Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum - Dritter ...

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Regina Frey

Geschlecht und Gewalt im
digitalen Raum

Eine qualitative Analyse der Erscheinungsformen,
Betroffenheiten und Handlungsmöglichkeiten
unter Berücksichtigung intersektionaler Aspekte

Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht
der Bundesregierung
Expertise für die Sachverständigenkommission
Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung

Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum

Eine qualitative Analyse der Erscheinungsformen,
Betroffenheiten und Handlungsmöglichkeiten
unter Berücksichtigung intersektionaler Aspekte

                                                     Regina Frey
Inhalt

1.     Einleitung ______________________________________________________________ 1
2.     Konzeptualisierungen: „Digitaler Raum“ – „Geschlecht“ – „Gewalt“ ________________ 4
     2.1.     Begrifflichkeiten __________________________________________________________ 4
     2.2.     (Lückenhafte) Empirie _____________________________________________________ 7
3.     Bestandsaufnahme: Digitale Gewalt in gesellschaftlichen Feldern ________________ 11
     3.1.     Strukturierung des Themas ________________________________________________ 11
     3.2.     Netz-/politisches Feld: Gesellschaftliche Verhandlung um Geschlechterverhältnisse ___ 13
            Exkurs: Netzkultur und Netiquette ______________________________________________________ 15
     3.3.     Feld der Erwerbsarbeit und Öffentlichkeit ____________________________________ 16
     3.4.     Feld des sozialen Nahraums________________________________________________ 18
            Exkurs: Stalkerware __________________________________________________________________ 20
            Exkurs: Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum und die Corona-Krise _______________________ 22
     3.5.     Quellen der Gewalt ______________________________________________________ 22
4.     Durchsetzung von Rechten, Maßnahmen und Initiativen zum Umgang mit digitaler
       Gewalt und deren Berücksichtigung von Geschlecht ___________________________ 25
     4.1.     Empfehlungen des Zweiten Gleichstellungsberichts und deren Umsetzung __________ 25
            Exkurs: Novellierungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) ________________________ 28
     4.2.     Beratungs- und Schutzangebote und Unterstützung von Selbstverteidigung__________ 29
     4.3.     Die Istanbul-Konvention als Mittel gegen digitale Gewalt ________________________ 30
5.     Handlungsempfehlungen ________________________________________________ 32
6.     Forschungsdesiderate ___________________________________________________ 40
7.     Zusammenfassende Überlegungen und Fazit _________________________________ 42
8.     Literatur/Quellen _______________________________________________________ 44

Anhang 1: Liste der Interviews, Gespräche und Schriftverkehr mit Expert*innen _________ 60
Anhang 2: Interview-Fragen Beratungsprojekt ____________________________________ 60
Anhang 3: Interview-Fragen Migrant*innenorganisation ___________________________ 61
Anhang 4: Interview-Fragen Organisation für Trans- und Interpersonen _______________ 62
Anhang 5: Definitionen zu Schlüsselbegriffen des Diskurses zu „digitaler Gewalt“ ________ 63
Anhang 6: Initiativen und Projekte zur „digitalen Selbstverteidigung“ _________________ 68
Abkürzungsverzeichnis

    BaFzA               Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
    Bff                 Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe
    BIPOC               Black, Indigenous und People of Color
    BKA                 Bundeskriminalamt
    BMFSFJ              Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

    BMI                 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
    BMJV                Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz
    COVID-19            Coronavirus-Erkrankung
    DaMigra             Dachverband der Migrantinnenorganisationen

    Djb                 Deutscher Juristinnenbund
    EIGE                European Institute for Gender Equality
    EU                  Europäische Union

    FEMM-Ausschuss      Ausschuss Rechte der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter
                        des Europäischen Parlament
    FRA                 European Union Agency for Fundamental Rights
    GFMK                Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -
                        minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder
    GREVIO              Group of Experts on Action against Violence against Women and
                        Domestic Violence

    IB                  Identitäre Bewegung

    ISD                 Institute for Strategic Dialogue
    LGBTIQ              Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual und Queers

    OLG                 Oberlandesgericht

    NetzDG              Netzwerkdurchsetzungsgesetz
    PKS                 Polizeikriminalstatistik
    TrIQ                TransInterQueer e. V.

    UN                  United Nations
1. Einleitung

Das Gutachten zum Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung befasst sich mit
den Weichenstellungen, die erforderlich sind, „um die Entwicklungen in der digitalen
Wirtschaft so zu gestalten, dass Frauen und Männer gleiche Verwirklichungschancen
haben.“ 1 Diese Verwirklichungschancen können durch Hass und Gewalt im Netz in
unterschiedlicher Weise beschnitten werden. In der (Teil-)Öffentlichkeit des Netzes
werden Frauen in misogyner Art und Weise angegriffen, die Übergriffe gegen bekannte
Funktionsträgerinnen wie Renate Künast oder Sawsan Chebli sind hier nur die medial
sichtbarsten Beispiele. 2 Frauen erfahren digitale Gewalt und Hate Speech – alleine weil
sie im Netz sichtbar sind. Auch weniger prominente Personen erfahren sexualisierte
Gewalt, wenn sie sich gesellschaftlich, insbesondere feministisch, engagieren. Sexismus,
Rassismus, Ableismus und Anfeindungen gegen Queers sind dabei verschränkt und
zielen auf ein Herausdrängen aus dem Netz als wichtigen demokratischen Diskursraum.
Neben diesem öffentlichen und für viele sichtbaren Hass findet Gewalt auch im sozialen
Nahraum statt. Das Netz und digitale Hilfsmittel werden dabei genutzt, um Frauen zu
stalken, ihnen zu drohen und sie bloßzustellen. 3
Diese Expertise systematisiert das aktuelle Phänomen der „digitalen Gewalt“, sie bietet
eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Wissens zum Thema. Sie erweitert und
aktualisiert den Fokus des Digitalisierungskapitels im Zweiten Gleichstellungsbericht
(Bundesregierung 2017, S. 215ff.). 4
Es geht zunächst um die Frage: Was ist überhaupt unter Gewalt und Hass im digitalen
Raum unter einer intersektionalen Gender -Perspektive zu verstehen? Dabei wird mög-
lichst versucht, auf Betroffenheiten von Menschen nicht nur aufgrund von Geschlecht
(Sexismus und Misogynie), sondern auch (und damit verbunden) auf weitere Kategorien
und deren Zusammenspiel einzugehen, zum Beispiel auf Rassismus, Trans- und Inter-
feindlichkeit, Ableismus und Homophobie. 5 Es werden drei gesellschaftliche Felder
bearbeitet, in denen Hass und Gewalt virulent ist. Vorausgeschickt sei jedoch an dieser
Stelle, dass jegliche Schwerpunktsetzung in der Befassung mit dem vielschichtigen
Phänomen der geschlechterbezogenen Gewalt im Digitalen Erkenntnisse in Bezug auf
Prävalenz voraussetzt. In Ermangelung entsprechender Daten sind die hier getroffenen
Kategorisierungen vorläufig.
Die Befassung mit Gewalt im digitalen Raum soll dabei nicht den Blick auf Chancen und
Möglichkeiten einer emanzipatorischen Geschlechter-Netzpolitik verstellen. So bezeich-
nen Hentschel und Schmidt die gewaltförmige Internetkommunikation als „die zweite
Seite der Medaille“. Das Netz sei einerseits ein wichtiger Raum für emanzipative
Geschlechterpolitik, es biete „gerade fü r (queer-)feministisches Engagement neue

