NFP 51 Integration und Ausschluss - Bulletin Nr. 2, Dezember 2005 - SNF
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NFP 51 Integration und Ausschluss Bulletin Nr. 2, Dezember 2005 www.nfp51.ch Schwerpunkt Editorial Soziale Sicherheit und Demokratie stehen in Der «weiche Garantismus» einem direkten Zusammenhang. Beide haben der Schweiz zum Ziel, Teilhaberechte zu garantieren und für alle die faktische Mög- Teilhaberechte in der Sozialpolitik lichkeit zu schaffen, an Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka gesellschaftlichen Ein- richtungen und Entschei- dungen zu partizipieren. Auch in der Schweiz gilt der Sozialstaat seit langem als Sozialstaatlichkeit bedeu- krisenhaft und problematisch. Arbeitslosigkeit und Armut tet vor allem Existenz- werden von Sozialpolitikwissenschaftlern als Hinweis sicherung, sozialen Aus- darauf gewertet, dass die «Inklusion» aller Bürgerinnen und gleich, intergenerative Bürger in alle Funktionssysteme der Gesellschaft – so die Solidarität. Sie hat aber klassische Bestimmung der Sozialpolitik bei Talcott Parsons gleichzeitig auch einen und Niklas Luhmann – zunehmend misslingt. Doch sind direkten Einfluss auf die politische Mitwirkung Zweifel an einer allzu negativen Deutung des Sozialstaats in unserer Gesellschaft und auf deren angebracht. Aus international vergleichender Perspektive Ausgestaltung. kann die Schweizer Sozialpolitik geradezu als Paradigma Ob die Schweiz dabei einen «Sonderweg» eines neuen, «garantistischen» Wohlfahrtsstaates (Wohl- beschreitet, der als Vorbote eines neuen Typs fahrtsregimes) interpretiert werden. bezeichnet werden kann, wie Michael Opielka «Garantismus» in der Sozialpolitik heisst zweierlei: betont, kann offen bleiben. Wie die gegenwärti- (1) Sozialpolitische Rechte und Pflichten beziehen sich auf gen Diskussionen in mehreren europäischen den Bürgerstatus (und nicht auf den Arbeitnehmerstatus). Ländern zeigen, sind nämlich die Fragen nach (2) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrecht auf Mass, Ausgestaltung und vor allem politischer Teilhabe an allen sozialen Funktionssystemen. Priorisierung in der Sozialpolitik trotz aller sys- temtechnischer Unterschiede die gleichen. Was Wohlfahrtsregime der Schweiz: vom Liberalismus zum für die Schweiz – im Sinne Opielkas – vielleicht «weichen» Garantismus in besonderem Masse gilt, ist die breite politi- Noch in den 1970er Jahren galt die Schweiz aufgrund ihrer sche Verankerung des Wohlfahrtssystems. relativ niedrigen Sozialleistungsquote1 in den meisten ver- Der gefestigte gesellschaftliche Konsens über gleichenden Studien als liberaler Wohlfahrtsstaat, der am den Generationenvertrag und die t ehesten mit Grossbritannien, den USA oder Australien, nicht aber mit anderen kontinentaleuropäischen Staaten verglichen wurde, wie etwa von Gøsta Esping-Andersen (Esping-Andersen 1990, S. 81), dem klassischen Theoreti- ker der «Wohlfahrtsregime». Spätestens seit den 1990er Jahren wurde dieser Schweizer «Sonderweg» in der Sozial- politik jedoch empirisch revidiert, sodass auch eine theo- retische Revision ratsam erscheint. Die Schweizer Sozial-
leistungsquote hat sich dem europäischen Mittelwert t solidarische Umverteilung erweist sich immer angeglichen und ihn inzwischen sogar übertroffen – eine wieder als resistent gegenüber Abbautendenzen, rasante Entwicklung innerhalb von weniger als 20 Jahren Ökonomisierungstrends, Individualisierungs- (vgl. Abbildungen 1 und 2). und Privatisierungsversuchen. Dennoch haben auch wir die Befürchtung des Die Erklärung der Demokratieforschung für diese Ent- Soziologen Zygmunt Baumans, der Sozialstaat wicklung lautet, dass die basisdemokratische Struktur der sei zum Sicherheitsstaat degeneriert, ernst zu Schweiz die Einführung neuer Leistungs- und Umvertei- nehmen. Bauman zufolge haben die Regie- lungssysteme zwar erheblich erschwert; sind diese jedoch rungen den existenziellen Schutz der Bürgerin- erst eingeführt, erweisen sie sich als hochresistent. nen und Bürger aufgegeben und gebärden sich stattdessen als der letzte Schutzwall für das Da sich die Schweiz also nicht mehr ohne Weiteres als individuelle Überleben der BürgerInnen gegen Modell des liberalen Wohlfahrtsstaates bezeichnen lässt, unheimliche Gefahren, die irgendwo im Dunkel wurde jüngst vorgeschlagen, ihren «Sonderweg» als Vor- lauern sollen. boten eines neuen Regimetyps zu fassen, der die klassi- In den kommenden Jahren stehen mehrere Revi- sche, von Esping-Andersen beschriebene Trias liberal/kon- sionen zu verschiedenen Sozialversicherungs- servativ/sozialistisch um die «garantistische» Dimension zweigen an. Die Diskussion um die Dynamik von erweitert (Opielka 2004b). In der Schweiz mit ihren unge- Integration und Exklusion durch die Gesetz- wöhnlich stark am Bürgerstatus und an Teilhaberechten gebung und vor allem bei der Anwendung der fokussierten Leistungssystemen (AHV/IV, Kopfprämien Gesetze ist von höchster Aktualität. Mehrere usf.) scheint sich eine neuartige Synthese der bisherigen Projekte aus dem NFP 51 werden hierzu wertvol- politischen Grossmodelle zumindest in der Sozialpolitik le Beiträge liefern können. Nicht zufällig bildet entwickelt zu haben. dieses Thema einen der Schwerpunkte des Programms. In Abbildung 3 sind die vier Regimetypen und ihre Variablen zusammengestellt. Mit Hilfe der den Variablen beigegebe- Dr. Claudia Kaufmann nen Indikatoren kann der Regimetyp eines Wohlfahrts- Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 51 staates ermittelt werden. Für die drei klassischen Regime- typen wurden die Zuordnungen von Esping-Andersen bzw. Abbildung 1 Soziallast- und Sozialleistungsquote Schweiz 1948 –2001 (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5% 0% 1948 1952 1956 1960 1964 1968 1972 1976 1980 1984 1988 1992 1996 2001 Soziallastquote Nationale Buchhaltung Soziallastquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Sozialleistungsquote Nationale Buchhaltung Sozialleistungsquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Soziallast- und Sozialleistungsquote gemäss Nationaler Buchhaltung (1948–1995) und gemäss Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung VGR (1990–2001) Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004, Bern, S. 70 2 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
