"World Music" und "New Musicology" - anno mungen
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anno mungen »World Music« und »New Musicology« Möglichkeiten und Perpektiven einer neuen Musikwissenschaft I. Die Welt hat sich in den letzten zehn Jahren grundlegend verändert. Hinsichtlich der Entwicklung von Kommunikationsformen und -medien betreffen diese Veränderungen auch den Umgang mit Musik und somit auch den Umgang mit den wissenschaftlichern Disziplinen, die Musik zu ihrem Hauptgegenstand machen (Baltzis 2002). Die Verän- derungen wirken sich demnach auch auf die Musikwissenschaft aus, wie man im Fach selbst erkennt. Im Grußwort des Präsidiums der Gesellschaft für Musikforschung zur Jahrestagung 2001 in Hannover heißt es: »Angesichts der tiefgreifenden Umbrüche, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das deutsche Universitätssystem durchlau- fen hat und gegenwärtig durchläuft – als Stichworte seien nur genannt: Probleme der multikulturellen Gesellschaft, der Globalisierung und der Technologisierung – erscheint es aber notwendig, sich über die Konsequenzen klar zu werden, die sich hinsichtlich des Gegenstandes, aber auch hinsichtlich der Frage- und Aufgabenstel- lung der Musikwissenschaft in einer völlig veränderten Situation des Musiklebens ergeben.« (Altenburg/Bennwitz/Leopold/Mahling 2001, S. 252-253) Nicht nur die Erkenntnis, dass die Musikwissenschaft sich an den gesellschaftlichen Bedingungen orientieren müsse, überrascht, sondern darüber hinaus schätzt man die problematische Situation selbstkritisch ein: »Zu den Grundprinzipien der Wissenschaft gehört es, dass sie ihre eigenen Methoden, aber auch ihre Fragestellungen immer wie- der auf den Prüfstand stellt. Die Gesellschaft für Musikforschung hat dies seit ihrem Be- stehen explizit nie getan, […].« (ebd. 2001, S. 252). Dieser Hinweis zeigt, dass Diskussio- nen über Methoden und Inhalt des Fachs willkommen sind und, dass darüber hinaus Entscheidungen anstehen, wie eine gesellschaftsnähere Musikwissenschaft gestaltet werden könnte. Die ›jüngere‹ Generation greift diese Offenheit des Fachs dankbar auf. Susanne Rode-Breymann fasst zusammen: »Vielmehr geht es im Spannungfeld von kultureller Tradition, ›neuen Realitäten‹ und einer sich rasch verändernden Hochschul- situation um eine grundsätzliche Diskussion über Gegenstände und Methoden, die dem 49
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« aktuellen Selbstverständnis der Musikwissenschaft entsprechen.« (Adam/Heesch/ es, dass die Musikwissenschaft einen Sonderweg im Vergleich zu anderen Disziplinen Rode-Breymann 2002, S. 253) gegangen ist? Im Zusammenhang der Überlegungen zur Situation des Fachs Musikwissenschaft Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Fachs ist trotz viel verspre- gehen mir zwei Beispiele aus meinem eigenen Erfahrungsumfeld nicht aus dem Kopf. chender Ansätze weiterhin dringend geboten, um die Dynamik des Fachs zu verstehen Sie erscheinen mir (noch heute) symptomatisch für die Situation, denen sich gerade und einordnen zu können. Der unverstellte Zugriff auf die eigene, nicht eben rühmliche jüngere Forscher gegenüber sehen. Noch vor wenigen Jahren empfahl man einem Kom- Geschichte könnte der Schlüssel sein, die Musikwissenschaft und somit auch die Musik militonen, es sich gut zu überlegen, ob es taktisch klug sei, sich mit einem Thema zur gesellschaftlich neu zu verankern. Die scheinbare Entpolitisierung der Disziplin im Musik im Nationalsozialismus zu habilitieren. Die entgegengesetzte Position hält das Dritten Reich und das »schlechte« kollektive Gewissen nach 1945 der Moderne gegenü- folgende Beispiel fest: Innerhalb bestimmter Kreise der Berliner Studentenschaft Ende ber bilden bis heute wesentliche Voraussetzungen für das (angekratzte) Selbstverständ- der 1980er Jahre wurde die Meinung vertreten, dass man doch schon deshalb nur nis des Fachs. schwerlich eine Promotion im Fach anstreben könne und solle, weil schon alle wichti- Es können – grob gesprochen – zwei geschichtliche Phasen unterschieden werden, gen Themen behandelt seien. die die Musikwissenschaft als Universitätsfach in Deutschland bislang durchgangen Was aber ist wichtig? Wer entscheidet, was wichtig ist, und auf Grund welcher Krite- hat: 1. Die Zeit seit der Etablierung der Disziplin am Ende des 19. Jahrhunderts an deut- rien werden diese Entscheidungen getroffen? Was lässt sich schließlich aus solchen Ent- schen Universitäten, und 2. die Geschichte des Fachs seit der Machtergreifung der Nati- scheidungen für die Position einer Disziplin wie der Musikwissenschaft in der Gesell- onalsozialisten 1933 bis in die jüngste Vergangenheit. schaft ableiten? Mit der Etablierung der Disziplin durch Guido Adler in ihrer dreiteiligen Trennung Die »Probleme« – wie es im oben zitieren Grußwort heißt –, die mit Globalisierung, nach historischer, systematischer und vergleichender Musikwissenschaft war ein inhalt- Technisierung und »der multikulturellen Gesellschaft« einhergehen, könnten durchaus licher Schwerpunkt auf die historische Disziplin entsprechend den zeitlichen und geo- als Chance verstanden werden, das Fach neu innerhalb der Gesellschaft zu verankern. grafischen Bedingungen verknüpft: Die Instrumentalmusik aus Deutschland stand im Bislang erscheint die Musikwissenschaft abgeschottet – wie eingesperrt in einem Elfen- Mittelpunkt der Beschäftigung. In diesem Sinne gilt die klassische sinfonische Musik beiturm, ein Zustand der Disziplin, der in der Regel als in der Sache selbst begründet er- von Haydn bis Strauss bis heute weltweit als der Exportschlager Nr. 1 in Sachen deut- lebt wird. Es erscheint selbstverständlich, dass die Musik als die abstrakteste der Künste scher Kultur. Beleg hierfür ist etwa die anhaltende Vorliebe amerikanischer Orchester per se ohne gesellschaftlichen Bezug nur für sich existiere, als sei sie losgelöst von die- für deutsche Dirigenten nach dem zweiten Weltkrieg. Trotz der wissenschaftlichen