1   https://www.dritter-gleichstellungsbericht.de
2Siehe hierzu z. B. einen Talk mit Renate Künast auf der re:publica 2020 zum Thema: https://20.re-
publica.com/de/session/gewalt-im-netz
3   Siehe zum Beispiel den Aufruf: https://netzohnegewalt.org/
4   Für ihre praktische und inhaltliche Unterstützung dankt die Autorin Anna Torgovnik.
5Auf den schulischen Kontext und das spezifische Umfeld von Jugendlichen kann die Expertise nur am Rande
eingehen –zu diesem Feld gibt es bereits eine ganze Reihe an Untersuchungen (vgl. z. B. Schenk 2020). Auch
„Cybergrooming“ (Die Anbahnung im Internet, mit der Absicht des (Kindes-)Missbrauchs) ist nicht Gegenstand der
Expertise.
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Möglichkeiten zur regionalen und transnationalen Meinungsbildung, Vernetzung und
Einflussnahme.“ (Hentschel/Schmidt 2014, S. 85f.). Auch kann digitale Technik einge-
setzt werden, um vor Gewalt zu schützen oder kreativ gegen Hass im Netz vorzugehen
(siehe Kap. 4.2).
Das Thema Hass und Gewalt im Netz wurde in den letzten Jahren intensiv beforscht (vgl.
Meibauer 2013, Pfeiffer et al. 2018, Citron 2014; Marx 2017; Schneider/Leest 2018;
Schenk 2020; Hajok 2017), die wenigsten Studien legen dabei jedoch explizit den Fokus
auf Geschlechterfragen. Im internationalen bzw. europäischen Raum wurden in den
letzten Jahren Studien veröffentlicht, die Gewalt gegen Frauen im Netz dokumentieren
und auch skandalisierten (z. B. Barak 2005, UN Broadband Commission for Digital
Development 2015, Amnesty International o. J., Bates 2017, Dhrodia 2017, EIGE 2017,
van der Wilk 2018, Ging/Siapera 2019, Nadim/Fladmoe 2019), offen ist jedoch, inwie-
weit deren Befunde auf andere Länder und politische Kontexte bzw. auf Deutschland
übertragen werden können.
Für den deutschen bzw. deutschsprachigen Kontext liegen inzwischen einige Veröffent-
lichungen zum Thema Geschlecht und Gewalt im Netz vor, zum Beispiel über gewaltvolle
Kommunikation im Netz (vgl. Drüeke/Klaus 2014; Hentschel/Schmidt 2014, Pritsch
2014; Eickelmann 2017; tw. auch Drüeke 2019). Neben einigen wissenschaftlichen
Arbeiten gab es hierzulande in den letzten Monaten zudem vermehrt Medienberichte zu
digitaler geschlechtsbezogener Gewalt, teilweise mit einer hohen Verbreitung 6.
Auch im politischen Raum wurde das Thema bereits diskutiert: Die Konferenz der
Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren
der Länder (GFMK) hat sich 2014 mit der „Bekämpfung von Cybergewalt gegen Frauen
und Mädchen“ befasst (GFMK 2014, S. 33f.). Im Jahr 2015 hat das Gremium bereits einen
umfassenden Empfehlungskatalog an die Länder aber auch die Bundesregierung abge-
geben (GFMK 2015, S. 60ff.). Jüngst forderte die GFMK: „Da bislang valide Daten zu digi-
taler Gewalt gegen Frauen fehlten, (ist) die Bundesregierung aufgefordert, eine reprä-
sentative empirische Studie vorzulegen, um von digitaler Gewalt betroffene Frauen in
Zukunft besser unterstützen und wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen entwickeln zu
können.“ (GFMK 2020). Auch der Deutsche Juristinnenbund griff das Thema in einer
Stellungnahme und einer Veranstaltung auf (djb 2019a/b). Zudem gab es in den letzten
Jahren eine Reihe an parlamentarischen Anfragen und Anträgen zum Thema (z. B.
Deutscher Bundestag 2016, 2018, 2019.
Um das Phänomen von Gewalt im digitalen Raum in Bezug auf Geschlecht bzw. Ge-
schlechterverhältnisse (gender) zu fassen, wird in Abschnitt 2 zunächst eine Konzep-
tualisierung vorgenommen; hier wird auch auf vorhandene Wissenslücken eingegangen.
Anhand der Strukturierung in drei gesellschaftliche Felder, in denen die Gewalt virulent
ist, wird sodann eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Hierbei wird exemplarisch be-
schreiben, welche Mechanismen und Dynamiken im jeweiligen Feld wirken. Im nächsten
Abschnitt wird beschreiben, welche Maßnahmen bisher unternommen wurden, um die
beschriebene Gewalt einzudämmen, wobei auch auf die Empfehlungen aus dem Zweiten
Gleichstellungsbericht eingegangen wird. Auch geht es hier um Initiativen und Maßnah-

6Z. B. die im Mai 2020 auf Pro7 ausgestrahlte Sendung „Männerwelten – Belästigung von Frauen“. Sie hatte auf
YouTube fast 4 Millionen abrufe, zwei Drittel der Sendung behandeln Übergriffe im digitalen Raum bzw. mittels
digitaler Technik (siehe hierzu Kapitel 3.3).
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men, um geschlechtsbezogener Gewalt im Netz zu begegnen sowie die Istanbul-Konven-
tion. Eine juristische Einschätzung des Phänomens und eine Abwägung von möglichen
gesetzlichen Initiativen kann die Expertise jedoch nicht leisten.
Die Expertise enthält im Schlussteil (Kapitel 5) Überlegungen für konkrete Handlungs-
empfehlungen für Gesetzgebung, Fördermaßnahmen sowie gesellschaftliche Stake-
holder. Es werden hier Forderungen aus dem Fachdiskurs sowie seitens NGOs und Netz-
aktivist*innen aufgegriffen. Auch wird darauf eingegangen welche weiteren Analysen
notwendig wären, um das vergleichswiese neue Thema angemessen zu bearbeiten –
entsprechende Forschungsdesiderate werden identifiziert (Kapitel 6) und ein kurzes
Fazit gezogen (Kapitel 7).
Methodisch wird ein qualitativer Ansatz gewählt. Zum einen stehen Literaturrecherche
und -analyse sowie Netzrecherche im Vordergrund, dies wird empirisch flankiert durch
fünf offene Expert*innen-Interviews bzw. schriftlichen E-Mail Austausch mit
Expert*innen zu ausgewählten Fragen. Durch diese Interviews können spezifische
Dynamiken der Gewalt – also die Intersektionalität des Phänomens - aber auch Möglich-
keiten von Gegenwehr und übergreifende Allianzen aufbereitet und dargestellt werden.
Die Aussagen aus den Interviews werden aus Gründen des Personenschutzes teilweise
in anonymisierter Form genutzt bzw. codiert (siehe Anhang 1).

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2. Konzeptualisierungen: „Digitaler Raum“ – „Geschlecht“ –
   „Gewalt“

Um die verschiedenen Ausprägungen von Hass und Gewalt im digitalen Raum in Bezug
auf die Kategorie Geschlecht besser zu verstehen, ist eine Konzeptualisierung von Nöten,
da diese Begriffe teilweise Engführungen transportieren, die es schlecht möglich
machen, das Phänomen in seinen unterschiedlichen Facetten zu begreifen.