aus der Sekundärliteratur übernommen. Für den Typus Abbildung 2 «Garantismus» liegen vergleichbare Berechnungen noch Sozialschutzausgaben 2001 im europäischen Vergleich nicht vor, sie beruhen daher auf Schätzungen und Erfah- (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) rungswerten. Irland 14.6 % In Abbildung 4 wird die Regimetypologie soziologisch-sys- Island 20.1 % tematisch skizziert, wobei die Schweizer und – zum Spanien 20.1 % Luxemburg 21.2 % Vergleich – die deutschen Sozialpolitikfelder entsprechend Portugal 23.9 % zugeordnet werden. Dies bedeutet, dass die Regimetypen Italien 25.6 % einerseits (vertikale Achse) über Sozialpolitikfelder und Norwegen 25.6 % deren Hauptproblemstellung mit den vier zentralen gesell- Finnland 25.8 % Griechenland 27.2 % schaftlichen Subsystemen – Wirtschaft, Politik, Gemein- Grossbritannien 27.2 % schaft, Legitimation – in Verbindung gebracht werden EUR-12 27.4 % (Beispiel: Dekommodifizierung als Unabhängigkeit von EUR-11 27.4 % Marktkräften wirkt v.a. im Wirtschaftssystem). Anderer- EU-15 27.5 % Belgien 27.5 % seits wird gezeigt, dass jeder Regimetyp ein spezifisches Niederlande 27.6 % Steuerungsprinzip in den Mittelpunkt stellt (beispielsweise Österreich 28.4 % der Liberalismus den Markt; horizontale Achse, oben). Schweiz 28.9 % Dänemark 29.5 % Deutschland 29.8 % Hinsichtlich der Regimezuordnungen verschiedener Poli- Frankreich 30.0 % tikfelder gilt: Staaten können auf dem einen Sozialpolitik- Schweden 31.3 % gebiet eher liberal, auf einem anderen dagegen sozialistisch 0% 10 % 20 % 30 % sein; ein klassisches Beispiel dafür ist Grossbritannien, das Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004, als Stammland des Liberalismus über ein staatliches Ge- Bern, S. 62 sundheitswesen verfügt. Der letzte Schweizer Familienbericht von 2004 (der erste entstand 1978) machte darauf aufmerksam, dass die Schweizer Familienpolitik trotz der im europäischen Vergleich hohen Frauenerwerbsquote sowohl hinsichtlich des Ausgabenniveaus wie ihrer qualitativen Schwerpunkte noch sehr residual, d.h. minimalistisch ausgerichtet ist, vative Verbändeherrschaft (Korporatismus), aber ebenso was dem liberalen Welfare-Regimetyp entspricht. Insoweit wenig auch eine liberale Marktideologie in der Sozial- bedarf jede makrotheoretische Verortung von Sozial- politik durchsetzen. politiksystemen der Ergänzung durch Detailanalysen. Diese Grundrechtsdynamik hängt gerade in der Schweiz Dennoch: Die Regimetypologie kann einen erheblichen mit der direkten Demokratie zusammen, die – anders als in analytischen Ertrag abwerfen. Sie lenkt den Blick vor allem Kalifornien, der einzigen weltweit vergleichbaren politi- auf die Dimension der sozialpolitischen Kultur. Die klassi- schen Einheit – auf Bundes-, also nationaler Ebene sozial- schen Politiklegitimationen liberal/sozialistisch/konserva- politische Entscheidungen prägt (vgl. Obinger/Wagschal tiv – also Mitte/Links/Rechts – wurden in den letzten Jahr- 2001). Für die politische Gemeinschaft der Schweiz ist zehnten durch eine globale Agenda sozialer Grundrechte dabei die Entwicklungsdynamik und -logik der Renten- herausgefordert, die sich nicht umstandslos dieser Trias versicherung AHV von fundamentaler Bedeutung. Indem unterordnen lässt. Es gibt starke Argumente dafür, dass sie praktisch die gesamte erwachsene Bevölkerung ein- Demokratien eine evolutionäre Dynamik hin zu sozialen schliesst – was seit 1996 durch die finanztechnisch anders Grundrechten entfalten, die durch geeignete Politikstruk- organisierte «Kopfpauschale» auch in der Krankenver- turen (v. a. direkte Demokratie) gestützt werden. Der sicherung geschieht –, werden Teilhaberechte tendenziell Regimetyp «Garantismus» trägt dieser Dynamik Rech- grundrechtsähnlich garantiert. Es gibt zudem gute Gründe nung. Der Schweizer Wohlfahrtsstaat kann vor diesem zu der Annahme, dass die garantistische Regime-Konzep- Hintergrund als «weich garantistisch» (Carigiet/Opielka tion angesichts eines globalen Sozialabbaus und -umbaus 2006) gelten. In der Schweiz konnte sich weder sozialde- als krisenresistenter gelten kann. In diese Richtung wei- mokratische Staatszentrierung (Etatismus) noch konser- sen neuere Studien der Weltbank (z. B. Queisser/White- NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 3
