NFP 51 Integration und Ausschluss - Bulletin Nr. 2, Dezember 2005 - SNF

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NFP 51                Integration und Ausschluss
                                         Bulletin Nr. 2, Dezember 2005
                                         www.nfp51.ch

                                                        Schwerpunkt
Editorial

Soziale Sicherheit und Demokratie stehen in
                                                        Der «weiche Garantismus»
einem direkten Zusammenhang. Beide haben                der Schweiz
zum Ziel, Teilhaberechte zu garantieren und für
alle die faktische Mög-
                                                        Teilhaberechte in der Sozialpolitik
lichkeit zu schaffen, an
                                                           Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka
gesellschaftlichen Ein-
richtungen und Entschei-
dungen zu partizipieren.
                                                        Auch in der Schweiz gilt der Sozialstaat seit langem als
Sozialstaatlichkeit bedeu-
                                                        krisenhaft und problematisch. Arbeitslosigkeit und Armut
tet vor allem Existenz-
                                                        werden von Sozialpolitikwissenschaftlern als Hinweis
sicherung, sozialen Aus-
                                                        darauf gewertet, dass die «Inklusion» aller Bürgerinnen und
gleich, intergenerative
                                                        Bürger in alle Funktionssysteme der Gesellschaft – so die
Solidarität. Sie hat aber
                                                        klassische Bestimmung der Sozialpolitik bei Talcott Parsons
gleichzeitig auch einen
                                                        und Niklas Luhmann – zunehmend misslingt. Doch sind
direkten Einfluss auf die politische Mitwirkung
                                                        Zweifel an einer allzu negativen Deutung des Sozialstaats
in unserer Gesellschaft und auf deren
                                                        angebracht. Aus international vergleichender Perspektive
Ausgestaltung.
                                                        kann die Schweizer Sozialpolitik geradezu als Paradigma
Ob die Schweiz dabei einen «Sonderweg»                  eines neuen, «garantistischen» Wohlfahrtsstaates (Wohl-
beschreitet, der als Vorbote eines neuen Typs           fahrtsregimes) interpretiert werden.
bezeichnet werden kann, wie Michael Opielka             «Garantismus» in der Sozialpolitik heisst zweierlei:
betont, kann offen bleiben. Wie die gegenwärti-         (1) Sozialpolitische Rechte und Pflichten beziehen sich auf
gen Diskussionen in mehreren europäischen               den Bürgerstatus (und nicht auf den Arbeitnehmerstatus).
Ländern zeigen, sind nämlich die Fragen nach            (2) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrecht auf
Mass, Ausgestaltung und vor allem politischer           Teilhabe an allen sozialen Funktionssystemen.
Priorisierung in der Sozialpolitik trotz aller sys-
temtechnischer Unterschiede die gleichen. Was           Wohlfahrtsregime der Schweiz: vom Liberalismus zum
für die Schweiz – im Sinne Opielkas – vielleicht        «weichen» Garantismus
in besonderem Masse gilt, ist die breite politi-        Noch in den 1970er Jahren galt die Schweiz aufgrund ihrer
sche Verankerung des Wohlfahrtssystems.                 relativ niedrigen Sozialleistungsquote1 in den meisten ver-
Der gefestigte gesellschaftliche Konsens über           gleichenden Studien als liberaler Wohlfahrtsstaat, der am
den Generationenvertrag und die                 t       ehesten mit Grossbritannien, den USA oder Australien,
                                                        nicht aber mit anderen kontinentaleuropäischen Staaten
                                                        verglichen wurde, wie etwa von Gøsta Esping-Andersen
                                                        (Esping-Andersen 1990, S. 81), dem klassischen Theoreti-
                                                        ker der «Wohlfahrtsregime». Spätestens seit den 1990er
                                                        Jahren wurde dieser Schweizer «Sonderweg» in der Sozial-
                                                        politik jedoch empirisch revidiert, sodass auch eine theo-
                                                        retische Revision ratsam erscheint. Die Schweizer Sozial-
leistungsquote hat sich dem europäischen Mittelwert
    t solidarische Umverteilung erweist sich immer
                                                                                angeglichen und ihn inzwischen sogar übertroffen – eine
    wieder als resistent gegenüber Abbautendenzen,
                                                                                rasante Entwicklung innerhalb von weniger als 20 Jahren
    Ökonomisierungstrends, Individualisierungs-
                                                                                (vgl. Abbildungen 1 und 2).
    und Privatisierungsversuchen.
    Dennoch haben auch wir die Befürchtung des                                  Die Erklärung der Demokratieforschung für diese Ent-
    Soziologen Zygmunt Baumans, der Sozialstaat                                 wicklung lautet, dass die basisdemokratische Struktur der
    sei zum Sicherheitsstaat degeneriert, ernst zu                              Schweiz die Einführung neuer Leistungs- und Umvertei-
    nehmen. Bauman zufolge haben die Regie-                                     lungssysteme zwar erheblich erschwert; sind diese jedoch
    rungen den existenziellen Schutz der Bürgerin-                              erst eingeführt, erweisen sie sich als hochresistent.
    nen und Bürger aufgegeben und gebärden sich
    stattdessen als der letzte Schutzwall für das                               Da sich die Schweiz also nicht mehr ohne Weiteres als
    individuelle Überleben der BürgerInnen gegen                                Modell des liberalen Wohlfahrtsstaates bezeichnen lässt,
    unheimliche Gefahren, die irgendwo im Dunkel                                wurde jüngst vorgeschlagen, ihren «Sonderweg» als Vor-
    lauern sollen.                                                              boten eines neuen Regimetyps zu fassen, der die klassi-
    In den kommenden Jahren stehen mehrere Revi-                                sche, von Esping-Andersen beschriebene Trias liberal/kon-
    sionen zu verschiedenen Sozialversicherungs-                                servativ/sozialistisch um die «garantistische» Dimension
    zweigen an. Die Diskussion um die Dynamik von                               erweitert (Opielka 2004b). In der Schweiz mit ihren unge-
    Integration und Exklusion durch die Gesetz-                                 wöhnlich stark am Bürgerstatus und an Teilhaberechten
    gebung und vor allem bei der Anwendung der                                  fokussierten Leistungssystemen (AHV/IV, Kopfprämien
    Gesetze ist von höchster Aktualität. Mehrere                                usf.) scheint sich eine neuartige Synthese der bisherigen
    Projekte aus dem NFP 51 werden hierzu wertvol-                              politischen Grossmodelle zumindest in der Sozialpolitik
    le Beiträge liefern können. Nicht zufällig bildet                           entwickelt zu haben.
    dieses Thema einen der Schwerpunkte des
    Programms.                                                                  In Abbildung 3 sind die vier Regimetypen und ihre Variablen
                                                                                zusammengestellt. Mit Hilfe der den Variablen beigegebe-
    Dr. Claudia Kaufmann                                                        nen Indikatoren kann der Regimetyp eines Wohlfahrts-
    Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 51                                      staates ermittelt werden. Für die drei klassischen Regime-
                                                                                typen wurden die Zuordnungen von Esping-Andersen bzw.