Fo- ser Welt. So erscheint es schlüssig, dass auch die Beschäftigung mit der Musik in gro- kussierung auf die klassische Sinfonik im Bereich der historischen Forschung, die mit ßen Teilen selbstreflexiv – und d.h. vor allem strukturanalytisch – in den Bezugsfeldern dieser Bevorzugung einherging und vor allem philologisch geprägt war, wurden mit den von Form und Ästhetik vonstatten geht. Bereichen der vergleichenden und der systematischen Musikwissenschaft seit dem Be- Was wir als Wissenschaftler zunächst erforschen und dann in der Lehre an Studie- ginn des 20. Jahrhunderts intensiv zwei – auch aus damaliger Perspektive – Nebenfelder rende weiterleiten, die später als Multiplikatoren in verschiedenen Berufen (wie Musik- der Musikbetrachtung entwickelt, die, wäre die politische Geschichte anders verlaufen, Lehrer, Musik-Journalisten oder Musik-Dramaturgen) wiederum als Verteiler in der Ge- möglicherweise grundlegend für das Fach als Ganzes wieder hätten verwertet werden sellschaft fungieren, bestimmt in wesentlichen Aspekten den Kurs musikpolitischen können. Die Forschung besonders innerhalb der systematischen Musikwissenschaft Handelns. Jeder Einzelne nimmt als Lehrender einer Universität, Hochschule, Schule (vor allem der Musikpsychologie) im Berlin der 1920er Jahre war ebenso rührig wie in- oder Musikschule ebenso wie jeder Journalist oder Dramaturg in seiner Verteilerfunk- novativ. tion im Kontext von Musik und Musikgeschichte eine Verantwortung wahr. Und was Bezüglich der politischen Ereignisse des Jahres 1933, die sich auch auf die Musik- wichtig ist, entscheidet jeder für sich. Den Rahmen aber für die notwendigen Einzelent- wissenschaft prägend auswirkten, ist aus deutscher Sicht zweierlei festzuhalten: Erstens scheidungen müssen gesellschaftsnahe musikwissenschaftliche Forschung sowie die muss der Weggang vieler Musikwissenschaftler ins Ausland als historischer Wende- Diskussion um die Ausrichtung des Fachs, die weiter zu führen ist, bereit stellen. punkt ins allgemeine Bewusstsein gebracht werden. Viele bedeutende Musikwissen- schaftler, vor allem Systematiker und Ethnologen, aber auch historische Musikwissen- schaftler emigrierten nach 1933 in Ausland. Bevorzugte Länder des Exils waren die usa II. und England (Brinkmann/Wolff 1999, S. 341-344). Zweitens muss die einseitige in- haltliche Ausrichtung des Fachs in den Jahren 1933 bis 1945 hervorgehoben werden. Auf Die Musikwissenschaft gilt im Vergleich zu anderen geisteswissenschaftlichen Fächern der einen Seite konzentrierte man sich auf rasserelevante biografische Forschung, die als »verspätete Disziplin«, wie es der in der Schweiz lebende und unterrichtende deut- vor allem der Verfolgung jüdischer Musiker, Komponisten und Wissenschaftler galt. Auf sche Musikwissenschaftler Anselm Gerhard ausdrückte (Gerhard 2000). Wie kommt der anderen Seite wurde das alte Postulat von der Vorherrschaft der deutschen Musik 50 51
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« über die Weltmusik wissenschaftlich weiter ausgebaut (Gerhard 2000, S. 9). Beides Dieser Einschnitt hat größte methodologische Relevanz, wie Rode-Breymann ausführt: hatte und hat noch immer gewaltige, bislang kaum zu übersehende Konsequenzen für »Am Ende der Gutenberg-Galaxis steht meines Erachtens ein ähnlich großer Methoden- das Fach und für das Musikverständnis selbst. Das Thema Musik im Nationalsozialis- wechsel bevor, wie er im Laufe des 15. Jahrhunderts durch die Veränderung des Medi- mus sollte deshalb weitergehend und mit höchster Sensiblität für größere historische ums Buch einherging.« (Adam/Heesch/Rode-Breymann 2002, S. 255) In diesem Zu- Zusammenhänge untersucht werden: Die Gegenwart ist gerade hier ohne ein differen- sammenhang sind die Optionen zu betonen, die sich aus der allgemeinen Umbruchsi- ziertes Wissen um die Vergangenheit nicht zu verstehen (Altenburg/Bennwitz/Leo- tuation heraus ergeben, das Fach aus seinem Elfenbeinturm zu befreien und zugleich pold/Mahling 2001, S. 253). Deutsche Musikwissenschaftler waren nicht nur an der die Musik, mit der wir uns beschäftigen, in einen gesellschaftlich relevanten Kontext Verfolgung von Kollegen, Musikern und Komponisten jüdischer Abstammung direkt (wieder neu) anzusiedeln. beteiligt, sondern diese gleiche Musikwissenschaft vertrat das Fach in wesentlichen Po- In kleineren historischen Dimensionen gedacht und unabhängig von der Bedeu- sitionen mit überaus großer personeller Kontiunität nach 1945 bis weit in die jüngere tung des Medienwechsels mag dieser Umbruch die folgende Konsequenz für die Musik- Vergangenheit (Gerhard 2000, S. 12ff). Der erste Schritt einer intensiven Neuorientie- wissenschaft nach sich ziehen: Die oben unterschiedene zweite Phase innerhalb der Ge- rung des Fachs müsste demnach darin bestehen, erstens diese Vergangenheit faktisch schichte des Fachs könnte nun von einer dritten Phase abgelöst werden. Nimmt man die aufzuarbeiten, um dann zweitens diese Vergangenheit in Beziehung zu unserem heuti- Ausführungen des Präsidiums der Gesellschaft für Musikforschung ernst und bedenkt gen Musik-Geschichtsbild zu setzen. man allerjüngste Tendenzen und Bestrebungen, die aus dem Fach selbst und nicht von außen kommen, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten (Foerster/Hust/Mahling 2001), so lässt sich folgender Einschnitt einer dritten Phase voraussehen bzw. postulie- III. ren: Mit dem Beginn der Globalisierung – also etwa mit dem Jahr 1990 – könnte eine neue Phase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Musik eingeleitet worden sein Die hier skizzierten historischen Zusammenhänge bedingen – um es etwas vereinfa- – allerdings mit einer (erneuten) Verzögerung von etwa zehn Jahren, wenn man das Jahr chend auf den Punkt zu bringen – bis heute eine methodische Einseitigkeit des Fachs, 2000 als den eigentlichen neuen Einschnitt im Fach festsetzen wollte. die die Musik als gesellschaftsrelevante Kunst kaum naheliegend