Sucht und Gewalt - Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Freiwillige im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen mit Schwerpunkten auf ...
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Sucht und Gewalt Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Freiwillige im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen mit Schwerpunkten auf Sucht(selbst)hilfe und Gewaltberatung
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Sucht und Gewalt Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Freiwillige im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen mit Schwerpunkten auf Sucht(selbst)hilfe und Gewaltberatung 1
Inhaltsverzeichnis Einführung 3 1 Aufmerksamkeit schärfen 4 Sucht: Ursache oder Folge von Gewalt? 4 Aggressionsfördernde Wirkungen 4 Henne oder Ei? Sucht & Gewalt 4 Täterin bzw. Täter oder Opfer? 5 Bewusstsein schaffen 5 2 Risiken mindern 6 für Fachkräfte und Freiwillige 6 Anspruch auf sicheren Arbeitsplatz 6 Wo liegen Gefahren? 6 Organisatorische Sicherheit 7 Personelle Sicherheit 9 Selbstschutz 10 Notwehr 11 Verhalten im Falle eines Angriffs 12 Übergriffe auf Mitarbeitende 13 Sucht-Selbsthilfegruppen 14 Umgang mit (dem Thema) Gewalt 14 3 Risiken erkennen 16 bei Klientel sowie Patientinnen und Patienten 16 Gewalt zur Sprache bringen 17 Häusliche Gewalt 20 Sexualisierte Gewalt 24 Kindeswohl beachten 25 Sexualisierte Gewalt ansprechen 27 4 Unterstützung leisten 28 für Klientel sowie Patientinnen und Patienten 28 Grundlagen der Zusammenarbeit 28 Unterstützung für Opfer bei strafrechtlicher Verfolgung des Täters bzw. der Täterin 29 Unterstützung für Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt 30 Schutz und Hilfe für minderjährige Opfer häuslicher Gewalt 31 Unterstützung für traumatisierte Abhängige 32 Therapien für traumatisierte Abhängige 34 Die Arbeit mit Täterinnen und Tätern ist Opferschutz 36 5 Unterstützung finden 38 für Klientel, Patientinnen und Patienten, Fachkräfte und Freiwillige 38 Notrufe – 24 Stunden erreichbar, kostenfrei 38 Hilfetelefone mit eingeschränkten Zeiten 38 Kostenpflichtig 38 Unterstützung für Opfer von Gewalt 39 Unterstützung für weibliche Opfer von Gewalt 39 Unterstützung für männliche Opfer von Gewalt 39 Unterstützung für Opfer sexualisierter Gewalt 40 Unterstützung für Kinder suchtkranker Eltern 40 Gewaltfrei werden: Beratung und Kurse 40 Suchtkliniken mit Anti-Gewalt-Training: 40 Unterstützung für Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen 41 Unterstützung nach Bundesländern und weitere Links für Fachkräfte online 41 Quellen 42 Die BZgA 46 Die DHS 47 Impressum 48 2
Einführung Menschen suchen sich in der Regel selbst aus, Angestellte zu tun ist. Eine Doppelseite ist speziell wem sie ein Problem anvertrauen. Das gilt auch der Sucht-Selbsthilfe gewidmet: Wie können oder für Abhängige, die Gewalt erleiden oder ausüben. müssen Selbsthilfegruppen reagieren, wenn Mit- Sie sprechen ihre Gewalterfahrung nicht unbedingt glieder Gewalttaten andeuten oder davon berichten? von sich aus an, etwa in der Suchtberatung, sondern Und welche Unterstützung brauchen traumatisierte vielleicht eher bei Angehörigen, einem Freund bzw. Mitglieder? einer Freundin oder einer Fachkraft aus einem an- deren Bereich. Daher richtet sich diese Arbeitshilfe Gewalt geschieht in der Öffentlichkeit wie zu Hau- grundsätzlich an einen breiteren Kreis von Fach- se, in beiden Fällen meist „im Verborgenen“. Wie kräften und Freiwilligen im Gesundheits-, Bildungs- erfahren Fachkräfte von erlittener oder ausgeübter und Sozialwesen und angrenzenden Feldern, setzt Gewalt? Das Kapitel „Risiken erkennen“ macht Vor- aber Schwerpunkte auf Suchtberatung und Sucht- schläge, wie Gewalterfahrungen angesprochen und Selbsthilfe. erfragt werden können. Jüngste Forschungen haben ergeben: Beratung und Behandlung lassen sich wirk- In Suchtberatung wie Sucht-Selbsthilfe wird das samer gestalten, wenn in der Suchtberatung syste- Thema Gewalt zum Teil aus Unsicherheit vermieden, matisch nach Gewalterlebnissen gefragt wird und in denn: Was dann? Wie lässt sich mit derart „gewal- der Gewaltberatung nach dem Konsum von Alkohol tigen Themen“ umgehen? Diese Unsicherheit teilen und anderen Drogen. wohl die meisten Menschen, die von Gewalttaten er- fahren und für den Umgang damit nicht professionell Gewalt kann für Opfer wie für Gewalttätige viele ausgebildet sind. Was ist zu tun, wenn jemand kör- Folgen haben. Beide Seiten brauchen Hilfe: um erlit- perlich oder seelisch verletzt wurde? Wie reagieren, tene Gewalt zu verkraften beziehungsweise erneute wenn jemand offenkundig eine Straftat begeht oder Taten zu vermeiden. In beiden Fällen braucht es eine verübte gesteht? Wie lässt sich Gewalt vorbeu- dafür meist ein Netz an Helfenden. Das Kapitel „Un- gen? Wie können Gewalttätige lernen, ihr Verhalten terstützung leisten“ klärt Voraussetzungen der Zu- zu ändern? Wie lassen sich Opfer schützen? Und wie sammenarbeit und nennt beispielhaft Möglichkeiten schütze ich mich selbst? und Angebote der Hilfe, weist aber auch auf Lücken im System hin. Das Kapitel „Unterstützung finden“ Diese Arbeitshilfe gibt praxisnahe Antworten – im erleichtert Fachkräften und Freiwilligen ihre Suche Rahmen ihrer Kürze. Das Kapitel „Aufmerksamkeit nach Angeboten und Ansprechpersonen vor Ort: für schärfen“ will zunächst Bewusstsein schaffen, Zu- ihre Klientel sowie Patientinnen und Patienten, aber sammenhänge zwischen Sucht und Gewalt wahrzu- auch für eigene Fortbildungen. nehmen. Auch wenn, dies sei vorausgeschickt, keine zwangsläufige Verbindung besteht. Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen sol- len und wollen ihrer Klientel Sicherheit geben. Das können sie nur, wenn sie sich selbst sicher fühlen. Das Kapitel „Risiken mindern“ zeigt, was Einrich- tungen für den Schutz ihrer Mitarbeitenden tun können – und was im Falle eines Übergriffes auf 3