                                   Abbildung 1
                                   Soziallast- und Sozialleistungsquote Schweiz 1948 –2001                  (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)

                                   30 %

                                   25 %

                                   20 %

                                   15 %

                                   10 %

                                    5%

                                    0%
                                      1948       1952   1956    1960    1964    1968    1972     1976    1980    1984    1988    1992    1996        2001

                                          Soziallastquote Nationale Buchhaltung                    Soziallastquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
                                          Sozialleistungsquote Nationale Buchhaltung               Sozialleistungsquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
                                   Soziallast- und Sozialleistungsquote gemäss Nationaler Buchhaltung (1948–1995) und gemäss Volkswirtschaftlicher
                                   Gesamtrechnung VGR (1990–2001)

                                   Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004, Bern, S. 70

2        NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
aus der Sekundärliteratur übernommen. Für den Typus                   Abbildung 2
«Garantismus» liegen vergleichbare Berechnungen noch                  Sozialschutzausgaben 2001 im europäischen Vergleich
nicht vor, sie beruhen daher auf Schätzungen und Erfah-               (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)
rungswerten.
                                                                                  Irland                        14.6 %
In Abbildung 4 wird die Regimetypologie soziologisch-sys-                        Island                                  20.1 %
tematisch skizziert, wobei die Schweizer und – zum                            Spanien                                    20.1 %
                                                                           Luxemburg                                      21.2 %
Vergleich – die deutschen Sozialpolitikfelder entsprechend                    Portugal                                        23.9 %
zugeordnet werden. Dies bedeutet, dass die Regimetypen                           Italien                                        25.6 %
einerseits (vertikale Achse) über Sozialpolitikfelder und                   Norwegen                                            25.6 %
deren Hauptproblemstellung mit den vier zentralen gesell-                     Finnland                                          25.8 %
                                                                         Griechenland                                             27.2 %
schaftlichen Subsystemen – Wirtschaft, Politik, Gemein-
                                                                       Grossbritannien                                            27.2 %
schaft, Legitimation – in Verbindung gebracht werden                            EUR-12                                            27.4 %
(Beispiel: Dekommodifizierung als Unabhängigkeit von                            EUR-11                                            27.4 %
Marktkräften wirkt v.a. im Wirtschaftssystem). Anderer-                           EU-15                                            27.5 %
                                                                               Belgien                                             27.5 %
seits wird gezeigt, dass jeder Regimetyp ein spezifisches
                                                                          Niederlande                                              27.6 %
Steuerungsprinzip in den Mittelpunkt stellt (beispielsweise                 Österreich                                              28.4 %
der Liberalismus den Markt; horizontale Achse, oben).                         Schweiz                                                28.9 %
                                                                            Dänemark                                                  29.5 %
                                                                          Deutschland                                                 29.8 %
Hinsichtlich der Regimezuordnungen verschiedener Poli-
                                                                            Frankreich                                                30.0 %
tikfelder gilt: Staaten können auf dem einen Sozialpolitik-                 Schweden                                                    31.3 %
gebiet eher liberal, auf einem anderen dagegen sozialistisch                               0%           10 %         20 %          30 %
sein; ein klassisches Beispiel dafür ist Grossbritannien, das
                                                                      Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004,
als Stammland des Liberalismus über ein staatliches Ge-
                                                                      Bern, S. 62
sundheitswesen verfügt.

Der letzte Schweizer Familienbericht von 2004 (der erste
entstand 1978) machte darauf aufmerksam, dass die
Schweizer Familienpolitik trotz der im europäischen
Vergleich hohen Frauenerwerbsquote sowohl hinsichtlich
des Ausgabenniveaus wie ihrer qualitativen Schwerpunkte
noch sehr residual, d.h. minimalistisch ausgerichtet ist,       vative Verbändeherrschaft (Korporatismus), aber ebenso
was dem liberalen Welfare-Regimetyp entspricht. Insoweit        wenig auch eine liberale Marktideologie in der Sozial-
bedarf jede makrotheoretische Verortung von Sozial-             politik durchsetzen.
politiksystemen der Ergänzung durch Detailanalysen.
                                                                Diese Grundrechtsdynamik hängt gerade in der Schweiz
Dennoch: Die Regimetypologie kann einen erheblichen             mit der direkten Demokratie zusammen, die – anders als in
analytischen Ertrag abwerfen. Sie lenkt den Blick vor allem     Kalifornien, der einzigen weltweit vergleichbaren politi-
auf die Dimension der sozialpolitischen Kultur. Die klassi-     schen Einheit – auf Bundes-, also nationaler Ebene sozial-
schen Politiklegitimationen liberal/sozialistisch/konserva-     politische Entscheidungen prägt (vgl. Obinger/Wagschal
tiv – also Mitte/Links/Rechts – wurden in den letzten Jahr-     2001). Für die politische Gemeinschaft der Schweiz ist
zehnten durch eine globale Agenda sozialer Grundrechte          dabei die Entwicklungsdynamik und -logik der Renten-
herausgefordert, die sich nicht umstandslos dieser Trias        versicherung AHV von fundamentaler Bedeutung. Indem
unterordnen lässt. Es gibt starke Argumente dafür, dass         sie praktisch die gesamte erwachsene Bevölkerung ein-
Demokratien eine evolutionäre Dynamik hin zu sozialen           schliesst – was seit 1996 durch die finanztechnisch anders
Grundrechten entfalten, die durch geeignete Politikstruk-       organisierte «Kopfpauschale» auch in der Krankenver-
turen (v. a. direkte Demokratie) gestützt werden. Der           sicherung geschieht –, werden Teilhaberechte tendenziell
Regimetyp «Garantismus» trägt dieser Dynamik Rech-              grundrechtsähnlich garantiert. Es gibt zudem gute Gründe
nung. Der Schweizer Wohlfahrtsstaat kann vor diesem             zu der Annahme, dass die garantistische Regime-Konzep-
Hintergrund als «weich garantistisch» (Carigiet/Opielka         tion angesichts eines globalen Sozialabbaus und -umbaus
2006) gelten. In der Schweiz konnte sich weder sozialde-        als krisenresistenter gelten kann. In diese Richtung wei-
mokratische Staatszentrierung (Etatismus) noch konser-          sen neuere Studien der Weltbank (z. B. Queisser/White-

                                                                                                NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005        3
Abbildung 3
Vier Typen des Wohlfahrtsregimes