2.1. Begrifflichkeiten

Die Abgrenzung zwischen „digitaler“ und „analoger“ Gewalt ist künstlich: Die Trennung
eines „digitalen“ oder virtuellen Raumes von einem „realen“ oder materiell/physi-
schen Raum ist in einer Welt, in der sich das Leben der Menschen zunehmend ins Netz
„verlagert“ nicht mehr zutreffend. Gewaltförmige Kommunikation und Hass durch und
mit digitale/r Technik ist genauso „real“ wie Gewalt über andere Formen der Kommuni-
kation. Studien zum Thema verdeutlichen die Verknüpfungen und Wechselwirkungen
zwischen verschiedenen Räumen und Kommunikationskanälen (z. B. FRA 2014).
Stelkens (2016) stellt heraus, wie sich im „Informationskapitalismus” (ebd., S. 156) die
Lebenswelt zunehmend ins Digitale verlagert, welche spezifischen Gefahren dies insbe-
sondere für Frauen mit sich bringt und welche Schutzlücken bestehen. Die Group of
Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO) des
Europarats unterstreicht “the importance of viewing cyber violence and offline forms of
violence against women and girls as an expression of the same phenomenon, namely
gender-based violence. Online violence against women and girls should therefore be
seen as a continuum of offline violence and as a means to maintain women in an inferior
position in the digital sphere and in real life.” (zitiert nach Council of Europe-
Cybercrime Convention Committee 2018, S. 24).
Auch der Dachverband der Migrantinnenorganisationen (DaMigra) stellt fest: „Die weit-
verbreitete Unterscheidung zwischen „analoger” und „digitaler” Gewalt betrachten wir
als widersinnig – vielmehr müssten diese beiden Gewaltformen zusammengedacht
werden“ (E2). Wenn hier also von „Gewalt im digitalen Raum“ die Rede ist, muss klar
sein, dass diese in Wechselwirkung und Verwobenheit mit dem „analogen Raum“
gedacht wird und keine Entgegensetzung von „virtuell“ versus „real“ suggeriert. 7
Die im Auftrag des FEMM Komitees des Europäischen Parlaments angefertigte Studie zu
„Cyber violence and hate speech online against women“ (van der Wilk 2018) betrachtet
Cyber Gewalt und Hate Speech gegen Frauen als „part of the continuum of violence
against women.“ (ebd., S. 20). Auch in dieser Studie werden online und offline Faktoren
verknüpft. Gesellschaftliche Geschlechterstereotypen würden in der online Welt „wider-
hallen“. So führe eine “Normalisierung” von Gewalt gegen Frauen in den Medien zu
„victim-blaming“ und einer Unsichtbarmachung der Perspektive von Opfern. Auch wird
als ein Faktor von online Gewalt gegen Frauen deren niedrige Repräsentanz im Techno-
logiesektor ausgemacht: „the tech sector’s gender imbalance echoes in cyber spaces.“

7 Die Verschränkung der Räume wird auch durch diese Aussage deutlich: „Gewalt und Hass im virtuellen Raum, wie
ihn z. B. trans* Künstler_innen erleben, die als solche hypervisibel sind, führen zu Gegenöffentlichkeit im virtuellen
Raum, Gewalt und Hass im nicht-virtuellen Raum führen zu Gegenöffentlichkeit im virtuellen und nichtvirtuellen
Raum“ (E3).
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(ebd., S. 22). Dies wird am Beispiel des bekannten Phänomens der Geschlechterverzer-
rungen in Algorithmen verdeutlicht; zitiert wird die Arbeit von Massanari (2015), die
am Beispiel der Plattform Reddit.com zeigt, wie deren „Algorithmen-Politik“ ein Muster
von „toxic technocultures“ befördern kann, die Antifeminismus und frauenfeindlichen
Aktivitäten Vorschub leistet.

Die Fokussierung der vorliegenden Expertise auf Geschlecht darf nicht darüber hinweg-
täuschen, dass die Strukturkategorie Gender (gefasst als gesellschaftliches Geschlechter-
verhältnis) in Wechselwirkung mit weiteren Machtachsen steht. Häufig wird in der Be-
fassung mit Gender und Geschlecht das Thema auf die soziale Gruppe „Frauen“ redu-
ziert. Abgesehen davon, dass es (hierzulande seit 2018 auch formal) Personen gibt, die
weder als Frauen, noch als Männer, sondern als „Divers“ bezeichnet werden (BMI 2018),
ist dies dreifach problematisch: Zum einen ist die soziale Gruppe Frauen vielfältig und
verschiedenste Machtachsen sind innerhalb dieser sozialen Gruppe wirkungsmächtig.
So stellt der Dachverband der Migrantinnenorganisation (DaMigra) fest: „Jede zehnte
Frau* hat sexuelle Belästigung oder Stalking durch neue Technologien erlebt.
Cybergewalt geht oft Hand in Hand mit der Abwertung gesellschaftlich benachteiligter
Gruppen. Betroffene Frauen* mit Migrations- und Fluchtgeschichte erleben Cybergewalt
zudem auch durch rassistische und sexistische Zuschreibungen und Beleidigungen.“
(DaMigra 2019). Auch stellt die Vertreterin von DaMigra (E2) fest, „dass die Migrations-
erfahrung beispielweise einer weißen Frau* und einer schwarzen Frau* aus USA nicht
die gleiche ist, da die weiße Frau* mit der „europäischen“ Gleichheit identifiziert werden
kann. Aufgrund ihrer „nicht-europäischen“ Identität sind Migrantinnen* und geflüchtete
Frauen* der persönlichen Gewalt in Form von rassistischen und sexistischen (physi-
schen, verbalen und digitalen) Angriffen ausgesetzt.“ (E2). DaMigra verweist darauf,
dass Frauen* mit Migrations- und Fluchtgeschichte – nicht zuletzt auch durch institu-
tionelle und strukturelle Gewalt – Vergeschlechtlichungs- und Ethnisierungsprozesse
erlebten.
Zum anderen spielen bei auf Geschlecht bezogener Gewalt auch gerade nicht eindeutige,
wechselnde oder queere Geschlechtsidentitäten eine Rolle; gegen die entsprechenden
Gruppen gibt es auch eine spezifische Feindlichkeit in und außerhalb des Netzes ins-
besondere, wenn sie sichtbar für ihre Anliegen eintreten: „grundsätzlich können alle
T/I/Q (Trans-, Inter-, Queer-Personen, Anm. R.F.) Gewalt und Gewaltandrohung sowie
Diskriminierung erfahren, die als solche erkennbar, oder die mehrfachzugehörig sind,
z. B. als Schwarze trans* Frau, als illegalisierter trans* Mensch in der Sexarbeit, als
gesellschaftlich behindert werdende trans* Person, als trans* oder inter* Mensch,
dessen Geschlechtsausdruck nicht stereotypen Geschlechterbildern entspricht“ (E3).
Zum Dritten sind auch Männer von geschlechtsbezogener Gewalt betroffen, wenn sie
spezifischen (jedoch dominanten) Männlichkeitsvorstellungen bestimmter
Akteur*innen nicht entsprechen - oder wenn sich Männer emanzipativ bzw.
(pro)feministisch äußern. 8
Aber auch wenn sich in der vorliegenden Expertise trotz der in der Literatur häufig
anzutreffenden Engführung auf „Frauen“ um eine intersektionale Perspektive bemüht
wird: Von sexistischer und misogyner Gewalt sind (cis)Frauen zuallererst betroffen.
Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum, wäre somit zutreffend mit „gender based

8Ein prominentes Beispiel ist hier der Videoblogger und Moderator Tarik Tesfu, der mehrfach Doxing ausgesetzt
wurde: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-tarik-tesfu-100.html und
https://www.jetzt.de/digital/hacker-angriff-auf-tarik-tesfu
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online violence“ zu übersetzen, wobei Geschlecht als soziale Kategorie (gender) und in
Verwobenheit mit verschiedenen Ungleichheitsverhältnissen zu denken ist. 9