Aufmerksamkeit schärfen Sucht: Ursache oder Folge von Gewalt? Es wird nicht jede abhängige Person gewalttätig und nicht jede Gewalttat geschieht unter dem Einfluss von Alkohol und/oder Drogen. Im Gegenteil: Die weit- aus meisten polizeilich erfassten Gewalttaten wer- den bei klarem Bewusstsein verübt. Dennoch hängen Substanzmissbrauch, Abhängigkeit und Gewalt eng zusammen. 1 Cannabis, Halluzinogene und Inhalantien fördern nicht direkt Gewaltbereitschaft, sondern machen eher gleichgültig und apathisch. Sie verringern aber die Urteilsfähigkeit und können Angstzustände aus- lösen. In der Folge kann es zu angriffswilligem Ver- halten bis zu Körperverletzungen kommen. Kokain steigert Antrieb und Euphorie, enthemmt Alkohol und Drogen verändern biochemische Pro- und kann unkontrollierte Wut sowie gewaltbereites zesse im Körper und beeinflussen so die Wahrneh- Verhalten auslösen. mung, Stimmung und das Verhalten. Die Wirkung dieser psychotropen Substanzen hängt von vielen Opioide beruhigen, nehmen Ängste und Schmerzen. Faktoren ab, darunter körperliche Konstitution, Morphin, Heroin, Codein, Methadon, Fentanyl und Menge, Situation der Einnahme, Motivation und weitere Opioide machen jedoch schnell abhängig. Stimmung des Konsumenten. Es gibt keine gerad- Im Zuge der Beschaffung und Finanzierung illegaler linige oder allgemeingültige Beziehung zwischen Drogen werden Abhängige häufig zu Tatbegehenden, konsumierter Dosis und deren Wirkung. Bei keiner aber auch zu Opfern von Gewalt. psychoaktiven Substanz führen Konsum bezie- Phencylidine machen einerseits schläfrig, hungsweise Missbrauch zwangsläufig zu Gewalt benommen und schmerzunempfindlich, anderer- (Kreuzner, 2001). seits steigern sie Streitlust bis zu Tobsuchtsanfäl- len. In der Folge führt ihr Konsum häufig zu Körperverletzungen. Aggressionsfördernde Wirkungen Sedativa wie Benzodiazepine und Hypnotika können Psychoaktive Substanzen können jedoch Übergriffe paradoxe Wirkung auslösen: Dann dämpfen sie das fördern. Ein Rausch verändert Wahrnehmung und Bewusstsein nicht, sondern putschen auf, euphori- Verhalten. Kommt es zum Beispiel zu Sinnestäu- sieren und machen eventuell auch gewaltbereit. schungen, Erregung, Angstzuständen und einer allgemeinen Enthemmung, kann dies gewalttätiges (Friedemann, Rettenberg, 2019; Fais, 2012; Kreuzner, 2001; Verhalten fördern (Fais, 2012). Die meisten Drogen Foerster, 2001) können eine grundsätzlich vorhandene Gewaltbereit- schaft aktivieren. Dieses Aktivierungspotenzial ist bei verschiedenen Drogen unterschiedlich hoch Henne oder Ei? Sucht & Gewalt (Foerster, 2001). Suchterkrankungen können Ursache und Folge Alkohol nimmt Ängste, enthemmt, euphorisiert, von Gewalt sein. Psychoaktive Substanzen können schränkt aber auch das Urteilsvermögen ein und Aggressivität und Gewalt auslösen, eine Abhängig- lässt Eindrücke rascher bedrohlich erleben. Unterm keit kann aber auch die Folge erlittener Gewalt sein. Strich fördert das die Gewaltbereitschaft. Die Gewalt Schwere emotionale, körperliche oder sexualisierte kann sich gegen andere wie gegen sich selbst (bis Gewalt kann zu einem Trauma und in der Folge zu zum Suizid) richten. einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen (s. auch S. 32). Alkohol und Drogen werden Amphetamine und amphetaminähnliche Substanzen eventuell benutzt, um eine PTBS zu ertragen (s. auch können zu Selbstüberschätzung, Größenwahn und S. 16f.). Zahlreiche Studien belegen Zusammenhänge angriffswilligem Verhalten bis hin zu Körperverlet- zwischen Sucht, Gewalt und PTBS. Danach erga- zungen führen. ben Stichproben bei Patientinnen und Patienten in 4 1 Aufmerksamkeit schärfen
Suchtbehandlung Prävalenzen zwischen 15 und 51 % Bewusstsein schaffen mit PTBS (Schäfer, Lotzin, 2018). Eine Studie in am- bulanten und stationären Suchteinrichtungen Nord- Trotz dieser zahlreichen Zusammenhänge sprechen deutschlands ergab die Diagnose PTBS für 15 % der Suchtberatende das Thema Gewalt und Gewaltbera- alkoholabhängigen Patientinnen und Patienten, für tende das Thema Sucht noch selten von sich aus an. 30 % der Drogenabhängigen und 30 % der von Alko- Dies geht vermehrt aus Studien hervor, darunter z. B. hol und Drogen abhängigen Menschen (Fais, 2012). CANSAS (siehe QR-Code S. 41) und das Modellprojekt Die Traumatisierung geschah häufig bereits in ihrer „Gewalt Sucht Ausweg“ (GeSA) in Mecklenburg-Vor- Kindheit. Für körperliche und sexuelle Gewalt liegen pommern. Diese Arbeitshilfe will dazu beitragen, den Metastudien vor. Danach widerfuhr 39 % der weib- Blick für das jeweils andere Thema zu schärfen. lichen und 31 % der männlichen Abhängigen körper- liche Gewalt in ihrer Kindheit; sexuelle Gewalt erlit- ten 45 % der weiblichen und 16 % der männlichen Abhängigen als Kind. Zwei Drittel der traumatisierten 5,5 Millionen Straftaten erfasste die Polizei 2018 Abhängigen erlebten nicht nur eine, sondern gleich insgesamt. Dabei standen insgesamt rund 10 % der mehrere Formen früher traumatischer Erfahrungen Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss und rund (Schäfer, Lotzin, 2018). Nach Beobachtung von Prak- 8,5 % unter Einfluss harter Drogen. Deren Konsu- tizierenden der Suchthilfe wurden Drogenabhängige menten begehen besonders häufig Raub, Diebstahl in Kindheit und Jugend überwiegend Opfer von Ge- und weitere Beschaffungskriminalität. Mehr als walt in vielfältigster Ausprägung – mit entsprechen- jedes vierte aufgeklärte Gewaltdelikt wurde unter den Traumata (Fais, 2012). Kinder abhängiger Eltern Alkoholeinfluss begangen. Unter Einfluss von Alkohol haben ein besonders hohes Risiko in ihrer Kindheit standen Täterinnen und Täter folgender Straftaten- traumatisiert zu werden. In rund jeder dritten sucht- gruppen: belasteten Familie wird Gewalt gegen Kinder verübt. Dies ist im Schnitt doppelt bis dreimal so häufig wie in Familien ohne Suchtbelastung (Schäfer et al., Totschlag und Tötung auf Verlangen: 35,4 % 2016). Traumatherapeutinnen und -therapeuten berichten: Sucht ohne Trauma ist selten. Gleichzei- Körperverletzung mit Todesfolge: 29,3 % tig traumatisieren sich Abhängige häufig selbst mit dem, was sie wegen ihrer Sucht beziehungsweise während Rauschzuständen tun (Gahleitner, Gunder- Körperverletzung, einschließlich son, 2008). Verstümmelung weiblicher Genitalien: 28,3 % Gewaltkriminalität: 26,2 % Täterin bzw. Täter oder Opfer? Fachleute weisen grundsätzlich darauf hin, dass Vergewaltigung, sexuelle Nötigung sich Abhängige kaum eindeutig in „Opfer“ oder und sexueller Übergriff im besonders „Täterin bzw. Täter“ kategorisieren lassen, wenn schweren Fall, einschließlich mit sie Gewalt erfahren. Eine hessische Studie zu häusli- Todesfolge: 24,5 % cher Gewalt ergab: Süchtige Frauen in gewalttätigen Partnerschaften waren zumeist Opfer und Täterin zugleich. Den ständigen Wechsel der Rollen zwischen Mord im Zuge von Raubdelikten: 17,5 % Opfer und Täterin bzw. Täter erleben Mitarbeitende der Drogenhilfe in ihrem Alltag in Kontakt- und An- laufstellen, Notschlafstellen sowie Drogenkonsumräumen unmittelbar. Drogenabhän- (Bundeskriminalamt (BKA), 2019) gige begehen überdurchschnittlich häufig Diebstähle, Überfälle, Körperverletzungen und (sexuelle) Gewalttaten. Zugleich werden sie aber auch über- durchschnittlich oft Opfer solcher Straftaten: „Opio- idabhängige sterben auch häufig an einer Gewalttat“ (Foerster, 2001, S. 38) (Fais, 2012; Vogt, 2015). 1 Aufmerksamkeit schärfen 5
