REPORT - Hans-Böckler-Stiftung

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REPORT
Nr. 55, Februar 2020

WSI-MINDESTLOHNBERICHT 2020
Europäische Mindestlohninitiative vor dem Durchbruch?
Thorsten Schulten, Malte Lübker

AUF EINEN BLICK

2020 könnte in Europa das Jahr des Mindestlohns
werden. Erstmals hat die Europäische Kommission
                                                         Der gesetzliche Mindestlohn pro Stunde beträgt in ...
die Initiative für eine europäische Mindestlohnpoli-
tik ergriffen, um überall in Europa „gerechte“, d. h.    Luxemburg                                              12,38 €
armutsfeste und existenzsichernde Mindestlöhne
durchzusetzen. Zugleich werden in vielen EU-Staa-        Frankreich                                 10,15 €
ten Diskussionen über eine deutlich stärkere Anhe-
bung der Mindestlöhne auf nationaler Ebene geführt.      Niederlande                                10,14 €
Die Debatte in Deutschland über einen Mindest-
lohn von 12 Euro ist folglich kein Einzelfall, sondern   Irland                                    10,10 €
fügt sich ein in ein europäisches Entwicklungsmus-
ter, das schon seit einigen Jahren eine Tendenz zu       Belgien                                   9,66 €
deutlich höheren Mindestlohnzuwächsen aufweist.
Eine europäische Mindestlohnpolitik könnte den           Deutschland                             9,35 €
Trend zu höheren Mindestlöhnen weiter beschleu-
nigen und die verschiedenen nationalen Initiativen
                                                         Quelle: WSI-Mindestlohndatenbank 2020   Stand: 01.02.2020
in eine europäische Gesamtstrategie einbetten.
INHALT

                         Einleitung ����������������������������������������������������������������� 2   Aktuelle Entwicklung der Mindestlöhne ������������������ 9

                         Mindestlöhne in Euro zum 1. Januar 2020 ��������������� 3                        Ausblick: Wird 2020 das Jahr des Mindestlohns
                                                                                                           in Europa? ���������������������������������������������������������������� 13
                         Mindestlöhne in Kaufkraftstandards zum
                         1. Januar 2020 ����������������������������������������������������������� 5

                         Der relative Wert des Mindestlohns ��������������������������� 7

                         EINLEITUNG
                         Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Insti- Auf dieser Datenbasis gibt der WSI-Mindestlohn-
                         tut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung analysiert im bericht einen umfangreichen Überblick zum Ni-
                         Rahmen seiner seit 2009 jährlich erscheinenden veau der Mindestlöhne – und zwar sowohl in Euro,
                         WSI-Mindestlohnberichte die aktuelle Entwick- in Kaufkraftstandards und relativ zum nationalen
                         lung von Mindestlöhnen im europäischen und in- Lohnniveau – und diskutiert aktuelle Vorstöße für
                         ternationalen Vergleich. Diese Analyse beruht im eine strukturelle Erhöhung von Mindestlöhnen, wie
                         Wesentlichen auf der WSI-Mindestlohndatenbank, sie von vielen nationalen Gewerkschaften gefordert
                         in der für 37 Länder umfangreiche Zeitreihen zu und in einigen Ländern bereits umgesetzt werden.
                         Mindestlöhnen, Wechselkursen und Preisentwick- Vor diesem Hintergrund erschließen sich auch
                         lungen zusammengestellt sind. In der Datenbank die jüngsten Initiativen für eine europäische Min-
                         enthalten sind alle 22 EU-Länder, in denen Anfang destlohnregelung. Zugleich hilft der Blick über die
                         des Jahres 2020 gesetzliche Mindestlöhne in Kraft Grenzen hinweg, auch die deutsche Debatte über
                         waren. Außerdem werden sieben Anrainerstaaten einen Mindestlohn von 12 € in einen europäischen
                         der EU sowie sieben außereuropäische Industrie- Kontext einzuordnen.
                         und Schwellenländer berücksichtigt.

                                                                                                           WSI-Mindestlohndatenbank
                                  9 € und mehr Island4−8,99 €
                                  2−3,99 €           unter 2 €
                                                                                                           Die WSI-Mindestlohndatenbank ist online unter
                                  kein gesetzlicher
                                  Mindestlohn                                                              www.wsi.de/mindestlohndatenbank abrufbar und
                                  keine Daten                                                              enthält neben einer interaktiven Karte umfangrei-
                                                                                                           che Tabellen und Grafiken. Die Datenbank ist in
                                                                                                           deutscher und englischer Sprache verfügbar.

                                                                                                           Soweit im Folgenden einzelne Daten nicht geson-
                                                                                                           dert ausgewiesen werden, sind sie dieser Daten-
                                                                                                           bank entnommen.