Der hier zugrunde gelegte Gewaltbegriff ist breit und umfasst alle Formen von psychi-
scher Gewalt. Hierunter fällt auch verletzende Sprache als Form der Gewalthandlung
(vgl. Krämer/Koch 2010): „Im Anschluss an die sprechakttheoretische Einsicht, dass
Sprechen zugleich Handeln ist, kommt es uns auf den Umstand an, dass wir Gewalt
durch Sprache nicht nur androhen oder darstellen können, sondern dass in Sprache und
mittels Sprache Gewalt auch vollzogen und ausgeübt werden kann.“ (Koch 2010, S. 11).
Die Bundesregierung erläutert im Zuge der Beantwortung einer Kleinen Anfrage: „Eine
allgemeingültige Definition des Begriffs „digitale Gewalt“ gibt es derzeit nicht. Oft werden
unter diesem Begriff mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel, insbesondere über
soziale Medien, über Mobiltelefonie oder sonstige Kommunikationswege im Internet umge-
setzte Handlungsweisen wie verschiedene Formen von Diffamierung, Herabsetzung, Beläs-
tigung, Bedrängung, Bedrohung, Nachstellung und Nötigung zusammengefasst. Diese
haben mitunter schwere Folgen für die Betroffenen und deren Lebensgestaltung.“
(Deutscher Bundestag 2018, S. 3). 10
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) gibt eine breite
Definition von „digitaler Gewalt“, dies sei: „alle Formen von Gewalt, die sich technischer
Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen
und/oder Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattfor-
men stattfindet. Wir gehen davon aus, dass digitale Gewalt nicht getrennt von „analoger
Gewalt“ funktioniert, sondern meist eine Fortsetzung oder Ergänzung von Gewaltver-
hältnissen und -dynamiken darstellt.“ (bff 2017, S. 2).
Die hier beschriebene psychische Gewalt ist demnach verknüpft mit struktureller Ge-
walt im Geschlechterverhältnis. Dabei steht hier nicht im Vordergrund, welche Formen
der Gewalt unter das Strafrecht fallen – ob beispielweise bestimmte Übergriffe, die in
Tatbestände wie Beleidigung, Herabsetzung oder Ehrverletzung fallen könnten, strafbar
sind, denn dies ist Gegenstand juristischer Auseinandersetzung.
Anhang 5 gibt einen Überblick über verschiedene Formen (sexualisierter und ge-
schlechtsbezogener) digitaler Formen von Gewalt bzw. Instrumenten zur Ausübung von
Gewalt. Die Bandbreite der Formen und Techniken, die heute zu gewaltvoller Kommu-
nikation und Übergriffen genutzt wird, gibt einen Eindruck wie tiefgreifend und entwi-
ckelt das Phänomen ist. Deutlich wird aber auch, dass im Zuge der Digitalisierung der
Lebenswelt durchaus von einer neuen Qualität der Gewalt gesprochen werden kann. In
den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern sind (wie zu zeigen sein wird) auch
unterschiedliche Gewalthandlungen vorherrschend, die erst mit der Digitalisierung
möglich wurden.
Auch Henry und Powell (2015) weisen die These zurück, kriminelle Handlungen im Netz
seien im Grunde nicht neu, sondern lediglich eine „Verlagerung“ krimineller Handlungen
in den virtuellen Raum. Gewalthandlungen im digitalen Raum haben, wie zu zeigen sein
wird, eine neue Dimension und Qualität, da hier Raum- und Zeitbarrieren durchbrochen
werden. Anonymität sowie die Möglichkeit der Identitätsänderung erschweren die Ver-

9   Zum Forschungsparadigma der Intersektionalität vgl. z. B. auch Walgenbach 2011.
10   Ähnlich siehe auch Europäische Kommission (o. J.) und EIGE (2017).
                                                                                           6
folgung von Übergriffen, Regulierung stellt aufgrund der Internationalität und Ver-
schleierungsmöglichkeiten eine Herausforderung dar. Die Langlebigkeit („Das Netz
vergisst nichts“) und Replizierbarkeit von Daten geht mit einer kommerziellen und nicht
kommerziellen Verbreitbarkeit von Gewalthandlungen einher, die neue Nutzungs- und
Verwertungsmöglichkeiten von Hass und Gewalt impliziert.

2.2. (Lückenhafte) Empirie

Die Europäische Gleichstellungsagentur stellt fest: „Daten zu Gewalt im Internet gegen
Frauen und Mädchen in der EU sind spärlich, und daher weiß man wenig über den tat-
sächlichen Prozentsatz der Opfer von Gewalt im Internet gegen Frauen und Mädchen
und die Häufigkeit von Schaden.“ (EIGE 2017, S. 3). Auf europäischer Ebene erschien
2014 eine Prävalenzstudie der Europäischen Grundrechteagentur zum Thema Gewalt
gegen Frauen (FRA 2014). Sie bezieht sich auf sexualisierte Gewalt gegen Frauen all-
gemein, es werden dabei auch Ausführungen zu Cyberharrasment und Cyberstalking
gemacht. Online Stalking kommt nach dieser repräsentativen Studie vor allem bei jün-
geren Frauen vor: „In den 12 Monaten vor der Befragung haben (...) 4 Prozent aller 18
bis 29 Jahre alten Frauen oder 15 Millionen Online-Stalking erlebt, während im Ver-
gleich dazu 0,3 Prozent der Frauen, die 60 Jahre oder älter sind, dies erlebt haben.“ (FRA
2014, S. 30). Hier heißt es: „To assess the extent to which new technologies have been
used for sexual harassment of women, two items from the survey – ‘unwanted sexually
explicit emails or SMS messages’ and ‘inappropriate advances on social networking
websites’ – can be analysed as forms of ‘cyberharassment’. In this way, it can be seen
that one in 10 women (11 %) has faced at least one of the two forms of cyberharassment
since the age of 15, and one in 20 (5 %) in the 12 months before the survey.” (FRA 2014,
S. 104). Im Ländervergleich liegt Deutschland dabei etwas über dem Durchschnitt, hier
gaben 13 Prozent der befragten Frauen über 15 an, betroffen zu sein (höchster Wert:
Dänemark 18 Prozent – niedrigster Wert: Rumänien 5 Prozent).
Für Deutschland gibt es keine aktuelle Prävalenzstudie zum Thema geschlechtsbezoge-
ne Gewalt inklusive Dunkelfeldstudien 11, und da Gewalttaten durch Behörden nur unzu-
reichend erfasst werden (siehe bff 2017, S. 12), ist es derzeit kaum möglich Aussagen
über die Prävalenz der verschiedenen Formen digitaler Gewalt nach Geschlecht und
weiteren sozialen Kategorien zu machen. Einige wenige Studien geben Hinweise auf die
Prävalenz digitaler Gewalt bzw. die Verknüpfung von Gewaltformen online und offline.

Eine 13-seitige Auswertung einer Umfrage unter Frauenberatungsstellen und Frauen-
notrufen hat der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe 2017 vorgelegt. Diese ist
zwar nicht repräsentativ, gibt jedoch Einblicke in Gewaltformen wie auch Hinweise auf
Empfehlungen. Die Beratungsstellen für Gewaltschutz führen unter Berücksichtigung
des Datenschutzes eine Beratungsstatistik, diese ist nicht repräsentativ und erlaubt
keinen Aufschluss geben über Häufigkeit oder Trends im Zeitverlauf. Auch die befragte
Anti-Stalking Beratungsstelle erhebt bestimmte Daten, diese sind zum einen nicht reprä-