Risiken mindern für Fachkräfte und Freiwillige Jede Person, die sich im Gesundheits- und Sozial- wesen beruflich oder ehrenamtlich engagiert, kann einen Übergriff erleben. Denn er oder sie berät, betreut, pflegt oder behandelt Menschen, die häu- fig am Rande ihrer Belastbarkeit stehen und daher eventuell unangemessen (re-)agieren. Teils können 2 Wo liegen Gefahren? Die gesetzlichen Pflichten zu Arbeitsschutz und -sicherheit lassen sich nur erfüllen, wenn bekannt ist, wo die Risiken liegen. Gesetzliche Unfallkassen entwickelten daher Vorgaben für eine systematische „Gefährdungsbeurteilung“. Vorteil für Arbeitgebende: Mit der Erstellung und Pflege einer hauseigenen Betreute ihr Verhalten infolge verstandesmäßiger Gefährdungsbeurteilung dokumentieren sie, dass sie oder emotionaler Einschränkungen nicht ausrei- ihrer Fürsorgepflicht nachkommen. Vorteil für Ar- chend steuern. Die Impulskontrolle von Abhängigen beitnehmende: Sie werden vor Gefahren bestmöglich richtet sich dabei auch nach der Verfügbarkeit ihres geschützt (BGW, 2014). Suchtmittels beziehungsweise nach dem Fortschritt ihres Entzugs. All dies kann dazu führen, dass Be- Praxistipp schäftigte eine Bandbreite an Übergriffen erleben: Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und von persönlichen Beleidigungen bis zu körperlichen Wohlfahrtspflege (BGW) bietet eine Schritt-für-Schritt- Angriffen, von anzüglichen Bemerkungen bis zu se- Anleitung zur „Gefährdungsbeurteilung in Beratungs- xuellen Belästigungen. und Betreuungsstellen“: www.bgw-online.de Für die Gefährdungsbeurteilung ist immer wieder Anspruch auf sicheren Arbeitsplatz neu zu prüfen: Doch auch für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen gilt: Sie haben grundsätzlich Anspruch X Was vermittelt Fachkräften und auf einen sicheren Arbeitsplatz. Ihr Arbeitgeber ist Freiwilligen ein unsicheres Gefühl? verpflichtet, ihre Gesundheit zu schützen und Ge- X Was kann bei der Klientel Aggressivität fahren vorzubeugen. Sicherheit zu schaffen ist eine auslösen? Führungsaufgabe: Sicherheitsmaßnahmen sind strukturell zu verankern, regelmäßig zu überprüfen X Was lässt sich für alle sicherer gestalten? und anzupassen sowie mit den notwendigen Mitteln auszustatten. Mitarbeitende sind verpflichtet, sich Unfallkassen und Berufsgenossenschaften haben am Arbeitsschutz zu beteiligen. Die Führung muss -Risikofaktoren auf den Ebenen Technik – ermöglichen, dass sie ihren Mitwirkungspflichten Organisation – Person ermittelt, an denen sich Ein- nachkommen können (Arbeitsschutzgesetz § 3). richtungen bei Erstellung ihrer Gefährdungsbeurtei- Dass Arbeitsschutz gesetzlich zur Führungsaufgabe lung orientieren können: www.risikocheck.me. erklärt wird, gibt auch eine Freiheit: Jeder Betrieb Diese Arbeitshilfe erläutert diese TOPs und erwei- und jede Einrichtung ist befugt, eigene Lösungen tert sie um Tipps aus der Praxis. zu entwickeln und umzusetzen, die dem eigenen Arbeitsalltag gerecht werden (BGW, 2014). Technische Sicherheit Unter Technik fällt sozusagen die „Hardware“ einer Einrichtung: räumliche Gegebenheiten und (techni- sche) Ausstattung. In der Praxis hat sich ein gemein- samer „Einrichtungscheck“ bewährt. In Form eines realen oder gedanklichen Rundgangs werden Orte 6 2 Risiken mindern
identifiziert, an denen sich Mitarbeitende unsicher Klientel und Patientinnen bzw. Patienten Übergänge fühlen, etwa unübersichtliche Gänge, nicht einseh- meistern müssen, etwa die Rückkehr in die (Sucht-) bare Nischen, schlecht beleuchtete Ecken, „Sack- Klinik nach einem Wochenendausgang oder die gassen“. An diesen Orten können unangenehme Wartezeit vor der Methadon-Ausgabe. Dann ist zu Situationen und deren Entschärfung in Rollenspielen klären: Ließe sich dies vorbeugen, indem bestimmte erprobt werden. Die Lösung kann in deeskalieren- Schichten personell stärker besetzt werden, etwa dem Verhalten liegen, aber auch in „technischen“ am Sonntagabend in der Klinik? Brauchen Mitar- Änderungen wie besserer Beleuchtung, Anlage von beitende besonders risikoreicher Schichten (mehr) Fluchtmöglichkeiten, Installation von Sicherheits- Schulung in Deeskalationstechniken? Zu organisato- glas, Nutzung von Personen-Notsignal-Geräten oder rischen Aspekten der Sicherheit gehören auch klare Anpassung von Möblierung und Ausstattung. Räume, Regelungen, was bei Übergriffen zu tun ist. Dafür die Menschen, Medikamente, (Hilfs-)Mittel oder Da- sind Alarmierungssystem, Notfallplan, Rettungsket- ten schützen sollen, sind am besten nur von innen te, Erstbetreuung nach Vorfällen bis zu einer syste- zu öffnen: Die Außenseite der Tür hat dann einen matischen Auswertung von Vorfällen zu installieren Knauf statt einer Klinke. Schreibtische stehen am (siehe S. 12f.). besten so, dass keiner mit dem Rücken zur Tür sitzt. Alles, was zur Tatwaffe werden kann, wie Brieföffner Praxistipp und Scheren, wandert in Schubladen. Auf Dekora- In Rollenspielen erproben Beschäftigte, Druck aus tion wie Glaskugeln oder hartkantige schwere Ge- heiklen Situationen zu nehmen. Die Übung wird auf genstände wird besser verzichtet. Wegsperren und wenige Minuten begrenzt. Anschließend schildern verschließen ist aber nicht der einzige Weg, die Si- „Spielende“ und Zuschauende, was sie erlebt und cherheit zu erhöhen. Es kann deeskalierend wirken, wahrgenommen haben. Kritik ist verboten! Dies er- zum Beispiel Gemeinschaftsräume wie Küchen oder möglicht, „hemmungslos Fehler zu machen“ – aus Fernsehzimmer nicht nur für festgelegte Zeiten denen alle lernen (Fais, 2012). ihrer Nutzung aufzusperren, sondern rund um die Uhr offenzuhalten. Je freundlicher, offener und wohnlicher die Atmosphäre in einer Einrichtung, Umgang mit struktureller Gewalt desto weniger Spannungen kommen auf (Fais, Einrichtungen üben grundsätzlich strukturelle Ge- 2012; www.risikocheck.me). walt aus, etwa durch Öffnungszeiten und Hausord- nungen (siehe S. 8). Klare Regelungen sind notwen- dig, auch zum Schutz der Beschäftigten. Doch kann Organisatorische Sicherheit es sinnvoll sein, situationsbedingt begründete Aus- nahmen zuzulassen oder sogar zu ermöglichen. Im Die Organisation ist sozusagen die „Software“: Team kann geklärt werden: Wo lassen sich Vorschrif- Jede Einrichtung schreibt ihr eigenes Programm ten flexibel und individuell umsetzen und dadurch für Arbeitsabläufe und Dienstpläne. Optimaler Spannungen abbauen? Wie lassen sich Ansprüche Weise wird dadurch von vorneherein alles vermie- und Bedürfnisse der Klientel und der Mitarbeitenden den, was Spannungen, wie Hektik, Überbelegung austarieren – mit einem Ohr an der Klientel? Wo beziehungsweise personelle Unterbesetzung aus- können wir Service bieten? löst. Um organisatorische Risiken zu identifizieren, braucht es Gelegenheit, im normalen Tages- und Fallbeispiel Wochenablauf regelmäßig gemeinsam zu klären: Wann kommen Spannungen im Team, mit, unter Ein Patient in einer stationären Suchteinrichtung oder bei der Klientel auf? Lässt sich das organisato- erscheint nicht zur regulären Mahlzeit, verlangt aber risch vermeiden? Wo üben wir „strukturelle Gewalt“ später nach Essen. Aus erzieherischen Gründen liegt (vgl. S. 8) aus, etwa durch hauseigene Vorschriften? die Ablehnung nahe. Allerdings kann ihn die Verwei- Würde weniger strukturelle Gewalt Übergriffen vor- gerung überfordern und gewaltsame Reaktionen beugen? (Fais, 2012). auslösen. Die Situation ließe sich eventuell mit einem versöhnlichen Angebot deeskalieren: „Ich kann nichts Ist zum Beispiel geplant, potenziell Gewalttätige Warmes anbieten, dafür ein Käsebrot.“ auf ihre Taten anzusprechen, sind organisatorische wie personelle Vorkehrungen zu treffen, etwa ei- nen Beratungstermin zu dritt oder bei offener Tür durchzuführen (siehe auch S. 10). In der Suchthilfe ergeben sich heikle Situationen häufig dann, wenn 2 Risiken mindern 7