Abbildung 3 Vier Typen des Wohlfahrtsregimes Variable Typen des Wohlfahrtsregimes – Indikatoren liberal sozialdemokratisch konservativ garantistisch Dekommodifizierung: Schutz gegen Marktkräfte schwach stark mittel stark und Einkommensausfälle (für «Familien- – Einkommensersatzquoten ernährer») – Anteil individueller Finanzierungsbeiträge (invers) Residualismus stark schwach stark schwach – Anteil von Fürsorgeleistungen an gesamten Sozialausgaben Privatisierung hoch niedrig–mittel niedrig–mittel mittel – Anteil privater Ausgaben für Alter bzw. Gesundheit an jeweiligen Gesamtausgaben Korporatismus/Etatismus 1 schwach mittel stark schwach – Anzahl von nach Berufsgruppen differenzierten Sicherungssystemen – Anteil der Ausgaben für Beamtenversorgung Umverteilung schwach stark schwach mittel – Progressionsgrad des Steuersystems – Gleichheit der Leistungen Vollbeschäftigungsgarantie schwach stark mittel mittel – Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik – Arbeitslosenquote, gewichtet nach Erwerbsbeteiligung Bedeutung von – Markt zentral marginal marginal mittel – Staat marginal zentral subsidiär subsidiär – Familie/Gemeinschaft marginal marginal zentral mittel – Menschen-/Grundrechte mittel–hoch mittel marginal zentral Dominante Form der individualistisch lohnarbeits- kommunitaristisch- Bürgerstatus, sozialstaatlichen Solidarität zentriert etatistisch universalistisch Dominante Form der Markt Staat Moral Ethik sozialstaatlichen Steuerung Empirische Beispiele USA Schweden Deutschland, Italien Schweiz («weicher Garantismus») 1Korporatismus: hohes Mass an unmittelbarer Aushandlung zwischen Interessenverbänden (v.a. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) und Staat; Etatismus: hohe Bedeutung staatlicher Intervention, insbesondere des Zentralstaats Quelle: Opielka 2004b, S. 35 (nach G. Esping-Andersen und J. Kohl), überarbeitet und erweitert 4 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Abbildung 4 Rekombination der vier Typen des Wohlfahrtsregimes mit gesellschaftlichen Subsystembezügen am Beispiel Schweiz–Deutschland Wohlfahrtsregime Politisches Wohlfahrtsregime liberal sozialistisch konservativ garantistisch Legitimationsmodell (Markt) (sozial- (Moral) (Ethik) (Level 4) a demokratisch) (Staat) Gemeinschaft Care-Arrangement privat öffentlich privat gemischt (Level 3) (Familienpolitik b ) (CH) (D) Politik Ungleichheit hoch gering mittel mittel (Level 2) (Steuerpolitik b ) (D) (CH) Wirtschaft Dekommodifizierung gering mittel gering hoch (Level 1) (Arbeitsmarkt, Rente, (CH d ) (D) (CH c ) Gesundheit b) a Legitimativ dominierendes Steuerungsprinzip («strukturelle Institution»), die Bezeichnung Level bezieht sich auf die steigenden Stufen systemischer Komplexität der Subsysteme der Gesellschaft (vgl. Opielka 2004a). b Dominante sozialpolitische Regulierungsbereiche. c Hohe Dekommodifizierung der Schweiz nur für Rente und Gesundheit. d Die Arbeitsmarktpolitik der Schweiz ist eher liberal ausgerichtet. house 2003), die dem Schweizer Drei-Säulen-System, darin digma verhaftet scheinen. So fordert der Arbeitgeber- vor allem der AHV, eine weltweite Modellfunktion in Bezug vertreter Hasler in besagtem Artikel, dass die Firmen auf ökonomische Nachhaltigkeit und Schutz vor Armut durch die Arbeitsintegration nicht überfordert werden bescheinigen. dürften: «Das muss die vermittelnde Behörde übernehmen können.» Zugleich scheint ihm dieses (etatistische) Dele- Quo vadis, Schweiz? gieren von Sozialverantwortung an den Staat nicht ganz Der Direktor des Schweizer Arbeitgeberverbandes, Peter geheuer: «Es besteht zumindest eine gesellschaftlich- Hasler, hat in der Neuen Zürcher Zeitung (3.10. 2005, S. 7) moralische Mitverantwortung, sich um eingliederungsbe- von «nötige(n) Tabubrüche bei Sozialpartnern und Gesell- dürftige Menschen zu kümmern und diese Aufgabe nicht schaft» gesprochen und «Arbeitsintegration als Königs- einfach dem Staat zu überlassen.» Diese Widersprüchlich- weg» bezeichnet: «Wer nicht spurt, muss den Anspruch auf keiten können positiv interpretiert werden: Teilhaberechte Taggelder oder andere Leistungen verlieren.» Markige werden in der Schweiz breit akzeptiert. Unklar ist freilich Forderungen nach Aktivierung bzw. workfare statt welfare häufig, wie sie zu realisieren sind. kennzeichnen die Sozialpolitikdiskussion der letzten zehn Jahre in fast allen westlichen Wohlfahrtsstaaten (von der Die Schweizer Sozialpolitik steht in den nächsten Jahren Sozialhilfereform unter Clinton 1996 bis zu Agenda 2010 vor der Herausforderung, in der Familien-, Arbeitsmarkt- und Hartz IV in Deutschland). Inwieweit stellt diese Ent- und Armutspolitik Konzepte zu entwickeln, die Teilhabe wicklung die skizzierte «garantistische» Ausrichtung des garantieren und damit Exklusion verhindern, wie dies in Schweizer Sozialstaats in Frage? der Renten- und Gesundheitspolitik in recht vorbildlicher Weise gelang. Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich vor Es ist wichtig zu unterscheiden, dass wir von «weichem» diesem Hintergrund durchaus Empfehlungen geben. Garantismus im Wesentlichen nur im Hinblick auf die Teilhabe erfordert Verfügung über Ressourcen, soziale Sozialpolitikfelder Alterssicherung und Gesundheit spra- Grundrechte erfordern ein hohes Mass an Standardisie- chen, während die Familien- und Arbeitsmarktpolitik (ein- rung. Soziale Dienste, von der Kindertagesstätte bis zur schliesslich Armutspolitik) noch stark dem liberalen Para- Berufsintegration, müssen zwar am individuellen Fall aus- NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 5