11Die erste und bis dato auch einzige repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des
BMFSFJ erschien 2004. Hier wurde auch auf psychische Gewalt eingegangen, nicht jedoch auf die Frage, ob sie im
analogen oder digitalen Raum stattfand (Müller/Schröttle 2004).
                                                                                                                   7
sentativ, zum anderen werden hier Angaben zu den möglichen Tätern aus beratungs-
technischen Überlegungen nicht erfasst, es steht hier der Personen- und Datenschutz
der Betroffenen im Vordergrund (E1). Aber auch wenn keine Aussagen zur Prävalenz
gemacht werden können: Die entsprechende Expertin berichtet darüber, dass sich ältere
Frauen über 60 Jahre, Politikerinnen, bildungsferne wie bildungsnahe Frauen aus ver-
schiedenen sozialen Schichten an die Beratungsstellen wendeten. Die Betroffenen seien
„Frauen, die ein Smartphone haben und eine Beziehung führen“ – wobei es jedoch hin-
sichtlich des Alters einen Trend zur Gruppe der 30 bis 50-Jährigen gebe. Speziell von
Hate Speech seien Personen betroffen, die sich öffentlich äußern (E1).
Die Auswertungen des BKA zur Partnerschaftsgewalt erfasst seit 2017 auch „Bedrohung,
Stalking, Nötigung (physische Gewalt)“ als Straftat. Laut Kriminalstatistik waren 2018
von den Betroffenen dieser Straftat fast 90 Prozent Frauen im Vergleich zu Männern
betroffen (BKA 2019, S. 5). Beleidigung und Verleumdung fallen lt. BKA zwar auch unter
physische Gewalt, dies wird jedoch in der PKS nicht erfasst (BKA 2019, S. 2). Die Erhe-
bung des bff zeigt, dass bei von Stalking betroffenen Frauen in fast allen Fällen digitale
Medien genutzt werden, die Betroffenen müssten „davon ausgehen, dass sich auf ihrem
Smartphone Spyware befindet“ (bff 2017, S. 8).
Eine Expertin (E1) weist auf das Problem der unzureichenden Erfassung durch Behör-
den hin. Beratungsstellen könnten diese Erfassung nicht leisten, da sie regional agieren,
nur Frauen berieten und nur die, die vom Angebot erfahren, erfasst werden könnten. Im
Zusammenhang mit geschlechtsbezogener Gewalt würden entsprechende Gewaltdelikte
nicht als digitale Gewalt erfasst. Internetkriminalität verlagere sich zunehmend ins Netz
– wenn z. B. ein gestohlener Gegenstand über das Netz verkauft würde, würde dies als
Internetkriminalität erfasst, bei Delikten in Zusammenhang mit geschlechtsbezogener
Gewalt, fehle diese Erfassung. Die Art wie Polizeistatistik geführt werden, müsse deswe-
gen verändert werden (hierzu auch djb 2019b): Es müsse nach bestimmten Kategorien
erfasst werden, denn die Bandbreite an Delikten sei sehr breit. Eine Klassifizierung zu
digitaler Gewalt sei hinzuzufügen - neben weiteren Markern wie Betrug oder Identitäts-
diebstahl. Eine entsprechende Kategorisierung sollte mit Beratungsstellen entwickelt
werden, es fielen hier zum Beispiel Erpressung, Nötigung, psychologische Zersetzung
oder unerwünschte Kontaktaufnahme an.
Auch das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen erfasst Beratungen zum Themenfeld „Digi-
tale Gewalt“, allerdings wird nur ein Item, der Schwerpunkt der Beratung, erfasst. Der
Jahresbericht 2017 ordnete lediglich 0,33 Prozent der Beratungen mit erweiterter Do-
kumentation dieser Gewaltform zu (Deutscher Bundestag 2018, S. 6). Im Jahresbericht
2018 sind es knapp 0,55 Prozent (BAFzA 2019, S. 25, eigene Auswertung) und im Jah-
resbericht 2019 sind es 0,67 Prozent (BAFzA 2020, S. 28, eigene Auswertung). Da hier
jedoch lediglich die Beratungen erfasst werden, die direkt und im Kern digitale Gewalt
ausmachen, Gewalthandlungen jedoch analog und digital verknüpft sind, ist von einer
weitaus höheren Zahl an über digitale Kanäle ausgeübte Gewalt auszugehen. Auch hier
wäre eine Veränderung in der Erfassung wünschenswert.
Eine repräsentative Studie zu Mobbing und Cybermobbing unter Erwachsenen hierzu-
lande des Bündnisses gegen Cybermobbing werden Unterschiede zwischen offline und
online in Bezug auf die Geschlechtsspezifik deutlich: Frauen sind von Mobbing deutli-
cher häufiger betroffen (33,3 Prozent Frauen – 22,6 Prozent Männer) – bei Cybermob-
bing ist der Unterschied jedoch deutlich geringer: 8,3 Prozent Frauen und 7,6 Prozent
Männer (die Kategorie divers wurde nicht erhoben) (Schneider et al. 2014, S. 18).
Weiter: „Geschlechtsspezifische Unterschiede liegen bei den Formen des Cybermob-
bings nur in geringem Umfang vor. Während Frauen häufiger Beschimpfungen und
                                                                                         8
Beleidigungen im Internet ausgesetzt sind, werden Männer eher unter Druck gesetzt,
erpresst und bedroht oder mit der Verbreitung unangenehmer und peinlicher Fotos
oder Videofilme konfrontiert.“ (ebd., S. 29f.). Diese Befunde sind jedoch kaum mit den
Ergebnissen der Kriminalstatistik (siehe oben) vereinbar.
Andere Studien behandeln Hass im Netz als allgemeines Phänomen unter dem Label
„Hate Speech“ und stellen geschlechterbezogene Auswertungen dar. In einer repräsenta-
tiven bundesweiten forsa-Umfrage zu Hasskommentaren werden teilweise deutliche
Unterschiede nach Geschlecht 12 deutlich: So geben Männer häufiger als Frauen an,
„bereits Hate Speech bzw. Hasskommentare im Internet gesehen zu haben.“ (forsa 2017,
Hervorhebung R.F.) – diese Frage deckt allerdings nicht eine tatsächliche Betroffenheit
von Gewalt im Netz ab. Abgefragt wurde auch, warum sich Personen mit Hasskommen-
taren beschäftigen, hier gaben Frauen an, sich häufiger als Männer mit Hasskommen-
taren zu befassen, „weil sie Hasskommentare entsetzen“ (90 Prozent Frauen - 72 Pro-
zent Männer). Männer gaben indes an, dies häufiger als Frauen zu tun, „weil sie Hass-
kommentare unterhaltsam finden“ (16 Prozent Frauen – 24 Prozent Männer) oder „um
sich an der entsprechenden Diskussion beteiligen zu können“ (22 Prozent Frauen – 36
Prozent Männer) (forsa 2017, S. 6). Unterschiede waren auch in der Bewertung zu
sehen: Der Aussage „Hasskommentare machen mich wütend“ stimmen 66 Prozent der
befragten Männer, aber 80 Prozent der befragten Frauen zu, „Hasskommentare ver-
ängstigen mich“ gaben 31 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen an. Für
manche Hasskommentare habe ich Verständnis“ bejahten 23 Prozent der Männer und
15 Prozent der Frauen (forsa 2017, S. 8).
Eine Studie zur Wahrnehmung, Betroffenheit und Auswirkungen von Hate Speech
wurde von Geschke et al. (2019) durchgeführt (bundesweit und differenziert nach
Bundesländern). Zur Wahrnehmung von Hass im Netz stellen sie fest: 88 Prozent der
Befragten, die aussagten, Hate Speech im Internet gesehen zu haben, gaben an, dass
darunter auf Frauen bezogene Hasskommentare waren (vgl. ebd., S. 20). Männliche
Befragte gaben mit 10 Prozent an von Hasskommentaren betroffen zu sein, während
weibliche Befragte dies zu sechs Prozent angaben. Ein Grund für diese Unterschiede
wird von den Studienverfasser*innen in einer unterschiedlichen Mediennutzung (…)
von Männern und Frauen gesehen. Über die Art des Hasses, zum Beispiel ob dieser
sexualisierte Hassbotschaften transportiere, gibt es in der Studie keine Angabe. Nach der
Studie wurden 14 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund mit Hate Speech
angegriffen, wogegen dies für 6 Prozent der Menschen ohne Migrationshintergrund
zuträfe (ebd., S. 23). 15 Prozent der Befragten gaben an, dass sie aufgrund ihres Ge-
schlechtes online angegriffen wurden (ebd., S. 24).
Auch die Befunde der Studie zu den Auswirkungen von Hate Speech im Internet weisen
Geschlechterunterschiede 13 auf: Hier geben 58,5 der Frauen und 50 Prozent der Männer
an, dass sie sich wegen Hassrede im Netz seltener zu ihren politischen Meinungen be-
kennen (ebd., S. 53). Eine Studie zum Bundesland Hessen (Eckes et al. 2018) stellt Ge-
schlechtsunterschiede bei den psychischen Auswirkungen von Hate Speech im Netz fest,
sie sind bei den befragten Frauen deutlich stärker ausgeprägt als bei den männlichen
Befragten. Geschke et al. stellen diesbezüglich fest, dass 27 Prozent der befragten
Männer und 42 Prozent der Frauen unter emotionalem Stress (wie Abgeschlagenheit,
Lustlosigkeit) als Folge von Hasskommentaren leiden. 23 Prozent der weiblichen und

