Klima-                      eine Gesellschaft haben. Diese Vulnerabilität
und Witterungsgeschehen weitere Faktoren                            hängt von verschiedenen Variablen ab – wie der
die hier als Klimafolgen zusammengefassten                          topografischen Lage einer Siedlung, der Nähe
Phänomene und Prozesse beeinflussen. Auch                           zum Entstehungsort von Naturgefahren, der
Bewältigungs- und Adaptionsstrategien gehören                       Verkehrsanbindung und Marktintegration ebenso
zum Bereich der Klimafolgen. Um wirtschaftliche                     wie von den politischen Gegebenheiten zu einem
und gesellschaftliche Klimafolgen besser einord-                    bestimmten Zeitpunkt. Vulnerabilität ist im stän-
nen zu können, ist es sinnvoll, auch eine zeitli-                   digen Wandel und nicht statisch. Mit der Resilienz
che Unterscheidung vorzunehmen. Klimafolgen                         wird ausgedrückt, wie erfolgreich und wie schnell
können sich ebenso wie deren Ursachen über                          ein System Störungen bewältigen kann.10 Letztlich
                                                                    bietet die Diskussion der Vulnerabilität einer
                                                                    Gesellschaft der Lehrperson die Möglichkeit, viele
7  
   Behringer Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der
                                                                    Aspekte des Alltagslebens der Menschen in der
Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München: Verlag C. H. Beck,     vorindustriellen Zeit zu thematisieren und auch
2009, 120; zu den verschiedenen Phasen während der «Kleinen         aufzuzeigen, welche Veränderungen im Zuge der
Eiszeit»: Pfister Christian, Wetternachhersage. 500 Jahre
Klimavariationen und Naturkatastrophen, Bern et al.: Haupt, 1999;   Industrialisierung diese Vulnerabilität beeinflusst
Pfister Christian, «Weeping in the Snow. The Second Period of       haben. Als Beispiele seien hier die Intensivierung
Little Ice Age-type Impacts, 1570-1630», in Behringer Wolfgang,
Lehmann Hartmut, Pfister Christian (Hrsg.), Kulturelle              der Landwirtschaft oder die Veränderungen im
Konsequenzen der «Kleinen Eiszeit»/Cultural Consequences of the     Transportwesen durch den Bau von Eisenbahnen
«Little Ice Age», Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts
für Geschichte 212, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2005,         genannt.
S. 31-86; Camenisch Chantal, Endlose Kälte. Witterungsverlauf
und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im
15. Jahrhundert, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte
(WSU) 5, Basel: Schwabe, 2015; Camenisch Chantal, «The              Quellen und Materialien
Potential of Late Medieval and Early Modern Narrative
Sources from the Area of Modern Switzerland for the Climate         für den Unterricht
History of the Fourteenth Century», in Bauch Martin,
Schenk Gerrit Jasper (Hrsg.), The Crisis of the 14th Century.
Teleconnections between Environmental and Societal Change?, Das
                                                                    Die Forschung zu gesellschaftlichen Klimafolgen
Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 13,   stützt sich auf historische Quellen, welche gesell-
Berlin & Boston: de Gruyter, 2020, S. 43-61; Rohr Christian,        schaftliche und wirtschaftliche Ereignisse und
Camenisch Chantal, «Klima und extreme Naturereignisse in der
Schweiz, 1350-1850. Nutzen und Potenziale historischer und          Prozesse festhalten. Für die Zeitspanne von 1300
naturwissenschaftlicher Klimaforschung für die Archäologie»,        bis 1700 bieten sich einerseits erzählende Texte
in Niffeler Urs (Red.), Die Schweiz von 1350 bis 1850 im
Spiegel archäologischer Quellen / La Suisse de 1350 à 1850 à tra-
vers les sources archéologiques. Akten des Kolloquiums / Actes
du Colloque, Bern, 25.-26.1.2018, Basel: Verlag Archäologie
                                                                    9  
Schweiz, 2018, S. 479-487, auch online unter http://www.              Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh». Die letzte
archaeologie-schweiz.ch/Kolloquiumsakten-SPM.338.0.html,            grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Wirtschafts-, Sozial- und
konsultiert am 30.08.2020.                                          Umweltgeschichte (WSU) 4, Basel: Schwabe, 2015, S. 104-108,
8                                                                   205-209. Eine genauere Beschreibung findet sich auch in einer
   Mauelshagen Franz, Pfister Christian, « Vom Klima
zur Gesellschaft. Klimageschichte im 21. Jahrhundert », in          kürzeren Version dieses Artikels in der Didactica Historica 7/2021,
Welzer Harald, Soeffner Hans-Georg, Giesecke Dana (Hrsg.),          S. 23-28.
                                                                    10  
KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt:        Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…,
Campus Verlag, 2010, S. 241-269.                                    S. 205-212.