Hausordnung Praxistipp Regeln der Einrichtung werden in Hausordnungen oder in Verträgen mit der Klientel festgeschrieben. Die Reaktion auf Regelverletzungen lässt sich im Sie signalisieren, „dass dem Unternehmen Würde Rollenspiel trainieren: Eine Mitarbeiterin ist Spiellei- und Unversehrtheit seiner Beschäftigten wichtig terin, eine die Regelbrecherin, die anderen sind die sind“ (DGUV, 2018, S. 16). Menschen und ihr Wohl „Durchsetzer“. Die Regelbrecherin spielt einen Ver- werden grundsätzlich ernst genommen – auch das stoß, indem sie etwa scheinbar Cannabis raucht. Die der Klientel. Um einzelne Regelungen können zwar Spielleiterin gibt jedem 60 Sekunden Zeit, um das Konflikte entstehen. Doch die Praxis zeigt: Je attrak- Verbot auf ihre Weise durchzusetzen. Im Anschluss tiver ein Behandlungs-, Beratungs- oder Betreuungs- sagt die Regelbrecherin, welche Empfindungen die angebot für die Klientel ist, desto einfacher lassen jeweiligen Reaktionen bei ihr auslösten und wie die sich sogar Verhaltensregeln durchsetzen. Selbst Szenen ihrer Einschätzung nach weitergegangen Abhängige, die akut oder anhaltend eingeschränkt wären. Auch die Durchsetzer schildern ihr Erleben schuldunfähig sind, sind häufig noch in der Lage Re- und sagen, was ihnen am Vorgehen der anderen be- gelverletzungen oder nachdrückliche Hinweise dar- sonders gefallen hat. Kritik ist verboten. In der Praxis auf als solche wahrzunehmen. „Sie dann in die Ver- können sich eine Fehlerdiskussion und ein zweiter antwortung für die Konsequenzen ihres Verhaltens „optimierter“ Durchlauf als überflüssig erweisen zu nehmen, ist Ausdruck von Respekt gegenüber (Fais, 2012). erwachsenen Vertragspartnern“ (Fais, 2012, S. 65). Eine Hausordnung lässt sich nur dann erfolgreich Übliche Verbote durchsetzen, wenn alle im Team dies als Dauer- In der Regel schließen Hausordnungen Gewalt inklu- aufgabe begreifen und dabei mit einer Stimme sive des Mitführens von Waffen aus. So heißt es zum sprechen. Dafür kann intern ein abgestufter Sank- Beispiel in einer Hausordnung für betreutes Wohnen: tionsplan verabschiedet werden, etwa mit gelber „Gewaltandrohung und Gewaltausübung gegenüber und roter Karte, Verwarnungen, Abmahnungen, be- anderen Personen und sich selbst sind nicht erlaubt. fristeten oder unbefristeten Hausverboten. Empfoh- Der Umgang miteinander muss von gegenseitiger len wird, das jeweilige Strafmaß bestmöglich auf Achtung und Respekt füreinander getragen bleiben“ den Einzelfall abzustimmen, statt blind „Gerechtig- (Vogt, 2015, S. 88). Auch Besitz sowie Konsum von keit gemäß Punktezählung“ zu üben (Fais, 2012). und Handel mit Suchtmitteln und Medikamenten werden meist ausdrücklich untersagt. Ist die Haus- Um eine einheitliche und dennoch individuell ange- ordnung buchstäblich auf das Haus begrenzt, kann passte Durchsetzung der Hausordnung zu erreichen, dies Probleme vor die Tür verlagern – und zu Kon- sind die Regelungen immer wieder im Team zu be- flikten mit Anwohnenden führen. Eine Lösung ist, sprechen und zu überprüfen: Was hat sich bewährt? den Geltungsbereich der Hausordnung auf einen Was ist anzupassen? Welche Paragraphen sind ver- bestimmten Radius auszudehnen. In Hochrisikobe- zichtbar? Welche sind zu erneuern? Welche Regeln reichen der Suchthilfe wie der Methadon-Ausgabe in werden aktuell am häufigsten verletzt? Wie lässt Drogenambulanzen kann eventuell Sicherheitsper- sich auf Regelverletzungen angemessen reagieren? sonal die Durchsetzung der Hausordnung überneh- men. Das erspart Sozialarbeitenden die Doppelrolle als helfende und kontrollierende Person (Fais, 2012). 8 2 Risiken mindern
Praxistipp Sicherheit ist keine objektiv messbare Größe. Was der eine als Bedrohung erlebt, sieht der andere ge- lassen. Praktizierende in der Suchthilfe empfehlen, gemeinsam einen „Sicherheitskonsens“ zu entwi- ckeln. Darin wird alles festgehalten, was Mitarbeiten- den das subjektive Gefühl gibt, zuverlässig geschützt zu sein. Denn nur Beschäftigte, die sich sicher fühlen, können für die Sicherheit ihrer Klientel sorgen. Sich unsicher fühlende Mitarbeitende könnten selbst ein Sicherheitsrisiko werden. Ihnen fällt es unter Umständen schwerer Gefahrenlagen richtig einzu- Personelle Sicherheit schätzen und angemessen zu reagieren. Leitung und Mitarbeitende müssen immer wieder neu Antworten Die Leitung einer Einrichtung legt die Grundlagen auf grundlegende Fragen finden: für personelle Sicherheiten, etwa durch die Installa- tion entsprechender Notfallausrüstung, durch „Auf welche konkrete Weise gehen die Sorgfalts- regelmäßige Schulungen und Fortbildungen, durch pflicht gegenüber Mitarbeitenden und der die Auswahl qualifizierter Mitarbeitender sowie Versorgungsauftrag der Einrichtung zusammen, durch ihre Vorgaben für die Unternehmenskultur. wenn es um die Behandlung und Betreuung extrem schwieriger, auf unterschiedlichste Weise übergriffiger Klientelen geht? Gewaltfreie Unternehmenskultur X Was ist gerade noch hinzunehmen (durch Für eine gewaltfreie Atmosphäre sorgt zum Bei- Supervision oder andere Formen der Psycho- spiel, Beschäftigte in Entscheidungen über ihren hygiene kompensierbar)? Arbeitsalltag einzubeziehen, Fehler als Chance zu begreifen und ein wertschätzendes und offenes X Wo liegen absolute Grenzen?“ (Fais, 2012, S. 69) Miteinander zu fördern. Eine angenehme Stimmung im Team überträgt sich auf die Klientel. Entlastend wirkt auch ein offener Umgang mit „Tabuthemen“ Fortbildung zur Sicherheit wie Gewalt und sexuelle Belästigung (DGUV, 2018). Berufsgenossenschaften empfehlen regelmäßige In internen Teambesprechungen sind dafür eventuell Schulungen, etwa in Erste Hilfe, zum Umgang mit Machtspiele, Rivalitäten und abwertende Aussagen Notfallausrüstung sowie zum Verhalten bei Übergrif- zu unterbinden wie „Bei mir macht er so was nie …“ fen (vgl. S. 10). Sachverständige erleben eine rege (Fais, 2012). Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen, wie sie aus Kampfsportschulen bekannt sind. Diese sport- lichen Techniken berücksichtigen aber natürlich in Qualifizierte Mitarbeitende keiner Weise das therapeutische Verhältnis zwischen Fachliche Qualifikation ist die Grundlage, um sich in Beschäftigten und Betreuten. Sie vermittelten zudem seinem Job sicher zu fühlen. Neben den jeweiligen nur eine „Sicherheits-Illusion“ (Fais, 2012; prodema- fachlichen Kenntnissen in Medizin, Pflege, Betreuung online.de). Es braucht sehr viel körperliche und men- und Beratung zählen dazu auch Qualifikationen im tale Übung, um sie wirklich zu beherrschen. Ungeüb- Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, darunter te lösen damit eher eine Spirale der Gewalt aus und Methoden zu klientenzentrierter beziehungsweise steigern so das Verletzungsrisiko. Hilfreicher seien motivierender Gesprächsführung, Biographiearbeit Schutz-, Befreiungs-, Halte- und Fluchttechniken. und Deeskalation. In der Arbeit mit relativ gewalt- Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst bereiten Menschen spielt zusätzlich der persönliche und Wohlfahrtspflege (BGW) empfiehlt, solche defen- Gradmesser Angst eine Rolle. Beschäftigte im Ge- siven Techniken regelmäßig zu üben (BGW, 2007). sundheits- und Sozialwesen brauchen ein sicheres Gefühl, bis zu welchem Zeitpunkt sich eine Situati- Praxistipp on realistisch kontrollieren und handhaben lässt (Fais, 2012). Die BGW bietet und bezuschusst Schulungen zur Deeskalation, die auch Schutz- und Halte- techniken vermitteln. BGW-Seminare und Links zu Anbietern: S. 41. 2 Risiken mindern 9