erscheinen ließ. Als Mit der historischen Umbruchsituation jedenfalls ist eine Chance verknüpft, nicht eine der als wesentlich erachteten traditionellen Methoden des Fachs im Sinne von vor- trotz, sondern wegen der globalen Veränderungen, wegen des Medienwechsels am Ende wiegend »denkmalpflegerischen« und »dokumentarischen« Aufgaben, wie Anselm Ger- der Gutenberg-Galaxis, wegen der veränderten technologischen Vorausetzungen (die die hard die einseitige Ausrichtung der historischen Musikwissenschaft mit zwei Schlag- neue Zeit mit sich bringt) und – last but not least – wegen des vor allem durch die worten zusammenfasst (Gerhard 2000, S. 11), gelten phiologische Methoden und die Märkte entstandenen überaus großen Interesses weltweit an jeglicher Musik, sei es an musikalische Werkanalyse. Der englische Musikwissenschaftler Nicholas Cook hat in Klassik, an Pop oder World Music. In Hinsicht des letzten Punktes, in der die finanzielle seinem Aufsatz »Analysing Performance and Performing Analysis« gerade die – im wei- Seite angesprochen ist, wird die Aufgabe der Kulturwissenschaften und der Kulturpoli- testen Sinne – politische Relevanz unseres Tuns als Musikwissenschaftler gefordert. tik darin bestehen, zu moderieren und zu versuchen die rein wirtschaftlichen Interessen Diesem gesellschaftlichen Bezug steht – gleichsam – die Selbstverlorenheit der Analyse einer zunehmend globalisierten Welt mit einer sachlich und inhaltlich ausgewogenen gegenüber, die darauf abzielt, dass die Musik nur sich selbst und ihre Struktur aus- Position in Einklang zu bringen. drücke (Cook 1999, S. 243). Im Vorwort zum Sammelband, in dem dieser Aufsatz pu- bliziert ist und der den programmatischen Titel »Rethinking Music« trägt, führen Cook und sein Coherausgeber Mark Everist aus: »it is not just the disciplinary integrity of mu- IV. sicology that has become problematic: it is, to put it bluntly, the relationship betweeen musicology and the rest of the universe. (Where does musicology come on everybody’s Zunächst soll der Ist-Zustand des Fachs in der Spannung von Konservatismus und In- list of global priorities?)« (Cook/Everist 1999, S. vii). novation skizziert werden. Da dies wegen der Unübersichtlichkeit auch innerhalb eines Ich werde selbstverständlich hier nicht dem Versuch nachgehen (oder etwa der Ver- vergleichsweise kleinen Fachs schwierig ist, habe ich mir hierfür eine Materialgrundlage suchung nachgeben), die Frage nach der Beziehung zwischen der Musik und der Welt, ausgesucht, in der die Zuspitzung von Alt und Neu auf den Punkt gebracht werden wie sie hier aufgeworfen wird, beantworten zu wollen. Die Fragestellung aber weist auf kann. Ich werde meine kurze Bestandsaufnahme der inhaltlichen und methodischen die mögliche Qualität von Musikwissenschaft als einem ›politischen Akt‹ hin, auf die Ausrichtung des Fachs an zwei Programmen großer musikwissenschaflicher Konferen- Philip Bohlman 1993 aufmerksam machte (nach Cook 1999, S. 243). Die immense zen der jüngeren Vergangenheit durchführen: einmal am Mega-Treffen der American weltgeschichtliche Qualität des Einschnitts, der gerade zu verzeichnen ist und mit dem Musicological Society und anderer nordamerikanischer Musikorganisiationen im Schlagwort von der Globalisierung gefasst wird, muss deutlich hervorgehoben werden. Jahr 2000 in Toronto und dann am Kongress der International Musicological So- 52 53
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« ciety, der im August 2002 im belgischen Leuven stattgefunden hat. Das Spannungsfeld noch auf zu dem, was die klassische deutsche Sinfonik für die Weltmusik von heute zu einer traditionellen Betrachtungsweise im Gegensatz zu Ansätzen, die sich über Felder bedeuten scheint, so hat man andererseites im Bereich der wissenschaftlichen wie World Music und New Musicology erschließen lassen, steht bei dieser Betrachtung im Beschäftigung und der Re-Integration des Gegenstands der Beschäftigung – nämlich Mittelpunkt. der Musik – in die gesellschaftlichen Beziehungen gerade in den usa neue Standards ge- Die Aufteilung der klassischen Musikwissenschaft in eine historische, eine systema- schaffen, an denen sich die mitteleuropäische Musikwissenschaft orientieren könnte. tische und eine ethnologische Unterdisziplin ist ebenso problematisch wie notwendig. Der Vorschlag, der mit dem Begriff der New Musicology zur Öffnung des Fachs ein- Notwendig ist sie deshalb, weil es sinnvoll ist – schon der Übersichtlichkeit wegen –, be- hergeht, lässt sich zurückführen auf eine Debatte der amerikanischen Musikwissen- stimmte Methoden in Unabhängigkeit voneinander zu entwickeln und zu erproben, be- schaft seit Mitte der 1980er Jahre, die intensiv im letzen Jahrzehnt des Jahrhunderts in vor diese Methoden von der Nachbardisziplin verwendet werden können. Eine stärkere den usa forciert wurde (Cook/Everist 1999, S. viii-ix, bes. FN 6). Die Forderung nach Vernetzung der drei Bereiche aus heutiger Perspektive jedoch wäre hilfreich. Entspre- neuen Inhalten in diesem Zusammenhang ist die wohl wichtigste Anregung für das chend der starken Trennung, die historisch begründbar ist (s.o.) aber wird ein Begriff Fach nach dem zweiten Weltkrieg. Entsprechend vielfältig und groß war das Angebot wie World Music in der deutsch-zentrierten »klassischen« Musikwissenschaft außerhalb beim Kongress der ams und anderer Musikorganisiationen im Jahr 2000 in Toronto, der systematischen Musikwissenschaft und der Ethnologie bislang nur zögerlich ange- das sich wie erwähnt als musikologisches Mega-Treffen zur Jahrhundertwende den nommen und wissenschaftlich kaum diskutiert, wie etwa der Umstand belegt, dass der neuen Herausforderungen der Zeit in vielfältiger Weise zu stellen suchte. Die über- Begriff in beiden Neuauflagen der großen Musiklexika, der »Musik in Geschichte und wältigende Dimension dieses Treffens hatte auch einen Grund darin, dass außer der Gegenwart« und des »New Grove«, nicht als Stichwort erscheint. Aus