                                                                                                                                          Dossier | 3
aus dem Bereich der Historiografie an, etwa                                        zusätzlich für einen Grössenvergleich auf ein
                Chroniken oder Annalen. Viele Quellen die-                                         architektonisches Element am Münster – einen
                ser Art sind in edierter Form oder als Original                                    Bären – das seinen Lesern wohl bekannt war.
                auf frei zugänglichen Repositorien und in                                          Diese riesigen Hagelkörner haben alle Früchte,
                Datenbanken erhältlich und können somit übers                                      das Laub und das Gras erschlagen, dazu noch
                Internet konsultiert werden. Mit Euro-Climhist                                     viel Geflügel, Wildtiere und Vieh. Ausserdem
                steht eine frei verfügbare Klima-Datenbank                                         hat der Hagel auch Fenster und Dächer beschä-
                der Universität Bern mit einer Vielzahl von                                        digt. Anhand der Quelle von Anshelm liesse
                Einträgen zu unterschiedlichen klimabezoge-                                        sich eine kritische Quellenanalyse durchführen.
                nen Themen und Epochen zur Verfügung, die                                          Für wie glaubwürdig halten die Schüler*innen
                von den Schüler*innen selbstständig oder im                                        diese Schilderung und haben sie Vergleichbares
                Klassenverband ausgewertet werden kann. Die                                        schon selbst erlebt? Wieso wählte Anshelm den
                Chronik des Berner Chronisten Valerius Anshelm                                     Vergleich mit den Hühner- und Gänseeiern
                ist beispielsweise über DigiBern als Pdf erhält-                                   oder mit der Verzierung am Münster?
                lich.11 Valerius Anshelm beschreibt immer wie-                                     Welche Folgen mochte ein Hagelsturm die-
                der extreme Witterung und die Folgen, die sich                                     ser Grössenordnung für die Gesellschaft wohl
                daraus für die Gesellschaft ergaben. Im folgen-                                    gehabt haben?
                den Zitat aus seiner Chronik berichtet er von                                      Neben schriftlichen Quellen können auch
                einem zerstörerischen Hagelzug, der sich laut                                      Bildquellen, alte Karten und Pläne, Bauwerke,
                Julianischem Kalender am 22. Juni 1502 ereig-                                      Spuren in der Landschaft und archäologische
                nete (im aktuellen Gregorianischen Kalender                                        Überreste nicht nur wertvolle Informationen,
                entspricht dies dem 1. Juli):                                                      sondern auch interessante Grundlagen für das
                                                                                                   methodische Arbeiten liefern.13 Je nachdem, wel-
                       «Demnach uf den 22. tag Junii kam ein gru-                                  che Kompetenzen die Schüler*innen erwerben sol-
                       samer hagel, ging von Jenf uber Bern, Zuͤ rich                              len, lohnt sich ein Besuch in einem Staats- oder
                       und den Costentzerse hinuss in Swaben, zuͦ m                                Gemeindearchiv.
                       schmaͤ lsten einer halben mil breit, mit steinen
                       als hiener- und gaͤ nseier, ouch groͤ sser, wie der
                       baͤ r zeigt uf dem undren lantwerk am muͤ ns-                               Hochwasserschäden an Brücken
                       ter – desse jars mit dem strebbogen gemacht –                               im Gebiet der Stadt und Republik
                       dieser linien dik. Erschluͦ g in herd alle fruͤ cht,                        Bern
                       low und gras, vil gfigel und tier, zam und
                       wild; taͤ t ouch grossen schaden an fenstern und                            Die Schweiz mit den Alpen und dem Jura ist
                       daͤ chern.»12                                                               von einer grossen Zahl an Fliessgewässern und
                                                                                                   Seen durchzogen, die jeweils eigene hydrolo-
                Wie Anshelm berichtet, zog der Hagelsturm                                          gische Dynamiken aufweisen. Es gibt deshalb
                von Westen kommend über Genf, Bern, Zürich                                         Grossereignisse, die mehrere Gewässer und
                und den Bodensee bis nach Schwaben, wobei                                          Regionen betreffen, jedoch hat jeder Fluss oder
                er an seiner schmalsten Stelle mindestens eine                                     Bach bedingt durch sein Einzugsgebiet und andere
                halbe Meile breit war. Die Hagelkörner waren                                       Eigenschaften seine eigene Hochwassergeschichte
                so gross wie Hühner- oder Gänseeier, wenn                                          und letztlich jede Infrastrukturbaute ihre eigene
                nicht sogar noch grösser. Anshelm verweist                                         Schadenschronik.14

                11  
                    Z. B. https://www.e-codices.unifr.ch/de, https://www.digibern.
                ch/ oder https://www.euroclimhist.unibe.ch/de/. Zu Euro-Climhist
                                                                                                   13  
                siehe auch den spezifischen Artikel dazu in der Didactica Historica                     Rohr Christian, Camenisch Chantal, «Klima und extreme
                7/2021, S. 149-155.                                                                Naturereignisse in der Schweiz, 1350-1850…», S. 479-480.