Selbstschutz Über die Teilnahme an Schulungen zum Verhalten gen Menschen Gelassenheit, gleichmäßige Atmung, im Notfall und Deeskalationstrainings hinaus können entspannten Gesichtsausdruck, ruhige koordinierte Fachkräfte und Freiwillige auch selbst einiges für ih- Bewegungen, feste Stimme, direkte Ansprache mit ren Schutz tun, zum Beispiel: passende Arbeitsklei- Namen, Verzicht auf Drohgebärden und Diskussio- dung wählen und Sicherheitsausrüstung nutzen, ihr nen, dafür kurze, verständliche und prägnante An- Verhalten in Absprache mit Leitung und Kollegium weisungen (BGW, 2007). ans Risiko anpassen und auf ihre eigene Psychohy- giene achten. Fallbeispiel Eine Beratungssituation droht sich zuzuspitzen. Kolleginnen und Kollegen werden über einen ver- Sicherheitsbewusste Ausstattung einbarten Kurzwahl-Code des Telefons gebeten zu Selbstschutz fängt bei der Wahl der Kleidung an. kommen. Sie füllen nacheinander still den Raum. Unfallkassen raten zu geschlossenen Schuhen mit Sind alle versammelt, sagt ein Kollege höflich, aber rutschfesten Sohlen für gute Standfestigkeit. Außer- bestimmt: Die Beratung ist zu Ende. Das Verhalten dem empfehlen sie, im Dienst auf alles zu verzichten, signalisiert „Wir sind friedfertig, stehen aber für- was zur Gefahr werden kann: Schmuck wie Halsket- einander ein“. ten, Ohrringe, Piercings, Ringe und Armbanduhren bergen ebenso wie lange Fingernägel Verletzungs- gefahren. Schals oder Halstücher können miss- Für Psychohygiene sorgen braucht werden, um jemand festzuhalten und zu Im Alltag ist sprachliche Gewalt am häufigsten. Be- würgen. Für Brillentragende empfehlen sich bruch- schäftigte können nutzlose Rededuelle durch gute sichere Kunststoffgläser sowie Sportbügel, die weit Psychohygiene vermeiden. Dafür prüfen sie sich: hinters Ohr gehen und so ein Herunterschlagen der Warum springe ich auf einen Vorwurf an? Was löst Brille erschweren (DGUV, 2018). Bei Angriffen fehlt in mir Aggressivität aus? Ein Grund liegt häufig in meist die Zeit, zum Telefon zu greifen. Eine Alterna- der Übertragung eigener Gefühle: Die Klientel wird tive sind Notsignal-Anlagen, die am Körper getragen idealisiert („Super, wie er bzw. sie das packt“) oder werden. Diese lösen stille Notrufe aus: auf Druck, abgelehnt („zu schwierig“). Professionell dagegen aber auch auf bestimmte Signale wie Lage des Trä- ist es, Distanz zu wahren. Das hilft auch, sich auf gers bzw. der Trägerin oder Fluchtbewegungen eines Provokationen nicht einzulassen. Locker zu bleiben, Täters bzw. einer Täterin. Einzelarbeitsplätze, etwa ist eine Sache der Einstellung und der Übung. im Falle von Hausbesuchen, sind unter Umständen verpflichtend damit auszurüsten (Berufsgenossen- Kommt es zu körperlicher oder seelischer Gewalt, schaftliche Regel für Sicherheit und Gesundheit bei kann dies traumatisieren (siehe S. 13 und 32). Von der Arbeit (BGR) 139) Gewalttaten zu hören, kann sekundär traumatisieren sowie psychisch auch längerfristig sehr belastend sein. Zur Vorbeugung reflektieren Beschäftigte, die Risikogerechtes Verhalten mit Gewaltopfern beziehungsweise Gewalttätigen Deeskalationstrainer und -trainerinnen warnen arbeiten, immer wieder ihre Grenzen. Dabei helfen davor, streitlustige und möglicherweise gewaltbe- Schlüsselfragen reite Klientel sowie Patientinnen und Patienten nur X zur Motivation: Was treibt mich an? als „hilfsbedürftige Menschen“ zu sehen. Das eigene Verhalten sollte vielmehr mögliche Ausraster, auch X zur Qualifizierung: Was kann ich leisten? von Angehörigen, einbeziehen. Ratsam ist, zu zweit oder in Sicht- und Hörweite von Mitgliedern des Kol- X zur Autorisierung: Was darf ich leisten? legiums zu arbeiten. Andernfalls sind Vorkehrungen X zu Resultaten: Was lässt sich überhaupt mit Leitung und Team zu treffen. Sind zum Beispiel erreichen? Beratungen unbedingt bei geschlossener Tür zu führen, können Mitgliedern des Kollegiums ab und Die Antworten beugen vor, die eigenen Möglichkeiten an „kurz mal reinschauen“. Für Hausbesuche kön- zu überschätzen und sich – und wahrscheinlich auch nen Kontrollanrufe beziehungsweise regelmäßige die Klientel – unterm Strich zu frustrieren. Sie beu- Rückmeldungen vereinbart werden. Die Berufsge- gen aber auch Selbstausbeutung und therapeutisch nossenschaft empfiehlt im Umgang mit streitlusti- übergriffigem Verhalten vor (Thünemann, 2015). 10 2 Risiken mindern
Notwehr Für Krisensituationen braucht es innerbetriebliche Angriffe unter Klientinnen und Klienten Standards. Fehlen sie, fragen sich Mitarbeitende: Fachkräfte, aber auch Freiwillige in verantwortli- Was muss ich tun? Was kann ich tun? Was darf ich cher Stellung, müssen handeln, sobald Menschen tun? Mache ich mich zum Beispiel strafbar, wenn in Gefahr sind, die ihnen anvertraut sind. Ansonsten ich mich wehre? (BGW, 2007) machen sie sich des „Begehens durch Unterlassen“ strafbar (§ 13 StGB). Diese Garantenstellung haben Für Situationen, in denen Leib und Leben bedroht alle Beschäftigten im Sozial-, Bildungs- und Gesund- sind, macht das Gesetz Vorgaben: heitswesen inne, aber auch Freiwillige, die Verant- X Wer in Notwehr handelt, macht sich nicht wortung für andere übernehmen, etwa als Leitung strafbar. von Jugendgruppen oder Übungsleitende in Sport- vereinen (LWL, 2011). X Notwehr ist jede Verteidigung, die einen „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff Bei Handgreiflichkeiten unter Klientinnen und Klien- von sich oder einem anderen“ abwendet ten oder Patientinnen und Patienten müssen Betreu- (StGB § 32). ende daher aktiv werden. Betreute sind vor anderen wie vor sich selbst zu schützen (BGW, 2007). Nach Der Begriff „gegenwärtig“ markiert die Grenze: Es den Regeln der Ersten Hilfe geht auch dabei Selbst- handelt sich um keine Androhung, sondern tatsäch- schutz vor Fremdschutz. Denn verletzte Helfende lich um eine aktuelle Bedrohung von Leib und Leben. sind nur weitere hilfsbedürftige Personen. Fachkräfte und Freiwillige in verantwortlicher Stellung