deutscher Pers- ams noch 14 weitere Gesellschaften in Kanada zusammenkamen, so etwa (um nur ei- pektive bestand mit der Etablierung der deutschen sinfonischen Musik, welche als die nige für den angesprochenen Zusammenhang wichtige Gesellschaften herauszugrei- ›beherrschende‹ Weltkunst der Musik galt (und immer noch bis zu einem gewissen fen) die Society for Ethnomusicology, die International Association for the Grade gilt) an darüber hinaus gehender »flächendeckender« Beschäftigung mit Musik Study of Popular Music und die Society for American Music. Die Vielfalt des kein Bedarf. Der nicht gerade Bescheidenheit ausdrückende Titel »Die Musik in Ge- Programms war wesentlich von den verschiedenen Perspektiven gerade dieser (mit der schichte und Gegenwart« verweist auf den Anspruch, zeitlich und räumlich in Sachen ams) vier Gesellschaften geprägt, die zusammen wie selbstverständlich den Kanon der Musik ›alles‹ abzudecken. Die mgg aber konzentriert sich, diesem Anspruch genau ge- klassischen Musikwissenschaft bildeten. Was New Musicology den Inhalten aber auch nommen zuwider laufend, deutlich auf westlich geprägte Kunstmusik. Dies betrifft die der Methodik nach bedeutet, lässt sich an dem Programm zu dieser Konferenz ablesen.*) erste und die zweite Auflage des Lexikons.*) Es muss hier betont werden, dass die gebotene Vielfalt auch einschüchternd wirken Der Begriff der New Musicology betrifft gegenüber dem Begriff der Weltmusik, in der mag und die Tendenz in sich birgt, beliebig zu werden. Die Spannung zwischen wissen- die globale – d.h. räumliche – Vernetzung von Musik angesprochen ist, die zeitliche Di- schaftlich-methodischer Stimulanz auf der einen Seite und Beliebigkeit hinsichtlich mension, das heißt die historische Perspektive, die ja – wie gesehen – überaus bedeut- neuer thematischer Felder oder Fragestellungen auf der anderen Seite auszuloten, wird sam für die Thematik ist. Wenn man eine »neue« Musikwissenschaft fordert, wie es der eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahrzehnte für das Fach sein. Ein latent Begriff impliziert, dann muß man sich darüber auseinandersetzen, was die »alte Musik- zu spürender Hang zur Beliebigkeit ist ja auch damit zu erklären, dass Methodik und In- wissenschaft«, von der man sich hiermit absetzen will, eigentlich ausmacht(e) (s.o.). Bei halt der New Musicology tatsächlich noch jung und an größeren zeitlichen Dimensionen neuen Forschungsansätzen, wie sie hinsichtlich der Historiografie und der Geografie gemessen, relativ unerprobt sind. von Musikwissenschaft mit den sich ergänzenden Begriffen von World Music und New Das Meeting in Toronto hatte dennoch deutliche Schwerpunkte, von denen ich in Musicology zum Ausdruck gebracht werden, handelt es sich um Initiativen, die vornehm- dem kurzen Überblick hier ausgehen möchte. Einer dieser Schwerpunkte bildete das lich aus dem Englischen und aus dem Amerikanischen stammen. Anders als viele eng- Themenfeld Musik und Film (siehe hierzu unten). Weiterhin ist der Bereich der World lische Lehnwörter im Deutschen drückt die Sprache der Begriffe hier demnach keine Music zu nennen†): z.B. in den Sektionen: »World Music Topics« (Toronto 2000, S. 44ff) modische Neigung aus. Sie steht ein für das schwierige und komplexe Verhältnis des oder »Musical Hybridization, II. Reconfigurations« (Toronto 2000, S. 61ff). Dann ist der Mutterlands der Disziplin vor allem zum nordamerikanischen Kontinent in Sachen Mu- sik und Musikwissenschaft. Schaut die amerikanische Hochkultur einerseits immer *) Es sei darauf hingewiesen, dass die qualitative Auswertung nur nach den Titeln und den Abstracts der Vorträge (sowohl für Toronto als auch für Leuven) vorgenommen wurde. Streng genommen ist die me- thodische Innnovation bzw. Ausrichtung eines Vortrags nur bedingt nachvollziehbar. Auf dieses Problem *) Es könnte ergebnisreich sein, die alte mgg in dieser Hinsicht zum Gegenstand einer Untersuchung zu weisen auch Adam/Heesch/Rode-Breymann (2002, S. 261) für ihre Untersuchung hin. machen. Im 1952 erschienenen Band 2 etwa fällt ein Artikel »Buschmann- und Hottentottenmusik« auf, †) Alle Angaben aus den Programmbüchern zu beiden Konferenzen sind jeweils nur Beispiele und erhe- der der Sprache nach wie der inhaltlichen Ausrichtung nach das qualitative Gefälle der Weltmusik im ben keinen Anspruch auf vollständige Wiedergabe aller für das jeweilige thematische Feld relevanten Sinne des hegemonialen Anspruchs deutscher Musik in der Nachfolge des Nationalsozialismus bestätigt. Beiträge. 54 55
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« Bereich der Genderforschung in der Musik in mehreren Sektionen thematisiert worden: der systematischen Musikwissenschaft, der Psychologie, der Technologie, der feministi- z.B. in »Gender and Sexuality« (Toronto 2000, S. 51ff) oder in »Gender Studies and the schen Forschung und der vergleichenden Musikwissenschaft (»Interdisciplinary Pers- Theorist: Identity, Pedagogy, Analytical Strategies« (Toronto 2000, S. 132f). pectives on Film Music«, Toronto 2000, S. 221ff). Ein anderer Schwerpunkt bildete der Als einen zentralen methodischen Schwerpunkt lässt sich in vielen Referaten und Bereich Film und Populäre Musik (bzw. World Music) wie z.B. der Vortrag Joseph Get- Sektionen der Versuch ausmachen, die Disziplinen bewusst zu vernetzen. So wurden ters hinsichtlich des Indischen Kinos »A New Sound for a Globalizing India?