gerichtet sein, um effektiv zu sein. Ihre Finanzierung frei- erkennung erhalten, die im Leistungswettbewerb des lich darf nicht zu sehr von lokalen und kantonalen Arbeitsmarktes nicht mithalten können – oder deren Zufällen abhängen. Das ist eine der Lehren der Kranken- Leistungen (noch) nicht ausreichend gewürdigt werden, versicherung. wie bspw. die Erziehungsleistung in der Familie. Modelle eines Grundeinkommens – verbunden mit professionellen Eine der grossen Stärken der Schweizer Sozialpolitik ist sozialen Diensten – könnten ein tragfähiger Kompromiss die Mischung aus Pragmatismus und sozialer Wertorien- zwischen Förderung von Leistungswillen und garantierten tierung, die auch in Referenden zum Ausdruck kommt. Die Teilhaberechten sein. liberale Grundorientierung des Arbeitsmarktes steht nicht in Frage. Vollbeschäftigung kann durch Strukturpolitik 1Verhältnis von Sozialleistungen und Bruttoinlandsprodukt. In den Übersichten des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) unterstützt, durch politische Interventionen aber nicht werden auch die Begriffe «Soziallastquote» (siehe Abbildung 1) garantiert werden. Es wäre zu bedenken, ob die guten und «Sozialschutzausgaben» (siehe Abbildung 2) verwendet. Erfahrungen mit der AHV übertragen werden könnten auf eine «Grundeinkommensversicherung» nach dem gleichen Prinzip, die alle Einkommensleistungen des Sozialstaats Literatur zusammenfasst und allen vermittlungsbereiten Arbeits- Carigiet, Erwin/Opielka, Michael, 2006, «Deutsche Arbeitnehmer – losen, Personen in formalen Ausbildungen, Eltern mit klei- Schweizer Bürger? Zum deutsch-schweizerischen Vergleich sozialpoliti- nen Kindern, Erwerbsunfähigen und Langzeitkranken ein scher Dynamiken», in: Carigiet, Erwin/Mäder, Ueli/Opielka, Michael/Schulz-Nieswandt, Frank (Hrsg.), «Wohlstand durch Gerechtigkeit. Grundeinkommen – und, wie in der AHV, maximal das Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich», Zürich: Doppelte des Grundeinkommens – garantiert. Diejenigen Rotpunkt Verlag (i.V.) Personen, die arbeitslos, aber nicht vermittlungsbereit Esping-Andersen, Gøsta, 1990, «The three worlds of welfare capitalism», sind, würden 50 Prozent des Grundeinkommens als rück- Princeton: Princeton University Press zahlbares Darlehen erhalten (vgl. Opielka 2004b). Ein sol- ches Modell könnte für alle politischen Lager akzeptabel Obinger, Herbert/Wagschal, Uwe, 2001, «Zwischen Reform und Blockade: Plebiszite und der Steuer- und Wohlfahrtsstaat», in: Schmidt, Manfred G. sein und damit auch in einem Referendum mit Annahme (Hrsg.), «Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess rechnen – natürlich erst nach ausführlicher öffentlicher und Leistungsprofil», Opladen: Leske + Budrich, S. 90-123 Diskussion. Opielka, Michael, 2004a, «Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons», Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass sich dieses ders., 2004b, «Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven», Paradigma im weiteren Globalisierungsprozess als nach- Reinbek: Rowohlt (rowohlts enzyklopädie) haltig erweist. Vollbeschäftigung, also existenzsichernde, Queisser, Monika/Whitehouse, Edward, 2003, «Individual choice in social ganztägige und lebenslange Arbeit für alle Männer und protection: The case of Swiss pensions», OECD working paper Frauen ist realistischerweise nicht zu erwarten. Die Sozial- DELSA/ELSA/WD/SEM(2003)11, Paris: OECD politik darf Leistung nicht behindern, sie darf sie aber andererseits auch nicht auf den Arbeitsmarkt beschrän- ken, weil sonst die Bürgerinnen und Bürger keine An- Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka, Dipl.-Päd., Jg. 1956, Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften, Philosophie und Ethnologie an den Universitäten Tübingen, Zürich und Bonn, Promotion in Soziologie an der Humboldt- Universität zu Berlin. Nach seiner Tätigkeit u.a. als Vorstand der Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie in Bensheim, als Abteilungsleiter am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg und als Rektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn seit 2000 Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena. 2004-06 zudem Visiting Scholar an der University of California at Berkeley, School of Social Welfare. Kontakt Prof. Dr. Michael Opielka Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen Carl-Zeiss-Promenade 2, D-07745 Jena michael.opielka@fh-jena.de 6 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Interview Das Modell Vollbeschäftigung hat ausgedient Interview mit Thomas Bänninger, Gemeinderat von Zollikon und Vorstandsmitglied der Sozialkonferenz des Kantons Zürich Bulletin Herr Bänninger, Sie sind Gemeinderat von Zollikon und dort für das Soziale verantwortlich. Welche Aufgaben gehören zu diesem Bereich? Thomas Bänninger Das ist primär die Sozialbehörde, zu- Thomas Bänninger ständig für Fürsorge und Vormundschaft. Dazu gehört aber auch die Sozialversicherung. Ausserdem bin ich Referent für die Einbürgerungen. Ganz besonders schätze ich, dass Die Zahl der Menschen, die Sozialhilfe benötigen, ist in zu meinem Aufgabenbereich die Themen Jugend und den Gemeinden zum Teil dramatisch gestiegen. Wie viele Freizeit gehören. Menschen beziehen in Zollikon Sozialhilfe und wer sind diese Menschen? Seit 1998, als ich in den Gemeinderat kam, hat sich die Die Gemeinde Zollikon ist eine Vorortgemeinde von Zürich. Anzahl der Klienten verdoppelt und die Ausgaben haben Ergeben sich daraus besondere Probleme für die Sozial- sich verdreifacht. Heute haben wir bei nicht ganz 12 000 Ein- hilfe und wenn ja, welche? wohnern etwa 180 Fälle; das sind nicht nur allein stehende Besondere Probleme entstehen für uns dadurch nicht. Aber Personen, sondern auch Familien. Da Zollikon das höchste wir sind durch die geographische Lage in einer ausserge- Durchschnittsalter