WISSENSCHAFT Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen - ORIGINALIA - Arbeitsmedizin
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WISSENSCHAFT ORIGINALIA Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen ORIGINALIA COVID-19-Infektionsquote im Bau- und Reinigungsgewerbe: bekannte Infektionen und Dunkelziffer AKTUELL Arbeitsmedizin an den Hochschulen Deutschlands 2022
ORIGINALIA Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen Eine explorative Analyse zu Stressbelastung, Coping und Persönlichkeit H. Schuffenhauer FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige Gesellschaft mbH, R. Hettmannsperger-Lippolt Fachbereich Pflege und Gesundheitz (eingegangen am 06.10.2021, angenommen am 09.12.2021) ABSTRACT / ZUSAMMENFASSUNG Violence against nurses in emergency departments. An ex- Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen. Eine explorative plorative analysis of stress, coping strategies and personality Analyse zu Stressbelastung, Coping und Persönlichkeit Objectives: The aim of this work is to determine the prevalence and type Zielstellungen: Ziel dieser Arbeit ist es, die Prävalenz und Art der Gewalt, of violence, feelings of stress, stress symptomatology, coping strategies Belastungsempfinden, Stresssymptomatik sowie Copingstrategien und Per- and personality traits and to examine correlations between these variables. sönlichkeitsmerkmale zu ermitteln und Zusammenhänge dieser Variablen Methods: The nationwide survey targeted nurses in accordance with the zu untersuchen. German Nursing Professions Act who worked in the emergency depart- Methoden: Die bundesweite Befragung richtete sich an Pflegende gemäß ment. Hospitals with emergency departments were contacted via an elec- dem Pflegeberufegesetz am Arbeitsplatz Notaufnahme. Der Kontakt erfolgte tronic cover letter (n = 1479). The online questionnaire Ied items on the über ein elektronisches Anschreiben aller Krankenhäuser mit Notaufnahme prevalence of verbal, physical and sexual violence, reporting behaviour, (n = 1479). Der Onlinefragebogen beinhaltet Items zu Prävalenz von verba- perception of stress, stress symptomatology, coping strategies, personality ler, körperlicher und sexualisierter Gewalt, Meldeverhalten, Belastungsemp- traits and socio-demographic information. Hypotheses were tested with re- finden, Stresssymptomatik, Copingstrategien, Persönlichkeitsmerkmalen gression analyses. In addition, guided expert interviews were conducted und soziodemografischen Angaben. Die Hypothesen wurden mit Regres- (mixed methods). sionsanalysen überprüft. Ergänzend wurden leitfadengestützte Experten Results: 250 nurses participated in the survey. Violence against nurses in interviews geführt (Methodenmix). the emergency department workplace is common, places great stress on Ergebnisse: An der Befragung nahmen 250 Pflegekräfte teil. Gewalt gegen most victims and correlates significantly with stress. The central coping Pflegekräfte am Arbeitsplatz Notaufnahme kommt häufig vor, belastet die strategies of positive thinking, active stress management and social sup- meisten Betroffenen sehr und korreliert signifikant mit Stress. Die zentralen port are above average, but have no influence on the stress sympIbecause Copingstrategien positives Denken, aktive Stressbewältigung und soziale affected persons do notIut experienced violence due to fear, shame and Unterstützung sind überdurchschnittlich ausgeprägt, haben jedoch keinen feelings of guiIfactors for experienIence are little work experience, victim Einfluss auf die Stresssymptomatik, denn Betroffene sprechen aus Angst, behaviour and female gender. No correlaIfound between personality and Scham und Schuldgefühlen nicht über erlebte Gewalt. Risikofaktoren für experienced violence. Gewalterfahrung sind wenig Berufserfahrung, Opferverhalten und weibliches Conclusion: Organisations and managers should take more responsibility for Geschlecht. Es wurde kein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und this issue, comply with regulations of the Occupational Safety and Health erlebter Gewalt festgestellt. Act and introduce measures for prevention and aftercare in a targeted man- Schlussfolgerung: Organisationen und Führungskräfte müssen Verantwor- ner based on a risk assessment involving employees. Patient assaults should tung für dieses Thema übernehmen, Vorschriften des Arbeitsschutzgeset- be reported to the employers’ liability insurance association as an occupa- zes einhalten und Maßnahmen zur Prävention und Nachsorge anhand einer tional accident. Even if there are no injuries, patient assaults should always Gefährdungsbeurteilung unter Einbindung der Mitarbeiter zielgerichtet ein- be documented confidentially within the company. Employees should be führen. Übergriffe von Patientinnen und Patienten sollten der Unfallversi- made more aware that violence is not part of their job, reject the role of cherung konsequent als Arbeitsunfall angezeigt und auch bei fehlenden victim, not be afraid to report assaults and seek help. Verletzungen immer vertraulich betriebsintern dokumentiert werden. Be- Keywords: workplace violence – emergency department – coping strategies schäftigte sollten in ihrem Bewusstsein gefördert werden, dass Gewalt nicht – personality – health consequences zu ihrem Job gehört, die Opferrolle verlassen und sich trauen, Übergriffe zu kommunizieren und Hilfe in Anspruch zu nehmen. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 98–105 Schlüsselwörter: Gewalt am Arbeitsplatz – Notaufnahme – Copingstrategien doi:10.17147/asu-1-167090 – Persönlichkeit – Gesundheitsfolgen
Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen . WISSENSCHAFT | 99 Einleitung Psychopathologie (Kotov et al. 2010; Malouff et al. 2005). So stehen Persönlichkeitsmerkmale signifikant im Zusammenhang mit dem ge- In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen treffen viele Menschen meinsamen Auftreten von psychischen Störungen (Khan et al. 2005; mit unterschiedlichen Erwartungen und Rollenverständnissen aufein- Krueger et al. 1996), Job Burnout (Bakker et al. 2006; Rössler et al. 2013), ander, die es in der pflegerischen Beziehungsarbeit zu harmonisieren psychotischen Symptomen (Rössler et al. 2015) und Anfälligkeit für gilt. Dabei spielt der Faktor Macht eine zentrale Rolle, da zwischen Stimmungsstörungen (De Graaf et al. 2002; Kendler et al. 2006). Insbe- Pflegekräften und Patientinnen/Patienten ein Machtgefälle, vorerst zu- sondere gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Neuro- gunsten der Pflegenden, besteht, das Gewalthandlungen durch Nicht- tizismus und akuter Angst, traumatischer Belastung und maladaptiver beachten, verbale Gewalt bis hin zu Misshandlung und Patiententötung Stressbewältigung, während Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit begünstigen kann (Schreiner 2001). Öffentlichkeitswirksame Fälle in in einem positiven Zusammenhang mit sozialer Aktivität nach einem der jüngeren Vergangenheit sind beispielsweise der im Jahr 2019 wegen kritischen Ereignis stehen (Hengartner et al. 2017). Mordes an 85 Patientinnen und Patienten zu lebenslanger Freiheitstrafe verurteilte Krankenpfleger Niels H. (Spiegel 2019) und gegenwärtig Ziel laufende Ermittlungen gegen einen Pfleger, der in einem Münchener Krankenhaus mindestens drei Erkrankte mit Medikamentenüberdosen Ziel der vorliegenden Studie war es, die Prävalenz und Art der Ge- in lebensgefährliche Situationen gebracht haben soll (Stern 2020). Aber walt, Belastungsempfinden, Stresssymptomatik, Copingstrategien auch Patientinnen und Patienten haben viele mitunter subtile Möglich- und Persönlichkeitsmerkmale zu ermitteln und Zusammenhänge keiten, Macht auszuüben (Schreiner 2001). Weiterhin ist auch Mobbing dieser Variablen zu untersuchen. Folgende Hypothesen wurden ge- als eine Form von Gewalt unter Pflegekräften virulent, da Stress und prüft: extremer Leistungsdruck die Entstehung von Konflikten fördern und zu H1: Die zum Umgang mit Übergriffen von Patientinnen und Patienten Machtspielen in einem kranken System führen, in dem kaum Konflikt- eingesetzten Copingstrategien wirken sich auf die Stresssymp- management durchgeführt und Frühsignale ignoriert oder übersehen tomatik aus. werden (pflegen-online 2020). In dieser Arbeit richtet sich der Fokus H2: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerk- auf von Patientinnen und Patienten ausgehende Gewalthandlungen malen und der Prävalenz von Gewaltereignissen. im Setting Notaufnahme. H3: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerk- Nachdem das Thema Gewalt gegen Pflegekräfte lange Zeit von malen und Stress. Betroffenen und Organisationen bagatellisiert und tabuisiert wurde und insbesondere Notaufnahmen als Hochrisikobereiche gelten Methoden (Schuffenhauer u. Güzel-Freudenstein 2019), ist nun der Beginn ei- nes Umdenkens zu beobachten. Schablon und Kollegen (2018) stellen Die explorative Untersuchung wurde als Methodenmix durchge- fest, dass inzwischen Präventionsangebote geschaffen wurden und führt. Bei der quantitativen Datenerhebung mittels eigens für die wahrgenommen werden. Inzwischen wurde, wie auch von Schuffen- Zielgruppe entwickeltem Fragebogen wurde das Pflegepersonal hauer u. Güzel-Freudenstein (2019) empfohlen, Gewalt gegen diese der Notaufnahmen der beteiligten Kliniken zu den Kategorien Personengruppe unter denselben Schutz gestellt, wie dies bei Polizei- „Vorkommen und Art von Gewalt am Arbeitsplatz“, „Belastungs- und Vollstreckungsbeamten der Fall ist (StGB § 115 Abs. 3). Auch wer- empfinden“ und „Meldeverhalten“ befragt. Zudem wurden Bean- den vermutlich durch die Sensibilisierung gewalttätige Übergriffe öfter spruchung, Coping und Persönlichkeitsmerkmale mit den standar- dem Unfallversicherer gemeldet (Schablon et al. 2018). Darüber hinaus disierten Testinstrumenten „SCI“ und „B5T“ (Satow 2012) erhoben wurde in ersten Untersuchungen ein positiver Effekt auf das Belas- und jeweils auf einer Skala von 1 (geringe Ausprägung) bis 9 (starke tungsempfinden der Betroffenen durch eine gute Vorbereitung der Or- Ausprägung) gemessen. Eingeschlossen wurden in der explorati- ganisation festgestellt (Schablon et al. 2012, 2018). Zwei Metaanalysen ven Studie, die im Rahmen einer Abschlussarbeit des Masterstu- belegen den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und diengangs Wirtschaftspsychologie entstand, Pflegende gemäß dem Pflegeberufegesetz (PflBG) am Arbeitsplatz Notaufnahme in allen Bundesländern. Der Feldzugang erfolgte mit einem elektronischen KERNAUSSAGEN Anschreiben aller Krankenhäuser mit Notaufnahme und aller Ver- sorgungsstufen in Deutschland (n = 1479), die über das Deutsche • Gewalt gegen Pflegekräfte am Arbeitsplatz Notaufnahme kommt häufig vor, belastet die meisten Betroffenen sehr und korreliert sig- Krankenhausverzeichnis identifiziert wurden. In dem Anschreiben nifikant mit Stress. wurde den Entscheidungsträgern der Einrichtungen