WSI Report Nr. 55, Februar 2020     Seite 2
MINDESTLÖHNE IN EURO ZUM                                    Auch in den osteuropäischen Anrainerstaaten
                                                         gibt es nach wie vor äußerst niedrige Mindestlöhne
1. JANUAR 2020                                           von unter 2 €. Dies ist in Serbien (1,98 €), Nordmaze-
Innerhalb der Europäischen Union (EU) weisen die         donien (1,95 €) und Albanien (1,21 €) der Fall. Noch
jeweiligen Mindestlöhne zum Stichtag 1. Januar           geringere Mindestlöhne von unter einem Euro exis-
2020 eine erhebliche Spannweite auf, die von nur         tieren in Moldawien (0,83 €), Russland (0,97 €) und
1,87 € pro Stunde in Bulgarien bis zu 12,38 € in Lu-     der Ukraine (0,98 €). In Russland gibt es allerdings
xemburg reicht (►Abbildung 1). Es lassen sich drei       zusätzlich zum nationalen Mindestlohn auf regiona-
große Ländergruppen identifizieren: Die erste um-        ler und lokaler Ebene eine Reihe von weiteren Min-
fasst sieben westeuropäische Industrieländer mit         destlöhnen, die etwa in Moskau (1,61 €) und Sankt
einem Mindestlohnniveau von 9 € und mehr. Diese          Petersburg (1,52 €) deutlich über dem Niveau der
Gruppe wird vom bereits erwähnten europäischen           Föderation liegen. In der Türkei liegt der Mindest-
Spitzenreiter Luxemburg angeführt. Es folgen fast        lohn derzeit bei umgerechnet 2,37 € pro Stunde.
gleichauf Frankreich (10,15 €) und die Niederlande          Unter den außereuropäischen Industrie- und
(10,14 €) sowie Irland mit einem Mindestlohn von         Schwellenländern finden sich die höchsten Min-
9,80 €. In Irland steigt der Mindestlohn allerdings      destlöhne in Australien (12,10 €) und Neuseeland
schon zum 1. Februar 2020 auf 10,10 €, sodass            (10,41 €). Kanada (9,05 €) und Japan (7,38 €) haben
dann insgesamt vier westeuropäische Länder ei-           hingegen keinen nationalen Mindestlohn, sondern
nen Mindestlohn von über 10 € haben. In Belgien,         ein dezentrales System von regionalen Mindestlöh-
wo der Mindestlohn im Rahmen eines nationalen            nen, sodass in der WSI-Mindestlohndatenbank der
Tarifvertrages festgelegt wird, gelang es den Tarif-     gewichtete Durchschnitt der Provinzen bzw. Prä-
vertragsparteien trotz umfangreicher Verhandlun-         fekturen angesetzt wird. In den Vereinigten Staaten
gen nicht, sich auf eine gemeinsame Erhöhung zu          gibt es zusätzlich zum bundesweiten Mindestlohn
verständigen, sodass der Mindestlohn unverändert         von 7,25 US$ (umgerechnet 6,48 €) weitere Min-
bei 9,66 € liegt. Auf einem geteilten sechsten Platz     destlöhne auf Ebene der Bundesstaaten oder ein-
liegen zum Jahresanfang Deutschland und Groß-            zelner Kommunen, die etwa im Staat Washington
britannien mit jeweils 9,35 € pro Stunde. Auch in        (13,50 US$, umgerechnet 12,06 €) oder in Massa-
Großbritannien wird der Mindestlohn deutlich             chusetts (12,75 US$, umgerechnet 11,39 €) deutlich
erhöht und liegt ab dem 1. April 2020 für Arbeit-        höher liegen. Dieses System ist allerdings nicht flä-
nehmer ab 25 Jahren bei umgerechnet 9,93 € (8,72         chendeckend, sodass in 21 Bundesstaaten nur der
£), womit Deutschland innerhalb seiner Vergleichs-       seit 2009 unveränderte, föderale Mindestlohn gilt.
gruppe dann auf den letzten Platz zurückfällt. In        In Korea hat sich der Mindestlohn im selben Zeit-
der Aufstellung nicht berücksichtigt sind die nor-       raum mehr als verdoppelt und liegt inzwischen mit
dischen Länder, Österreich und Italien, in denen         6,58 € über dem US-amerikanischen Niveau. Deut-
keine gesetzlichen Mindestlöhne existieren und die       lich niedriger sind die Mindestlöhne in Argentinien
effektiven Lohnuntergrenzen ausschließlich durch         (1,57 €) wie auch in Brasilien (1,07 €), wo es aller-
Tarifverträge festgelegt werden (Schulten et al.         dings ebenfalls neben dem föderalen Mindestlohn
2016; Aumayr-Pintar et al. 2019).                        auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten weitere
   Die zweite, relativ kleine Gruppe umfasst nur drei    Mindestlöhne gibt.
europäische Länder mit einem Mindestlohn zwi-
schen 4 und 6 €: Malta (4,48 €), Slowenien (5,44 €)
und Spanien (5,76 €), wo der Mindestlohn nach der
Regierungsbildung Mitte Januar mit Wirkung zum
Jahresanfang angepasst wurde (siehe ►Aktuelle Ent-
wicklung der Mindestlöhne). Die weitaus größte, dritte
Gruppe besteht aus einem Dutzend EU-Staaten mit
Mindestlöhnen unterhalb der 4 €-Schwelle. Hierzu
zählen Portugal (3,83 €) und Griechenland (3,76 €)
sowie zehn osteuropäische Mitgliedsländer, in de-
nen sich die Mindestlöhne innerhalb einer Spanne
von 1,87 € (Bulgarien) bis 3,72 € (Litauen) bewegen
(►Abbildung 1).