12Es wurde nach Altersgruppen, Ost – West, sowie Männer – Frauen ausgewertet, die Kategorie Divers wurde
offensichtlich nicht abgefragt.
13   Die Kategorie „Divers“ wird jeweils nicht aufgeführt.
                                                                                                           9
16 Prozent der männlichen Befragten würden unter Depressionen aus Auswirkung des
Hasses leiden. Probleme mit dem Selbstbild hätten 35 Prozent der Frauen und 16 Pro-
zent der Männer und mit Angst und Unruhe hätten 36 Prozent der weiblichen Teilneh-
merinnen und 20 Prozent der männlichen Teilnehmer zu kämpfen (vgl. ebd., S. 27; 50-
52).
Der Blick auf vorhandene Daten zum Thema zeigt:
   •   Es gibt unterschiedliche und nicht immer untereinander schlüssige Befunde
       zwischen verschiedenen Befragungen.
   •   Es fehlen aktuelle repräsentative Dunkelfeldstudien zum Thema Digitale Gewalt
       mit Geschlechterbezug.
   •   Es fehlen sinnvolle Konzeptualisierungen des Phänomens, auch unter Berück-
       sichtigung von Intersektionalität im Untersuchungsfeld.
   •   Es fehlen Untersuchungen, die die Wechselwirkungen zwischen den Sphären
       online und offline beleuchten.
   •   Es gibt kaum systematische Erkenntnisse darüber, wer aus welchen Gründen und
       in welchen Zusammenhängen bzw. gesellschaftlichen Feldern (siehe unten) von
       Gewalt im digitalen Raum betroffen ist.
   •   Es bleibt weitgehend im Dunkeln von wem geschlechtsbezogene Gewalt ausgeht
       und welche Organisationsformen und Kanäle gewählt werden, also wie Gewalt
       ggf. auch organisiert wird (siehe hierzu Kapitel 3.5).

                                                                                    10
3. Bestandsaufnahme: Digitale Gewalt in gesellschaftlichen
   Feldern

Dieser Abschnitt der Expertise gibt einen Überblick über Formen und Betroffenheiten
digitaler Gewalt. Dabei geht es bei einer solchen „Bestandsaufnahme“ nicht um eine
detaillierte Beschreibung der Gewalt und des Hasses im jeweiligen Feld, das wäre auch
vor dem Hintergrund der fehlenden Empirie nicht leistbar (zu den Formen der Gewalt
im Überblick siehe Anhang 5). Vielmehr werden Dynamiken, Prozesse und Typologien
aus der Fachliteratur sowie aus den Expert*innengesprächen herangezogen, um das
jeweilige Feld auszuleuchten.

3.1. Strukturierung des Themas

Eine Strukturierung des Themas geschlechtsbezogene Gewalt im Digitalen Raum kann
anhand verschiedener Dimensionen vorgenommen werden. Zum einen geht es um den
Bezug zu Geschlecht bzw. zum Themenfeld Geschlechterverhältnisse. Hierunter fällt
Gewalt, die sich explizit gegen Frauen, als „Vertreterin“ der sozialen Gruppe Frauen
richtet - ohne jedoch dabei notwendigerweise auch sexistische/misogyne Gewaltformen
zu bedienen. Gewalt, die sexistische/misogyne Ausdrucksformen hat (z. B. durch die
Nutzung abwertender Begriffe, für die es keine männliche Entsprechung gibt), hat
offensichtlich einen Geschlechterbezug. Hier geht es um die Herstellung asymmetrischer
Machtverhältnisse durch Erniedrigung von Frauen, zum Beispiel indem eine Frau auf
ihren Körper reduziert und zum Sexualobjekt gemacht wird. Aber auch die Anrufung
einer abverlangten Geschlechtereindeutigkeit, kann gewaltförmig sein, so zum Beispiel
Gewalt, die sich gegen Trans-, Inter- und queere Personen richtet, die vermeintlich nicht
das „richtige“ Geschlecht leben („Normalisierung“).
Bei Gewalt innerhalb von Beziehungen/Partnerschaften bzw. Trennungs- und Schei-
dungssituationen geht es um die Aushandlung von Geschlechterverhältnissen bzw. die
(Wieder)Herstellung von Dominanzbeziehungen (in heterosexuellen Beziehungen geht
dabei die Gewalt nicht immer, aber deutlich häufiger von Männern aus (vgl. Müller/
Schröttle 2004/2012).
Ein weiterer Bezug zum Thema Geschlecht besteht bei Hass gegen Personen, die femini-
stische/emanzipatorische Standpunkte vertreten. Auch pro/feministische Männer sind
hier aufgrund ihrer Haltung zum Thema Geschlecht betroffen. Nicht zuletzt können
Männer von Hatespeech betroffen sein, wenn es um sexistisch überformten Rassismus
geht: Wenn zum Beispiel Männer per se als potentielle Vergewaltiger markiert werden,
handelt es sich um eine „Ethnisierung von Sexismus“ (Möller 1995 nach Rommelspacher
2011, S. 46).
Da es sich um unterschiedliche Bereiche handelt, wird das Thema in den folgenden Aus-
führungen in drei Felder unterteilt.

                                                                                       11
Abb. 1: Drei Felder der geschlechtsbezogenen (digitalen) Gewalt

                                 Feld der
                             Erwerbsarbeit &
                              Öffentlichkeit

                        Netz/
                                            Soziales
                      politisches
                                            Nahfeld
                         Feld

Netz/politisches Feld
Gewalt fungiert in diesem Feld als Waffe im Kampf um den digitalen Raum, der histo-
risch männlich konnotiert ist. Gewalt wird außerdem im digitalen Raum als Erweiterung
des Diskursfeldes in politischen Auseinandersetzungen (nicht nur, aber auch um Ge-
schlechterverhältnisse) eingesetzt. Vor allem wird Hasssprache und Gewaltandrohun-
gen genutzt zur Durchsetzung der eigenen Position bzw. der Herstellung einer spezifi-
schen Geschlechterordnung.
Betroffen sind: Netzfeministinnen, Gamerinnen, Personen jedes Geschlechts, die sich
beruflich und ehrenamtlich im Netz bewegen und aufgrund ihrer Aussagen/Positionie-
rungen zu Geschlechterthemen von Hass und Gewalt betroffen sind, Politikerinnen und
andere Funktionsträgerinnen, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte.

Feld der Erwerbsarbeit & Öffentlichkeit
Sexistische Gewalt wird gegen netz/öffentlich agierende Frauen* - jenseits eines genuin
politischen Aktionsraumes eingesetzt, als Mittel der Unterordnung und Stabilisierung
tradierter Geschlechterrollenmuster. Auch geht es um sexuelle Ausbeutung/Übergriffe
gegen Frauen, die sich aufgrund ihrer Arbeitssituation z. B. als Plattformarbeiterin in
einer Abhängigkeitssituation befinden.
Betroffen sind: Erwerbstätige digital arbeitende Personen; Diskriminierung und Gewalt
auf Plattformen/Click-Crowdworker*innen oder Journalist*innen, Influencer*innen,
Moderator*innen.

Soziales Nahfeld
Gewalt wird als Instrument im sozialen Umfeld (Familie, Beziehung, Freundeskreis,
Arbeit) genutzt, um sich Personen (meist Frauen) verfügbar zu machen und um eine
Geschlechterordnung nach den eigenen Vorstellungen herzustellen. Digitale Formate
werden genutzt um Stalking und Harassment wirkungsvoller einzusetzen. Oft (aber
nicht immer) kennen sich die beteiligten bzw. Opfer und Täter*innen persönlich (Tren-
nung, Scheidung, Arbeitskontext).