« (Toronto Fragestellungen der Musikethnologen z.B. auf die klassische historische Disziplin ange- 2000, S. 292) oder Maria Chows »In Search for a Voice: The Dilemmas behind Early wandt, womit natürlich auf das Phänomen World Music auch methodisch angemessen Chinese Film Songs« (Toronto 2000, S. 275f). In der gleichen Kategorie ist auch der reagierte, etwa in der Sektion »Past, Present and Future in Medevial World-Music Stu- Vortrag von Jason Hanley anzusiedeln: »Images of Facist and Nazi Propaganda in the dies« (Toronto 2000, S. 98f; siehe auch: »New Histories of Western Music«, Toronto Music Videos of Ministry and Laibach« (Toronto 2000, S. 284). Die von mir für die Kon- 2000, S. 267f). Im Bereich der Queer studies wurde eine Sektion zur Thematik »Pop ferenz mitorganisierte Sektion »Visualizing Music« setzte sich mit der Vorgeschichte Divas and the Homosexualisation of America« (Toronto 2000, S. 252) angeboten, eine der intermedialen Vernetzung mit Referaten zur Grand Opéra, zu Liszt und zur Tableau- andere Sektion im Bereich der Genderforschung befasste sich mit »Masculinity and Mu- Ästhetik des 18. und 20. Jahrhunderts auseinander (Toronto 2000, S. 84f). sic« (Toronto 2000, S. 97f). Besonders auffällig war in Toronto die häufige Beschäftigung mit dem der Verbrei- Weil es meinen eigenen Forschungschwerpunkt der Musik und ihrer visuellen Kul- tung nach wohl wichtigtsen audiovisuellem Medium unserer Zeit, nämlich dem Fernse- tur betrifft und ich im letzten Teil dieses Beitrags auf diese Thematik wieder zurück- hen. Hier wiederum fielen insbesondere die vielen Referate zum Thema mtv auf. Einige kommen werde, möchte ich genauer und wiederum beispielhaft auf den Schwerpunkt der Referenten, die sich diesem Thema widmeten, waren nur unwesentlich älter als der Film und Musik und die gebotene Vielfalt der diesbezüglichen Ansätze eingehen. Al- Musiksender selbst. Mit dieser sehr jungen Generation von Musikwissenschaftlern er- leine die Quantität der Beiträge, die sich mit Film, Video, Fernsehen und anderen Bild- hält das Fach eine neue akademische Selbstverständlichkeit. Besonderen Eindruck – um medien im Kontext der Musik auseinandersetzten, bestätigen die Feststellung James damit diesen Überblick abzuschließen – hinterließ das Referat von Melanie Lowe mit Deavilles im Abstract zur Sektion »Negotiating Culture through Music and Visual Me- dem Titel »Claiming Amadeus: Hollywood’s Appropriation and Resignification of Mo- dia«: »The study of the intersections between music and the film media is one of the zart« (Lowe 2002). Lowe beobachtete die Bedeutungsveränderung von Mozarts Musik most rapidly expanding areas of scholarly inquiry in music at the present, profitably en- anhand des Gebrauchs dieser Musik in Kino und Fernsehen. Die Musik zu Mozarts »Re- gaging specialists in such diverse fields as American music, popular music, ethnomusi- quiem« etwa erfährt – so Lowe – in unterschiedlichen Kontexten von der Musik in der cology, gender studies in music, and historical musicology, as well as film studies.« (To- Werbung bis hin zu Formans berühmtem Film eine je völlig andere Bedeutung neu zu- ronto 2000, S. 265) gewiesen. Musik, die in die Repertoires der Weltmusik Eingang gefunden hat, erweist Dass der Film Beziehungen und Querverbindungen zu all den von Deaville genann- sich so als Projektionsfläche (von etwas Anderem), je nachdem in welchem Kontext zeit- ten Disziplinen zulässt, liegt am Medium und seiner Aktualität selbst. Die aktuelle Qua- lich oder räumlich sie erklingt. Die Musik, wie sie sich zum Markt und zur Verkäuflich- lität der Medien Film und Fernsehen als multimediale, multikulturelle und sozial allge- keit von Fremdprodukten (in der Werbung) und ihrer eigenen Produkte (der cd, des Vi- mein verbindliche Genres schafft eine ideale Oberfläche, die auseinander driftenden deos) verhält, scheint mir eines der ganz großen Themen zukünftiger musikwissen- Einzelaspekte und -disziplinen zusammenzulesen. Das Medium Film, so die These, ist schaftlicher Beschäftigung gerade im Kontext von Globalisierung. wie kein anderes geeignet, heute zu demonstrieren, was Weltkultur im allgemeinen und Die Zusammenfassung dessen, was im August 2002 beim alle fünf Jahre stattfin- was World Music im besonderen angesichts der fortschreitenden Globalisierung von denden Treffen der Internationalen Gesellschaft für Musikforschung (ims) hinsichtlich Kommunikation bedeutet. Der Begriff der »Oberfläche« ist hier durchaus mehrdeutig neuer Methodik und Inhalte vorgestellt wurde, fällt – leider – sehr viel kürzer aus. Es und sogar didaktisch-methodisch zu verstehen. Er ist einmal im Sinne des Mediums mochte am Konferenzort Leuven in Belgien gelegen haben, wo traditionell die Erfor- selbst lesbar, wo der screen die akustischen und visuellen Komponenten von Bild und schung der Musik des Mittelalters und der Renaissance im Mittelpunkt steht. Aber die Ton wahrnehmungs-ästhetisch verbindet. Zum anderen ist er symbolisch zu verstehen: hohe Konzentration auf musikwissenschaftliche Fragestellungen, mit denen die Philolo- Die »Oberfläche« wird anhand weiter gehender Analyse auf die tiefere Dimension hin gie, die (schriftlichen) Quellen sowie strukturelle, formale, theoretische und ästhetische untersucht – auf das, was hinter dem Medium steckt, auf das, worauf die Oberfläche ver- Diskussionen in den Mittelpunkt gerückt wurden, können auch tiefergehend interpre- weist. tiert werden. Wirkte die Vielfalt des Treffens in Toronto fast einschüchternd, so fiel dem- Eine Reihe von Beiträgen in Toronto im Kontext von Film und Musik widmeten sich gegenüber die Eintönigkeit des Gebotenen in Leuven (trotz der vielen Referate) auf. Be- dem herkömmlichen Zugriff auf die Thematik über den Begriff der Filmmusik. Beson- deutete Toronto einen weiteren Schritt in die – wenn man so möchte – »Vergesellschaft- dere Aufmerksamkeit soll im Zusammenhang hier der Sektion zukommen, die diesen lichung« oder »Wieder-Vergesellschaftlichung« von Musik, so war Leuven vergleichbar Zugriff bewusst interdisziplinär anlegte und Filmmusik kontextualisierte: nämlich mit dem Rückzug in den Elfenbeinturm. 56 57