müssen „Rechtswidrig“ ist alles, was das Gesetz verbietet, nur dann körperlich einschreiten, wenn dies Aussicht wie Raub, (versuchte) Körperverletzung oder (ver- auf Erfolg hat, ihnen zumutbar ist und sie keiner suchter) Mord. Verletzungsgefahr aussetzt (§ 323c StGB). Brächten sie sich durch ihr Eingreifen selbst in Gefahr, sind sie verpflichtet sich selbst zu schützen und Hilfe zu Angriffe vom Klientel auf Mitarbeitende holen: Mitglieder des Kollegiums, Polizei oder ander- Richtet sich die Bedrohung gegen die eigene Per- weitige Unterstützung. son, handeln Beschäftigte nach ihrem eigenen Er- messen. Schätzen sie Verhalten wie Gepöbel oder Randalieren als Androhung ein, das eher dazu dient, Luft abzulassen? Dann müssen sie nicht zwingend reagieren, sondern können alles tun, was Druck aus der Situation nimmt – eventuell einfach auf Distanz gehen. Werden sie handgreiflich bedroht, rangiert ihr Selbstschutz vor Fremdschutz. Dann sind sie berechtigt, in Notwehr alles zu tun, was ihr Leben schützt. Deeskalationstrainings, die speziell für das Gesundheits- und Sozialwesen konzipiert sind, ver- mitteln auch Befreiungs- und Haltetechniken zum Selbstschutz (QR-Code S. 41) (BGW, 2007). 2 Risiken mindern 11
Verhalten im Falle eines Angriffs Ruft jemand um Hilfe oder wird ein Angriff Betriebliche Vorsorge für den Notfall beobachtet, ist darauf sofort zu reagieren: Für den Notfall sind hauseigene Ablaufpläne mit dem Betriebsarzt zu erstellen, immer wieder im Team X Weitere Angriffe verhindern: Angreifende durchzusprechen und zu aktualisieren. Coaches stoppen, Tatwaffen sichern, Unbeteiligte raten, dabei auch das Undenkbare zu denken und schützen und zum Beispiel aus dem Raum unwahrscheinlich erscheinende Szenarien durchzu- schicken. spielen. So werden praxisnah klare Verhaltensregeln X Notrufe je nach Gefahrenlage an Polizei, für den Notfall entwickelt und im Ablaufplan festge- Rettungsdienste und/oder Feuerwehr schrieben. Dazu werden wichtigste Rufnummern für absetzen. Notfälle notiert, etwa auch von örtlichen Arztpraxen, Notdiensten und Kliniken. Diese Notfallnummern X Verletzten Erste Hilfe leisten und beistehen, können Beschäftigte zusätzlich auf Notfallkarten im bis weitere Hilfe eintrifft. Scheckkartenformat erhalten. Ablaufplan und Not- fallkarte helfen, im Ernstfall möglichst sicher und X Eigenschutz geht immer vor! Nicht die Heldin vor allem sofort zu handeln (BGW, 2019). oder den Helden spielen, sondern rechtzeitig Hilfe holen. Übergriffe auf Klientel/Patientinnen oder Patienten Jeder Mensch, der Zeuge eines Angriffs oder Unfalls Gesetzliche Vorsorge für den Notfall wird, muss Hilfe leisten – unter Beachtung der eige- Der gesetzliche Arbeits- und Gesundheitsschutz nen Sicherheit. Beschäftigte im Gesundheits- und gibt Standards für die Notfallvorsorge im Betrieb vor. Sozialwesen haben zudem Fürsorgepflichten gegen- So sind zum Beispiel vorgeschrieben: ein Verbands- über ihrer Klientel sowie Patientinnen und Patienten. kasten (DIN 13157, Typ C) mit Notfall-Plakat zu Erste- Im Falle eines Angriffs müssen sie Hilfe leisten und Hilfe-Maßnahmen und die Kennzeichnung dessen die bestmögliche Versorgung eines körperlich oder Standortes mit weißem Kreuz auf grünem Grund. seelisch verletzten Betreuten einleiten. Diese Pflicht Auf jedem Stockwerk ist ein Handfeuerlöscher er- kann bereits mit Erster Hilfe, dem Rufen des Ret- forderlich, der regelmäßig überprüft wird. Flucht- tungsdienstes und dem Versorgen bis zum Eintreffen und Rettungswege sind zu kennzeichnen. Bei bis der Rettungskräfte erfüllt sein. zu 20 Beschäftigten muss eine Person für die Erste Hilfe ausgebildet werden, ab 20 Mitarbeitenden gilt eine Quote von 10 % (BGW, 2019). Wird in kleinen Laut einer Befragung von Beschäftigten in Besetzungen gearbeitet, kann dies zu wenig sein. 51 Notaufnahmen in Hessen standen 85,5 % Dann werden regelmäßige Schulungen beziehungs- der Patientinnen und Patienten, die Klinikpersonal weise Fortbildungen in Erster Hilfe und Umgang mit angriffen, unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Hilfsmitteln wie Feuerlöschern umso wichtiger. Die (Güzel-Freudenstein, Christiansen, 2019) gesetzliche Notfallvorsorge ist die Grundlage der hauseigenen Vorsorge, die jeder Betrieb selbst ent- wickeln muss. 12 2 Risiken mindern
Übergriffe auf Mitarbeitende Im betrieblichen Notfallplan ist auch das Verfahren hin zur totalen Verunsicherung. Die Unterstützung im Falle eines tätlichen Angriffes auf Mitarbeitende durch Arbeitgebende und das Kollegium trägt ent- festzuhalten. scheidend dazu bei, die seelische Gesundheit und Arbeitsfähigkeit von Gewaltopfern zu erhalten. Ist das Opfer bei Bewusstsein, muss binnen sechs Körperliche Versorgung Stunden nach der Tat ein Auffanggespräch durch Bei Übergriffen auf Beschäftigte ist ebenfalls die die Betriebsleitung stattfinden. Sonst stellt sich Rettungskette in Gang zu setzen: Erste Hilfe leisten, rasch das Empfinden ein, alleingelassen zu sein. betriebsärztliche Unterstützung anfordern und/ Halten Angst und Bedrohung nachhaltig Einzug ins oder Rettungsdienst rufen. Neben der Wundversor- Gefühlsleben, kann eine zeitweise Versetzung not- gung sind Infektionsrisiken zu beachten: Kam es wendig sein: in eine andere Abteilung, zu einer an- zu Kontakt mit Körperflüssigkeiten, die Infektionen deren Aufgabe oder in eine andere Schicht, etwa übertragen können, wie Blut, Speichel oder Aus- Tag statt Nacht (BGW, 2007). Versicherte der BGW scheidungen? Dann muss die Diagnostik mögliche können nach einem Extremerlebnis ohne Prüfung Ansteckungen einbeziehen. Versicherungsrechtlich fünf Mal 50 Minuten telefonische psychotherapeuti- gelten Übergriffe als Arbeitsunfälle. Nach einem sche Beratung erhalten. Die weitergehende Behand- Arbeits- oder Wegeunfall müssen Beschäftigte einen lung leitet die zuständige Durchgangsärztin oder sogenannten Durchgangsarzt aufsuchen, wenn der -arzt ein (DGUV, 2018). X sie über den Tag des Unfalls hinaus arbeitsunfähig sind, Gespräche, die auffangen X die ärztliche Behandlung über eine Im Alltag sind häufig Kolleginnen oder Kollegen erste Woche dauern wird, Anlaufstelle für Gespräche. Sie können helfen, Erleb- tes zu ordnen. Was ist wann, wo und wie geschehen? X Heil- und Hilfsmittel zu verordnen sind, Wie war die zeitliche Reihenfolge? Wie fühlt sich das Tatopfer jetzt? Was ist jetzt zu tun? Wer ist zu X die Folgen des Unfalls zu einer benachrichtigen? (Auf jeden Fall die Führungskraft!) Wiedererkrankung führen. Fragen nach dem Warum, Kritik am Verhalten des Durchgangsärztinnen und -ärzte sind von Unfall- Opfers oder Bagatellisierungen sind fehl am Platz. kassen bestellte Medizinerinnen und Mediziner der Die Klärung der Schuldfrage trägt selten etwas zur Fachrichtung Orthopädie und Unfallchirurgie, die Klärung der Situation bei. In einem Gespräch, das in Kliniken oder als niedergelassene Ärztinnen und ein Opfer auffangen soll, geht es primär