                                                                                                    WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 3
Abbildung 1

                         Gesetzliche Mindestlöhne, Stand 1. Januar 2020
                         Angaben in Euro, pro Stunde

                                      Luxemburg                                                                                                               12,38
                                       Frankreich                                                                                          10,15
                                     Niederlande                                                                                           10,14
                                           Irland*                                                                                      9,80
                                          Belgien                                                                                      9,66
                                  Großbritannien*                                                                                   9,35
                                     Deutschland                                                                                    9,35
                                         Spanien                                                         5,76
                                       Slowenien                                                      5,44
                                             Malta                                             4,48
                                         Portugal                                       3,83
                                    Griechenland                                       3,76
                                          Litauen                                      3,72
                                            Polen                                    3,50
                                          Estland                                    3,48
                                      Tschechien                                    3,40
                                        Slowakei                                   3,33
                                         Kroatien                                 3,17
                                          Ungarn                               2,85
                                       Rumänien                               2,81
                                         Lettland                           2,54
                                        Bulgarien                    1,87

                                      Türkei                              2,37
                                   Serbien**                          1,98
                            Nordmazedonien**                          1,95
                                    Albanien                 1,21
                                     Ukraine               0,98
                                   Russland                0,97
                                  Moldawien               0,83

                                       Australien                                                                                                           12,10
                                     Neuseeland*                                                                                             10,41
                                       Kanada***                                                                                 9,05
                                        Japan***                                                                        7,38
                                          Korea                                                                  6,58
                                            USA                                                                 6,48
                                      Argentinien                  1,57

                         – –
                                        Brasilien           1,07

                                   9 Euro und mehr       4,00 bis 8,99 Euro
                                   2,00 bis 3,99 Euro    unter 2 Euro
                         Anmerkungen: Umrechnung in Euro anhand des Durchschnittskurses des Jahres 2019. Gebietsstand der Europäischen Union zum 1. Januar 2020.
                         * ab 1.2.2020: Irland 10,10 €; ab 1.4.2020: Großbritannien 9,93 €, Neuseeland 11,12 €.
                         ** Geschätzt, da Mindestlohn als Nettolohn festgelegt wird.
                         *** Gewichteter Durchschnitt der regionalen Mindestlöhne.