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« Die Sektion etwa, in die mein eigenes Referat zu Jimi Hendrix und dem Medienbe- Die mediale Komponente der Musik rückt bei dieser Betrachtungsweise in den Mit- griff in der Musik integriert war, führte den Titel »World Music Today«. Das Referat zu telpunkt, ausgehend von folgender Grundthese. Musik benötigt – vielleicht mehr als Hendrix wurde hier mit folgenden weiteren Themen zusammengfasst: Ein Vortrag be- jede andere Kunst – das Moment des Performativen, und Musik bedarf der Vermittlung: handelte die russische Avantgarde in den 1910er Jahren; ein Referat setzte sich mit dem entweder in der Live-Aufführung oder aber über bestimmte Medien wie audio- oder au- Gottbegriff traditioneller indischer Musik auseinander; ein weiteres beschäftigte sich diovisuelle Tonträger. Philip Auslander hat die Verbreitung von Musik über solche mit dem chinesischen Musikinstrument chin; und ein letztes Referat war einer Projekt- Tonträger als »mediatized performance« – also als mediatisierte Performance – gekenn- darstellung gewidmet, die untersuchte, wie man Schüler in Arnheim in Holland an klas- zeichnet (Auslander 1999, S. 5), ein Begriff, der darauf zielt, dass die Wahrnehmung sische Musik heranzuführen sucht (Leuven 2002, S. 250-253 mit Abstracts der Vor- von Musik heute nur in den seltensten Fällen auf dem live vollzogenen Akt der Auffüh- träge). Eine solche als »Sektion« ausgewiesene Reihe von Einzelvorträgen, der die ge- rung basiert. Soll die Musik hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz hinterfragt meinsame Grundlage fehlte, konnte weder für Referierende noch für Zuhörer werden, so sind zeitnahe Vermittlungsformen am ehesten geeignet, den Diskurs über Anregung zur gegenseitigen Vernetzung bieten. Die Zusammenstellung der Referate Musik in der Gesellschaft zu führen. Wir leben in einer visuell zentrierten Kultur, und unter dem Begriff der World Music hatte etwas Zufälliges, womit der Begriff selbst ad ab- das Medium Film bietet sich aus verschiedenen Gründen an, den Begriff der »mediati- surdum geführt und diskreditiert wird. zed performance« weitergehend im Kontext der Musikwissenschaft zu bedenken. Es soll nicht unerwähnt bleiben: auch in Leuven hat es Referate zu Genderkonstruk- Eine Vorlesungs- oder Seminareinheit könnte pro Sitzung eine Form der mediati- tion, zu Musik und Homosexualität sowie eine mit drei Referaten besetzte Sektion zu sierten Musikaufführung in den Mittelpunkt der Erörterung stellen. Es könnte sich hier- Musik und Film gegeben. Außerdem widmete sich eine große (und sehr beeindru- bei um die Dokumentation eines Konzerts handeln, um eine Musikdokumentation, um ckende Sektion) explizit der Fragestellung des Wandels der Musikgesellschaft und der eine visuelle Adaption entweder von klassischer Musik oder von Popmusik, um die Ver- Globalisierung (»Concepts of Musical Change [1]«, Leuven 2002, S. 152-154). Insgesamt filmung eines Musiktheaterwerks bzw. dessen Adaption für den Film, um einen Spiel- aber blieben diese Themen die Ausnahmen und das, was man unter New Musicology in film mit großen musikalischen Anteilen oder um einen – im weitesten Sinne – Kunst- einer sinnvollen interdisziplinären Vernetzung verstehen könnte, fand in Leuven offen- film, in dem die Musik eine zentrale Rolle spielt. In jedem dieser Beispiele ist der Film, bar nicht statt. Vielleicht war dies Zufall; vielleicht hing es an dem, was an Referaten an- das Video oder der Clip das Ergebnis einer im weitesten Sinne künstlerischen Produk- gemeldet worden war; vielleicht lag es an den hohen Kongressgebühren, dass jüngere tion, in der Musik im Kontext von bewegten Bildern erklingt und für die der Regisseur Wissenschaftler sich nicht aufgerufen fühlten, ein Referat anzumelden. Es sei dahinge- verantwortlich ist. stellt. Das nächste Treffen der ims im Jahr 2007 wird es zeigen, ob es sich bei dem in Obwohl die Unterrichtseinheit auf das Medium Film bzw. Video zielt, geht es nur Leuven zu Tage getretenen Konservatismus um einen Trend der Disziplin auf internati- am Rande um Filmmusik im engeren Sinne der Begrifflichkeit (vgl hierzu Mungen onaler Ebene handelte oder ob die Erneuerung des Fachs sich auch hier fortsetzt. [2003a]). Das Themenfeld Musik und Film, wie es hier angesprochen ist, umfasst tat- sächlich wesentlich mehr als »nur« die Musikgestaltung in Spielfilmen. Film in den hier ausgewählten Beispielen wird gleichsam zum sekundären Medium, das dem primären V. Medium der Musik dienstbar gemacht wird. Folgende drei Überlegungen könnten bei der Zusammenstellung konkreter Bei- Abschließend möchte ich exemplarisch auf die Möglichkeiten eingehen, die die histo- spiele und Genres als Leitfaden dienen: risch zu nennenden Veränderungen eröffnen. Gerade in Hinsicht auf methodische t 1. Film als Medium in seiner Verknüpfung von Bild und Ton stellt die Musik in ei- Überlegungen ergeben sich Optionen, die hier diskutierten Felder für die Lehre an Uni- nen visuellen Kontext und erneuert somit – als zeitnahes Medium – die Attraktivität versität oder Musikhochschule – und auch in zu modifizierender Form an allgemein bil- auch von historischer Musik. Dies ist ein wesentlicher Aspekt, wenn es darum geht, vor denen Schulen – nutzbar zu machen. allem Schülerinnen und Schüler an allgemein bildenden Schulen für klassische Musik Anhand des Themas »Film und Musik« plädiere ich für eine Methodik, die sich – im zu interessieren. Nicht unerheblich in diesem Zusammenhang dürfte der Effekt der Ni- allerweitesten Sinne – als Aufführungs-Analyse versteht, ein in der Musikwissenschaft veauangleichung von klassischer Musik und Populärer Musik aus Perspektive dieser Al- bisher vernachlässigtes Feld, das stark theaterwissenschaftliche Implikationen enthält tersgruppe sein. Dem mtv-Clip wird der gleiche analytische Aufwand und Raum zuge- (siehe hierzu grundlegend Münz 1998; eigene erste Untersuchungen, die mit dieser wiesen wie einer Beethoven-Sinfonie (etwa in Walt Disneys »Fantasia«). Hiermit werden methodischen Vorgabe arbeiten: Mungen [2003] und Mungen [2003a]). Grundlegend die in der klassischen Musikwissenschaft aufrecht erhaltenenen Grenzen zwischen »U« hierbei ist, dass Musik zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehr viel häufiger über audiovi- und »E« der äußeren Form nach aufgehoben. Für Studierende der Musikpädagogik ist usuelle Medien rezipiert wird als über andere Medien wie etwa die Partitur. dies ein wichtiges und immer noch notwendiges Signal aus der Musikwissenschaft. 58 59