    Variable                                                                             Typen des Wohlfahrtsregimes
    – Indikatoren                                           liberal             sozialdemokratisch    konservativ            garantistisch
    Dekommodifizierung: Schutz gegen Marktkräfte            schwach             stark                 mittel                 stark
    und Einkommensausfälle                                                                            (für «Familien-
    – Einkommensersatzquoten                                                                          ernährer»)
    – Anteil individueller Finanzierungsbeiträge (invers)

    Residualismus                                           stark               schwach               stark                  schwach
    – Anteil von Fürsorgeleistungen an gesamten
      Sozialausgaben

    Privatisierung                                          hoch                niedrig–mittel        niedrig–mittel         mittel
    – Anteil privater Ausgaben für Alter bzw. Gesundheit
      an jeweiligen Gesamtausgaben

    Korporatismus/Etatismus 1                               schwach             mittel                stark                  schwach
    – Anzahl von nach Berufsgruppen differenzierten
      Sicherungssystemen
    – Anteil der Ausgaben für Beamtenversorgung

    Umverteilung                                            schwach             stark                 schwach                mittel
    – Progressionsgrad des Steuersystems
    – Gleichheit der Leistungen

    Vollbeschäftigungsgarantie                              schwach             stark                 mittel                 mittel
    – Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik
    – Arbeitslosenquote, gewichtet nach
      Erwerbsbeteiligung

    Bedeutung von
    – Markt                                                 zentral             marginal              marginal               mittel
    – Staat                                                 marginal            zentral               subsidiär              subsidiär
    – Familie/Gemeinschaft                                  marginal            marginal              zentral                mittel
    – Menschen-/Grundrechte                                 mittel–hoch         mittel                marginal               zentral

    Dominante Form der                                      individualistisch   lohnarbeits-          kommunitaristisch-     Bürgerstatus,
    sozialstaatlichen Solidarität                                               zentriert             etatistisch            universalistisch

    Dominante Form der                                      Markt               Staat                 Moral                  Ethik
    sozialstaatlichen Steuerung

    Empirische Beispiele                                    USA                 Schweden              Deutschland, Italien   Schweiz
                                                                                                                             («weicher
                                                                                                                             Garantismus»)

1Korporatismus: hohes Mass an unmittelbarer Aushandlung zwischen Interessenverbänden (v.a. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) und Staat;
Etatismus: hohe Bedeutung staatlicher Intervention, insbesondere des Zentralstaats

Quelle: Opielka 2004b, S. 35 (nach G. Esping-Andersen und J. Kohl), überarbeitet und erweitert

4           NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Abbildung 4
Rekombination der vier Typen des Wohlfahrtsregimes mit gesellschaftlichen Subsystembezügen
am Beispiel Schweiz–Deutschland

                                                                                     Wohlfahrtsregime

    Politisches               Wohlfahrtsregime            liberal           sozialistisch     konservativ        garantistisch
    Legitimationsmodell                                   (Markt)           (sozial-          (Moral)            (Ethik)
    (Level 4) a                                                             demokratisch)
                                                                            (Staat)

    Gemeinschaft              Care-Arrangement            privat            öffentlich        privat             gemischt
    (Level 3)                 (Familienpolitik b )        (CH)                                (D)

    Politik                   Ungleichheit                hoch              gering            mittel             mittel
    (Level 2)                 (Steuerpolitik b )                                              (D)                (CH)

    Wirtschaft                Dekommodifizierung          gering            mittel            gering             hoch
    (Level 1)                 (Arbeitsmarkt, Rente,       (CH d )                             (D)                (CH c )
                              Gesundheit b)

a   Legitimativ dominierendes Steuerungsprinzip («strukturelle Institution»), die Bezeichnung Level bezieht sich auf die steigenden
    Stufen systemischer Komplexität der Subsysteme der Gesellschaft (vgl. Opielka 2004a).
b   Dominante sozialpolitische Regulierungsbereiche.
c   Hohe Dekommodifizierung der Schweiz nur für Rente und Gesundheit.
d   Die Arbeitsmarktpolitik der Schweiz ist eher liberal ausgerichtet.

house 2003), die dem Schweizer Drei-Säulen-System, darin                             digma verhaftet scheinen. So fordert der Arbeitgeber-
vor allem der AHV, eine weltweite Modellfunktion in Bezug                            vertreter Hasler in besagtem Artikel, dass die Firmen
auf ökonomische Nachhaltigkeit und Schutz vor Armut                                  durch die Arbeitsintegration nicht überfordert werden
bescheinigen.                                                                        dürften: «Das muss die vermittelnde Behörde übernehmen
                                                                                     können.» Zugleich scheint ihm dieses (etatistische) Dele-
Quo vadis, Schweiz?                                                                  gieren von Sozialverantwortung an den Staat nicht ganz
Der Direktor des Schweizer Arbeitgeberverbandes, Peter                               geheuer: «Es besteht zumindest eine gesellschaftlich-
Hasler, hat in der Neuen Zürcher Zeitung (3.10. 2005, S. 7)                          moralische Mitverantwortung, sich um eingliederungsbe-
von «nötige(n) Tabubrüche bei Sozialpartnern und Gesell-                             dürftige Menschen zu kümmern und diese Aufgabe nicht
schaft» gesprochen und «Arbeitsintegration als Königs-                               einfach dem Staat zu überlassen.» Diese Widersprüchlich-
weg» bezeichnet: «Wer nicht spurt, muss den Anspruch auf                             keiten können positiv interpretiert werden: Teilhaberechte
Taggelder oder andere Leistungen verlieren.» Markige                                 werden in der Schweiz breit akzeptiert. Unklar ist freilich
Forderungen nach Aktivierung bzw. workfare statt welfare                             häufig, wie sie zu realisieren sind.
kennzeichnen die Sozialpolitikdiskussion der letzten zehn
Jahre in fast allen westlichen Wohlfahrtsstaaten (von der                            Die Schweizer Sozialpolitik steht in den nächsten Jahren
Sozialhilfereform unter Clinton 1996 bis zu Agenda 2010                              vor der Herausforderung, in der Familien-, Arbeitsmarkt-
und Hartz IV in Deutschland). Inwieweit stellt diese Ent-                            und Armutspolitik Konzepte zu entwickeln, die Teilhabe
wicklung die skizzierte «garantistische» Ausrichtung des                             garantieren und damit Exklusion verhindern, wie dies in
Schweizer Sozialstaats in Frage?                                                     der Renten- und Gesundheitspolitik in recht vorbildlicher
                                                                                     Weise gelang. Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich vor
Es ist wichtig zu unterscheiden, dass wir von «weichem»                              diesem Hintergrund durchaus Empfehlungen geben.
Garantismus im Wesentlichen nur im Hinblick auf die                                  Teilhabe erfordert Verfügung über Ressourcen, soziale
Sozialpolitikfelder Alterssicherung und Gesundheit spra-                             Grundrechte erfordern ein hohes Mass an Standardisie-
chen, während die Familien- und Arbeitsmarktpolitik (ein-                            rung. Soziale Dienste, von der Kindertagesstätte bis zur
schliesslich Armutspolitik) noch stark dem liberalen Para-                           Berufsintegration, müssen zwar am individuellen Fall aus-