das Forschungs- • Die zentralen Copingstrategien positives Denken, aktive Stressbewäl- vorhaben vorgestellt, verbunden mit der Bitte, den Link der Online- tigung und soziale Unterstützung sind überdurchschnittlich ausge- befragung an die Pflegekräfte in der Notaufnahme weiterzuleiten. prägt, haben jedoch keinen Einfluss auf die Stresssymptomatik, denn War die jeweilige Klinikleitung grundsätzlich mit der Durchführung Betroffene sprechen aus Angst, Scham und Schuldgefühlen nicht der Befragung einverstanden, wurde der Link der Onlinebefragung über erlebte Gewalt. von diesen an die Pflegekräfte der Notaufnahme weitergeleitet. In • Risikofaktoren für Gewalterfahrung sind wenig Berufserfahrung, Op- der Einleitung des Online-Fragebogens wurden die potenziellen ferverhalten und weibliches Geschlecht. Teilnehmenden zunächst über das Forschungsvorhaben und die • Es wurde kein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und erleb- ter Gewalt festgestellt. Verwendung der Befragungsergebnisse informiert sowie darüber aufgeklärt, dass die Teilnahme freiwillig ist und anonym erfolgt. Da- ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
1 00 | WISSENSCHAFT . Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen her wurden zu keinem Zeitpunkt personenbezogenen Daten oder Gewalt: 12-Monats-Prävalenz zur Einrichtung erfragt, so dass weder Rückschlüsse auf Personen 100 oder Kliniken möglich sind. Das Einverständnis wurde jeweils von 90 81,11 Frauen Männer den Teilnehmenden mit dem Absenden des Fragebogens gegeben. 80 74,76 70 Insgesamt haben 250 Pflegende aus allen Bundesländern, außer Bre- 60 Prozent 48,70 men, teilgenommen. Es sind Einrichtungen aller Versorgungsstufen 50 43,89 37,86 mit Notaufnahme vertreten. 40 29,05 30 Die Darstellung der Stichproben erfolgte durch deskriptive Sta- 20 tistik, die Zusammenhänge der Variablen wurden mit logistischen 10 Regressionsmodellen (Berechnung mit SPSS) überprüft. 0 Verbale Gewalt Körperliche Gewalt Sexualisierte Gewalt Die qualitative Datenerhebung erfolgte anhand leitfadengestütz- ter Experteninterviews. Ausgehend von den Hypothesen und nach Abb. 1: Vorkommen von Gewalt gegen die eigene Person (n = 250) Analyse der zur Fragestellung identifizierten Literatur wurden die Fig. 1: Occurence of violence against own person (n = 250) Fragen des halbstrukturierten Interviewleitfadens nach dem SPSS- Prinzip (Sammeln, Prüfen, Sortieren, Subsumieren) erstellt (Helffe- rich 2011; Diekmann 2012). registriert. Erste Zielscheiben für Gewalt sind Auszubildende und Die Zielgruppe waren Sachverständige mit mindestens 10 Jahre junge Pflegekräfte, die noch keine Routine haben und „voll reinlau- Berufserfahrung, die sich in ihrer Funktion in der Prävention und fen“, das gilt besonders für sexuelle Übergriffeund für Frauen. Dabei Nachsorge von Gewalt am Arbeitsplatz beschäftigen. Anhand die- gehört Gewalt nicht zu den Aufgaben der Pflegenden. Sie sind dafür ser Einschlusskriterien wurden drei Interviews mit Expertinnen und auch nicht ausgebildet, haben keine Mittel zur Verteidigung und „ste- Experten aus den Bereichen Arbeitsmedizin, Deeskalationstraining/ hen hier mit der blanken Hand und versuchen dagegen vorzugehen“ Polizei- und Notfallpsychologie durchgeführt. (➥ Tabelle 1). Die Interviews wurden nach der zusammenfassenden qualita- Daher kommt der Prävention eine entscheidende Rolle zu. Ob- tiven Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet. Durch die wohl von den Expertinnen und Experten in den Einrichtungen ein deduktive Vorgehensweise konnten die Kategorien „Vorkommen Umdenken beobachtet wird, ist Gewalt gegen Pflegende oft noch ein von Patientenübergriffen“, „Stressbelastung“, „Ursachen“, „Persön- Tabuthema und vieles wird verharmlost. Denn aufgrund des wirt- lichkeit“, „Coping“, „Prävention“, „Nachsorge“ und „Anmerkun- schaftlichen Drucks kämpfen die Krankenhäuser um ihre Existenz gen“ auf Grundlage der Basishypothesen gebildet werden (Flick et und was sie deshalb „gar nicht gebrauchen können“, sind negative al. 2013). Nach Kodierung durch Zuordnung des Textmaterials der Beurteilungen durch unzufriedene Patientinnen und Patienten. So Interviews zu den Kategorien erfolgte die inhaltsanalytische Aus- sagen Führungskräfte unter anderem zu ihren Beschäftigten, dass wertung anhand der Interpretation der Interviewaussagen (Mayring die oder der Erkrankte an erster Stelle stehe und die Beschäftigten 1995). sich zurücknehmen sollen, was Unsicherheit erzeugt. In den gesetz- lich verpflichtenden Gefährdungsbeurteilungen wird Gewalt durch Ergebnisse Patientinnen und Patienten kaum berücksichtigt. Deeskalationstrai- ning sollte aus Expertensicht fest in die Ausbildung implementiert An der bundesweiten Befragung nahmen n = 250 Pflegende teil, da- werden. Bedeutend in der Prävention sind auch die Fehlerkultur und von waren 72 % der teilnehmenden Pflegekräfte weiblich und 28 % die Kommunikation im Team: Wenn im Team gut kommuniziert wird, männlich. Am häufigsten vertreten war die Altersgruppe der bis kann auch nach außen gut aufgetreten werden. Gerade in Notauf- 29-Jährigen sowie der 30- bis 39-Jährigen. nahmen muss man als Team geschlossen auftreten und sich nicht als Opfer präsentieren. Auch die ärztlich Rückendeckung und der Vorkommen von Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen Zugang zu Notfallpsychologinenn und -psychologen oder Seelsorge in den letzten 12 Monaten spielen eine wichtige Rolle (s. Tabelle 1). Von verbaler Gewalt durch