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« Eine Vorlesungsreihe zu mediatisierter Musik-Performance und Film betont den musik- len angesprochenen Ebenen) heute in einem Maß verfügbar, wie es völlig neuartig sein pädagogischen Aspekt des wissenschaftlichen Auftrags im Besonderen. dürfte. Die Verbreitung findet nicht nur über die Filme selbst, sondern auch über deren t 2. Die hier vorgeschlagene Unterrichtseinheit rekurriert auf die beiden im Titel mei- Soundtrack statt. Hierbei ist das Vermarktungsprinzip, in dem gleichermaßen der Ver- nes Vortrags verwendeten Begriffe. Die Lehreinheit bezieht – in der hier vorliegenden kauf des Films wie derjenige der Musik befördert wird, keineswegs so neu wie es den Gliederung – auch historische, analytische oder formale Aspekte so genannter klassi- Anschein hat. Ähnliche Strategien, in etwas anderen Ausmaßen allerdings, hat es schon scher Musik in den Diskurs bewusst mit ein: Die Studierenden lernen auch etwas zu Be- im 19. Jahrhundert und spätestens seit der Stummfilmzeit gegeben, entweder über den ethovens »Pastorale«, allerdings über den bisher als »Umweg« betrachteten Strang der Verkauf von sheet music oder über den Verkauf von Grammofon-Platten. Rezeptionsgeschichte. Als »neu« gegenüber der Fokussierung auf strukturanalytische t 2. Trotz der Verwendung von indischer Musik lassen sich viele Nummern der cd als Aspekte kann der Ansatz gelten, der von den Vermittlungsformen von Musik ausgeht eine Musik identifizieren, die den Traditionen vor allem der westlichen Filmmusik nahe und nicht von text-zentrierten. Beispiel hierfür ist die Perspektiv-Verschiebung bei der steht. Die – aus Perspektive der ethnischen indischen Musik – »Verwestlichungs«-Ten- Analyse einer von Herbert von Karajan dirigierten Beethoven-Sinfonie in Form eines denz trifft aber in noch größerem Maße für die Gesamtanlage der Musik im Film zu, in Klassikvideos. Welche Rolle spielt der Dirigent in der Vermittlung von Musik erstens für der ein musikalisches Hauptmotiv dominant verwendet wird. Im Sinne der älteren das Orchester und zweitens für Zuschauer vor allem bei einer filmischen Umsetzung? Film- oder der Opernmusik des 19. Jahrhunderts, mit der dieses Prinzip historisch in t 3. Der Reflex zum Begriff der World Music findet in der Einheit über zwei Kompo- Verbindung steht, lässt sich dieses musikalische Motiv allerdings nicht einmal mehr als nenten statt. Erstens über bestimmte Inhalte. Als Beispiel sei hier der Indische Spielfilm Erinnerungsmotiv (und schon gar nicht als Leitmotiv) klassifizieren. Es ist eine gleich- Mira Nairs »Monsoon Wedding« von 2001 genannt, dessen Nebenprodukt – der Sound- sam omnipräsente Melodie, die den Film durchzieht, ohne dass eine eindeutige inhaltli- track – abschließend noch eigens behandelt wird. Zweitens kann er über die Art der Zu- che Konnotation erfolgt. Die Melodie wird zu so etwas wie dem musikalischen Label des sammenstellung der Reihe selbst gegeben sein. Die weitreichende Vermarktung jegli- Films als Ganzem. Die Nähe des Gebrauchs dieser Melodie zu musikdramaturgischen cher Musik – sei es Pop oder Klassik – u.a. über Film und Fernsehen macht aus einzel- Techniken, die mit dem Erinnerungsmotiv verknüpft sind, zeigt einerseits den Bezug nen Musikstücken über den jeweiligen Inhalt von weit verbreiteten Einzelwerken wie zur westlichen Musiktradition – ohne diesen lässt sich der formale Aufbau der Filmmu- Disneys »Fantasia«, Formans »Amadeus«, einer Opernverfilmung oder eines mtv-Clips sik gar nicht verstehen. Die Verwendung der Melodie zeigt aber auch die Unterschiede Weltmusik in dem Sinne, dass diese Musik potenziell überall und immer verfügbar ist. der Filmmusik-Technik jüngerer Zeit im Vergleich zu den 1930er oder -40er Jahren bzw. Sowohl medial in vielfältiger Form als auch klanglich unendlich reproduziert, kann zu einer Wagneroper. Ein historischer Anteil innerhalb der Vorlesungs-Einheit zu diese Musik auf der ganzen Welt rund um die Uhr mit all ihren Neben- und Hauptpro- »Monsoon Wedding« kann also über den Rückbezug auf solche Traditionen gewährleis- dukten wie Soundtrack, Video und Film gehört und/oder gesehen werden. tet sein: Gleichsam nebenbei lernen die Studierenden im Zusammenhang mit einem aktuellen Film und unter Heranziehung bestimmter Beispiele aus der Musikgeschichte die Bedeutung der Erinnerungs- bzw. Leitmotivtechnik bei Wagner oder einem VI. Filmmusik-Komponisten Hollywoods. t 3. Ein überaus interessanter Aspekt ergibt sich, wenn man den Soundtrack zum Das Phänomen World Music zielt demnach auf Verflechtung. Zu dem Verhältnis von Film weitgehend unabhängig vom Film analysiert. Durch die Klammerungsfunktion medialer Verfügbarkeit (von Musik), Markt und der formalen Struktur von Musik ab- der Erkennunsgmelodie des Films ergibt sich, hört man die cd von Anfang bis Ende, so schließend ein Beispiel. An der cd, die zu »Monsoon Wedding« erschienen ist, lässt sich etwas wie eine lockere formale Struktur der »Gesamtmusik«, wie sie in dieser Form nur das Zusammentreffen verschiedener Aspekte in der Verknüpfung von Markt und Musik für die cd zusammengestellt wurde. Diese Gesamtstruktur lässt sich – den Rezeptions- beschreiben. Ich betrachte für meine Demonstration absichtlich nur ein Produkt, näm- bedingungen unserer Tage folgend – in Einzelsegmente teilen, wenn man nur den ei- lich den Soundtrack und nicht den Film, auf den die Musik zurückgeht. nen oder anderen Ausschnitt der cd hört. Aber durch die verknüpfende Melodie wirkt t 1. Musik gilt im indischen Film als wesentlich konstituierendes Element. Dies zeigt sie auch als Ganzes. Es entsteht eine Musik, die sich weitgehend vom Film löst. Gerade sich unter anderem daran, dass