                12                                                                                 14  
                    Blösch Emil (Hrsg.), Die Berner Chronik des Valerius Anshelm,                       Hügli Andreas, Aarewasser. 500 Jahre Hochwasserschutz zwischen
                Bd. 2, Bern: K. J. Wyss, 1886, S. 363.                                             Thun und Bern, Bern: Ott Verlag, 2007, S. 32.

4   | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Überschwemmungen können anhand der Grösse
                                                                                         des betroffenen Gebiets und anhand des Ausmasses
                                                                                         der Schäden klassifiziert werden, die von leich-
                                                                                         ten Schäden an Feldern, Gärten und Wäldern
                                                                                         in Ufernähe bis zu grossräumiger Zerstörung
                                                                                         von Ernten und Infrastrukturen in mehreren
                                                                                         Gemeinden reichen.18 Mit den Quellen vor 1700
                                                                                         lassen sich oft nur mehr grosse und sehr grosse
                                                                                         Hochwasserereignisse nachbilden. Eine Ausnahme
                                                                                         stellen in der Schweiz die Wochenausgabenbücher
                                                                                         der Stadt Basel dar, die sehr detailliert Auskunft
                                                                                         auch über kleinere Reparaturen geben.19
                                                                                         Auch im Herrschaftsgebiet des Berner Stadtstaats
                                                                                         kam Brücken grosse Bedeutung für den Verkehr
                                                                                         und Warentransport zu. Das Städtchen Aarberg
                                                                                         lag im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit
                                                                                         auf einer kleinen Insel in der Aare, wo sich die
                                                                                         Strassen von Bern nach Nidau und Biel sowie von
                                                                                         Solothurn nach Murten und Avenches kreuzten.
                                                                                         Es ist dabei wichtig, sich vor Augen zu halten,
                                                                                         wie sehr sich die Landschaft und der Verlauf der
                                                                                         Aare über die Jahrhunderte verändert haben.
                                                                                         Heute fliesst die Alte Aare nur mehr an einer Seite
                                                                                         der Altstadt von Aarberg vorbei, da der eigent-
Abb. 1. Bau der «Untertorbrücke» in Bern 1255/56. Diebold Schilling, Spiezer Chronik,
Bern, Burgerbibliothek, Mss.h.h.I.16, S. 81.15                                           liche Fluss im Zuge der Juragewässerkorrektion
                                                                                         in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über
                                                                                         den Hageneckkanal in den Bielersee umgeleitet
                                                                                         wurde.20
                                                                                         Als Aarberg noch von der Aare umflossen wurde,
                     Brücken gehören für eine Gesellschaft zu den                        überspannten zwei Holzbrücken, die aus demsel-
                     zentralen Infrastrukturbauten, da sie Zugänge zu                    ben Zeitraum stammten und 1271 erstmals in den
                     Siedlungen ermöglichen, Verkehrswege passierbar                     Quellen erwähnt wurden, die beiden Flussarme.
                     machen sowie Waren- und Personentransporte                          Die Geschichte dieser Brücken zeigt, wie vulner-
                     beschleunigen und vereinfachen.16 Am Beispiel                       abel solche Bauten gegenüber Hochwasser waren
                     von Aarberg soll hier vorgestellt werden, wie                       und vor allem auch wie kostspielig deren Unterhalt
                     anfällig Brücken jedoch gegen Hochwasser und                        und gelegentlicher Wiederaufbau war. So wurde
                     Überschwemmungen waren.17 Hochwasser und

                                                                                         Schweiz. Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berichte des
                     15                                                                  BWG, Serie Wasser 5, Bern: Bundesamt für Wasser und Geologie
                          https://www.e-codices.ch/en/list/one/bbb/Mss-hh-I0016,
                     konsultiert am 04.08.2020.                                          BWG, 2003, S. 9-13.
                     16                                                                  18  
                         Bähler Anna, «Die Aare macht Geschichte», in Bähler Anna,            Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz an der Gürbe …,
                     Däpp Walter, Gruner Ueli, Lüthi Christian, Stalder Lisa,            S. 92-97.
                                                                                         19  
                     Steiner Markus, Witschi Franziska (Hrsg.), Berns Aare, Bern:             Wetter Oliver, Pfister Christian, Weingartner Rolf,
                     Haupt Verlag, 2013, S. 59-75, hier S. 64-67.                        Luterbacher Jürg, Reist Tom, Trösch Jürg, «The largest floods
                     17                                                                  in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and
                         Zur Unterscheidung der Begriffe Hochwasser (überdurchschnitt-
                     licher Wasserstand oder Abflussmenge eines Gewässers) und           instrumental evidence», Hydrological Sciences Journal, Nr. 56/5,
                     Überschwemmung (Überflutung einer Fläche ausserhalb des             2011, S. 733-758.