Patientinnen und Patienten in den letz- ten 12 Monaten berichten 81,11 % der weiblichen und 74,76 % Arbeitsunfallmeldeverhalten nach Patientenübergriffen der männlichen Teilnehmenden. Die Prävalenz von körperli- Lediglich 14 % der Übergriffe wurden dem Arbeitgeber oder der Be- cher Gewalt in den letzten 12 Monaten beträgt bei den Frauen rufsgenossenschaft als Arbeitsunfall gemeldet. Eine betriebsinterne 43,89 % und bei den Männern 37,86 %. Die Prävalenz von sexua- Dokumentation erfolgte bei 33% der Befragten. lisierter Gewalt in den letzten 12 Monaten beträgt bei den Frauen In den Experteninterviews wird berichtet, dass sich Beschäftigte 48,70 % und bei den Männern 29,05 %. Damit sind weibliche Pfle- auch deshalb scheuen, Vorfälle zu dokumentieren, weil in den Ver- gende häufiger von Gewalt betroffen als ihre männlichen Kollegen bandsbüchern alle Eintragungen offen eingesehen werden konnten. (➥ Abb. 1). Ist eine vertrauliche Dokumentation gewährleistet, öffnen sich auch Auch in den Experteninterviews wird berichtet, dass Gewalt gegen die Beschäftigte (s. Tabelle 1). Pflegende in Notaufnahmen häufig vorkommt und jede Pflegekraft bereits Gewalt erlebt hat. Weiterhin hat die Gewaltbereitschaft zuge- Belastungsempfinden und negative Beanspruchung nommen und das Ausmaß der Übergriffe sei „schon heftig“. Verbale Von den Teilnehmenden gaben 9,64 % der Frauen und 25,71 % der Gewalt gehört zum Alltag und wird von den Betroffenen nicht mehr Männer an, sich durch erlebten Gewaltvorfälle nicht beziehungs- ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen . WISSENSCHAFT | 1 01 Tabelle 1: Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen der Interviews Table 1: Summary of significant statements qualitative questionnaire Kategorie IP 1 IP 2 IP 3 Vorkommen von – Kommt häufig vor – Jede Pflegekraft [hat] schon mal Gewalt erlebt – Frauen besonders betroffen Übergriffen durch – Gewalt gehört nicht zu den Aufgaben der Pflege und – Gewaltbereitschaft hat zugenommen Patientinnen und [Pflegekräfte] sind dafür auch nicht ausgebildet – Ausmaß von Übergriffen auf Pflegekräfte in Notauf Patienten nahmen „schon heftig“ – Verbale Gewalt gehört zum Alltag und wird nicht mehr registriert – erste Zielscheiben für Gewalt sind junge Auszubil dende und junge Pflegekräfte, die keine Routine haben und „voll reinlaufen“, gerade auch bei sexuel len Übergriffen – Pflegekräfte haben keine Mittel zur Verteidigung und „stehen hier mit der blanken Hand und versuchen dagegen vorzugehen“ Belastungs – Erlebtes wird oft mit nach Hause getragen – Viele Pflegekräfte belastet das sehr – Angst vor Übergriffen, da Eingangstüren offen sind empfinden – Eindruck, dass ganz empathische und sehr zuge – G eschützter Bereich, Hilfe wird nicht wertgeschätzt, und jeder jederzeit reinkommen kann wandte Beschäftigte es schwerer ertragen sondern mit Gewalt quittiert – Männer schwer beurteilbar, reden nicht so darüber – G ewaltereignisse können nicht einfach weggedrückt werden Negative – Ängstlichkeit, somatische Störungen – Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit, Aggressionen, Beanspruchung Intrusionen, Konzentrationsstörungen, sozialer Rück zug, Verlust von Sensibilität und Empathie, (lange) Arbeitsunfähigkeit, Suchtverhalten, Suizid Nachsorge – Es werden viel mehr professionelle Coachings in den – Wird auch schon mal vergessen oder erfolgt zu spät – Zeitnahe Durchführung von Nachsorgemaßnahmen Einrichtungen benötigt, um erst mal eine Gesprächs nach einem Gewaltvorfall innerhalb von 5 Tagen, kultur einzuführen und auch den Boden zu ebnen, Traumafolgen zu vermeiden dass über Gewaltvorfälle gesprochen werden kann. – Professionelles Debriefing – Peer Support: kollegiale Unterstützung, um soziale und organisatorische Unterstützung zu gewährleisten – Offene Kommunikation im Team – Regelmäßige Teamsupervisionen – Psychologische Anlaufstelle für Beschäftigte oft nicht vorhanden oder ausreichend bekannt – Beschäftigte müssen die Kriterien kennen, wann sie Hilfe brauchen und offen dafür sein – Inanspruchnahme psychologischer Hilfe sollte als Stärke und nicht als Schwäche gelten Prävention – Seitens der Einrichtungen findet in der Prävention – A ufgrund wirtschaftlichen Drucks kämpfen die – Rückendeckung durch Ärztinnen und Ärzte und der von Gewaltereignissen ein Umdenken statt Krankenhäuser um ihre Existenz und was sie deshalb Zugang zu Notfallpsychologen oder Seelsorge – In den gesetzlich verpflichtenden Gefährdungs gar nicht gebrauchen können, sind negative Beurtei – Akzeptanz für psychologische Angebote fördern: beurteilungen wird Gewalt durch Patientinnen und lungen durch unzufriedene Patienten, weshalb vieles Anonymität sicherstellen, indem diese nicht über Patienten kaum berücksichtigt verharmlost wird die Personalabteilung koordiniert werden, sondern – Oft noch ein Tabuthema über eine externe Anlaufstelle und die Telefonnum – S o sagen Führungskräfte unter anderem zu ihren Be mer Beschäftigten direkt zur Verfügung gestellt schäftigten, dass die Patientin/der Patient an erster wird Stelle stehe und die Beschäftigten sich zurücknehmen sollen, was Unsicherheit erzeugt – D eeskalation muss auf alle Fälle bereits in die Ausbildung implementiert sein –W enn im Team gut kommuniziert wird, kann auch nach außen gut aufgetreten werden. Gerade in Notaufnahmen muss das Team geschlossen auftreten und sich nicht als Opfer präsentieren. Arbeitsunfall- – Bislang haben sich die Beschäftigten allerdings meldung/Doku gescheut, Gewaltvorfälle