darum, Ärzte arbeiten. Durchgangsärztinnen und -ärzte Verständnis zu zeigen und zu signalisieren: Du wirst entscheiden über die weitere Behandlung. Betriebs- ernstgenommen. Ein erstes Gespräch hilft, das Er- ärztinnen und -ärzte dürfen die durchgangsärztli- lebte zu verarbeiten, es ersetzt aber nicht eine the- chen Aufgaben nicht übernehmen, sie können aber rapeutische Behandlung. Innere Verletzungen und zur Beratung und Wiedereingliederung zugezogen seelische Folgen sind nicht auf die Schnelle zu beur- werden. Berufsgenossenschaften wie BGW und VBG teilen. Opfer sollten daher zum Besuch einer Ärztin tragen die Kosten für umfassende medizinische, so- oder eines Arztes ermutigt werden (BGW, 2007). ziale und berufliche Rehabilitation. Ist keine Berufs- genossenschaft (BG) zuständig, läuft die Kostenüber- nahme über das Opferentschädigungsgesetz. Der Dokumentation zur Vorbeugung Spitzenverband der BG, die DGUV, listet Durchgangs- Jede Verletzung, jeder Unfall und damit auch jeder ärztinnen und -ärzte, Sachverständige, Kliniken, Übergriff auf Mitarbeitende sind im sogenannten Physio- und Psychotherapeutinnen und -therapeuten „Verbandbuch“ zu dokumentieren. Die lückenlose bundesweit nach Postleitzahl: www.lviweb.dguv.de Dokumentation dient zur rechtlichen Absicherung beteiligter Mitarbeitender. Sie hilft zugleich, Gefahren zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Das Verband- Seelische Versorgung buch muss allen Beschäftigten zugänglich sein und Ein tätlicher Angriff ist ein traumatisches Erlebnis. ist nach der letzten Eintragung noch mindestens Opfer erleben häufig ein Wechselbad an Gefühlen: fünf Jahre aufzubewahren (BGW, 2007). Schock, Angst, Ärger, Wut, Verzweiflung, Scham bis 2 Risiken mindern 13
Sucht-Selbsthilfegruppen Gewalt gegen sich selbst Abhängigkeit ist eine Form der Gewalt gegen sich selbst. Sie kann in letzter Konsequenz in einer Über- dosierung enden oder im Rausch zu lebensgefährli- Umgang mit (dem Thema) Gewalt chen Verletzungen führen. Selbsthilfegruppen unter- Mitglieder von Selbsthilfegruppen verpflichten sich stützen dabei, von Suchtmitteln unabhängig(er) und zu gegenseitiger Verschwiegenheit. Das ermöglicht, gesünder zu leben. Trotzdem können deprimierende offen zu reden und einander sehr Persönliches anzu- Gefühle aufkommen: „Es hat ja alles keinen Sinn vertrauen. Doch beim Thema Gewalt bestehen häufig mehr“, „Das Leben lohnt ohnehin nicht mehr“. Solche Unsicherheiten: Wie ist zu reagieren, wenn von Ge- Äußerungen, aber auch Rückfälle, erkennbare Ver- walt gegen sich selbst oder gegen andere berichtet wahrlosung, zu leichtsinniges Verhalten und über- wird? Wo liegen Grenzen der Vertraulichkeit? Haben triebene Großzügigkeit können ankündigen, dass ein traumatisierte Gewaltopfer und Gewalttätige über- Suizid droht. Eventuell werden auch entsprechende haupt einen Platz in der Gruppe? Dieses Kapitel klärt Pläne angedeutet. Es gibt kein Patentrezept für den Aspekte der Gruppenarbeit, gesetzliche Hintergrün- Umgang mit Gefährdeten. Doch meist entlastet es, de und gibt Handlungstipps. über angestaute Probleme zu reden. Einladende Fragen können dabei helfen, etwa: Was bedrückt dich? Was macht dich so traurig? Was lässt dich Trauma und Selbsthilfe verzweifeln? Reden lassen, zuhören, ernstnehmen Trauma-Selbsthilfegruppen für Menschen klammern und eventuell Hilfe anbieten. Das kann die Welt be- häufig das Thema Abhängigkeit aus. Sucht-Selbsthil- reits ein Stück anders aussehen lassen. Aber: Das fegruppen fühlen sich eventuell vom Thema Trauma Gespräch in der Selbsthilfegruppe ersetzt keine überfordert. Traumatisierte Abhängige können sich therapeutische Behandlung. Hauptursache für Su- hier wie dort fehl am Platz fühlen. Noch mehr, falls izide ist eine Depression. Daher sollte auf professi- Abstinenz gefordert wird. Beide Arten von Gruppen onelle Hilfe hingewiesen werden, etwa auf die Not- haben aber Stärken, die für Traumaopfer wichtig fallambulanz einer Klinik oder auf niedergelassene sind. Trauma-Gruppen legen Wert auf Schutz und Psychiaterinnen und Psychiater. Jeder, der eine Sicherheit, um Auslöser und erneute Traumaerfah- akute Selbst- oder Fremdgefährdung wahrnimmt, rungen zu vermeiden. Sucht-Selbsthilfegruppen ha- ist verpflichtet, den psychiatrischen Notdienst, den ben häufig klare überschaubare Sitzungsstrukturen. Rettungsdienst oder die Polizei zu rufen. Dann nichts Traumatisierte Opfer brauchen das Beste aus beiden zu tun, ist strafbar (§ 323c StGB; www.neurologen- Welten: Sicherheit und Struktur. Ist keine Gruppe mit und-psychiater-im-netz.org). diesen Merkmalen regional erreichbar, ist eventuell eine eigene Gruppe zu gründen: siehe Lesetipp. Gewalt gegen andere Lesetipps Trotz aller Vertraulichkeit wird in Selbsthilfegruppen Martina Stubenvoll, Claudia Schulze, Ingo Schäfer: selten offen von begangenen Gewalttaten berichtet. Mit Selbsthilfe den Alltag meistern! Fallen doch entsprechende Andeutungen, lässt sich Hamburg, 2011 in der Regel mehr erreichen, wenn auch Gewalttätige Download unter Info Ratsuchende Selbsthilfe ein offenes Ohr finden. Selbsthilfegruppen sind nicht Ratgeber zur Gründung einer Selbsthilfegruppe dazu da, Taten zu bewerten. Sie können aber die auf www.trauma-und-sucht.de Möglichkeit eröffnen, über begangene Taten zu spre- chen. Viele Gewalttätige würden ihr Verhalten gerne ändern – schaffen es aber vielleicht nicht alleine. 14 2 Risiken mindern
Sie können auf Angebote der Gewaltberatung hin- setzungen – auch für Angehörige. Doch selbst An- gewiesen werden (siehe S. 37 und QR-Code S. 41). gehörige müssen Anzeige erstatten, sobald sie von der Planung schwerer Gewaltverbrechen erfahren Gruppenleitende verstehen sich als „Beistand“ ihrer (§ 139 StGB). Strafanzeigen können bei der Polizei Mitglieder. Das bedeutet: zu verstehen, aber nicht, und Staatsanwaltschaft gestellt werden, teils auch mit allem einverstanden zu sein. Es kann sein, dass online (www.online-strafanzeige.de) und bei Bedarf Leitung wie Mitglieder ein Verschweigen berichteter anonym (siehe auch S. 29). Taten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, etwa im Falle einer eventuellen Kindeswohlgefähr- dung. Dann können sie Jugendamt oder Polizei in- Gewalt untereinander formieren (Guttempler, 2017). „Wir gehen offen und ehrlich miteinander um“- Das machen sich die meisten Selbsthilfegruppen zur Regel. In der Praxis kann dies eventuell aber auch zu Pflicht zur Verschwiegenheit? vorschnellen Bewertungen führen: „Das musst du so Leitung und Mitglieder einer Selbsthilfegruppe ver- machen…“ oder „Kein Wunder, dass er/sie … wenn abreden Verschwiegenheit. Dies ist aber eine private du immer …“. Beim Kritisierten kann dies eine Reihe Absprache. Sie vertrauen sich persönliche Informa- negativer Gefühle wie Schuld, Scham und Verzweif- tionen auf ähnlicher Grundlage an, wie dies im Fa- lung auslösen und damit selbstbestimmte Lösungen milien- oder