                                                                                         20  
                     Gewässerbetts) siehe Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz            Speich Chassé Daniel, «Die Korrektion der Natur»,
                     an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855-2010),    in Mathieu Jon, Bakchaus Norman, Hürlimann Katja,
                     Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 7, Basel:          Bürgi Matthias (Hrsg.) Geschichte der Landschaft in der Schweiz.
                     Schwabe, 2017, S. 78-79. Zu den Ursachen für Hochwasser siehe       Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, Zürich: Orell Füssli, 2016
                     Vischer Daniel L., Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der     S. 175-188.

                                                                                                                                                            Dossier | 5
eine der Brücken 1414 bei einem Hochwasser,                                        Auch die Aare führte zu dieser Zeit Hochwasser, wel-
                das durch einen Eisstau verursacht wurde, schwer                                   ches beide Brücken in Aarberg weggeschwemmte.
                beschädigt. Da in den Jahrzehnten davor die Stadt                                  Sie wurden bereits 1557/1558 wieder aufgebaut.
                Bern ihren Einfluss bereits auf Aarberg ausgeweitet                                Weniger als zehn Jahre später, 1566, war Aarberg
                hatte, traten die dortigen Bürger anlässlich dieses                                erneut von einem schweren Hochwasser betrof-
                kostspieligen Wiederaufbaus ihre Rechte an der                                     fen.26 Ausgelöst wurde dieses vorwiegend durch eine
                Brücke, welche die Erhebung von Brückenzöllen                                      wegen kalter und nasser Frühlingsmonate verzögert
                einschloss und somit auch die finanzielle Last an                                  einsetzenden Schneeschmelze Ende Mai, bei der in
                den Berner Stadtrat ab.21                                                          kurzer Zeit die hohen Massen eines schneereichen
                Im Sommer 1480 ereigneten sich Ende Juli                                           und langen Winters tauten.27 Der Berner Chronist
                Überschwemmungen an der Aare, der Saane und                                        Johann Haller beschreibt Schnee und Hochwasser
                dem Rhein. Ursache dafür waren eine siebenwö-                                      in seiner Chronik: «[…] war die Aare so groβ, von
                chige Regenperiode, die mit drei Tagen sintflutar-                                 vielewegen der Schneen, so vergangenen Winter gefal-
                tiger Regengüsse zu Ende ging. Die Schäden dieses                                  len, deren Etlich bey den 40 gezählt […].»28 Ende
                Ereignisses waren überwältigend und betrafen                                       Juni ereigneten sich zudem heftige Regenfälle, wie
                eine ganze Reihe von Infrastrukturbauten entlang                                   Franz Rudella aus dem nahen Freiburg berichtet:
                der genannten Flüsse.22 In den Chroniken ist die                                   «[…] regnet es den ganzen tag im ganzen land so unge-
                Zerstörung der Brücke bei Aarberg zwar nicht                                       stuͤmicklichen, das die wassern gar gross wurdend.»29
                beschrieben, aber nachweislich musste in den Jahren                                Die Zerstörungen in Aarberg stellt wiederum
                danach, um 1490, dort eine neue Brücke errichtet                                   Johann Haller in seiner Chronik dar: «zu Aarberg
                werden. Sehr wahrscheinlich war die Ursache für                                    stieβ es die äussere Brücke hinweg, die ward folgen-
                diesen Neubau das beschriebene Hochwasser 1480,                                    den Winter und Frühling mit groβem Kosten wieder
                denn in diesem Jahr wurde der Abt des Klosters                                     erbauen […].»30 Laut diesem Bericht wurde also die
                Frienisberg dazu aufgefordert, 30 Baumstämme                                       äussere, westliche Brücke fortgerissen, wobei der
                für den Wiederaufbau der Brücke in Aarberg zu                                      kurz darauf erfolgte Wiederaufbau sehr teuer war.
                liefern. Offenbar zogen sich die Bauarbeiten über                                  Mitverursacht wurden die hohen Kosten durch die
                längere Zeit hin, denn noch 1485 wurden Wagen                                      neuen steinernen Pfeiler, die wohl die Brücke stabiler
                dazu angehalten, den Weg über Aarberg zu mei-                                      machen sollten – mit Erfolg, denn es ist bis heute
                den, da sich die Aare dort nicht passieren liesse.23                               bei dieser Konstruktion geblieben.31 Hochwasser der
                Als Ursache für den verzögerten Wiederaufbau                                       Aare gab es auch in der Folgezeit. Ein besonders
                könnten finanzielle Engpässe der Stadt Bern                                        schlimmes Ereignis dieser Art im Jahr 1651 hatte
                infrage kommen, aber auch die Verkehrsplanung                                      aber wohl auch durch die baulichen Veränderungen
                des Stadtrats, denn dieser wollte die Strasse über                                 keine schweren Folgen für die Brücken von Aarberg.