im Kanton hat, sind bei uns auch mehr wöhnlichen Situation: Zum einen sind wir die äusserste alte Menschen unter den Sozialhilfeempfängern. Zudem Gemeinde des Bezirks Meilen, dem wir angehören. Zum hat der Anteil Alleinerziehender, die auf Sozialhilfe ange- anderen ist Zürich nicht weit entfernt. Die Stadt zieht durch wiesen sind, zugenommen und ebenso derjenige der ihre Anonymität «Sozialklienten» an, und die kommen teil- Langzeitarbeitslosen. weise bis zu uns. Um dem entgegenzuwirken, sind wir bestrebt, ein Dorf mit einem intakten Dorfleben zu bleiben. Auch die durch die Stadtnähe bedingten hohen Mieten In den kommenden Monaten wird die Revision der kanto- belasten die Sozialhilfe. nalen Sozialhilfegesetzgebung konkretisiert. Welche Rolle kann eine Gemeinde wie Zollikon dabei spielen? Wir werden sicher eine gemeindeinterne Vernehmlassung Wie hat sich die Sozialhilfe in Ihrer Gemeinde in den ver- machen, doch ich kann nicht jemanden freistellen, der das gangenen Jahren verändert, und sind Ihnen aus dieser von Grund auf erarbeitet. Wir wollen hingegen die Gremien Veränderung neue Aufgaben erwachsen? nutzen, die auf kantonaler Ebene bestehen. Da ist einer- Nicht eigentlich neue Aufgaben, aber wir gehen die alten seits die Sozialkonferenz des Kantons Zürich, der ich auch Aufgaben neu an. Früher war von Almosen die Rede, heute angehöre, und andererseits der Gemeindepräsidentenver- ist die Sozialhilfe ein Rechtsanspruch. Das bedeutet auch, band. Wir werden die Stellungnahme dieser Gremien als dass man nicht einfach grosszügig etwas gibt, sondern es Basis für unsere Vernehmlassung nehmen, ohne jedoch muss alles administrativ und formell richtig gemacht wer- unseren Einfluss zu überschätzen. den. Unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden immer mehr zu Administratoren und sind immer weniger als Berater tätig. Alle Stellen und Behörden wollen Statisti- Sozialhilfe ist, wenn die Bedingungen erfüllt sind, kein ken und genaue Zahlen, bevor sie Gelder sprechen – das ist Almosen, sondern ein Anspruch. In der neuen Zürcher Ver- ein enormer zeitlicher und logistischer Aufwand. fassung, die am 1. Januar 2006 in Kraft tritt, ist das expli- zit festgehalten. Wie gehen Sie in Ihrer Gemeinde mit den Themen Missbrauch von Sozialhilfe bzw. Wohlverhalten der Klientinnen und Klienten um, ein Thema, das immer NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 7
wieder kontrovers diskutiert wird? Welche Kontrollmecha- weis, dass diese Integrationsmassnahmen etwas bewirken. nismen hat Ihre Gemeinde vorgesehen? Und gibt es Ich muss in der Gemeinde einen relativ hohen Budget- Klienten, die sich schämen? posten verteidigen, und das wäre sehr viel leichter, wenn Ob wir in unserer Gemeinde einen Missbrauch der ich diese Ausgaben mit wissenschaftlichen Ergebnissen Sozialhilfe haben, weiss ich nicht. Unlängst hat eine Studie rechtfertigen könnte. Die würden mir ausserdem nützen, aus der Luzerner Gemeinde Emmen ergeben, dass der um aufzuzeigen, welche Folgen eine Desintegration lang- Missbrauch verschwindend gering ist – im untersten fristig hat. Prozentbereich. Das war schon immer meine Vermutung. Ich weiss nicht, ob der Nationalfonds das leisten kann, aber Je grösser die Nähe der Sozialarbeiterin oder des Sozial- es wäre gut, wenn jemand sich Gedanken darüber machen arbeiters zu ihren Klienten ist, umso geringer ist die Gefahr würde, wie unsere Gesellschaft ein anderes Selbstver- eines Missbrauchs. Sozusagen als Präventivmassnahme ständnis entwickeln kann. So lange wir uns allein durch die zahlen wir einigen Klientinnen und Klienten das Geld Arbeit definieren, so lange bleibt die Integration von wöchentlich anstatt monatlich aus, um zu vermeiden, dass Arbeitslosen ein unlösbares Problem. Wir müssen dringend sie nach einer Woche kein Geld mehr haben und wieder- andere Modelle finden, denn das Modell Vollbeschäftigung kommen. Doch das hat mehr mit Unvermögen in für alle hat ein für allemal ausgedient. Geldangelegenheiten als mit Missbrauch zu tun. Das Interview führte Christine Flunser, Wissenschaftsjournalistin, Winterthur. Es gibt nur wenige, die selbstbewusst zu uns kommen und wissen, dass sie einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen haben. Leider kommen die meisten aus Scham erst sehr spät zu uns. Es ist ja für viele beschämend, all die Aus- Kontakt künfte zu geben, gewissermassen «das Hemd auszuzie- Thomas Bänninger hen». Je länger die Menschen arbeitslos sind und vielleicht Fohrbachstrasse 12, 8702 Zollikon noch Schulden gemacht haben, desto schwieriger wird aber Telefon +41 (0)44 390 30 30 eine Integration. Und der Datenschutz verbietet den regio- thomas.baenninger@zollikon.ch nalen Arbeitszentren, uns rechtzeitig darauf aufmerksam zu machen, dass jemand gefährdet ist. Links Gemeinde Zollikon (ZH) www.zollikon.ch/de/politik/exekutive/ Die revidierten SKOS-Richtlinien werden am 1. Oktober in Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Kraft treten. Was erwarten Sie davon? www.skos.ch Wir haben jetzt gerade in einer Mammutsitzung die Um- setzung abgeschlossen. Dabei gab es viele Diskussionen, Sozialkonferenz des Kantons Zürich zum Beispiel um die Integrationszulage. Nach den neuen www.zh-sozialkonferenz.ch SKOS-Richtlinien ist der Grundbedarf reduziert, doch wer an Arbeitsintegrationsprogrammen teilnimmt, erhält eben diese Zulage. Solche Programme sind freilich teuer, Ein- sparungen sind deshalb kurzfristig nicht möglich. Und ob die SKOS-Richtlinien langfristig Erfolg haben