                                                                                                                   NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005   5
gerichtet sein, um effektiv zu sein. Ihre Finanzierung frei-       erkennung erhalten, die im Leistungswettbewerb des
lich darf nicht zu sehr von lokalen und kantonalen                 Arbeitsmarktes nicht mithalten können – oder deren
Zufällen abhängen. Das ist eine der Lehren der Kranken-            Leistungen (noch) nicht ausreichend gewürdigt werden,
versicherung.                                                      wie bspw. die Erziehungsleistung in der Familie. Modelle
                                                                   eines Grundeinkommens – verbunden mit professionellen
Eine der grossen Stärken der Schweizer Sozialpolitik ist           sozialen Diensten – könnten ein tragfähiger Kompromiss
die Mischung aus Pragmatismus und sozialer Wertorien-              zwischen Förderung von Leistungswillen und garantierten
tierung, die auch in Referenden zum Ausdruck kommt. Die            Teilhaberechten sein.
liberale Grundorientierung des Arbeitsmarktes steht nicht
in Frage. Vollbeschäftigung kann durch Strukturpolitik             1Verhältnis von Sozialleistungen und Bruttoinlandsprodukt.
                                                                   In den Übersichten des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV)
unterstützt, durch politische Interventionen aber nicht
                                                                   werden auch die Begriffe «Soziallastquote» (siehe Abbildung 1)
garantiert werden. Es wäre zu bedenken, ob die guten
                                                                   und «Sozialschutzausgaben» (siehe Abbildung 2) verwendet.
Erfahrungen mit der AHV übertragen werden könnten auf
eine «Grundeinkommensversicherung» nach dem gleichen
Prinzip, die alle Einkommensleistungen des Sozialstaats                Literatur
zusammenfasst und allen vermittlungsbereiten Arbeits-                  Carigiet, Erwin/Opielka, Michael, 2006, «Deutsche Arbeitnehmer –
losen, Personen in formalen Ausbildungen, Eltern mit klei-             Schweizer Bürger? Zum deutsch-schweizerischen Vergleich sozialpoliti-
nen Kindern, Erwerbsunfähigen und Langzeitkranken ein                  scher Dynamiken», in: Carigiet, Erwin/Mäder, Ueli/Opielka,
                                                                       Michael/Schulz-Nieswandt, Frank (Hrsg.), «Wohlstand durch Gerechtigkeit.
Grundeinkommen – und, wie in der AHV, maximal das
                                                                       Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich», Zürich:
Doppelte des Grundeinkommens – garantiert. Diejenigen                  Rotpunkt Verlag (i.V.)
Personen, die arbeitslos, aber nicht vermittlungsbereit
                                                                       Esping-Andersen, Gøsta, 1990, «The three worlds of welfare capitalism»,
sind, würden 50 Prozent des Grundeinkommens als rück-
                                                                       Princeton: Princeton University Press
zahlbares Darlehen erhalten (vgl. Opielka 2004b). Ein sol-
ches Modell könnte für alle politischen Lager akzeptabel               Obinger, Herbert/Wagschal, Uwe, 2001, «Zwischen Reform und Blockade:
                                                                       Plebiszite und der Steuer- und Wohlfahrtsstaat», in: Schmidt, Manfred G.
sein und damit auch in einem Referendum mit Annahme
                                                                       (Hrsg.), «Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess
rechnen – natürlich erst nach ausführlicher öffentlicher
                                                                       und Leistungsprofil», Opladen: Leske + Budrich, S. 90-123
Diskussion.
                                                                       Opielka, Michael, 2004a, «Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach
                                                                       Hegel und Parsons», Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass sich dieses
                                                                       ders., 2004b, «Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven»,
Paradigma im weiteren Globalisierungsprozess als nach-                 Reinbek: Rowohlt (rowohlts enzyklopädie)
haltig erweist. Vollbeschäftigung, also existenzsichernde,
                                                                       Queisser, Monika/Whitehouse, Edward, 2003, «Individual choice in social
ganztägige und lebenslange Arbeit für alle Männer und
                                                                       protection: The case of Swiss pensions», OECD working paper
Frauen ist realistischerweise nicht zu erwarten. Die Sozial-           DELSA/ELSA/WD/SEM(2003)11, Paris: OECD
politik darf Leistung nicht behindern, sie darf sie aber
andererseits auch nicht auf den Arbeitsmarkt beschrän-
ken, weil sonst die Bürgerinnen und Bürger keine An-

       Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka, Dipl.-Päd., Jg. 1956, Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften,
       Philosophie und Ethnologie an den Universitäten Tübingen, Zürich und Bonn, Promotion in Soziologie an der Humboldt-
       Universität zu Berlin. Nach seiner Tätigkeit u.a. als Vorstand der Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie in Bensheim, als
                                   Abteilungsleiter am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg und als
                                   Rektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn seit 2000 Professor
                                   für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena. 2004-06 zudem Visiting Scholar an der University
                                   of California at Berkeley, School of Social Welfare.

                                     Kontakt
                                     Prof. Dr. Michael Opielka
                                     Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen
                                     Carl-Zeiss-Promenade 2, D-07745 Jena
                                     michael.opielka@fh-jena.de

6      NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Interview

Das Modell Vollbeschäftigung
hat ausgedient
Interview mit Thomas Bänninger, Gemeinderat von Zollikon
und Vorstandsmitglied der Sozialkonferenz des Kantons Zürich