                Gümmenen und Freiburg fördern.24
                Im Sommer 1556 verursachten ausgiebige Regenfälle
                an vielen Orten in Europa Überschwemmungen.25
                                                                                                   26  
                                                                                                        Camenisch Chantal, «From the alpine mountain height to the
                                                                                                   Swiss Lake District: climate and society in the city and Republic
                                                                                                   of Bern from the 14th to the 16th centuries», in Kiss Andrea,
                21                                                                                 Pribyl Kathleen (Hrsg.), The Dance of Death in late Medieval and
                     Die Landvogtei Aarberg war zwar prestigeträchtig, aber keines-
                wegs besonders einträglich. Siehe dazu auch Gerber Roland,                         Renaissance Europe. Environmental stress, mortality and social res-
                Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft               ponse, London & New York: Routledge, S. 89-106, hier S. 96-98.
                                                                                                   27  
                zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich, Forschungen                         Pfister Christian, Wetternachhersage …, S. 229-230.
                zur Mittelalterlichen Geschichte 39, Weimar: Böhlau, 2001,                         28  
                                                                                                        Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen
                S. 439–441.                                                                        Handschriften des Joh. Haller und Abraham Müslin, von 1550
                22  
                     Siehe dazu auch Pfister Christian, Wetter Oliver, «Das                        bis 1580, Zofingen: D. Gutermeister, 1829, S. 112.
                Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein», Berner                          29  
                                                                                                       Zehnder-Jörg Silvia (Hrsg.), «Die Grosse Freiburger Chronik
                Zeitschrift für Geschichte, Nr. 73/4, 2011, S. 41-49.                              des Franz Rudella. Edition nach dem Exemplar des Staatsarchivs
                23  
                     Hunger Felix, Geschichte der Stadt Aarberg, Aarberg: Burger-                  Freiburg. Teil II», Freiburger Geschichtsblätter, Nr. 85, 2007, S. 670.
                und Einwohnergemeinde Aarberg, 1930, S. 129                                        30  
                                                                                                        Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen
                24  
                     Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis…», S. 73-80;                        Handschriften …, S. 112.
                Geber Roland, Gott ist Burger …, S. 322-323.                                       31  
                                                                                                        Domeniconi Eneas, «Brücken im Seeland und im Berner Jura»,
                25  
                     Glaser Rüdiger, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre                     in Schüpbach Hans (Hrsg.), Berner Brückengeschichten, Chapelle-
                Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt: Primus, 2013, S. 113.                      sur-Moudon: Ketty und Alexandre, 1997, S. 95-117, hier S. 98.

6   | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Abb. 2. Die Stadt Aarberg mit ihren beiden Brücken, Druckgrafik von Johann Ludwig Nöthinger, 1744, Schweizerische
Nationalbibliothek, Graphische Sammlung.32

Nach ähnlichem Muster wie in Aarberg ist es                          sogar alte Karten und Pläne vorhanden, die den
für viele Gemeinden und Infrastrukturbauten                          ursprünglichen Fluss- oder Bachverlauf aufzei-
möglich, eine Schadenschronik oder auch eine                         gen.34 Die meisten Schweizer Fliessgewässer, an
Hochwasserchronik mit den Schüler*innen                              denen sich Siedlungen befinden, sind im Verlauf
zusammenzustellen, die sich nicht auf die vor-                       der letzten beiden Jahrhunderte in irgend-
industrielle Zeit beschränken muss. Für die                          einer Form korrigiert worden. Anhand von
Recherche kommen einerseits die bereits beschrie-                    Kartenmaterial und einer Hochwasserchronik
benen historischen Quellen infrage, aber auch                        kann somit auch diskutiert werden, weshalb diese
Ortschroniken und ältere Geschichtswerke, die                        Gewässer verbaut wurden und welche Folgen
für fast alle Gemeinden in der Schweiz existieren.                   dies für die Siedlungsstruktur hatte. Mit solchen
Vielleicht gibt es in der Gemeinde neben alten                       Überlegungen soll bei den Schüler*innen neben
Brücken auch Hochwassermarken zu besich-                             der Kompetenz, verschiedenartige Quellen zu lesen
tigen, die an einem exponierten Gebäude oder                         und zu interpretieren, auch das Bewusstsein für
einer Infrastrukturbaute angebracht sind?33 Die                      die Zusammenhänge von Klima, Naturgefahren
Hochwasser- und Schadenschronik könnte mit-                          und Gesellschaft geschärft werden.
hilfe von alten Zeitungsberichten, Fotos und
durch die Befragung älterer Bewohner*innen
der Gemeinde erweitert werden. Vielleicht sind
                                                                     34  
                                                                        Alte Fotos, Ortansichten und Darstellungen sind beispielsweise
                                                                     über die ETH Zürich erhältlich https://www.e-pics.ethz.ch/de/
32  
                                                                     home/. Auch Pläne und Karten sind oft online erhältlich, z. B.