                         Quelle: WSI -Mindestlohndatenbank 2020

WSI Report Nr. 55, Februar 2020    Seite 4
MINDESTLÖHNE IN KAUFKRAFT-                                   Spannweite kommt es auch zu Veränderungen in
                                                             der Rangfolge. Innerhalb der ersten Gruppe der
STANDARDS ZUM 1. JANUAR 2020                                 westeuropäischen Länder bleiben die ersten drei
Die Aussagekraft eines internationalen Vergleichs            Plätze unverändert, Belgien (8,03 €), Großbritan-
von Mindestlöhnen auf Basis von Euro-Werten ist              nien (7,35 €) und Irland (7,10 €) fallen jedoch auf-
in zweierlei Hinsicht eingeschränkt. So ist für Län-         grund relativ hoher Lebenshaltungskosten hinter
der außerhalb des Euro-Raumes zunächst eine Um-              Deutschland (8,27 €) zurück. Zu weitaus dramati-
rechnung aus der jeweiligen nationalen Währung in            scheren Umschichtungen kommt es in der zweiten
Euro notwendig. Die WSI-Mindestlohndatenbank                 und dritten Gruppe: So haben auf KKS-Basis Polen
verwendet hierfür jeweils den durchschnittlichen             (5,67 €), Rumänien (5,00 €) und Ungarn (4,29 €) auf-
Wechselkurs des Vorjahres, um kurzfristige Wech-             grund der geringeren Lebenshaltungskosten deut-
selkursschwankungen auszugleichen.  1 Trotzdem               lich höhere Mindestlöhne als bei der Umrechnung
haben die Entwicklungen auf den Devisenmärkten               nach Devisenkursen. Griechenland (4,12 €) und Por-
erheblichen Einfluss auf die so ermittelten Min-             tugal (4,07 €) fallen hingegen wegen der ungünsti-
destlöhne in Euro. Prägnantestes Beispiel hierfür            gen Kombination aus niedrigen Mindestlöhnen und
ist das Britische Pfund, dessen Kurs in den Jahren           relativ hohen Preisen im europäischen Vergleich
2016 und 2017 im Zuge des Brexit-Referendums                 deutlich zurück.
eingebrochen ist und sich seitdem auch nicht wie-               Auch außerhalb Europas verringert sich nach
der erholt hat. Würde man den aktuellen britischen           Bereinigung um Kaufkraftunterschiede die Spann-
Mindestlohn von 8,21 £ mit dem Durchschnittskurs             weite der Mindestlöhne. Der Abstand der Schwel-
der Nullerjahre umrechnen, würde dies einen Wert             lenländer Brasilien (1,51 €) und Argentinien (3,81 €)
11,78 € ergeben, nahe dem Niveau Luxemburgs.                 zu entwickelten Ländern wie Australien (9,15 €) und
   Zudem gibt es auch innerhalb der Euro-Zone                Neuseeland (7,92 €) bleibt aber beträchtlich. Noch
deutliche Unterschiede in den Lebenshaltungskos-             deutlicher wird der außergewöhnlich niedrige Min-
ten, weswegen die nominalen Werte einen aus Ar-              destlohn in den USA (5,22 €), der auf KKS-Basis ex-
beitnehmersicht entscheidenden Aspekt nicht aus-             akt auf dem Niveau Litauens liegt und selbst hinter
reichend wiedergeben: die Kaufkraft des jeweiligen           das Niveau Koreas (6,51 €) zurückfällt. Dieser Ana-
Mindestlohns, also das Verhältnis von Löhnen und             chronismus wird auch in den Vereinigten Staaten
Preisen. Die WSI-Mindestlohndatenbank weist des-             selbst kontrovers diskutiert, wo die von den Ge-
halb die Mindestlöhne auch in Kaufkraft-Standards            werkschaften ausgehende „Fight for 15 $“-Bewe-
(KKS) auf Euro-Basis aus. Ziel dieses Ansatzes ist           gung schon seit einigen Jahren für eine Verdoppe-
es, Unterschiede im Preisniveau zwischen den Län-            lung des nationalen Mindestlohns auf 15 US$ (um-
dern zumindest näherungsweise auszugleichen.                 gerechnet 13,40 €) eintritt (Rolf 2016) und mittler-
Sowohl Eurostat als auch die Weltbank berech-                weile breite Unterstützung erfährt (New York Times
nen mit einem Warenkorb-Modell entsprechende                 Editorial Board 2019).
Umrechnungsfaktoren, wobei die Datenbank der
Weltbank deutlich mehr Länder umfasst. Deshalb
werden im WSI-Mindestlohnbericht sämtliche
Mindestlöhne zunächst auf Basis der Weltbank-
Daten in KKS-Dollar konvertiert und dann in Euro
rückgerechnet.  2
   Nach der Kaufkraftbereinigung reduziert sich
das Mindestlohngefälle innerhalb der Europäi-
schen Union deutlich, da die Länder mit hohen
Mindestlöhnen in der Regel auch ein höheres Preis-
niveau haben als die Länder mit den niedrigsten
Mindestlöhnen. Auf KKS-Basis liegen die Mindest-
löhne innerhalb der EU zwischen 3,18 € in Lettland
und 9,03 € in Luxemburg (►Abbildung 2). Neben der

 1 Die in den jährlichen WSI-Mindestlohnberichten ausge-
   wiesenen Mindestlöhne in Euro sind deshalb nicht direkt
   vergleichbar, da ihnen die Wechselkurse des jeweiligen
   Vorjahres zugrunde liegen. Zur Analyse der Entwicklung
   in einzelnen Ländern werden deshalb in der WSI-Min-
   destlohndatenbank immer auch die Daten in nationaler
   Währung erfasst.
 2 In der online zugänglichen WSI-Mindestlohndatenbank
   steht Nutzern auch die Umrechnung auf Basis der
   Eurostat-Daten zur Verfügung, die sich im Ergebnis
   jedoch nur geringfügig unterscheidet (www.wsi.de/
   mindestlohndatenbank).

                                                                                                       WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 5
Abbildung 2

                         Kaufkraft (KKS) gesetzlicher Mindestlöhne, Stand 1. Januar 2020
                         Angaben in KKS* auf Euro-Basis, pro Stunde

                                      Luxemburg                                                                                                                                  9,03
                                       Frankreich                                                                                                                        8,49
                                     Niederlande                                                                                                                       8,35
                                     Deutschland                                                                                                                       8,27
                                            Belgien                                                                                                              8,03
                                  Großbritannien                                                                                                         7,35
                                              Irland                                                                                                   7,10
                                       Slowenien                                                                                     5,91
                                         Spanien                                                                                   5,75
                                              Polen                                                                               5,67
                                            Litauen                                                                        5,22
                                              Malta                                                                      5,03
                                       Rumänien                                                                          5,00
                                      Tschechien                                                                  4,44
                                        Slowakei                                                                  4,38
                                            Ungarn                                                               4,29
                                         Kroatien                                                               4,28
                                    Griechenland                                                               4,12
                                         Portugal                                                          4,07
                                            Estland                                                        4,01
                                        Bulgarien                                                3,41
                                            Lettland                                           3,18

                                             Türkei                                                                               5,63
                             Nordmazedonien**                                                           3,75
                                        Serbien**                                                3,39
                                            Ukraine                                     2,84
                                        Albanien                                 2,03
                                        Russland                             1,88
                                      Moldawien                           1,64