                                                                                     12
Betroffen sind: Meist Frauen in Ehen/Partnerschaften insbesondere in Trennungssitua-
tionen, Nachbar*innen, tw. auch Kolleg*innen.
Diese drei Felder sind analytisch voneinander zu trennen, können aber ineinandergrei-
fen und sich ggf. gegenseitig verstärken. Die Unterscheidung in drei Sphären scheint in
Ermangelung von Zahlen zur Prävalenz von Gewalt sinnvoll, da sich in diesen drei Fel-
dern sowohl die Rollen von Akteur*innen, als auch die Betroffenen und die Verursa-
chenden voneinander unterscheiden

3.2. Netz-/politisches Feld: Gesellschaftliche Verhandlung um
     Geschlechterverhältnisse

Ganz und Meßmer (2015) stellen eine „besondere Enthemmtheit“ bei der Diskussion um
Geschlechterverhältnisse und Feminismus im Netz fest, sie gehen davon aus, dass hier
„das Internet als Labor eines Kampfes um kulturelle Deutungsmacht fungiert“ (ebd.,
S. 60). Das in diesem Abschnitt zu behandelnde „netz-/politische Feld“ zeichnet sich
dadurch aus, dass es um die Verhandlung von Geschlechterthemen geht: Im Fokus
dieses „Kulturkampfes“ steht Feminismus als soziale Bewegung wie auch die Kategorie
Gender, Gleichstellungspolitik und deren Strategien und Instrumente wie Frauenför-
derung, Quotenregelungen, Gender Mainstreaming, die Geschlechterforschung, Sexual-
pädagogik sowie Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache. All dies bzw.
verschiedene Akteur*innen, die sich mit diesen Themen befassen, werden angegriffen,
wobei häufig nicht zwischen Wissensfeldern, Rollen und Themen unterschieden wird,
sondern pauschal abwertend mit Kampfbegriffen wie „Gender-Ideologie“ oder „Gender-
Gaga“ interveniert wird (vgl. Frey et al. 2013, für Österreich: Mayer et al. 2018).
Dieses Feld ist also nicht nur deswegen von besonderer Bedeutung, da es hier zu (teil-
weise misogynem und sexistischem) Hass gegen Einzelpersonen kommt, sondern auch,
weil Gleichberechtigung und gleiche Verwirklichungschancen der Geschlechter als poli-
tische Ziele angegriffen und diskreditiert werden.
Die deutschsprachige Geschlechterforschung griff insbesondere das Thema Antifeminis-
mus und Anti-Gender und die damit einhergehende Polemik und Diskreditierung von
Personen auf (Hark/Villa 2015a; Lang/Peters 2018a; Schutzbach 2018; Dietze/Roth
2020). Die „Hetze gegen frauenpolitische Themen und Frauenförderung“ sei „Ausdruck,
Produkt und Motivation eines sich manifestierenden organisierten Antifeminismus um
die Jahrtausendwende“ (Lang/Peters 2018b, S. 15). Für Schutzbach (2018) ist „(d)ie
Politisierung von Geschlechter- und Sexualitätsfragen (...) ein einender Nenner von sehr
unterschiedlichen rechtspopulistischen AkteurInnen mit dem Ziel, traditionelle Ge-
schlechterverhältnisse zu zementieren“ (S. 95). Auch Lang (2015) analysiert, wie sich
die extreme Rechte seit Mitte der 2000er Jahre einem „Kampf gegen den Genderismus“
verschrieben hat.
Ganz und Meßmer (2015) entwickelten in ihrer Befassung mit diesem „neuen Kultur-
kampf“ eine Taxonomie „anti-genderistischer 14 Artikulationsweisen“: Mansplaining,
antifeministische Argumentation, Trolling und Hate Speech. Während „Mansplaining“

14 Das Begriffspaar „Anti-Genderismus“ wurde von Hark und Villa (2015) eingeführt, in der Einleitung bezeichnen sie

den Begriff als „unglücklich“, wollen jedoch die Abwehr gegen Gender damit ausdrücken. Da „Genderismus“ analytisch
mehrdeutig ist und zudem von antifeministischen Kräften in der Absicht der Diskreditierung des Gender-Diskurses
geprägt wurde (Scheele 2016), wird hier von Antifeminismus gesprochen.
                                                                                                                13
und antifeministische Argumentation zwar Ausdruck struktureller Gewalt sein kann,
sabotiert „Trolling“ Kommunikation (vgl. z. B. Drücke 2019, S. 1380) und beschneidet
somit den Diskurs im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Geschlecht und
Gleichstellung. Hate Speech als explizite Form gewaltvoller Kommunikation wird im
Folgenden näher beleuchtet. So beschreibt Illgner (2018) wie Hate Speech im Zusam-
menhang mit der Verhandlung von Geschlechterthemen kampagnenhaft organisiert und
gezielt eingesetzt wird, um „Meinungen aus dem öffentlichen Raum und Diskurs
zurück(zu)drängen“ (Illgner 2018, S. 264). Hate Speech sei selbst eine „Kommunika-
tionsstrategie“ in Online-Diskursen, Ziel solcher organisierter Hasskampagnen seien
nicht eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern ein aus dem politischen Diskurs
drängen („Silencing“) vor allem der Akteur*innen von antirassistischen und
(queer)feministischen online Aktivismus, zum Beispiel Initiator*innen von Hashtag-
Kampagnen wie #metoo, #aufschrei und #schauhin (Illgner 2018, S. 254f.). 15
Hier wird deutlich, dass es bei solchen Hasskampagnen um die Beschneidung von
demokratischen Mitwirkungsrechten als einem Grundrecht geht. Die dabei eingesetzte
„Antizivilität“ 16 wird mit Ausübung der Meinungsfreiheit bzw. einer (vermeintlich)
offenen Debattenkultur im Netz gerechtfertigt (siehe dazu auch unten: Exkurs zu
Netzkultur und Netiquette).

Gaming
Ein weiterer Schauplatz eines geschlechterpolitischen Kulturkampfes ist die Gaming-
Szene: Entwicklerinnen von Computerspielen wurden angegriffen, als sie Sexismus in
der Branche bzw. in den Spielen bemängelten. Der daraus entstehende „Gamergate-
Skandal“ ging mit massiven Drohungen gegen drei Spielentwicklerinnen einher
(Eikelmann 2017, S. 190f.; Salter 2017). 17 Gabriel (2020) arbeitet heraus, dass sich in
diesen Gaming Communities Affinitätsräume bilden – und dass von diesen an bestimmte
Games gebundenen Communities dann auch gegen unterschiedliche Gruppen Hass aus-
geht. So wären z. B. Gamer*innen, die das Online Rollenspiel World of Warcraft spielen
„vor allem feindlich gegenü ber Homosexuellen, Bisexuellen und Transgendern einge-
stellt“ (Pulos 2013 nach Gabriel 2020, S. 276). Da in den jeweiligen Affinitätsräumen die
Identität und Gruppenzugehörigkeit stark männlich definiert sei, würden Frauen sich
häufig nicht als „Gamer“ verstehen. 18 Vorwürfe wegen sexualisierter Übergriffe flammen
auch wieder kurz vor Erscheinen der vorliegenden Expertise auf (Kühl 2020).
Die Verrohung der Kommunikation hat Folgen in Form von manifesten Gewalthand-
lungen. So analysiert der Verfassungsschutz anlässlich des Anschlags in Halle im
Oktober 2019 drei terroristische Akte mit rechtsextremer Motivation und stellt dazu
fest: „Weitere Parallelen in den Schriften (.) sind die Fokussierung auf Waffen und eine
detaillierte Beschreibung derselben. Zudem finden sich eine ausgeprägte Misogynie

15Diese Netzfeminismen agieren in der Verwobenheit von digitalen und analogen Aktionsräumen. Sadowski
unterscheidet hierbei drei Typen: „Internet-supported feminist activism, Internet-born movements, and activisms
that tackle Internet-based problems.“ (Sadowski 2016, S. 65).
16Der Begriff der „Inzivilität“ markiert (norm)verletzende Sprache im Sinne von „normüberschreitende
Kommunikation“ (vgl. Kümpel/Rieger 2019, S. 9). Insofern kann der gezielte Einsatz von Hass im Netz als Strategie
der Antizivilität bezeichnet werden.
17   Die Vorgänge wurden auch hierzulande rezipiert und massenmedial diskutiert (z .B.: Ebmeyer 2015).
18Cote (2017) hat Copingstrategien von Gamerinnen vor dem Hintergrund der vorherrschenden sexuellen und
geschlechtsbezogenen Gewalt empirisch untersucht und kommt zu dem Ergebnis: „Although women are capable
media managers, their continued status as ‘‘outsiders’’ deeply affects their gaming experiences and demonstrates a
need for cultural change in online environments.“ (Cote 2017, S. 136).
                                                                                                                     14
sowie (...) Anleihen aus der Gaming-Szene. Hierbei werden einschlägige Begriffe,
Symbole und Charaktere verwendet.“ (Bundesamt für Verfassungsschutz o. J.).