     https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=480568,          für Bern: https://www.unibe.ch/universitaet/dienstleistungen/
konsultiert am 04.08.2020.                                           universitaetsbibliothek/recherche/sondersammlungen/kartensam-
33  
    Zu den Hochwassermarken Rohr Christian, Extreme                  mlungen/500_jahre_thomas_schoepf/index_ger.html oder für
Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter   Freiburg: https://www.fr.ch/de/mahf/sickingerplan-und-martini-
und am Beginn der Neuzeit, Umwelthistorische Forschungen 4,          plan-im-museum-fuer-kunst-und-geschichte-freiburg, konsultiert
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2007, S. 89-91.                   am 30.08.2020.

                                                                                                                                         Dossier | 7
Missernten, Hungersnöte                                                            einging. Auslöser waren mehrere Jahre mit kalten
                und Epidemien                                                                      und nassen Frühlings- und Sommerjahreszeiten,
                                                                                                   wobei die Ursachen insgesamt aber vielschichtig
                Eine andere Art von Klimafolgen stellen                                            sind.37 Die nächste grössere Krise, welche auch
                Subsistenzkrisen oder Hungersnöte dar. Am                                          das Gebiet der heutigen Schweiz betraf, erfolgte
                Anfang dieses vielschichtigen Phänomens ste-                                       in den 1430er-Jahren. Im Zusammenhang mit
                hen auf der (bio-)physikalischen Ebene eine                                        mehreren langen und kalten Winterjahreszeiten
                Temperatur- oder Niederschlagsanomalie oder                                        kam es europaweit zu einer Serie von Missernten,
                ein oder mehrere extreme Witterungsereignisse                                      die eine Hungersnot zur Folge hatte. Weitere
                wie Spätfröste, Dürren, Hagelstürme oder                                           Subsistenzkrisen ereigneten sich zwischen 1477
                ausgedehnte Regenperioden. Diese Auslöser                                          und 1483 sowie kurz darauf zwischen 1487
                führen zu einem Rückgang von Erntemenge                                            und 1493. Auch diese Krisen stehen mit wit-
                und -qualität von Kulturpflanzen, beispiels-                                       terungsbedingten Missernten, aber ebenso mit
                weise von Brotgetreide. Dadurch steigen in der                                     kriegerischen Auseinandersetzungen in verschie-
                Folge auf einer sozioökonomischen Ebene die                                        denen Teilen Europas im Zusammenhang. Im
                Lebensmittelpreise, wodurch eine Subsistenzkrise                                   zeitlichen Umfeld aller drei Subsistenzkrisen des
                mit Mangelernährung und einer erhöhten                                             15. Jh. berichten die Chronisten von Epidemien.38
                Sterberate sowie niedrigen Geburtenrate auftre-                                    Im Verlauf des 16. Jh. nahm die Zahl der
                ten kann. Sie kann dabei auch Auslöser für soziale                                 Subsistenzkrisen im Raum der heutigen Schweiz
                Spannungen und Migrationsbewegungen sein. Auf                                      sogar noch zu. Berner Getreidepreisreihen zeigen
                der kulturellen Ebene kann eine Subsistenzkrise                                    mehrere starke Preissteigerungen, die sich auch
                kirchliche Bittprozessionen oder die Ausgrenzung                                   durch beschreibende Quellen bestätigen lassen,
                und Bestrafung von zu Sündenböcken erklärten                                       wodurch sich Subsistenzkrisen oder zumindest
                Minderheiten und anderen Personengruppen                                           eine sehr angespannte Versorgungslage für ins-
                zur Folge haben. Mangelernährung und krisen-                                       gesamt sechs mehrjährige Phasen feststellen las-
                bedingte schlechte hygienische Zustände begüns-                                    sen. Betroffen waren in der ersten Hälfte des
                tigen zudem die Verbreitung von Epidemien.35                                       Jahrhunderts die Jahre von 1500 bis 1504, 1515
                Abhängig von der Art der Krankheit können das                                      bis 1518, 1528 bis 1533 und 1543 bis 1546.39
                Klima und der Witterungsverlauf die Vermehrung                                     Die beiden späteren Krisen in den Jahren 1571
                und das Verhalten von Zwischen- sowie Endwirten                                    bis 1575 und 1586 bis 1593 hatten schwer-
                oder Überträgern und somit die Epidemie an sich                                    wiegende Folgen für die Bevölkerung, die sich
                beeinflussen.36 Auf allen diesen Ebenen spielen                                    nicht zuletzt in mehreren Teilen Europas,
                weitere Faktoren eine wichtige Rolle und der                                       aber besonders in der Schweiz, in grausamen
                Prozess verläuft nicht deterministisch, sondern                                    Hexenverfolgungen niederschlugen.40 Zeitliche
                kann unter entsprechenden Umständen auf jeder                                      Überschneidungen mit Pestwellen gab es
                Ebene unterbrochen werden.                                                         vor allem in den 1570er- bis 1590er-Jahren.
                Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ereigneten
                sich zwischen 1300 und 1700 in unregelmässigen
                Abständen zahlreiche Subsistenzkrisen, die mit
                                                                                                   37  
                extremer Witterung zusammenhingen. So war die                                          Camenisch Chantal, «The Potential of Late Medieval…»,
                                                                                                   S. 52-54.
                Schweiz auch von der «Grossen Hungersnot» zwi-                                     38  
                                                                                                       Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis: Famines and
                schen 1315 und 1322 betroffen, welche als schwere                                  Dearth During the 1480s and 1490s in Western and Central
                Mortalitätskrise in die europäische Geschichte                                     Europe», in Collet Domini, Schuh Maximilian (Hrsg.), Famines
                                                                                                   During the « Little Ice Age » (1300-1800). Socionatural Entaglements
                                                                                                   in Premodern Societies, Cham: Springer, 2018, S. 69-90.
                                                                                                   39  
                                                                                                       Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or
                                                                                                   three months.” Subsistence Crises in the City and Republic of
                                                                                                   Bern, 1315-1715», Food & History, Nr. 17/1, 2019, S. 37-64,
                35  
                     Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…,                          hier S. 51-55.
                S. 133-138.                                                                        40  
                                                                                                       Siehe zu den Zusammenhängen von extremer Witterung und
                36  
                     Hoffmann Richard C., An environmental History of medieval                     Hexenverfolgungen Behringer Wolfgang, Witches and Witch-
                Europe, Cambridge: University Press, 2014, S. 279-303.                             Hunts. A Global History, Cambridge: Polity Press, 2004, S. 90-101.

8   | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
Zahlreiche Jahre mit hohen Getreidepreisen und                         die Krisengewinner derselben Gesellschaftsschicht
Beschreibungen von Lebensmittelknappheit wur-                          angehörten wie die Ratsherren selbst.42 Krisen,
den auch im 17. Jh. vermeldet. Vor der Mitte                           die ihren Ursprung in einem Ernteausfall hatten,
des Jahrhunderts ereigneten sich bereits sechs                         betrafen somit mit unterschiedlicher Intensität
solcher Krisen in den Jahren 1609 bis 1615,                            auch Gewerbe fernab der Agrarwirtschaft.
1622 bis 1624, 1628 bis 1631, 1635 bis 1639,                           Da Subsistenzkrisen oft vorkamen, sind viele
1642 bis 1645 und 1650 bis 1652. In der zwei-                          Zeugnisse überliefert worden. Erneut bietet Euro-
ten Hälfte des Jahrhunderts lösten ungünstige                          Climhist einen guten Einstieg in die entsprechen-
Witterungsverläufe drei weitere Krisen in den                          den Quellen, während die vollständigen – oft
Jahren 1661 bis 1666, 1675 bis 1677 und 1690                           älteren – Texteditionen nicht selten online auf-
bis 1695 aus. In mindestens vier Fällen ereigneten                     findbar sind. Anhand des Themenkomplexes der
sich Pestepidemien während oder auch unmit-                            Subsistenzkrisen können sich die Schüler*innen
telbar nach den Hungersnöten. Neben extre-                             ein Bild von den Lebensumständen der Menschen
men Witterungsereignissen und den folgenden                            in der Schweiz und der wirtschaftlichen Abläufe
Missernten sind auch politische Geschehnisse                           in der vorindustriellen Epoche machen. Es gibt
wie Kriege Ursache für die Krisen.41 Die hohe                          dabei viele Aspekte, die zusammen oder auch
Zahl der Krisenjahre zeigt, dass es sich nicht                         als einzelne Schwerpunkte untersucht werden
um Ausnahmefälle gehandelt hat, sondern                                können. Es kann beispielsweise diskutiert wer-
um in unregelmässigen Abständen wiederkeh-                             den, womit die Menschen ihren Lebensunterhalt
rende Ereignisse, die ein Mensch, wenn er das                          verdient haben und durch welche Umstände
Erwachsenenalter erreichte, mehrmals im Leben                          dieser Unterhalt gefährdet sein konnte. Gab
bewältigen musste. Es sind somit Ereignisse,                           es Möglichkeiten, sich gegen diese Gefahren
die auch zur Alltagsgeschichte der Schweiz                             abzusichern? In diesem Zusammenhang sind
gehören. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass                         Strategien der Bauern zu nennen, die Ernteausfälle
Subsistenzkrisen nicht alle Bevölkerungsgruppen                        abfedern sollten, aber auch die Vorratshaltung
im gleichen Masse betrafen. Arme und auf Lohn                          von Individuen und Institutionen. Welche
angewiesene Menschen, die wenig Vorräte hal-                           Massnahmen ergriffen die Obrigkeiten zur