                                       Australien                                                                                                                                 9,15
                                     Neuseeland                                                                                                                 7,92
                                       Kanada***                                                                                                       7,17
                                              Korea                                                                                             6,51
                                        Japan***                                                                                         6,07
                                               USA                                                                         5,22
                                      Argentinien                                                       3,81

                         – –
                                         Brasilien                    1,51

                                  7,00 KKS und mehr      5,00 bis 6,99 KKS
                                  3,00 bis 4,99 KKS      unter 3,00 KKS
                         Anmerkungen:
                         * Umrechnung in KKS auf Euro-Basis aufgrund der von der Weltbank für 2018 ausgewiesenen Kaufkraftparitäten für den privaten Konsum
                         (abweichend in Argentinien: KKS für das BSP).
                         ** Geschätzt, da Mindestlohn als Nettolohn festgelegt wird.
                         *** Gewichteter Durchschnitt der regionalen Mindestlöhne

                         Quelle: WSI -Mindestlohndatenbank 2020

WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 6
DER RELATIVE WERT DES                                   die Datenbank der OECD zurückgegriffen wird.  3
                                                        Derzeit liegt der Mindestlohn innerhalb der EU nur
MINDESTLOHNS                                            in Frankreich (Kaitz-Index: 61,6 %) und Portugal
Als dritte Vergleichsperspektive bietet sich die        (61,4 %) oberhalb von 60 % des Medianlohns, au-
 Höhe der Mindestlöhne in Relation zum jeweiligen       ßerhalb der EU kommen noch Neuseeland (eben-
 nationalen Lohnniveau an. Damit wird ersichtlich,      falls 61,4 %) und die Türkei hinzu (70,9 %) (Abbildung
 ob die Mindestlöhne im Verhältnis zu den natio-        3a). In insgesamt 22 der 26 Länder, für die Daten
 nal vorherrschenden Löhnen „niedrig“ oder „hoch“       verfügbar sind, liegen die Mindestlöhne unterhalb
 sind. Der Arbeitsmarktökonom Hyman Kaitz (1970,        der Zielmarke, sodass hier von nicht armutsfesten
 S. 43) hat hierzu vorgeschlagen, Mindestlöhne ins      Löhnen ausgegangen werden kann. In elf Ländern
Verhältnis zum Durchschnittslohn eines jeweiligen       wird sogar die 50 %-Marke verfehlt. Hierzu gehört
 Landes zu setzen. Als Referenzgröße wird statt         neben den Niederlanden (47,0 %) und Belgien
 des arithmetischen Mittelwerts inzwischen jedoch       (46,3 %) auch Deutschland, wo der Mindestlohn
 überwiegend der Medianlohn verwendet. Dieser ist       im Jahr 2018 nach Berechnungen der OECD bei nur
 statistisch gegenüber Extremwerten robust und hat      45,6 % des Medianlohns lag. Schlusslicht sind die
 den Vorteil, dass er – anders als der Durchschnitts-   USA, wo der nationale Mindestlohn aufgrund der
 lohn – im Regelfall selbst nicht von Anpassungen       jahrelangen Stagnation inzwischen weniger als ein
 des Mindestlohns beeinflusst wird (Lopresti/Mum-       Drittel der Medianlöhne beträgt (32,7 %).
 ford 2016). Er ist damit ein weitgehend exogener          Zusammengefasst: Der relative Wert des Min-
 Maßstab, um den relativen Wert des Mindestlohns        destlohns im Verhältnis zum Medianlohn deutet
 einzuschätzen.                                         darauf hin, dass in den meisten Ländern die Min-
    Hintergrund für diese Betrachtungsweise ist         destlöhne nur ein sehr niedriges Niveau erreichen.
 eine der Hauptfunktionen von Mindestlöhnen: Sie        Von den insgesamt 26 Ländern, für die entspre-
 sollen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-      chenden Daten vorliegen, verfügen – einschließ-
 nen effektiven Schutz vor unangemessen niedrigen       lich Deutschland – elf Staaten über Mindestlöhne
 Löhnen gewährleisten (ILO Konvention Nr. 131 von       unterhalb der 50 %-Schwelle und liegen damit auf
1970, Präambel). Diese Aufgabe können sie jedoch        Armutsniveau. In weiteren elf Ländern befindet
 nicht erfüllen, wenn Mindestlöhne selbst auf ei-       sich der Mindestlohn auf einem Niveau, mit dem
 nem nicht angemessenen Niveau festgesetzt wer-         der einzelne Beschäftigte einem hohen Armutsrisi-
 den. So argumentiert die Europäische Kommission,       ko ausgesetzt ist. Lediglich in vier Staaten wird ein
 dass Mindestlöhne nur dann als „angemessen“            angemessener Mindestlohn von mindestens 60 %
 gelten können, „wenn sie angesichts der Lohn-          des Medianlohns erreicht. Hierzu gehören auch
 skala im Land gerecht sind und einen angemesse-        die Türkei und Portugal, die in absoluter Hinsicht
 nen Lebensstandard gewährleisten“ (Europäische         ein relativ geringes Mindestlohnniveau aufweisen.
 Kommission 2020, S. 5). Dieser Standard wird aus       In diesen Ländern ist ein hoher Kaitz-Index eher
 Sicht der Kommission derzeit nicht überall erreicht:   Ausdruck dafür, dass das Lohnniveau breiter Bevöl-
„Zu den Ländern, in denen der Mindestlohn nicht         kerungsschichten und damit auch der Medianlohn
 ausreicht, um eine Armutsgefährdung zu verhin-         selbst sehr niedrig sind.
 dern, gehören Länder mit vergleichsweise niedri-           Da die Durchschnittslöhne in der Regel über
 gem Mindestlohn in Relation zum Medianlohn (wie        den Medianlöhnen liegen, fällt der Kaitz-Index
Tschechien, Estland, Malta, Deutschland), aber          entsprechend niedriger aus, wenn Mindestlöhne
 auch Lettland und Luxemburg“ (ebd., S. 6).             als Prozentzahl des Durchschnittslohn berechnet
    Der relative Mindestlohnwert wird hier als ein      werden (Abbildung 3b). Am deutlichsten ist dieser
 grober Indikator für die Angemessenheit des Min-       Effekt in der Türkei (Kaitz-Index: 40,5 %), da hier
 destlohns verwendet. In Analogie zu den in der Ar-     die Löhne extrem ungleich verteilt sind. Dies trifft
 mutsforschung weit verbreiteten relativen Einkom-      insbesondere auf die obere Hälfte der Lohnvertei-
 mensindikatoren kann bezogen auf den einzelnen         lung zu, während – nicht zuletzt aufgrund eines
 Beschäftigten ein Mindestlohn unterhalb von 50 %       Kompressionseffekts des Mindestlohns – die Löh-
 des Medianlohns als „Armutslohn“ bezeichnet wer-       ne des unteren Dezil relativ nahe am Median lie-
 den, während bei 50 bis 60 % von einem „Lohn mit       gen (Tansel et al. 2019, S. 114f.). Frankreich (49,7 %)
 hohem Armutsrisiko“ gesprochen werden kann. Im         und Neuseeland (52,3 %), beides Länder mit einer
 Sinne der Armutsvermeidung gilt ein Mindestlohn        relativ egalitären Lohnverteilung, behaupten sich
 erst dann als angemessen, wenn er bei mindestens       hingegen in der Spitzengruppe, während die USA
 60 % des Medianlohns liegt. Dementsprechend            (23,2 %) unabhängig von der Messweise mit Ab-
 wird die 60 %-Marke aktuell auch als eine wesent-      stand das Schlusslicht bleiben.
 liche Zielgröße für eine gemeinsame europäische
 Mindestlohnpolitik diskutiert (Schulten/Lübker
 2019; Schulten/Müller 2019). In Abbildung 3 werden
 die Mindestlöhne des Jahres 2018 in Prozent der         3 Bei der Messung der Löhne bezieht sich die OECD auf
                                                           Vollzeitbeschäftigte bzw. in einigen Fällen auf Vollzeit-
 jeweiligen Medianlöhne (Abbildung 3a) und Durch-          äquivalente. Zu Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit
 schnittslöhne (Abbildung 3b) dargestellt, wobei auf       siehe OECD (2012).