Bulletin Herr Bänninger, Sie sind Gemeinderat von
Zollikon und dort für das Soziale verantwortlich. Welche
Aufgaben gehören zu diesem Bereich?
Thomas Bänninger Das ist primär die Sozialbehörde, zu-
                                                                          Thomas Bänninger
ständig für Fürsorge und Vormundschaft. Dazu gehört aber
auch die Sozialversicherung. Ausserdem bin ich Referent
für die Einbürgerungen. Ganz besonders schätze ich, dass
                                                                Die Zahl der Menschen, die Sozialhilfe benötigen, ist in
zu meinem Aufgabenbereich die Themen Jugend und
                                                                den Gemeinden zum Teil dramatisch gestiegen. Wie viele
Freizeit gehören.
                                                                Menschen beziehen in Zollikon Sozialhilfe und wer sind
                                                                diese Menschen?
                                                                Seit 1998, als ich in den Gemeinderat kam, hat sich die
Die Gemeinde Zollikon ist eine Vorortgemeinde von Zürich.
                                                                Anzahl der Klienten verdoppelt und die Ausgaben haben
Ergeben sich daraus besondere Probleme für die Sozial-
                                                                sich verdreifacht. Heute haben wir bei nicht ganz 12 000 Ein-
hilfe und wenn ja, welche?
                                                                wohnern etwa 180 Fälle; das sind nicht nur allein stehende
Besondere Probleme entstehen für uns dadurch nicht. Aber
                                                                Personen, sondern auch Familien. Da Zollikon das höchste
wir sind durch die geographische Lage in einer ausserge-
                                                                Durchschnittsalter im Kanton hat, sind bei uns auch mehr
wöhnlichen Situation: Zum einen sind wir die äusserste
                                                                alte Menschen unter den Sozialhilfeempfängern. Zudem
Gemeinde des Bezirks Meilen, dem wir angehören. Zum
                                                                hat der Anteil Alleinerziehender, die auf Sozialhilfe ange-
anderen ist Zürich nicht weit entfernt. Die Stadt zieht durch
                                                                wiesen sind, zugenommen und ebenso derjenige der
ihre Anonymität «Sozialklienten» an, und die kommen teil-
                                                                Langzeitarbeitslosen.
weise bis zu uns. Um dem entgegenzuwirken, sind wir
bestrebt, ein Dorf mit einem intakten Dorfleben zu bleiben.
Auch die durch die Stadtnähe bedingten hohen Mieten
                                                                In den kommenden Monaten wird die Revision der kanto-
belasten die Sozialhilfe.
                                                                nalen Sozialhilfegesetzgebung konkretisiert. Welche Rolle
                                                                kann eine Gemeinde wie Zollikon dabei spielen?
                                                                Wir werden sicher eine gemeindeinterne Vernehmlassung
Wie hat sich die Sozialhilfe in Ihrer Gemeinde in den ver-
                                                                machen, doch ich kann nicht jemanden freistellen, der das
gangenen Jahren verändert, und sind Ihnen aus dieser
                                                                von Grund auf erarbeitet. Wir wollen hingegen die Gremien
Veränderung neue Aufgaben erwachsen?
                                                                nutzen, die auf kantonaler Ebene bestehen. Da ist einer-
Nicht eigentlich neue Aufgaben, aber wir gehen die alten
                                                                seits die Sozialkonferenz des Kantons Zürich, der ich auch
Aufgaben neu an. Früher war von Almosen die Rede, heute
                                                                angehöre, und andererseits der Gemeindepräsidentenver-
ist die Sozialhilfe ein Rechtsanspruch. Das bedeutet auch,
                                                                band. Wir werden die Stellungnahme dieser Gremien als
dass man nicht einfach grosszügig etwas gibt, sondern es
                                                                Basis für unsere Vernehmlassung nehmen, ohne jedoch
muss alles administrativ und formell richtig gemacht wer-
                                                                unseren Einfluss zu überschätzen.
den. Unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden
immer mehr zu Administratoren und sind immer weniger
als Berater tätig. Alle Stellen und Behörden wollen Statisti-
                                                                Sozialhilfe ist, wenn die Bedingungen erfüllt sind, kein
ken und genaue Zahlen, bevor sie Gelder sprechen – das ist
                                                                Almosen, sondern ein Anspruch. In der neuen Zürcher Ver-
ein enormer zeitlicher und logistischer Aufwand.
                                                                fassung, die am 1. Januar 2006 in Kraft tritt, ist das expli-
                                                                zit festgehalten. Wie gehen Sie in Ihrer Gemeinde mit den
                                                                Themen Missbrauch von Sozialhilfe bzw. Wohlverhalten
                                                                der Klientinnen und Klienten um, ein Thema, das immer

                                                                                       NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005   7
wieder kontrovers diskutiert wird? Welche Kontrollmecha-        weis, dass diese Integrationsmassnahmen etwas bewirken.
nismen hat Ihre Gemeinde vorgesehen? Und gibt es                Ich muss in der Gemeinde einen relativ hohen Budget-
Klienten, die sich schämen?                                     posten verteidigen, und das wäre sehr viel leichter, wenn
Ob wir in unserer Gemeinde einen Missbrauch der                 ich diese Ausgaben mit wissenschaftlichen Ergebnissen
Sozialhilfe haben, weiss ich nicht. Unlängst hat eine Studie    rechtfertigen könnte. Die würden mir ausserdem nützen,
aus der Luzerner Gemeinde Emmen ergeben, dass der               um aufzuzeigen, welche Folgen eine Desintegration lang-
Missbrauch verschwindend gering ist – im untersten              fristig hat.
Prozentbereich. Das war schon immer meine Vermutung.
                                                                Ich weiss nicht, ob der Nationalfonds das leisten kann, aber
Je grösser die Nähe der Sozialarbeiterin oder des Sozial-       es wäre gut, wenn jemand sich Gedanken darüber machen
arbeiters zu ihren Klienten ist, umso geringer ist die Gefahr   würde, wie unsere Gesellschaft ein anderes Selbstver-
eines Missbrauchs. Sozusagen als Präventivmassnahme             ständnis entwickeln kann. So lange wir uns allein durch die
zahlen wir einigen Klientinnen und Klienten das Geld            Arbeit definieren, so lange bleibt die Integration von
wöchentlich anstatt monatlich aus, um zu vermeiden, dass        Arbeitslosen ein unlösbares Problem. Wir müssen dringend
sie nach einer Woche kein Geld mehr haben und wieder-           andere Modelle finden, denn das Modell Vollbeschäftigung
kommen. Doch das hat mehr mit Unvermögen in                     für alle hat ein für allemal ausgedient.
Geldangelegenheiten als mit Missbrauch zu tun.
                                                                Das Interview führte Christine Flunser, Wissenschaftsjournalistin,
                                                                Winterthur.
Es gibt nur wenige, die selbstbewusst zu uns kommen und
wissen, dass sie einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen
haben. Leider kommen die meisten aus Scham erst sehr
spät zu uns. Es ist ja für viele beschämend, all die Aus-
                                                                    Kontakt
künfte zu geben, gewissermassen «das Hemd auszuzie-
                                                                    Thomas Bänninger
hen». Je länger die Menschen arbeitslos sind und vielleicht
                                                                    Fohrbachstrasse 12, 8702 Zollikon
noch Schulden gemacht haben, desto schwieriger wird aber
                                                                    Telefon +41 (0)44 390 30 30
eine Integration. Und der Datenschutz verbietet den regio-
                                                                    thomas.baenninger@zollikon.ch
nalen Arbeitszentren, uns rechtzeitig darauf aufmerksam
zu machen, dass jemand gefährdet ist.
                                                                    Links
                                                                    Gemeinde Zollikon (ZH)
                                                                    www.zollikon.ch/de/politik/exekutive/
Die revidierten SKOS-Richtlinien werden am 1. Oktober in            Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)
Kraft treten. Was erwarten Sie davon?                               www.skos.ch
Wir haben jetzt gerade in einer Mammutsitzung die Um-
setzung abgeschlossen. Dabei gab es viele Diskussionen,
                                                                    Sozialkonferenz des Kantons Zürich
zum Beispiel um die Integrationszulage. Nach den neuen
                                                                    www.zh-sozialkonferenz.ch
SKOS-Richtlinien ist der Grundbedarf reduziert, doch wer
an Arbeitsintegrationsprogrammen teilnimmt, erhält eben
diese Zulage. Solche Programme sind freilich teuer, Ein-
sparungen sind deshalb kurzfristig nicht möglich. Und ob
die SKOS-Richtlinien langfristig Erfolg haben werden,
hängt stark von der Entwicklung der Wirtschaft und dem
Arbeitsmarkt ab. Meine Hoffnung, dass wir je wieder genü-
gend Arbeit haben werden, ist nicht sehr gross.