werden, hängt stark von der Entwicklung der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt ab. Meine Hoffnung, dass wir je wieder genü- gend Arbeit haben werden, ist nicht sehr gross. Im NFP 51 hat der Aspekt Erwerbsarbeit und Existenz- sicherung eine grosse Bedeutung. Was wünschen Sie sich, als Mann der Praxis, vom NFP 51 und den für Sie relevan- ten Forschungsprojekten? Die Massnahmen zur Arbeitsintegration sind relativ ein- gleisig und ich wünsche mir deshalb neue Ideen für die Integration. Was natürlich sehr hilfreich wäre, ist ein Nach- 8 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Berichte aus den Forschungsprojekten In einem ersten, quantitativen Teil erhoben wir in einer Befragung mittels Fragebogen eine Bestandesaufnahme der interkulturellen Mediation in ausgewählten Institutionen Interkulturelle Mediation: der vier Bereiche. Welche Form der Integration? Der zweite, qualitative Teil besteht aus acht Fallstudien. Wir untersuchten die interkulturelle Mediation in der Eltern- arbeit in den Schulen in Genf und Basel, im Rahmen von Pluralität und Diversität als Ausgangslage Community Policing und Strafverfahren in Basel, im Kontext Die Schweiz ist wie alle modernen Gesellschaften durch der Tätigkeiten der CASS (Centres d’action sociale et de einen starken kulturellen und sozialen Wandel geprägt, santé) in Genf, in der Gefängnismedizin in Genf und in der dessen herausragendes Merkmal eine Pluralisierung der Frauenklinik in Basel. Lebensstile, Lebensformen, Sprachen und Wertsysteme ist. Für die Gesellschaft und damit auch die öffentlichen Insti- Zu den vorläufigen Resultaten tutionen stellt sich daher die Frage, wie der Zusammenhalt Da unsere Analyse noch nicht abgeschlossen ist, sollen an dieser pluralen Gesellschaft gewährleistet und, spezifi- dieser Stelle einige vorläufige Resultate in Form von scher, wie die Integration der zugewanderten Bevöl- Diskussionshypothesen präsentiert werden. kerungsgruppen unterstützt werden kann. Integration soll hier verstanden werden als das Schaffen eines institutio- Eine erste Hypothese: Interkulturelle Mediation stellt ein nellen Rahmens für gesellschaftliche Vielfalt und die Mittel zur Eingliederung von MigrantInnen dar. Diese Ein- Verankerung der Grundsätze von Gleichberechtigung und gliederung kann zwei verschiedene Formen annehmen, Nichtdiskriminierung. Konkret heisst das, dass alle in der welche wir vorläufig «Anpassung zur Gleichbehandlung» Schweiz lebenden Menschen gleichermassen Zugang zu resp. «Integration und Empowerment» nennen möchten. Dienstleistungen der öffentlichen Institutionen haben sol- len und dass die Dienstleistungsangebote den Bedürf- nissen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen Rechnung tragen müssen. Ein Instrument, das wirksam zur Eingliederung der Migra- tionsbevölkerung beitragen kann, ist die interkulturelle Mediation. Wir verstehen darunter die sprachliche und die interkulturelle Vermittlung wie auch die Vermittlung bei Konflikten. Die interkulturelle Mediation soll Brücken bauen zwischen Personen mit Migrationshintergrund und gesellschaftlichen Institutionen und dadurch zur Inklusion dieser Bevölkerungsgruppen beitragen. Die Forschung In unserer Forschung geht es darum zu untersuchen, ob die interkulturelle Mediation diese Funktion tatsächlich erfüllt. Zu diesem Zwecke fragen wir nach Praktiken und Strate- Dr. Janine Dahinden und Dr. Alexander Bischoff gien der interkulturellen Mediation in öffentlichen Institu- tionen. Die Studie findet in zwei Städten, Genf und Basel, statt, und zwar jeweils in den vier Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Justiz. «Anpassung zur Gleichbehandlung»: Interkulturelle Media- tion scheint in vielen Fällen zunächst der Bestätigung und Auf folgende Fragen wollen wir Antworten finden: Aufrechterhaltung der Macht der Institutionen zu dienen. – Unter welchen Voraussetzungen ermöglicht die interkul- Es ist die Institution – auf der Mikroebene der Arzt, die turelle Mediation, MigrantInnen vermehrt am Leben in Richterin, die Lehrerin –, die die Entscheidungsmacht über den genannten Bereichen teilhaben zu lassen und den Beizug von Dolmetschenden, VermittlerInnen und Chancengleichheit zu erreichen? KonfliktmediatorInnen hat, und es sind nicht die MigrantIn- – Kann die interkulturelle Mediation auch das Gegenteil nen. Die Institutionen haben demnach den Schlüssel zum bewirken und MigrantInnen ausschliessen? Sprachzugang oder entscheiden über die Form der Kon- fliktbewältigung. In vielen Fällen wird von der Möglichkeit, NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 9
interkulturelle MediatorInnen beizuziehen, dann Ge- Nutzen für die Praxis brauch gemacht, wenn die Institution ihrem Auftrag nicht Ein Ziel unserer Studie besteht darin, Kooperationen von mehr ausreichend nachkommen kann. Als Extrembeispiel Forschung und Praxis anzuregen und zu fördern. Wir er- sei auf das Gericht verwiesen, das bei Prozessen mit fremd- hoffen uns nicht nur, mit unserer Studie den Stellenwert sprachigen Beteiligten auf Dolmetschende angewiesen ist, der interkulturellen Mediation für die Integration von Mi- um die Wahrheit herauszufinden. Auch werden interkultu- grantInnen aufzeigen zu können, sondern wir möchten relle MediatorInnen häufig eingesetzt, um Informationen auch dazu beitragen, dass Erfahrungen und Erkenntnisse unidirektional an die MigrantInnen zu übermitteln, d. h. ausgetauscht und fruchtbar gemacht werden. Aus diesem ausgehend von der Institution an die Adresse