Exkurs: Netzkultur und Netiquette
Bereits in den 1990er und 2000er Jahren gab es vielfach Debatten innerhalb einer (da-
mals noch deutlich abgrenzbaren) Netzcommunity über die Fragen von Kommunika-
tionsregeln und Kultur im Netz. Denn das Phänomen des Hasses im Netz ist nicht neu: So
diagnostizierte Susan C. Herring bereits 1999 eine „rhetoric of online gender-harass-
ment“. Eine wachsende Anzahl von „Trollen“ agierte schon zu dieser Zeit in feministi-
schen Online-Foren mit abwertenden und beleidigenden Äußerungen (Herring 1999
nach Drüeke 2019). Das Netz wurde (vor allem in Zeiten seiner Entstehung) teilweise
als offener und hierarchiefreier Debattenraum sowie als „post-gender“ imaginiert (vgl.
Pritsch 2014), durchaus gab es jedoch auch bereits in den 1990er Jahren Debatten um
Kommunikationskultur und Netiquette, die deutlich machten, dass das Netz nicht als
rechtsfreier Raum zu betrachten ist. 19 Netiquetten existieren heute für viele Online-
Plattformen als Instrument der Regulierung der Kommunikationskultur.

Während Netzfeminismus sowie Gaming unmittelbar ans Netz gebunden sind, erfolgen
netzbasiert bzw. mittels Social Media Angriffe gegen Akteur*innen, die sich nicht oder
nur teilweise im Netz bewegen, so zum Beispiel Frauen-und Gleichstellungsbeauftragte:
So zeigt eine Interview-Studie mit kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftrag-
ten der BAG (2018), wie von Vertreter*innen der extremen Rechten gegen Funktions-
träger*innen im Bereich der Gleichstellungspolitik agiert wird. Die Angriffe im öffent-
lichen Raum (Sitzungen oder Veranstaltungen) werden hier teilweise flankiert durch
Diffamierungen in den Sozialen Medien, so die „Verbreitung falscher Tatsachen“ bis hin
zum Doxing, also Verbreitung der Privatadresse in Sozialen Medien (ebd., S. 35). Die
Studie geht auf das demokratiegefährdende Potenzial dieser Angriffe ein. 20
Auch die Geschlechterforschung war und ist Zielscheibe von Hasskampagnen (vgl. Hark/
Villa 2015b), insbesondere Lehrpersonal aus den Fachbereichen Sprachwissenschaften
(Illgner 2018, S. 263) und der Sexualpädagogik 21 wurde angegriffen.

Allerdings erfahren politisch aktive Frauen auch Hass im Netz, wenn sie sich nicht
geschlechterpolitisch positionieren. So ist es bezeichnend, wenn ein Social Media Rat-
geber für Kommunalpolitikerinnen des Helene-Weber-Kollegs ganz selbstverständlich
einen gesamten Abschnitt zum Umgang mit Hate Speech beinhaltet (Illgner o. J.). Poli-

19Dank an Andrea Knaut für entsprechende Hinweise zum Beispiel auf die Netiquette Guidelines von 1995, hier heißt
es u. a. zu übergriffiger Kommunikation: "There are Newsgroups and Mailing Lists which discuss topics of wide
varieties of interests. These represent a diversity of lifestyles, religions, and cultures. Posting articles or sending
messages to a group whose point of view is offensive to you simply to tell them they are offensive is not acceptable.
Sexually and racially harassing messages may also have legal implications. There is software available to filter items
you might find objectionable." Quelle: https://tools.ietf.org/html/rfc1855, Netiquette Guidelines, October 1995.
20Eine Netzwerktagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten
befasste sich bereits 2014 mit Gewalt gegen Frauen im Netz (BAG 2015).
21Diese wird in diffamierender Absicht mit dem Begriff der „Frühsexualisierung“ in Verbindung gebracht (vgl
Laumann/Debus 2018).
                                                                                                                    15
tikerinnen scheinen dabei besonderem Hass bzw. besonders auch sexistischen Aus-
drucksformen von Hasssprache ausgesetzt zu sein: Laut einer Umfrage des ARD-
Magazins „Monitor“ unter den 221 weiblichen Bundestagsabgeordneten (Rücklauf: 77)
wurden jedenfalls bereits über vier Fünftel mit Hass und Bedrohungen im Netz
konfrontiert (dpa 2019), über die Hälfte der Frauen erhielten sexistische Drohungen.
Eine Einschätzung, ob die beschriebenen Angriffe auf Personen und Themen Erfolg
hatten, indem sich tatsächlich Personen aus dem Feld zurückzogen ist nicht leistbar. Es
zeigt sich aber auch, dass entsprechende Akteur*innen die Angriffe und die damit gene-
rierte öffentliche Aufmerksamkeit strategisch nutzen können, um wiederum verstärkt
sichtbar zu werden. Ein Beispiel für ein solches „game changing“ ist die Initiative
„hatr.org“ (vgl. auch Sadowski 2016) oder die Hashtag-Kampagne #4genderstudies.

3.3. Feld der Erwerbsarbeit und Öffentlichkeit

In diesem Feld kommt es zu Gewalt und Hass in Alltagssituationen, also am Arbeitsplatz
bzw. im Rahmen der Berufsausübung oder in der Öffentlichkeit – ohne dass (wie im Feld
des Politischen) Geschlechterfragen explizit verhandelt werden. Betroffen sind Perso-
nen (vor allem Frauen*), die das Netz kommerziell bzw. beruflich nutzen wie Influen-
cer*innen, Moderator*innen, Künstler*innen, die eine breite Rezeption im Netz erfahren
und im Licht medialer Aufmerksamkeit stehen. Aber auch Personen, die über online
Plattformen vermittelte Arbeit verrichten, können leicht (online und offline) Gewalt
ausgesetzt sein.
In diesem Feld kommt es vor allem zu sexualisierter Gewalt wie das ungefragte Versen-
den pornografischer Inhalte und frauenfeindlichen Kommentaren. Das gleichstellungs-
politische Problem besteht hier vor allem in einer erschwerten Ausübung eines Berufs -
insbesondere, wenn die Person durch diesen Beruf öffentlich exponiert ist.
Am Arbeitsplatz ist das Problem der sexuellen Belästigung virulent: Eine repräsentative
Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Thema (Schröttle et al. 2019)
untersucht das Ausmaß dieser Form der Gewalt und kommt zum Schluss, dass „etwa
jede elfte erwerbstätige Person (...) von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen“
ist (Frauen rund 13 Prozent, Männer fünf Prozent) (ebd., S. 2). Die Studie geht auch auf
„Cyberbelästigung“ als Teil sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ein, es wird jedoch
nicht dargestellt, in wie vielen Fällen der Belästigung auch digitale Hilfsmittel (z. B. E-
Mail oder Messengerdienste, online Foren etc.) im Spiel waren. Die Belästigung gingen in
82 Prozent der Fälle ausschließlich oder überwiegend von Männern aus (ebd., S. 88).
Deutlich wird, dass die große Mehrheit der Betroffenen (83 Prozent) von mehr als einer
Handlung sexueller Belästigung betroffen war. Im Rahmen des qualitativen Teils der
Studie werden entsprechende Fälle beschreiben (ebd., S. 96; 104). Dies verweist auf die
Verflechtung von Belästigung online und offline bzw. die Schwierigkeit diese voneinan-
der abzugrenzen: Digitale Hilfsmittel werden in einer Situation des Übergriffs/der
Diskriminierung als Möglichkeit genutzt, sie erweitern den Handlungsspielraum der
Täter*innen.
In dem von Pro7 ausgestrahlten und auf YouTube 22 inzwischen über 4 Millionen Mal
aufgerufenen Clip „Männerwelten - Belästigung von Frauen“ (Joko & Klaas, moderiert
von Sophie Passmann) berichten Frauen anschaulich von den Übergriffen, denen sie als

22   https://www.youtube.com/watch?v=uc0P2k7zIb4
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