theatral-filmische Zwischenformen wie das Film-Musi- dieser Aspekt zeigt, wie Vermarktung funktioniert. Die cd wird als Ganzes zu einer in cal hier wesentlich verbreiteter sind als im westlichen Kino. Der Film »Monsoon Wed- sich schlüssigen Folge von Musikstücken: gleichsam zu einem »Werk« mit einem domi- ding« verwendet authentisch klingende indische Musik, aber auch westlich verpopte nanten Motiv, das bei Anhörung der cd nur ganz allgemein an den Film erinnert. Mit Musik in indischem Idiom. Außerdem kommt Musik zum Einsatz, die ganz im (westli- diesem – wenn man so möchte – Werkprinzip, das von der schriftlichen Kultur westli- chen) Stil traditioneller Filmmusik gestaltet ist. Über die weite internationale Verbrei- cher Musik auf die aurale populäre Kultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts übertragen tung des gerade überaus aktuellen Genres des indischen Films in der ganzen Welt wird wird, ist die westliche, mitteleuropäische Kultur grundlegend integriert. auch diese Musik gehört und verfügbar. Historisch gesehen ist »indische« Musik (auf al- 60 61
Theoretische Beiträge Anno Mungen – »World Music« und »New Musicology« *** Cook, Nicholas/Everist, Mark (Hg) (1999): Rethinking Music. Oxford: Oxford University Press Foerster, Isolde von/Hust, Christoph/Mahling, Christoph-Hellmut (Hg.) (2001): Musikforschung: Faschismus, Nationalsozialismus. Mainz: Are Aus der Perspektive insbesondere der historischen Musikwissenschaft erweisen sich die Frith, Simon (1996): Performing Rites. On The Value Of Popular Music Cambridge. Massachusetts: Harvard allgemeinen Entwicklungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre, die unter dem Stichwort University Press Globalisierung zusammengfasst werden, als große Herausforderung. Der Musikwissen- Gerhard, Anselm (2000): Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? [Einleitung]. In: Anselm Gerhard schaft wird die Möglichkeit gegeben, sich zu öffnen und produktiv teilzuhaben am Fä- (Hg.): Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fort- schrittsglauben und Modernitätsverweigerung. Stuttgart & Weimar: Metzler cherkanon der Geistes- und Sozialwissenschaften und die Welt, in der wir leben, trotz all Lowe, Melanie (2002): Claiming Amadeus. Classical Feedback in American Media. In: American Music 20, ihrer Widersprüchen besser zu verstehen. Der historische Zweig der Disziplin sollte No. 1, Spring 2002. dazu dienen, menschliche Existenz und Gegenwart aus der geschichtlichen Perspektive Mungen, Anno ([2003], im Druck): The Music is the Message: The Day Jimi Hendrix Burned His Guitar. Film, heraus zu reflektieren. Wissenschaft darf nicht Selbstzweck bleiben. Philologie und mu- Musical Instrument and Performance as Music Media. In: Ian Inglis (Hg.): Popular Music and Film. Lon- don: Wallflower sikanalytische Methoden sind wichtige Grundlagen der Disziplin, sie müssen sich aber, Mungen, Anno ([2003a], i. V.): Filme für Musik. In: Thomas Koebner (Hg.): Film und Musik. St. Augustin: wie andere Methoden auch, in der kulturhistorischen Debatte (und damit auch im Aus- Gardez!-Verlag tausch mit neuen Methoden) immer wieder unter Beweis stellen. Musik ist Ausdruck Münz, Rudolf (1998): Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin: menschlicher Emotion und/oder Reflexion und bildet als solche einen Spiegel auf die Schwarzkopf und Schwarzkopf Gesellschaft, in der sie entsteht oder aufgeführt wird. Ihre Problematik besteht – im Ver- Lug, Robert (2001): Pop-Musik aus der Milleniums-Perspektive: Von den Troubadours zum Computerdesign. In: Heinz Geuen und Michael Rappe (Hg.): Pop und Mythos. Schliengen: Edition Argus gleich zu den anderen Künsten – im hohen Grad ihrer abstrakten Komponenten. Dieser Schneider, Albrecht (1993): Musikwissenschaft in der Emigration – Zur Vertreibung von Gelehrten und zu den Qualität mit den Mitteln und Möglichkeiten unserer Zeit gerecht zu werden ist eine der Auswirkungen auf das Fach. In: Hanns-Werner Heister, Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen (Hg.): dringlichsten Aufgaben moderner Musikwissenschaft. Die Zeit, in der wir leben, legt Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur. Frankfurt: Fischer neue Themen und neue Methoden ebenso nahe wie neue Medien der Betrachtung und Toronto (2000) Music Intersections Abstracts of Papers Read. Toronto: Musical Intersections Leuven (2002) International Musicological Society Abstracts. 17th International Congress. Leuven: Peer Analyse, die ihrerseits wiederum sowohl die Themen als auch die Methoden wesentlich beeinflussen. Die mit diesen Methoden und Themen im Zusammenhang stehenden Be- griffe New Musicology und World Music erweisen sich als Versuche, diese neuen Tenden- zen zum einen von der Disziplin und der historischen Dimension her und zum anderen vom Materialbestand und der räumlichen Ausdehnung her in einer Terminologie greif- bar werden zu lassen. Als wie tauglich sich diese Begriffe im Laufe der kommenden Jahre erweisen werden, steht dahin. Dass aber die neuen Inhalte und Methoden auch das Fach verändern werden – unter welchem Etikett auch immer – dürfte heute, will das Fach zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine gesellschaftliche Relevanz wieder erlangen, fast als sicher gelten. Literatur Adam, Nina/Heesch, Florian/Rode-Breymann, Susanne (2002): Über das Gefühl der Unzufriedenheit in der Disziplin. In: Die Musikforschung 55, S. 251-273. Altenburg, Detlef/Bennwitz, Hanspeter/Leopold, Silke/Mahling, Christoph-Hellmut (2001): Zu Situation und Zukunft des Fachs Musikwissenschaft. In: Die Musikforschung 54, S. 352-360. Auslander, Philip (1999): Liveness. Performance In A Mediatized Culture. New York: Routledge Baltzis, Alexandros (2002): Globalization and Musical Culture [Script, unveröffentlichter Vortrag ims-Mee- ting 2002, Leuven] Brinkmann, Reinhold/Wolff, Christoph (Hg., 1999): Driven into Paradise. 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