                                                                                                        WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 7
In der Europäischen Union lässt sich seit der                                fiel dann auf 45,6 % im Jahr 2018 zurück.  4 Einen
                         Jahrtausendwende ein Trend zu steigenden Min-                                   anderen Weg hat Großbritannien eingeschlagen,
                         destlöhnen feststellen. So stieg der durchschnitt-                              wo der Mindestlohn im Jahr 1999 ebenfalls auf ei-
                         liche Kaitz-Index auf Median-Basis von 44,0 % im                                nem strukturell niedrigen Niveau eingeführt wurde
                         Jahr 2000 auf 50,7 % im Jahr 2018 (►Abbildung 4).                               (Kaitz Index: 42,4 %). Im Jahr 2015 hat die konser-
                         Nach den Zahlen der OECD bildet Deutschland                                     vative Regierung von David Cameron jedoch das
                         – neben Belgien und den Niederlanden – eine der                                 politische Ziel etabliert, den Mindestlohn für Arbeit-
                         wenigen Ausnahmen von dieser Entwicklung. Hier                                  nehmer ab einem Alter von 25 Jahren auf 60 % des
                         lag der Kaitz-Index mit 48,3 % schon bei Einfüh-                                Medians zu erhöhen. Nach mehreren Erhöhungs-
                         rung des Mindestlohns im Jahr 2015 unterhalb                                    schritten wird dieses Ziel nach Berechnungen der
                         des Durchschnitts der anderen EU-Länder und                                     Low Pay Commission im April 2020 erreicht (Low
                                                                                                         Pay Commission 2019).