ten konnten, litten schneller an Hunger und                            Bekämpfung von Subsistenzkrisen und welche
Mangelernährung und selbst innerhalb einer                             Verantwortung übernahmen sie dabei für ihre
Familie wurde das Essen nicht gleichmässig ver-                        Untertanen? Wen machten die Menschen für ihr
teilt. Bei längerem Andauern einer Krise und                           Leid verantwortlich? In welchem Zusammenhang
steigenden Lebensmittelpreisen verzichteten                            stehen Subsistenzkrisen und ihre Ursachen mit
zudem viele auf nicht unmittelbar notwendige                           der Verfolgung von Sündenböcken wie etwa
Anschaffungen, um sich Essen kaufen zu können.                         Minderheiten oder am Rande der Gesellschaft
Dadurch verloren aber Handwerker und Händler                           stehenden Personengruppen?43 Die Antworten auf
von nicht lebensnotwendigen Produkten ihren                            solche Fragen fallen wiederum in den Bereich von
Absatzmarkt und letztlich selbst an Kaufkraft.                         wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen
Es gab aber auch Personengruppen, beispiels-                           der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt,
weise Getreidehändler und Grossgrundbesitzer,                          wie sie etwa im Lehrplan des Kantons Bern und
die sogar an einer Krise verdienen konnten. Die                        darüber hinaus als Grobziel für die Gymnasialstufe
Obrigkeiten versuchten diese Bereicherung in                           formuliert sind.
der Regel zu unterbinden oder zumindest einzu-
dämmen, wobei es aber zu bedenken gilt, dass
                                                                       42  
                                                                            Camenisch Chantal, «Wider den verderblichen Fürkauf.
                                                                       Spekulation auf Getreidepreise und obrigkeitliche Massnahmen
                                                                       gegen diese Praxis in der Stadt und Republik Bern, 1480-1750»,
41                                                                     traverse n° 24/3, 2017, S. 35-50.
   Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or
                                                                       43  
three months.” …», S. 51-57; Eckert Edward A., «Spatial and                 Antworten dazu beispielsweise in Pfister Christian, Das Klima
temporal distribution of plague in a region of Switzerland in the      der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte
years 1628 and 1629», Bulletin of the History of Medicine, Nr. 56/2,   von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bd. 2: Bevölkerung, Klima und
1982, S. 175-194, hier S. 175.                                         Agrarmodernisierung 1525-1860, Bern: Haupt Verlag, 1984.

                                                                                                                                            Dossier | 9
Die Beschäftigung mit Klima und klimain-                                           historische Reflexion über den gegenwärtigen
                 duzierten Krisen in der Vergangenheit kann                                         Umgang mit Klimaerwärmung, Umweltkrisen und
                 Schüler*innen vor Augen führen, wie fundamen-                                      der COVID-19-Pandemie und kann dabei unter-
                 tal menschliche Gesellschaften von den «natürli-                                   stützen, diesbezügliches menschliches Handeln zu
                 chen» Gegebenheiten und von Umweltereignissen                                      hinterfragen und Verhaltensänderungen sowie
                 abhängig sind. Dies ermöglicht eine vertiefte,                                     Handlungen folgen zu lassen.

                 Die Verfasserin                                                                    Klimavariabilität angestossen oder beeinflusst,
                                                                                                    aber nicht nur durch diese verursacht werden,
                 Chantal Camenisch ist promovierte Historikerin.                                    wie Subsistenzkrisen, Epidemien oder Schäden
                 Sie forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am                                 an Infrastruktur. In diesem Artikel werden theo-
                 Historischen Institut der Universität Bern und am                                  retische Ansätze zu gesellschaftlichen Klimafolgen
                 Oeschger Centre for Climate Change Research zum                                    kurz vorgestellt und Beispiele aus der Schweiz in
                 Klima und den gesellschaftlichen Klimafolgen in                                    der Zeitspanne von 1300 bis 1700 im Hinblick auf
                 der Vergangenheit.                                                                 eine Anwendung im Schulunterricht besprochen.
                 chantal.camenisch@hist.unibe.ch
                                                                                                    Keywords
                 https://www.hist.unibe.ch/ueber_uns/personen/
                 camenisch_chantal/index_ger.html                                                   Klima, gesellschaftliche Klimafolgen, Wirtschaftsge-
                                                                                                    schichte der Schweiz, Subsistenzkrisen, Epidemien,
                 Zusammenfassung                                                                    vorindustrielle Zeit
                 Gesellschaftliche Klimafolgen sind komplexe
                 soziale und wirtschaftliche Phänomene sowie
                 Prozesse, die durch extreme Witterung und

10   | Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaftliche… » Didactica Historica 7 / 2021
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