zu melden, weil man in den mentation Verbandsbüchern sehen konnte, wer was vorher ein getragen hat. Heute ist eine vertrauliche Dokumenta tion möglich, wodurch sich die Beschäftigten öffnen. Copingstrategien – Schweigen aus Scham – Schweigen aus Scham, Angst vor Konsequenzen, – Bagatellisieren zum Eigenschutz, um weiterar – Thematisieren das Erlebte auch zu Hause nicht und Schuldgefühlen beiten zu können und um nicht als Schwächling ertragen es lange, bis es nicht mehr geht – Betroffene glauben, dass sie daran schuld sind und dazustehen – Schwierig sind vor allem sexuelle Übergriffe, über die es an ihnen liegt, dass es zu einem gewalttätigen – Vermeiden bestimmter Situationen und Personen ganz wenig gesprochen wird Übergriff kommt gruppen oder aggressives Verhalten – Resilienz entscheidender Faktor Persönlichkeits – S ehr zugewandte, sehr soziale, wenig burschikose – Unsicherheit merkmale und sehr liebenswerte Personen – Opferverhalten: eingezogene Schultern, Kopf zur Seite, – S ehr zugewandte, sehr soziale, die vielleicht auch sofort reagieren, sehr schüchtern und zurückhaltend manchmal nicht die Distanz so haben –W enig burschikos, sehr liebenswert und auch bereit, viel zu ertragen ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
1 02 | WISSENSCHAFT . Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen wältigung“ beträgt der Mittelwert 6,80 (SD = 1,70) und für „soziale Belastungsempfinden 100 Unterstützung“ beträgt der Mittelwert 7,68 (SD = 1,56). Diese haben 90 Frauen Männer allerdings sowohl bei Frauen als auch bei Männern keinen Einfluss 80 auf die negative Beanspruchung. 70 60 54,82 52,86 In den Interviews wird berichtet, dass aus Scham, Angst vor Kon- Prozent 50 43,89 sequenzen und Schuldgefühlen Betroffene über das Erlebte schwei- 37,86 35,54 40 gen: Sie glauben, dass es an ihnen liegt, wenn es zu einem Über- 30 25,71 21,43 20 griff kommt, sie schuld daran sind und sie allein damit fertig werden 9,64 10 müssen. Daher thematisieren sie das Erlebte auch zu Hause nicht 0 und ertragen es so lange, bis es nicht mehr geht. Schwierig sind vor Niedrig Mittel Hoch allem sexuelle Übergriffe, über die ganz wenig gesprochen wird. Be- Abb. 2: Belastungsempfinden (n = 250) troffene bagatellisieren auch zum Eigenschutz, um weiterarbeiten zu Fig. 2: Perceived stress (n = 250) können und um nicht als Schwächling dazustehen, vermeiden be- stimmte Situationen und Personengruppen oder verhalten sich ag- gressiv. Resilienz wird bei der Bewältigung von Gewalterfahrung als weise nur gering belastet zu fühlen. Eine mittelstarke Belastung entscheidender Faktor genannt. Es werden viel mehr professionelle berichten 54,82 % der Frauen und 52,86 % der Männer. Als hoch be- Coachings in den Einrichtungen benötigt, um eine Gesprächskultur lastend empfinden 35,54 % der Frauen und 21,43 % der Männer im einzuführen und den Boden zu ebnen, dass über Gewaltvorfälle ge- Dienst erlebte Gewalt (➥ Abb. 2). sprochen werden kann. Oft fehlt in den Einrichtungen eine psycho- Bei den negativen Beanspruchungsfolgen wurde bei allen Teilneh- logische Anlaufstelle für die Beschäftigten oder ist nicht ausreichend menden auf einer Skala von 1 bis 9 ein Mittelwert von 2,45 (SD = bekannt. Beschäftigte müssen die Kriterien kennen, wann sie Hilfe 1,64) gemessen. brauchen und offen für psychologische Hilfe sein. Die Inanspruch- Es wurde ein Zusammenhang zwischen erlebter Gewalt und nahme sollte nicht als Schwäche, sondern als Stärke gelten. Um die Stress festgestellt. Dieser ist für verbale und körperliche Gewalt si- Akzeptanz für psychologische Angebote zu fördern, ist es wichtig, gnifikant (b = 0,18, p = 0,002; b = 0,10, p = 0,016) und für sexuali- Anonymität sicherzustellen, indem diese nicht über die Personalab- sierte Gewalt hochsignifikant (b = 0,11, p = 0,001). Es gibt keinen teilung koordiniert werden, sondern über eine externe Anlaufstelle Unterschied zwischen Männern und Frauen. Außerdem gibt es einen und die Telefonnummer Beschäftigten direkt zur Verfügung gestellt hochsignifikanten Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeits- wird (s. Tabelle 1). merkmal Neurotizismus und Stress (b = 0,42, p = 0,001). Aus den Experteninterviews geht ebenfalls hervor, dass erlebte Persönlichkeitsmerkmale Übergriffe viele Pflegekräfte sehr belasten. Hinzu kommt, dass diese Kennzeichnend für die Wesenszüge der Teilnehmenden sind emo- in einem geschützten Bereich geschehen und die Hilfe nicht wert- tionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Auf einer geschätzt, sondern mit Gewalt quittiert wird. Pflegekräfte in Notauf- Skala von jeweils 1 bis 9 beträgt der Mittelwert für Neurotizismus nahmen haben Angst vor Übergriffen, da die Eingangstüren offen 4,21 (SD = 1,79), für Verträglichkeit beträgt der Mittelwert 5,85 (SD sind und jeder jederzeit reinkommen kann. Laut der Experteninter- = 1,72) und für Gewissenhaftigkeit beträgt der Mittelwert 5,70 (SD views werden diese Erlebnisse häufig mit nach Hause genommen, = 1,90). Es wurde kein Zusammenhang zwischen Persönlichkeits- können aber nicht einfach „weggedrückt“ werden. Als mögliche Fol- merkmalen der Pflegenden und der Prävalenz von Gewalt festge- gen von gewalttätigen Übergriffen werden Ängstlichkeit, Schreckhaf- stellt. tigkeit, Aggressionen, Intrusionen, somatische Störungen, Konzent- In den Interviews werden von Gewalt betroffene Pflegekräfte rationsstörungen, sozialer Rückzug sowie Verlust Empathie genannt einerseits als sehr zugewandte, sehr