Im NFP 51 hat der Aspekt Erwerbsarbeit und Existenz-
sicherung eine grosse Bedeutung. Was wünschen Sie sich,
als Mann der Praxis, vom NFP 51 und den für Sie relevan-
ten Forschungsprojekten?
Die Massnahmen zur Arbeitsintegration sind relativ ein-
gleisig und ich wünsche mir deshalb neue Ideen für die
Integration. Was natürlich sehr hilfreich wäre, ist ein Nach-

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Berichte aus den Forschungsprojekten                            In einem ersten, quantitativen Teil erhoben wir in einer
                                                                Befragung mittels Fragebogen eine Bestandesaufnahme der
                                                                interkulturellen Mediation in ausgewählten Institutionen
Interkulturelle Mediation:                                      der vier Bereiche.
Welche Form der Integration?                                    Der zweite, qualitative Teil besteht aus acht Fallstudien. Wir
                                                                untersuchten die interkulturelle Mediation in der Eltern-
                                                                arbeit in den Schulen in Genf und Basel, im Rahmen von
Pluralität und Diversität als Ausgangslage                      Community Policing und Strafverfahren in Basel, im Kontext
Die Schweiz ist wie alle modernen Gesellschaften durch          der Tätigkeiten der CASS (Centres d’action sociale et de
einen starken kulturellen und sozialen Wandel geprägt,          santé) in Genf, in der Gefängnismedizin in Genf und in der
dessen herausragendes Merkmal eine Pluralisierung der           Frauenklinik in Basel.
Lebensstile, Lebensformen, Sprachen und Wertsysteme ist.
Für die Gesellschaft und damit auch die öffentlichen Insti-     Zu den vorläufigen Resultaten
tutionen stellt sich daher die Frage, wie der Zusammenhalt      Da unsere Analyse noch nicht abgeschlossen ist, sollen an
dieser pluralen Gesellschaft gewährleistet und, spezifi-        dieser Stelle einige vorläufige Resultate in Form von
scher, wie die Integration der zugewanderten Bevöl-             Diskussionshypothesen präsentiert werden.
kerungsgruppen unterstützt werden kann. Integration soll
hier verstanden werden als das Schaffen eines institutio-       Eine erste Hypothese: Interkulturelle Mediation stellt ein
nellen Rahmens für gesellschaftliche Vielfalt und die           Mittel zur Eingliederung von MigrantInnen dar. Diese Ein-
Verankerung der Grundsätze von Gleichberechtigung und           gliederung kann zwei verschiedene Formen annehmen,
Nichtdiskriminierung. Konkret heisst das, dass alle in der      welche wir vorläufig «Anpassung zur Gleichbehandlung»
Schweiz lebenden Menschen gleichermassen Zugang zu              resp. «Integration und Empowerment» nennen möchten.
Dienstleistungen der öffentlichen Institutionen haben sol-
len und dass die Dienstleistungsangebote den Bedürf-
nissen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen Rechnung
tragen müssen.

Ein Instrument, das wirksam zur Eingliederung der Migra-
tionsbevölkerung beitragen kann, ist die interkulturelle
Mediation. Wir verstehen darunter die sprachliche und die
interkulturelle Vermittlung wie auch die Vermittlung bei
Konflikten. Die interkulturelle Mediation soll Brücken
bauen zwischen Personen mit Migrationshintergrund und
gesellschaftlichen Institutionen und dadurch zur Inklusion
dieser Bevölkerungsgruppen beitragen.

Die Forschung
In unserer Forschung geht es darum zu untersuchen, ob die
interkulturelle Mediation diese Funktion tatsächlich erfüllt.
Zu diesem Zwecke fragen wir nach Praktiken und Strate-                    Dr. Janine Dahinden und Dr. Alexander Bischoff
gien der interkulturellen Mediation in öffentlichen Institu-
tionen. Die Studie findet in zwei Städten, Genf und Basel,
statt, und zwar jeweils in den vier Bereichen Gesundheit,
Soziales, Bildung und Justiz.                                   «Anpassung zur Gleichbehandlung»: Interkulturelle Media-
                                                                tion scheint in vielen Fällen zunächst der Bestätigung und
Auf folgende Fragen wollen wir Antworten finden:                Aufrechterhaltung der Macht der Institutionen zu dienen.
– Unter welchen Voraussetzungen ermöglicht die interkul-        Es ist die Institution – auf der Mikroebene der Arzt, die
  turelle Mediation, MigrantInnen vermehrt am Leben in          Richterin, die Lehrerin –, die die Entscheidungsmacht über
  den genannten Bereichen teilhaben zu lassen und               den Beizug von Dolmetschenden, VermittlerInnen und
  Chancengleichheit zu erreichen?                               KonfliktmediatorInnen hat, und es sind nicht die MigrantIn-
– Kann die interkulturelle Mediation auch das Gegenteil         nen. Die Institutionen haben demnach den Schlüssel zum
  bewirken und MigrantInnen ausschliessen?                      Sprachzugang oder entscheiden über die Form der Kon-
                                                                fliktbewältigung. In vielen Fällen wird von der Möglichkeit,