der KlientIn- Grund planen wir eine Veranstaltung, die sich einerseits an nen. Das Ziel ist, den MigrantInnen die Sicht der Institution, die Personen richtet, die an der Befragung oder den Inter- etwa die Funktionsweise des Sozialsystems, zu erklären. An views teilgenommen haben, und anderseits an lokale, regio- diese Informationsübermittlung ist meist die Erwartung nale und nationale Akteure, die in diesem Bereich tätig sind geknüpft, dass die MigrantInnen ihr Verhalten entspre- (BAG, EKA, Interpret, Caritas, HEKS etc.). An dieser Ver- chend ändern und sich anpassen. Eine solche «Anpassung» anstaltung sollen die Resultate der Forschung vorgestellt kann durchaus als Schritt in Richtung Chancengleichheit und auf ihre praktische Relevanz hin diskutiert werden. verstanden werden: Erst wenn die MigrantInnen über die gleichen Informationen verfügen wie die Einheimischen, sind die Voraussetzungen einer Gleichbehandlung gege- Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von ben. Identität und Differenz»: Trägt die interkulturelle Mediation zur Inklusion bei? Strategie und Praxis im Vergleich Von «Integration und Empowerment» wäre hingegen dann zwischen den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Soziales zu sprechen, wenn die interkulturelle Mediation den und Justiz KlientInnen Optionen eröffnet. Ein solches Potenzial zum Laufzeit 01. 10. 2003 – 30. 09. 2005 Empowerment konnten wir bei unseren Fallstudien durch- aus feststellen, und zwar meist dann, wenn die Institution Projektverantwortlicher nicht über eine grosse (Sanktions-)Macht verfügt: Je gerin- Dr. Alexander Bischoff, Institut für Pflegewissenschaft, ger das Machtgefälle zwischen Institution und KlientIn, Universität Basel, Bernoullistrasse 28, 4056 Basel desto eher setzt die Institution Konfliktmediation, interkul- Telefon +41 (0)61 267 09 54 turelle Vermittlung und Dolmetschen mit dem Ziel einer alexander.bischoff@unibas.ch «Ermächtigung» der MigrantInnen ein. Eine solche Media- tion geht über reine Informationsvermittlung hinaus. Wenn Kontaktperson beispielsweise Eltern von Migrantenkindern aufgezeigt Dr. Janine Dahinden, Schweizerisches Forum für werden soll, wie sie ihre Kinder in der Schule gezielt för- Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM)/Swiss Forum dern können, bedeutet das, dass die Eltern vom ersten for Migration and Population Studies (SFM), Universität Schultag an mit Hilfe interkultureller VermittlerInnen und Neuenburg, Rue St. Honoré 2, 2000 Neuenburg Dolmetschender sowohl an Elternabenden wie auch in per- Telefon +41 (0)32 718 39 34 sönlichen Elterngesprächen im Detail über die Funktions- janine.dahinden@unine.ch weise der Schule, ihre Pflichten und Rechte sowie über die Leistungen ihrer Kinder informiert werden. Es heisst auch, Publikationen dass die Lehrperson mit den Eltern – und interkulturellen Bischoff, Alexander (2004), Ausgeschlossen durch die fremde Sprache, in: Tangram: Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, VermittlerInnen oder Dolmetschenden – die «Schul- 16, S. 63–67 karriere» der Kinder aufmerksam verfolgt und dass bei Dahinden, Janine (2005 [forthcoming]). «Interkulturelle Mediation: Was Problemen gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. heisst schon interkulturell?» in Von Sinner, Alex und Michael Zirkler (Hg.), Hinter den Kulissen der Mediation. Kontexte, Perspektiven und Praxis der Konfliktbearbeitung. Bern: Haupt 10 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Service rung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung sowie zu den Prozessen in und um die Literaturhinweise Invalidenversicherung sind vor allem für die Integra- tionspolitik und die Massnahmen im Rahmen der Zusammengestellt von Dr. Laura von Mandach, wissenschaftliche Invalidenversicherung von Bedeutung. Koordinatorin NFP 51 (Stand: Ende Oktober 2005) Mit den Studien zum Gesundheitswesen wurden verschiedene Aspekte der Kostenentwicklung, der Gestrich, Andreas und Lutz Raphael (Hrsg.), Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, der Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Effizienz des Systems sowie Fragen der Langzeit- Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bern, pflege beleuchtet. Sie nehmen Bezug auf die Peter Lang, 2005 laufende gesundheitspolitische Debatte, liefern Der Band dokumentiert Forschungsergebnisse einer wichtige Hintergrundinformationen und machen Tagung des Sonderforschungsbereichs 600 «Fremd- Vorschläge zur Lösung anstehender Probleme. heit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklu- Mehrere Studien haben sich mit den globalen sionsformen von der Antike bis zur Gegenwart» an Wirkungen des Systems, mit grundlegenden Alter- der Universität Trier. Mit Inklusion und Exklusion von nativen zur sozialen Grundsicherung und mit der Fremden und Armen werden zwei zentrale Problem- Funktionsweise und den Wirkungen der Sozialhilfe lagen in dem weiten Feld «sozialer Schliessung» beschäftigt. Zum einen ging es um die wirtschaft- und «gesellschaftlicher Integration» in den Blick lichen Auswirkungen steigender Kosten und die genommen. Es geht um Handlungsfelder, in denen Wirkung der Umverteilung innerhalb des Gesamt- Gesellschaften und Gruppen Grundfragen ihres systems, zum andern um die Praxis der Sozialhilfe Selbstverständnisses thematisieren. Drei Aspekte und ihre Wirkungen im Hinblick auf die Integration stehen im Mittelpunkt: politische bzw. bürgerrecht- der Klientinnen und Klienten. liche Zugehörigkeit als