soziale, wenig burschikose und bis hin zu (langer) Arbeitsunfähigkeit, Suchtverhalten und Suizid sehr liebenswerte Personen beschrieben. Andererseits wird aber (s. Tabelle 1). auch Unsicherheit und Opferverhalten festgestellt, was anhand Aus Sachverständigensicht ist eine zeitnahe Durchführung von der Körpersprache in kritischen Situationen wie eingezogenen Nachsorgemaßnahmen nach einem Gewaltvorfall innerhalb von Schultern, Kopf wegdrehen und sofortiges Reagieren beschrieben 5 Tagen sehr wichtig, um Traumafolgen zu vermeiden. In der Praxis wird. Diese Personen sind oft schüchtern und zurückhaltend (s. Ta- wird das jedoch mitunter vergessen oder erfolgt zu spät. Neben einem belle 1). professionell angeleiteten Debriefing ist die kollegiale Unterstützung für die soziale und organisatorische Unterstützung bedeutsam. Dazu Diskussion zählen neben Peer Support eine offene Kommunikation über Gewalt- vorfälle und regelmäßige Teamsupervisionen (s. Tabelle 1). Im Vergleich mit den Studien zu Gewalt gegen Pflegende in Not- aufnahmen von Schuffenhauer u. Güzel-Freudenstein (2019) und Copingstrategien der BGW zu Gewalt in Pflege- und Betreuungsberufen (2017) kann Zentrale problem- und emotionsorientierte Stressbewältigungsstra- auch diese Untersuchung belegen, dass gewalttätige Übergriffe tegien sind bei den Teilnehmenden überdurchschnittlich ausgeprägt. durch Patientinnen und Patienten auf Pflegekräfte in Notaufnah- Auf einer Skala von jeweils 1 bis 9 beträgt der Mittelwert für die men ein virulentes Thema sind. Die Experteninterviews ergeben, Strategie „positives Denken“ 7,06 (SD = 1,69), für „aktive Stressbe- dass jede Pflegekraft bereits Gewalt erlebt hat und verbale Gewalt ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen . WISSENSCHAFT | 1 03 schon gar nicht mehr registriert wird, weil sie so häufig ist und zum jungen Alter der Belegschaft ein möglicher Grund für ein frühes Alltag gehört. Auch die Beschäftigtenbefragung dokumentiert, dass Ausscheiden aus diesem Bereich oder sogar des Berufs sein. Dabei das Pflegepersonal im Setting Notaufnahme am häufigsten mit sind die allgemein hohen Belastungen des Pflegeberufs ebenfalls zu verbaler Gewalt konfrontiert ist. Sowohl bei verbaler, körperlicher berücksichtigen (BAuA 2005). Unabhängig davon werden Übergriffe und sexualisierter Gewalt ist die Prävalenz bei Frauen größer als unterschiedlich empfunden und bewertet. Aus Sicht der Expertin- bei ihren männlichen Kollegen, was auch aus Sachverständigen- nen und Expertenbesteht der Eindruck, dass ganz empathische und sicht so wahrgenommen wird. Besonders gefährdet sind junge sehr zugewandte Beschäftigte solche Erlebnisse schwerer ertragen. Auszubildende und junge Pflegekräfte, die keine Routine haben, Während Männer in der Hinsicht schwierig einzuschätzen sind, weil vor allem bei sexuellen Übergriffen. Aber auch Personen, die Un- sie nicht darüber sprechen, empfinden junge Frauen Übergriffe oft sicherheit ausstrahlen und sich durch ihr Verhalten und ihre Kör- nicht als solche (s. Tabelle 1). In diesem Zusammenhang zeigen die persprache als Opfer präsentieren, haben aus Sicht der Expertinnen Testergebnisse, dass sich das Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus und Experten ein höheres Risiko für gewalttätige Übergriffe. Dies ungünstig auf die Stresssymptomatik auswirkt, da bei einer über- trifft weiterhin auf Personen zu, die manchmal nicht die Distanz durchschnittlichen Ausprägung Situationen stärker als bedrohlich haben und bereit sind, viel zu ertragen. Demnach scheint es einen eingeschätzt werden. Außerdem ist Neurotizismus mit Vermeidungs- Zusammenhang zwischen Neurotizismus und Gewalt zu geben, verhalten verbunden und verstärkt emotionale Stressfolgen (Bam- allerdings konnte dies im statistischen Testverfahren nicht belegt berg et al. 2003). werden. Je nach den individuellen Leistungsvoraussetzungen und Problem- und emotionsorientierte Stressbewältigungsstrategien Ressourcen der Betroffenen können die Belastungen zu negativen sind bedeutsam für den Umgang mit Gewalterfahrungen, da mit Beanspruchungsfolgen führen (Bundesverband der Unfallkassen diesen Ressourcen Belastungen reduziert und mögliche gesund- 2005). Allerdings sind durch die fehlenden Handlungsspielräume heitliche Auswirkungen kompensiert werden können (Bamberg und mangelnde Berufserfahrung Ressourcen als wesentliche Vor- et al. 2003). Dies geschieht beim problemorientierten Coping oft aussetzungen für effektives Coping limitiert, mit denen Belastungen durch handlungsorientierte Tätigkeiten. Durch emotionsorientier- reduziert und deren gesundheitliche Auswirkungen ausgeglichen tes Coping wird durch eine Regulierung der emotionalen Reaktion werden können (Bamberg et al. 2003). Darüber hinaus sind un- eine Anpassung an die Stresssituation bewirkt (Lazarus u. Folkman günstige Verhaltensweisen, resultierend aus fehlender Vorbereitung 1984). Übereinstimmend mit diesen Befunden haben Schuffenhauer im Umgang mit Gewalt und bestimmte Wesenszüge potenzielle u. Güzel-Freudenstein (2019) herausgefunden, dass in der Nachsorge personenbezogene Risikofaktoren (Bamberg et al. 2003), die die von Patientenübergriffen bevorzugt Gespräche im Kollegenkreis und Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs erhöhen können. Ähnlich zu mit Führungskräften stattgefunden haben. Als besonders hilfreich den Ergebnissen zum Belastungsempfinden von erlebter Gewalt werden Gespräche mit Personen empfunden, die nicht am Arbeits- am