                                                                                                                                                                             Abbildung 3

                         Der relative Wert des Mindestlohns (Kaitz-Index) 2018
                         Angaben in Prozent

                         3a) Mindestlohn in Prozent des Medianlohns		                                     3b) Mindestlohn in Prozent des Durchschnittslohns

                                     Türkei                                                    70,9          Neuseeland                                                      52,3
                              Frankreich                                                61,6                  Frankreich                                                  49,7
                                   Portugal                                            61,4                    Slowenien                                                  48,4
                             Neuseeland                                                61,4                    Australien                                               47,2
                              Slowenien                                               58,7                         Korea                                              46,1
                                     Korea                                            58,6                       Kanada                                               45,0
                              Rumänien                                                58,4                Großbritannien                                              44,8
                          Großbritannien                                         54,5                            Portugal                                          43,9
                                  Australien                                     54,1                         Luxemburg                                            43,8
                             Luxemburg                                           53,8                              Polen                                           42,9
                                      Polen                                     53,1                           Rumänien                                            42,7
                                    Ungarn                                      51,8                              Litauen                                        41,4
                                    Kanada                                      51,4                               Türkei                                      40,5
                                    Litauen                                     51,2                        Deutschland                                        40,4
                                   Lettland                                    50,4                              Lettland                                      40,4
                                  Slowakei                                     49,3                                 Irland                                     39,9
                           Griechenland                                    47,5                                   Ungarn                                       39,5
                                      Irland                               47,5                                 Slowakei                                       39,4
                             Niederlande                                  47,0                               Niederlande                                       39,3
                                    Belgien                               46,3                                    Belgien                                      39,1
                            Deutschland                                   45,6                                    Estland                                   36,8
                                    Estland                             43,1                                       Japan                                   36,4
                                     Japan                              42,0                                 Tschechien                                    36,2
                             Tschechien                                 41,8                                     Spanien                                  34,8
                                   Spanien                              41,2                                Griechenland                                32,3

                         ––                                                                              ––
                                       USA                       32,7                                                USA                         23,2

                                    60 Prozent und mehr                                                           45 Prozent und mehr
                                    50 bis 59,9 Prozent                                                           40 bis 44,9 Prozent
                                    40 bis 49,9 Prozent                                                           35 bis 39,9 Prozent
Abbildung 4

Entwicklung des relativen Mindestlohnwerts (Kaitz-Index) im EU-Durchschnitt 2000–2018*
Mindestlohn in Prozent des Medianlohns

 52
                                                                                                                                                51,0          51,0
                                                                                                                                 50,5
                                                                                                                                                              50,7
                                                                                                                                                   50,8
 50                                                                                                                                      50,3
                                                                                                                          49,6
                                                                                                            48,8
                                                                                                                           49,0 49,5
                                                                                           48,2
                                                                                                                                  48,3
 48
                                                                                                     48,1
                                                                                       47,7
                                                                                                                                                       47,0
                                                                              47,2                                                 47,2
                           46,0                  46,3             46,2
 46                                    46,4
            45,0                                        46,0                                                                                                  45,6
                                                               45,7
                          45,5

 44
          44,0

–                                                –                                                     –
 42
        2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

       Europäische Union ohne Deutschland                 Europäische Union mit Deutschland                        Deutschland
* Ungewichteter Durchschnitt der nationalen Kaitz-Indizes aus 19 EU-Staaten: Belgien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland,
Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Rumäninnen, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn; bis 2004 ohne Slowenien.
Quelle: OECD Earnings Database

AKTUELLE ENTWICKLUNG DER                                                        des Jahres 2021 diskutiert wird. Die Europäische
                                                                                Kommission (2020, S. 6) kritisiert, dass unregelmä-
MINDESTLÖHNE                                                                    ßige Mindestlohnanpassungen mit der Zeit zu einer
Mindestlöhne werden in einer Mehrzahl der Staa-                                 Erosion der realen Mindestlöhne führen können –
ten jährlich angepasst, und zwar in der Regel zum                               wie dies derzeit etwa in Belgien der Fall ist.
Jahresanfang. So sind in 25 der 37 Länder, für die                                 Besonders deutliche nominale Anhebungen
das WSI regelmäßig Daten erhebt, die Mindestlöh-                                finden sich vor allem in Osteuropa und einigen
ne zum 1. Januar 2020 gestiegen, und in weiteren                                Schwellenländern. In Argentinien (49,3 %) und der
sieben Ländern im Laufe des Jahres 2019 (►Tabel-                                Türkei (15,1 %) sind diese in erster Linie der hohen
le 1).  5 Lediglich fünf Länder haben ihre Mindestlöh-                          Inflation geschuldet, sodass die Mindestlöhne
ne nicht erhöht. Hierzu zählen die EU-Länder Bel-                               nach Bereinigung um Kaufkraftverluste real sogar
gien, Irland, und Lettland. Im Falle Irlands tritt eine                         gesunken sind (►Tabelle 1). Hingegen verbleiben in
Mindestlohnerhöhung von 3,1 % erst zum 1. Feb-                                  Ländern wie Polen (15,6 %), der Ukraine (13,2 %),
ruar 2020 in Kraft, da die Regierung aufgrund der                               der Slowakei (11,5 %) und Litauen (9,7 %) auch nach
Unsicherheiten im Zuge des Brexits die Entschei-                                Berücksichtigung der Inflation teilweise deutliche
dung aufgeschoben hatte. In Belgien konnten sich                                Zuwächse. In einigen osteuropäischen Ländern
die Tarifvertragsparteien auf keine gemeinsame Er-                              verfolgen die dortigen Regierungen explizit das Ziel,
höhung des Mindestlohns verständigen, während                                   die Mindestlöhne überdurchschnittlich stark anzu-
in Lettland derzeit eine Erhöhung des monatlichen                               heben. In Polen lag die Erhöhung des Mindestlohns
Mindestlohns von 430 auf 500 € erst für den Anfang                              2020 mit 15,6 % sogar oberhalb der Gewerkschafts-
                                                                                forderung von 12 %. Darüber hinaus hat die pol-
                                                                                nische Regierung angekündigt, bis 2024 den Mo-
                                                                                natsmindestlohn von derzeit 2.600 auf 4.000 Zloty
 5 In Spanien wurde die Erhöhung des Mindestlohns erst
   Mitte Januar 2020 beschlossen. Sie tritt jedoch rückwir-                     anzuheben, was einem Zuwachs von mehr als 50 %
   kend zum 1. Januar 2020 in Kraft.                                            entsprechen würde (Owczarek 2019).