                                                                                         NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005   9
interkulturelle MediatorInnen beizuziehen, dann Ge-              Nutzen für die Praxis
brauch gemacht, wenn die Institution ihrem Auftrag nicht         Ein Ziel unserer Studie besteht darin, Kooperationen von
mehr ausreichend nachkommen kann. Als Extrembeispiel             Forschung und Praxis anzuregen und zu fördern. Wir er-
sei auf das Gericht verwiesen, das bei Prozessen mit fremd-      hoffen uns nicht nur, mit unserer Studie den Stellenwert
sprachigen Beteiligten auf Dolmetschende angewiesen ist,         der interkulturellen Mediation für die Integration von Mi-
um die Wahrheit herauszufinden. Auch werden interkultu-          grantInnen aufzeigen zu können, sondern wir möchten
relle MediatorInnen häufig eingesetzt, um Informationen          auch dazu beitragen, dass Erfahrungen und Erkenntnisse
unidirektional an die MigrantInnen zu übermitteln, d. h.         ausgetauscht und fruchtbar gemacht werden. Aus diesem
ausgehend von der Institution an die Adresse der KlientIn-       Grund planen wir eine Veranstaltung, die sich einerseits an
nen. Das Ziel ist, den MigrantInnen die Sicht der Institution,   die Personen richtet, die an der Befragung oder den Inter-
etwa die Funktionsweise des Sozialsystems, zu erklären. An       views teilgenommen haben, und anderseits an lokale, regio-
diese Informationsübermittlung ist meist die Erwartung           nale und nationale Akteure, die in diesem Bereich tätig sind
geknüpft, dass die MigrantInnen ihr Verhalten entspre-           (BAG, EKA, Interpret, Caritas, HEKS etc.). An dieser Ver-
chend ändern und sich anpassen. Eine solche «Anpassung»          anstaltung sollen die Resultate der Forschung vorgestellt
kann durchaus als Schritt in Richtung Chancengleichheit          und auf ihre praktische Relevanz hin diskutiert werden.
verstanden werden: Erst wenn die MigrantInnen über die
gleichen Informationen verfügen wie die Einheimischen,
sind die Voraussetzungen einer Gleichbehandlung gege-               Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von
ben.                                                                Identität und Differenz»: Trägt die interkulturelle Mediation
                                                                    zur Inklusion bei? Strategie und Praxis im Vergleich
Von «Integration und Empowerment» wäre hingegen dann                zwischen den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Soziales
zu sprechen, wenn die interkulturelle Mediation den                 und Justiz
KlientInnen Optionen eröffnet. Ein solches Potenzial zum            Laufzeit 01. 10. 2003 – 30. 09. 2005
Empowerment konnten wir bei unseren Fallstudien durch-
aus feststellen, und zwar meist dann, wenn die Institution          Projektverantwortlicher
nicht über eine grosse (Sanktions-)Macht verfügt: Je gerin-         Dr. Alexander Bischoff, Institut für Pflegewissenschaft,
ger das Machtgefälle zwischen Institution und KlientIn,             Universität Basel, Bernoullistrasse 28, 4056 Basel
desto eher setzt die Institution Konfliktmediation, interkul-       Telefon +41 (0)61 267 09 54
turelle Vermittlung und Dolmetschen mit dem Ziel einer              alexander.bischoff@unibas.ch
«Ermächtigung» der MigrantInnen ein. Eine solche Media-
tion geht über reine Informationsvermittlung hinaus. Wenn           Kontaktperson
beispielsweise Eltern von Migrantenkindern aufgezeigt               Dr. Janine Dahinden, Schweizerisches Forum für
werden soll, wie sie ihre Kinder in der Schule gezielt för-         Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM)/Swiss Forum
dern können, bedeutet das, dass die Eltern vom ersten               for Migration and Population Studies (SFM), Universität
Schultag an mit Hilfe interkultureller VermittlerInnen und          Neuenburg, Rue St. Honoré 2, 2000 Neuenburg
Dolmetschender sowohl an Elternabenden wie auch in per-             Telefon +41 (0)32 718 39 34
sönlichen Elterngesprächen im Detail über die Funktions-            janine.dahinden@unine.ch
weise der Schule, ihre Pflichten und Rechte sowie über die
Leistungen ihrer Kinder informiert werden. Es heisst auch,          Publikationen
dass die Lehrperson mit den Eltern – und interkulturellen           Bischoff, Alexander (2004), Ausgeschlossen durch die fremde Sprache,
                                                                    in: Tangram: Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus,
VermittlerInnen oder Dolmetschenden – die «Schul-
                                                                    16, S. 63–67
karriere» der Kinder aufmerksam verfolgt und dass bei
                                                                    Dahinden, Janine (2005 [forthcoming]). «Interkulturelle Mediation: Was
Problemen gemeinsam nach Lösungen gesucht wird.
                                                                    heisst schon interkulturell?» in Von Sinner, Alex und Michael Zirkler (Hg.),
                                                                    Hinter den Kulissen der Mediation. Kontexte, Perspektiven und Praxis der
                                                                    Konfliktbearbeitung. Bern: Haupt