Arbeitsplatz von Schablon et al. und Schuffenhauer u. Güzel- platz der Betroffenen sind und die Patientinnen und Patienten nicht Freudenstein sind auch die Befunde dieser Untersuchung. Demnach kennen (Schuffenhauer u. Güzel-Freudenstein 2019). Von den Sach- fühlen sich 90,36 % der weiblichen Pflegekräfte und 74,29 % der verständigen wird allerdings geschildert, dass Betroffene aus Scham, männlichen Pflegekräfte mittelstark beziehungsweise stark belastet. Angst vor Konsequenzen und Schuldgefühlen schweigen anstatt sich Eine geringe Belastung geben 9,64 % der betroffenen weiblichen Hilfe zu suchen und über das Erlebte zu sprechen. Besonders die- Pflegekräfte und 25,71 % der männlichen Pflegekräfte an. Auch jenigen, die weniger emotional stabil und zurückhaltend sind, the- aus Sachverständigensicht wird geschildert, dass durch Patientin- matisieren das Erlebte auch zu Hause nicht und ertragen es lange, nen und Patienten verübte Gewalt viele Pflegekräfte sehr belastet. bis es nicht mehr geht. Schwierig sind vor allem sexuelle Übergriffe, Folglich fühlen sich Pflegende am Arbeitsplatz Notaufnahme nicht über die ganz wenig gesprochen wird. Weiterhin wird auch aufgrund sicher und rechnen jederzeit damit, dass ihnen etwas zustoßen kann von Schuldgefühlen nicht über Gewaltvorfälle gesprochen, weil Be- (Kowalenko et al. 2012), da zusätzlich unter anderem Eingangstüren troffene das Gefühl haben, dass sie etwas falsch gemacht haben. Be- offen sind und jeder jederzeit reinkommen kann. troffene bagatellisieren auch zum Eigenschutz, um weiterarbeiten zu Ein weiterer Risikofaktor für das hohe Belastungsempfinden ist können und um nicht als Schwächling dazustehen (s. Tabelle 1). Aus das häufige Erleben verbaler Gewalt, wonach die Stresssymptomatik den Schilderungen der Sachverständigen wird deutlich, dass auch in durch Gewalterfahrung unabhängig vom Geschlecht zunimmt. Dies der Stressbewältigung der Faktor Neurotizismus eine entscheidende ist in besonderem Maße für sexualisierte Gewalt zutreffend. Auch Rolle spielt. Die Gefühle Angst, Schuld und Scham sind bei den Be- andere Studien zeigen, dass sexuelle Gewalt vorkommt und viele troffenen so groß, dass sie den Einsatz effektiver Copingstrategien Pflegende sich nicht den Angeboten ihrer Arbeitgeber bewusst sind nahezu verhindern, obwohl diese vorhanden sind. Da geeignete Co- (Adler et al. 2021).Trotzdem sind negative Beanspruchungsfolgen pingstrategien wesentliche Voraussetzungen sind, um Belastungen zu gering ausgeprägt, was für eine hohe Resilienz spricht, aber auch für reduzieren, können diese in Folge nicht adäquat kompensiert werden die Bereitschaft, viel zu ertragen. Dafür spricht auch, dass zentrale (Bamberg et al. 2003) und erhöhen damit das Risiko für negative und gut ausgeprägte Copingstrategien wie soziale Unterstützung Beanspruchungsfolgen. Das kann beispielsweise Unfälle und Fehler keinen Einfluss auf die Stresssymptomatik haben. Eine andere Er- bei der Arbeitsausführung begünstigen oder zu Depressivität, psy- klärung dafür kann sein, dass die Art, Intensität und/oder die Häu- chosomatische Beschwerden und Nikotin-/Alkoholkonsum führen figkeit von Übergriffen dazu führen, dass sie auch mit guten Bewäl- (Bamberg et al. 2003). tigungsstrategien nicht kompensiert werden können. Der Grad des Da eine traumarelevante Situation grundsätzlich jeden treffen Belastungsempfindens kann auch zusammen mit dem auffallend und eine akute oder posttraumatische Belastungsstörung auslösen ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
1 04 | WISSENSCHAFT . Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen kann, ist eine zeitnahe Durchführung von Nachsorgemaßnahmen 2. Prävention: Deeskalationstraining sollten als Mittel der Wahl zur nach einem Gewaltvorfall wichtig. In der Praxis wird das allerdings Gewaltprävention und Sicherstellen der Handlungsfähigkeit bei auch schon einmal vergessen oder erfolgt zu spät. Neben den Übergriffen fest in die Ausbildung der Pflegekräfte implementiert einrichtungsspezifischen Angeboten bieten auch die zuständigen werden. Ebenso sollten Pflegekräfte regelmäßig und bereits in der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen Unterstützung für ver- Ausbildung in Kommunikation und Resilienz geschult werden. sicherte Arbeitnehmer nach einem traumatisierenden Ereignis an, 3. Melden von Übergriffen: Einrichtungen sollten unbedingt die ge- die unter anderem probatorische Sitzungen bei Psychotherapeuten setzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung inklusive der beinhalten (DGUV 2017). Bedeutend ist hierbei auch die kollegiale psychischen Belastungen erheben und daraus gezielt Maßnah- Unterstützung, um die soziale und organisatorische Zuwendung men zum Beschäftigtenschutz ableiten. Des Weiteren sollte ein zu gewährleisten. Daher ist es entscheidend, zunächst Maßnahmen Notfallplan erstellt werden, um Handlungsfähigkeit in Akutsitua zu treffen, um Angst-, Schuld- und Schamgefühle bei den Betrof- tionen sicherzustellen. Besonders wichtig ist die Meldung von fenen zu reduzieren und Vertrauen zu fördern, um das Schweigen Übergriffen durch Patientinnen und Patienten als Arbeitsunfall zu brechen (s. Tabelle 1). Die Art und Ausprägung von Beanspru- beziehungsweise die vertrauliche betriebsinterne Dokumen- chungsfolgen durch Gewalterfahrung sind unterschiedlich und tation, damit die Betroffenen sich trauen, Gewaltereignisse als abhängig von Vorerfahrung, Geschlecht, Resilienz und Fähigkeiten