Medium, Hungersnöte und Empfehlungen für Politik und Praxis und eine Versorgungskrisen als extreme Belastungsproben Skizzierung des weiteren Forschungsbedarfs und Religion als Motivation für die Inklusion und beschliessen den Band. Exklusion von Fremden und Armen. (Information des Verlags) (Information des Verlags) Nationales Forschungsprogramm NFP 45 «Probleme des Sozialstaats» Gärtner, Ludwig und Yves Flückiger, Probleme www.nfp45.ch des Sozialstaates: Ursachen, Hintergründe, Perspektiven, Zürich, Rüegger, 2005 Die französische Version des Buches erscheint im Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozial- Winter 2005/06. politischen Entwicklungen der 1990er-Jahre haben in der Schweiz eine Diskussion über die Zukunft Heitmeyer, Wilhelm und Peter Imbusch, des Sozialstaats ausgelöst. Die Projekte des Natio- Integrationspotenziale einer modernen Gesell- nalen Forschungsprogramms NFP 45 knüpfen an schaft, Reihe: Analysen zu gesellschaftlicher diese Diskussion an und führen sie weiter. Mit dem Integration und Desintegration, Wiesbaden, Buch werden die Ergebnisse des Forschungs- VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005 programms vorgelegt. Es geht dabei nicht um die Die Frage nach den Möglichkeiten und der Bedeu- Präsentation von Einzelstudien, sondern um eine tung sozialer Integration ist nach den jüngsten synthetische Verarbeitung der Ergebnisse. Zunächst dramatischen Erfahrungen mit gesellschaftlichen werden die relevanten Entwicklungstrends und die Desintegrationsprozessen wieder stärker in den Reformdiskussion der 90er-Jahre dargestellt. Neue Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Debatten ge- Studienergebnisse des NFP 45 zur Segmentation rückt. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Inte- des Arbeitsmarktes, zu Arbeitsplatzsicherheit und grationsproblematik moderner Gesellschaften wer- Arbeitslosigkeit zeigen, wie die Transformation des den anhand unterschiedlicher Integrationstheorien Arbeitsmarktes die sozialen Sicherungssysteme zentrale Aspekte der Integrations- und Anerken- beeinflusst. nungsproblematik behandelt, die sich aus aktuel- Im Rahmen des NFP 45 wurde erstmals die Situation len Desintegrationstendenzen der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung in der Schweiz sys- ergeben. tematisch aus verschiedenen Blickwinkeln unter- (Information des Verlags) sucht. Die Studien zur Lebenslage, zu Diskriminie- NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 11
Handbuch zur Interinstitutionellen Veranstaltungen, die Forschende des NFP 51 Zusammenarbeit (IIZ), Bern, Staatssekretariat organisieren für Wirtschaft (seco) (Hrsg.) www.iiz.ch Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) ist eine 17. und 18. Februar 2006 gemeinsame Strategie zur verbesserten, zielgerich- Historisches Seminar der Universität Basel, Tagung teten Zusammenarbeit verschiedener Partnerorga- «Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?» nisationen aus den Bereichen Arbeitslosenver- Organisation: NFP-51-Forschungsgruppe «Eugenik sicherung, Invalidenversicherung, Sozialhilfe, in Psychiatrie und Verwaltung im Kanton Basel- öffentliche Berufsberatung etc. Initiiert wurde IIZ Stadt, 1880–1960» durch eine gemeinsame Empfehlung der Konferenz Kontakt: Prof. Dr. Regina Wecker Kantonaler Volkswirtschaftsdirektoren und -direkto- regina.wecker@unibas.ch rinnen (VDK) und der Konferenz Kantonaler Sozial- direktoren und -direktorinnen (SODK). Diese Emp- 27. und 28. April 2006 fehlung hat auch zur Einsetzung einer nationalen Centre de recherche sociale, IES, Genève, colloque IIZ-Koordinationsgruppe geführt. «Ce qu’insérer veut dire: intention, dispositifs et effets» Organisateurs: Laurence Ossipow, Jean-Pierre Tabin et Claude De Jonckheere Contact: Dr. C. De Jonckheere Veranstaltungshinweise claude.dejonckheere@ies.unige.ch Zusammengestellt von Dr. Laura von Mandach, wissenschaftliche Koordinatorin NFP 51 27. Januar 2006 Kultur-Casino, Bern, «Abgeschoben in die IV – Psychisches Leiden in der Arbeitswelt» Caritas- Forum 2006 www.caritas.ch > Aktuell 17. März 2006 Universität Bern, Tagung «Paradoxien in den Geschlechterverhältnissen?» Tagung des Vereins Feministische Wissenschaft Impressum Schweiz in Zusammenarbeit mit dem Komitee «Bulletin NFP 51» – aktuelle Informationen zum Geschlechterforschung der Schweizerischen Nationalen Forschungsprogramm NFP 51 «Integra- Gesellschaft für Soziologie tion und Ausschluss», Ausgabe Nr. 2, www.femwiss.ch Dezember 2005 Herausgeberin 17. und 18. März 2006 Leitungsgruppe des NFP 51, Schweizerischer Institut für Pflegewissenschaft der Universität Nationalfonds (SNF), Postfach, 3001 Bern Basel, «Geschichte der Pflege», 7. Internationaler www.nfp51.ch Kongress zur Geschichte der Pflege an der Redaktion Universität Basel Wolfgang Wettstein, Umsetzungsbeauftragter NFP 51, Forchstrasse 70, 8008 Zürich Organisation: Verein Geschichte der Pflege in Tel. +41 (0)44 420 18 60, Fax +41 (0)44 420 18 61 Zusammenarbeit mit dem Historischen Seminar wwettstein@access.ch und dem Institut für Pflegewissenschaft der Gestaltung Universität Basel, Basel Atelier Richner, Bern, www.atelierrichner.ch www.geschichte-der-pflege.ch/Kongress.html Druck Rickli + Wyss AG, Bern, www.riwy.ch Papier: Superset Snow, chlorfrei gebleicht, 100 gm2 Auflage D/F: 3000 Ex. Die Ausgabe Nr. 3 erscheint im April 2006. Redaktionsschluss: Ende Februar 2006 12 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
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