10     NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Service                                                         rung und Stigmatisierung von Menschen mit
                                                                Behinderung sowie zu den Prozessen in und um die
Literaturhinweise                                               Invalidenversicherung sind vor allem für die Integra-
                                                                tionspolitik und die Massnahmen im Rahmen der
Zusammengestellt von Dr. Laura von Mandach, wissenschaftliche   Invalidenversicherung von Bedeutung.
Koordinatorin NFP 51 (Stand: Ende Oktober 2005)                 Mit den Studien zum Gesundheitswesen wurden
                                                                verschiedene Aspekte der Kostenentwicklung, der
Gestrich, Andreas und Lutz Raphael (Hrsg.),                     Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, der
Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und                   Effizienz des Systems sowie Fragen der Langzeit-
Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bern,                   pflege beleuchtet. Sie nehmen Bezug auf die
Peter Lang, 2005                                                laufende gesundheitspolitische Debatte, liefern
Der Band dokumentiert Forschungsergebnisse einer                wichtige Hintergrundinformationen und machen
Tagung des Sonderforschungsbereichs 600 «Fremd-                 Vorschläge zur Lösung anstehender Probleme.
heit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklu-               Mehrere Studien haben sich mit den globalen
sionsformen von der Antike bis zur Gegenwart» an                Wirkungen des Systems, mit grundlegenden Alter-
der Universität Trier. Mit Inklusion und Exklusion von          nativen zur sozialen Grundsicherung und mit der
Fremden und Armen werden zwei zentrale Problem-                 Funktionsweise und den Wirkungen der Sozialhilfe
lagen in dem weiten Feld «sozialer Schliessung»                 beschäftigt. Zum einen ging es um die wirtschaft-
und «gesellschaftlicher Integration» in den Blick               lichen Auswirkungen steigender Kosten und die
genommen. Es geht um Handlungsfelder, in denen                  Wirkung der Umverteilung innerhalb des Gesamt-
Gesellschaften und Gruppen Grundfragen ihres                    systems, zum andern um die Praxis der Sozialhilfe
Selbstverständnisses thematisieren. Drei Aspekte                und ihre Wirkungen im Hinblick auf die Integration
stehen im Mittelpunkt: politische bzw. bürgerrecht-             der Klientinnen und Klienten.
liche Zugehörigkeit als Medium, Hungersnöte und                 Empfehlungen für Politik und Praxis und eine
Versorgungskrisen als extreme Belastungsproben                  Skizzierung des weiteren Forschungsbedarfs
und Religion als Motivation für die Inklusion und               beschliessen den Band.
Exklusion von Fremden und Armen.                                (Information des Verlags)
(Information des Verlags)
                                                                Nationales Forschungsprogramm NFP 45
                                                                «Probleme des Sozialstaats»
Gärtner, Ludwig und Yves Flückiger, Probleme
                                                                www.nfp45.ch
des Sozialstaates: Ursachen, Hintergründe,
Perspektiven, Zürich, Rüegger, 2005                             Die französische Version des Buches erscheint im
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozial-            Winter 2005/06.
politischen Entwicklungen der 1990er-Jahre haben
in der Schweiz eine Diskussion über die Zukunft                 Heitmeyer, Wilhelm und Peter Imbusch,
des Sozialstaats ausgelöst. Die Projekte des Natio-             Integrationspotenziale einer modernen Gesell-
nalen Forschungsprogramms NFP 45 knüpfen an                     schaft, Reihe: Analysen zu gesellschaftlicher
diese Diskussion an und führen sie weiter. Mit dem              Integration und Desintegration, Wiesbaden,
Buch werden die Ergebnisse des Forschungs-                      VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005
programms vorgelegt. Es geht dabei nicht um die                 Die Frage nach den Möglichkeiten und der Bedeu-
Präsentation von Einzelstudien, sondern um eine                 tung sozialer Integration ist nach den jüngsten
synthetische Verarbeitung der Ergebnisse. Zunächst              dramatischen Erfahrungen mit gesellschaftlichen
werden die relevanten Entwicklungstrends und die                Desintegrationsprozessen wieder stärker in den
Reformdiskussion der 90er-Jahre dargestellt. Neue               Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Debatten ge-
Studienergebnisse des NFP 45 zur Segmentation                   rückt. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Inte-
des Arbeitsmarktes, zu Arbeitsplatzsicherheit und               grationsproblematik moderner Gesellschaften wer-
Arbeitslosigkeit zeigen, wie die Transformation des             den anhand unterschiedlicher Integrationstheorien
Arbeitsmarktes die sozialen Sicherungssysteme                   zentrale Aspekte der Integrations- und Anerken-
beeinflusst.                                                    nungsproblematik behandelt, die sich aus aktuel-
Im Rahmen des NFP 45 wurde erstmals die Situation               len Desintegrationstendenzen der Gesellschaft
von Menschen mit Behinderung in der Schweiz sys-                ergeben.
tematisch aus verschiedenen Blickwinkeln unter-                 (Information des Verlags)
sucht. Die Studien zur Lebenslage, zu Diskriminie-

                                                                                NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005   11
Handbuch zur Interinstitutionellen                    Veranstaltungen, die Forschende des NFP 51
Zusammenarbeit (IIZ), Bern, Staatssekretariat         organisieren
für Wirtschaft (seco) (Hrsg.) www.iiz.ch
Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) ist eine    17. und 18. Februar 2006
gemeinsame Strategie zur verbesserten, zielgerich-    Historisches Seminar der Universität Basel, Tagung
teten Zusammenarbeit verschiedener Partnerorga-       «Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?»
nisationen aus den Bereichen Arbeitslosenver-         Organisation: NFP-51-Forschungsgruppe «Eugenik
sicherung, Invalidenversicherung, Sozialhilfe,        in Psychiatrie und Verwaltung im Kanton Basel-
öffentliche Berufsberatung etc. Initiiert wurde IIZ   Stadt, 1880–1960»
durch eine gemeinsame Empfehlung der Konferenz        Kontakt: Prof. Dr. Regina Wecker
Kantonaler Volkswirtschaftsdirektoren und -direkto-   regina.wecker@unibas.ch
rinnen (VDK) und der Konferenz Kantonaler Sozial-
direktoren und -direktorinnen (SODK). Diese Emp-      27. und 28. April 2006
fehlung hat auch zur Einsetzung einer nationalen      Centre de recherche sociale, IES, Genève, colloque
IIZ-Koordinationsgruppe geführt.                      «Ce qu’insérer veut dire: intention, dispositifs et
                                                      effets»
                                                      Organisateurs: Laurence Ossipow, Jean-Pierre Tabin
                                                      et Claude De Jonckheere
                                                      Contact: Dr. C. De Jonckheere
Veranstaltungshinweise                                claude.dejonckheere@ies.unige.ch
Zusammengestellt von Dr. Laura von Mandach,
wissenschaftliche Koordinatorin NFP 51

27. Januar 2006
Kultur-Casino, Bern, «Abgeschoben in die IV –
Psychisches Leiden in der Arbeitswelt» Caritas-
Forum 2006
www.caritas.ch > Aktuell

17. März 2006
Universität Bern, Tagung «Paradoxien in den
Geschlechterverhältnissen?»
Tagung des Vereins Feministische Wissenschaft
                                                                                      Impressum
Schweiz in Zusammenarbeit mit dem Komitee
                                                                                      «Bulletin NFP 51» – aktuelle Informationen zum
Geschlechterforschung der Schweizerischen
                                                                                      Nationalen Forschungsprogramm NFP 51 «Integra-
Gesellschaft für Soziologie                                                           tion und Ausschluss», Ausgabe Nr. 2,
www.femwiss.ch                                                                        Dezember 2005

                                                                                      Herausgeberin
17. und 18. März 2006                                                                 Leitungsgruppe des NFP 51, Schweizerischer
Institut für Pflegewissenschaft der Universität                                       Nationalfonds (SNF), Postfach, 3001 Bern
Basel, «Geschichte der Pflege», 7. Internationaler                                    www.nfp51.ch

Kongress zur Geschichte der Pflege an der                                             Redaktion
Universität Basel                                                                     Wolfgang Wettstein, Umsetzungsbeauftragter
                                                                                      NFP 51, Forchstrasse 70, 8008 Zürich
Organisation: Verein Geschichte der Pflege in
                                                                                      Tel. +41 (0)44 420 18 60, Fax +41 (0)44 420 18 61
Zusammenarbeit mit dem Historischen Seminar                                           wwettstein@access.ch
und dem Institut für Pflegewissenschaft der
                                                                                      Gestaltung
Universität Basel, Basel                                                              Atelier Richner, Bern, www.atelierrichner.ch
www.geschichte-der-pflege.ch/Kongress.html
                                                                                      Druck
                                                                                      Rickli + Wyss AG, Bern, www.riwy.ch
                                                                                      Papier: Superset Snow, chlorfrei gebleicht, 100 gm2
                                                                                      Auflage D/F: 3000 Ex.

                                                                                      Die Ausgabe Nr. 3 erscheint im April 2006.
                                                                                      Redaktionsschluss: Ende Februar 2006

12      NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
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