Arbeitsunfall anzuzeigen und damit der Unfallversicherer infor- im Umgang mit Gewalt. Auch hinsichtlich des ausgeprägten Belas- miert ist. tungsempfindens durch Gewalterfahrung ist ein erhöhtes Risiko für mögliche langfristige negative Beanspruchungsfolgen wie post- Weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich einer Evaluation der traumatische Belastungsstörungen und Burnout gegeben. Andere Wirksamkeit etablierter Präventions- und Nachsorgemaßnahmen, Untersuchungen beschreiben ebenfalls die in den Interviews ge- um diese dem Bedarf weiter anzupassen und auszubauen. Gegen- schilderten Folgen. Diese sind als unmittelbare Reaktionen auf die stand weiterer Forschung kann auch sein, mit welchen konkreten Übergriffe bei den meisten Beschäftigten Angst, Hilflosigkeit, Ent- Arten sexualisierter Gewalt Pflegende konfrontiert sind. Dies gilt ins- täuschung, Ärger und Wut. Als Konsequenz haben die Betroffenen besondere für männliche Pflegekräfte, die ebenfalls von sexualisierter weniger Freude an der Arbeit mit den Patientinnen und Patienten, Gewalt berichten. Außerdem sollte die Rolle der Persönlichkeit im sind vorsichtiger, angespannter und aufmerksamer (Schablon et al. Kontext Gewaltprävention und Einsatz effektiver Copingstrategien 2018). Weiterhin wird ebenfalls über Gereiztheit, Schlafstörungen, untersucht werden, da diese Fragen mit dieser Untersuchung nicht Niedergeschlagenheit und Unruhe berichtet (Schuffenhauer u. beantwortet werden konnten, aber zu einem besseren Verständnis Güzel-Freudenstein 2019). beitragen würden und damit Handlungsempfehlungen für die Praxis Vor diesem Hintergrund gewinnen Aufklärung, Prävention und geschaffen werden könnten. Ebenfalls sollte untersucht werden, was ein professioneller Umgang mit Gewalt zunehmend an Bedeutung Betroffene daran hindert, Übergriffe zu kommunizieren, um Möglich- (Schablon et al. 2018). Es liegen außerdem Erkenntnisse vor, dass ein keiten zu finden, diese hemmenden Faktoren zu reduzieren. In dem positiver Zusammenhang zwischen guter Vorbereitung auf gewalt- Zusammenhang sollten auch Führungs- und Unternehmenskultur tätige Übergriffe der Einrichtung und der Einschätzung der eigenen berücksichtigt werden. Arbeitsfähigkeit und dem Belastungsempfinden bei den Betroffenen besteht (Schablon et al. 2018). Erklärung zum Ethikvotum: Die vorliegende Studie wurde im Rah- Da aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Daten von Ein- men der Masterarbeit der Erstautorin im Studiengang Wirtschafts- richtungen und Teilnehmenden erfasst wurden, kann keine Rück- psychologie durchgeführt. Die gültigen Richtlinien der Hochschule laufquote berechnet werden, so dass die Repräsentativität nicht zu sehen für die Anfertigung von Abschlussarbeiten kein Ethikvotum überprüfen ist. Durch den Methodenmix konnten die Ergebnisse der vor, stimmen aber inhaltlich mit den ethischen Richtlinien überein. Online-Befragung mit den Interviewergebnissen ergänzt werden, die Die Einhaltung dieser Richtlinien wurde sowohl von den Gutachtern darüber hinaus gut zu den quantitativen Ergebnissen passen. überprüft, wovon eine die Koautorin dieses Artikels ist, als auch vom Prüfungsausschuss der Hochschule. Schlussfolgerungen Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gewalt am Arbeits- Interessenkonflikt: Die Autorinnen geben an, dass keine Interessen- platz Notaufnahme weiterhin allgegenwärtig ist: Risikofaktoren für konflikte vorliegen. Gewalterfahrung sind wenig Berufserfahrung, Opferverhalten und weibliches Geschlecht. Folgende Maßnahmen könnten dazu beitragen, der Problematik Literatur von Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen zu begegnen: Adler M, Vincent-Höper S, Vaupel C, Gregersen S, Schablon A, Nienhaus A: Sexual 1. Kommunikation: Einrichtungen und Führungskräfte sollten eine harassment by patients, clients, and residents: investigating its prevalence, frequency and associations with impaired well-being among social and healthcare workers in vertrauensvolle Kommunikationskultur schaffen, damit Betrof- Germany. Int J Environ Res Public Health 2021; 18 (10): o.S. fene ihr Schweigen brechen. Führungskräfte sollten ihre Beschäf- ArbSchG (Arbeitsschutzgesetz): Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen tigten für dieses Thema sensibilisieren und ermutigen, solche Er- des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes eignisse mitzuteilen. der Beschäftigten bei der Arbeit, 1996. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 57 | 02.2022
Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen . WISSENSCHAFT | 1 05 Bakker AB, Van der Zee KI, Lewig KA, Dollard MF: The relationship between the Mayring P: Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick. In: Flick Big Five personality factors and burnout: A study among volunteer counselors. J Soc U, von Kardorff E, Keupp H, von Rosenstiel L, Wolff S (Hrsg.): Handbuch Qualita- Psychol 2006; 146: 31–35. tive Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. 2. Aufl. Weinheim: Beltz, Psychologie-Verlags-Union, 1995. Bamberg E, Busch C, Ducki A: Stress und Ressourcenmanagement. Strategien und Methoden für die neue Arbeitswelt. Bern: Hans Huber, 2003. Mayring P: Qualitative Inhaltsanalysen, Grundlagen und Techniken. Weinheim, Basel: Beltz, 2010. BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) (Hrsg.): Probleme und Lösungen in der Pflege aus Sicht der Arbeits- und Gesundheitswissenschaften. 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