Freundeskreis geschieht. Anvertrautes verhindern. Es wirkt sich auch negativ auf das Grup- auszuplaudern, stünde nur dann unter Strafe, wenn penklima aus. Angst vor der Reaktion der Gruppe dadurch die Grenze zur Beleidigung (§ 185 StGB) führt zu Zurückhaltung und Verschlossenheit. Aber: oder zu übler Nachrede (§ 186 StGB) überschritten Gruppenleitende führen Regie. Sie können auf eine würde. gewaltfreie Kommunikation hinwirken, in der es vor- Umgekehrt sind Leitung wie Mitglieder einer Selbst- rangig um das Zuhören, nicht um das Bewerten geht. hilfegruppe grundsätzlich nicht verpflichtet, Dritten Motto: „Hab ich dein Ohr, find ich mein Wort“ (Marold, mitzuteilen, was sie gehört haben. Ausnahme: Sie 2019). Dafür gibt es eine Reihe von Techniken zur Ge- erfahren von der Planung eines schweren Gewalt- sprächsführung. Entsprechende Schulungen bieten verbrechens wie Mord, Totschlag, Raub, räuberische die Sucht-Selbsthilfe- und Abstinenz-Verbände an: Erpressung und weitere gemeingefährliche Strafta- ten (§ 138 StGB; Wolfslast, 2002). Bestimmte Berufs- www.blaues-kreuz.de gruppen dagegen unterliegen der Schweigepflicht, darunter ärztliches, psychologisches, sozialarbeiteri- www.bke-suchtselbsthilfe.de sches und sozialpädagogisches Fachpersonal sowie www.freundeskreise-sucht.de Beratende in anerkannten Beratungsstellen (§ 203 www.guttempler.de StGB). Auf Leitung und Mitglieder einer Selbsthilfe- www.kreuzbund.de gruppe trifft dies nicht zu – auch dann nicht, wenn sie einen schweigepflichtigen Beruf ausüben. Es sei denn, sie werden aufgrund ihrer Expertise zu einem Treffen einer Selbsthilfegruppe eingeladen und Lesetipps sprechen dort in ihrer Eigenschaft als ärztliche oder psychologische Fachkraft. Alles, was sie dann im Carl R. Rogers: Die nicht-direktive Beratung. Gespräch erfahren, fällt unter ihre Schweigepflicht. 15. Aufl. Frankfurt: Fischer TB. Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Pflicht zur Anzeige? 12. Aufl. Paderborn: Junfermann. Privatpersonen wie Mitglieder einer Selbsthilfe- Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesver- gruppe sind nicht verpflichtet, bereits vorgefallene band: „,In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Straftaten anzuzeigen. Doch muss jeder Anzeige Möglichkeiten‘ – Schwierige Themen in der Sucht- erstatten, der glaubhaft von schweren Straftaten Selbsthilfe – eine Denk- und Arbeitshilfe für Grup- zu einem Zeitpunkt erfährt, an dem sich diese noch penbegleiter“. Kostenfreier Download auf: verhindern lassen (§ 138 StGB). Ausnahmen gibt es www.freundeskreise-sucht.de für bestimmte Berufsgruppen wie Geistliche und Rechtsbeistände sowie – unter bestimmten Voraus- 2 Risiken mindern 15
Risiken erkennen bei Klientel sowie Patientinnen und Patienten So gut wie alle Menschen erleben Gewalt, zumeist schon im Kindesalter. Mal als Zeugin bzw. Zeuge, mal als Opfer, mal als ausübende Person einer der vielfäl- tigen Formen von Gewalt. So sammelt jeder Mensch Gewalterfahrungen aus unterschiedlichen Pers- pektiven. Dabei ist niemand „immer Gut“ oder „im- mer Böse“. Gerade bei Abhängigen wird besonders Hürden überwinden 3 Eine frühe Traumatisierung durch Gewaltausübung nahestehender Menschen kann eine spätere Suchtentwicklung fördern und der Persönlichkeits- entwicklung massiv schaden. Früh Traumatisierte haben häufig ein geringes Selbstwertgefühl und ein gestörtes Selbstbild. Sie wagen z. B. kaum Vertrauen deutlich, dass Menschen zugleich Opfer und Täter bzw. Täterin sein können. Es fördert außerdem die zu fassen und Bindungen einzugehen. Sie sind sich Wachsamkeit, Risiken eines Übergriffs auf die eigene ihrer eigenen Gefühle unsicher und können diese Person wahrzunehmen. Weiterhin kann dies eventuell häufig auch nur eingeschränkt steuern (Schäfer, den Einstieg ins Gespräch erleichtern: „Wir alle haben 2016). All dies ist zu bedenken, wenn es darum geht, schon einmal Gewalt erlitten oder ausgeübt: eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Was ist Ihnen in bleibender Erinnerung?“ (vgl. S. 18). Abhängige, besonders wenn sie zudem traumatisiert Beratende und therapeutische Fachkräfte können sind, brauchen das Gefühl von Sicherheit, Vertrau- das Gefühl vermitteln, dass über Gewalt geredet lichkeit, Verlässlichkeit und Wertschätzung. Sie werden kann wie über alles andere auch. Werden sind vor allem als Expertinnen und Experten des ei- verübte Taten berichtet, ist selbstverständlich klar, genen Lebens und dessen Gestaltung anzuerkennen die Grenze zu ziehen. Der gewalttätige Mensch ist (GeSA, 2018; Aeberhard, 2015; vgl. S.32f.). zu verstehen, ohne mit den Taten einverstanden zu sein (Thünemann, 2015). Substanzkonsum als „Lebensmittel“ Häufige Hürden Alkohol, Drogen und Medikamente werden grund- sätzlich wegen ihrer Wirkungen konsumiert. Die In der Regel schämen sich Täter bzw. Täterin wie Motivation richtet sich nach der Lebenslage. Trau- Opfer, über ihre Gewalterfahrungen zu reden. Wer matisierte erhoffen sich, vergessen zu können be- Gewalt ausgeübt hat, weiß im Grunde trotz aller ziehungsweise schmerzhafte Erinnerungen und Verdrängungsmechanismen um seine Schuld. Para- Erlebnisse leichter zu ertragen. Beratende können zu doxerweise halten sich auch Opfer oft für schuldig verstehen geben, dies als kurzfristig sinnvolle Über- („Hätte ich doch/nicht …“) und schämen sich, Opfer lebensstrategie anzuerkennen (GeSA, 2018). Sie kön- geworden zu sein. Männer wie Frauen, die in ihrer nen sogar gemeinsam mit den Abhängigen auf die Kindheit (sexuelle) Gewalt erlitten haben, laufen be- Suche nach stabilisierenden Faktoren des Substanz- sonders häufig in die Falle von Schuld und Scham. konsums gehen. Warum sehen Sie Substanzkonsum Entwickelten sie in der Folge eine Abhängigkeit, als geeignetes Hilfs- oder gar „Lebensmittel“? Was erhöht dies ihre Mauer aus Schuld- und Schamge- gelingt Ihnen dadurch? Welche weiteren Ressourcen fühlen. Ihnen gelingt es häufig erst nach Jahrzehn- haben Sie, die Ihnen helfen, zu überleben bezie- ten, über ihre belastenden Kindheitserlebnisse zu hungsweise etwas zu erreichen? Wo liegen Ihre Stär- sprechen. Und dies oft auch nur dann, wenn der ken und Fähigkeiten? Dieser ressourcenorientierte Leidensdruck zu hoch geworden ist. Dabei kämpfen Ansatz hilft Abhängigen, ihre Situation nicht als „ver- beide Geschlechter mit Erinnerungslücken: Dies ist sagen“ wahrzunehmen. Zugleich wird darüber eine Trauma-immanent (Gahleitner, Gunderson, 2008; anerkennende und wertschätzende Gesprächsatmo- vgl. S. 32). Beratende und therapeutische Fachkräfte sphäre geschaffen. Die Anerkennung positiver Seiten müssen „das Unaussprechliche aussprechbar ma- fördert das Gespräch mit (abhängigen) Gewaltopfern chen“. Nur dann können sich Opfer wie Täterinnen wie mit (abhängigen) Gewalttätigen (Reddemann, bzw. Täter öffnen (Steffes-enn, 2010). Teunißen, 2006). 16 3 Risiken mindern
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