                                                                                                                                                       WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 9
Tabelle 1   In der Slowakei wurde 2020 mit einem Zuwachs
                                                                                                      von 11,5 % die höchste Steigerung des Mindest-
                                                                                                      lohns seit fast 20 Jahren beschlossen. Darüber
                         Entwicklung gesetzlicher Mindestlöhne, 2020                                  hinaus hat die slowakische Regierung ihr Min-
                         Vorwort
                         Veränderung am (bei
                                        1. JanuarBedarf     löschen)
                                                 2020 gegenüber dem Vorjahreszeit-                    destlohngesetz dahingehend reformiert, dass der
                         punkt, Angaben in Prozent                                                    Mindestlohn künftig auf ein Niveau von 60 % des
                                                                                                      Durchschnittslohns festgelegt werden soll, wenn
                                                 Nominal             Real             Zuletzt         sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht auf
                                                                                      erhöht          eine anderslautende Anpassung des Mindestlohns
                          Argentinien               49,3              -3,3            01.10.2019      verständigen können (The Slovak Spektator, 17. Ok-
                                                                                                      tober 2019).
                          Nordmazedonien            19,2             18,3             01.12.2019
                                                                                                          Ein deutlich expansiveres, langfristig angelegtes
                          Polen                     15,6             13,1             01.01.2020      Konzept zur strukturellen Erhöhung des Mindest-
                          Türkei                    15,1              -0,1            01.01.2020      lohns verfolgen auch Großbritannien und Neusee-
                          Ukraine                   13,2               4,1            01.01.2020      land sowie Spanien und Portugal. In Großbritannien
                                                                                                      war die Anhebung um 4,9 % zum 1. April 2019 die
                          Slowakei                  11,5               8,5            01.01.2020
                                                                                                      vierte in Folge oberhalb von 4 %; zum 1. April 2020
                          Serbien                   11,1               9,1            01.01.2020      folgt ein weiterer Erhöhungsschritt um 6,2 % (Low
                          Griechenland              10,9             10,3             01.02.2019      Pay Commission 2019). Nachdem die konservative
                          Litauen                    9,7               7,3            01.01.2020      britische Regierung mit der Einführung des Natio-
                          Tschechien                 9,4               6,7            01.01.2020      nal Living Wage – einem Mindestlohn für alle Be-
                                                                                                      schäftigte ab einem Alter von 25 Jahren – das Ziel
                          Bulgarien                  8,6               6,0            01.01.2020
                                                                                                      verfolgt hat, diesen bis 2020 auf 60 % des Median-
                          Estland                    8,4               6,0            01.01.2020      lohns anzuheben, hat sie nun verkündet, den Min-
                          Kroatien                   8,3               7,5            01.01.2020      destlohn bis 2024 auf zwei Drittel des Medianlohns
                          Ungarn                     8,1               4,5            01.01.2020      zu erhöhen und damit die Niedriglohnschwelle zu
                                                                                                      überschreiten (ebd). Eine ähnliche Entwicklung
                          Russland                   7,5               2,7            01.01.2020
                                                                                                      zeigt sich in Neuseeland, wo die 2019 vollzogene
                          Neuseeland                 7,3               5,7            01.04.2019      Erhöhung um 7,3 % Teil einer im Jahr 2018 einge-
                          Rumänien                   7,2               3,2            01.01.2020      leiteten Serie von Mindestlohnsteigerungen ist. Am
                          Moldawien                  6,3              -2,5            01.05.2019      1. April 2020 steigt der Mindestlohn in Neuseeland
                                                                                                      abermals um 6,8 % und für das Jahr 2021 ist eine
                          Slowenien                  6,1               4,3            01.01.2020
                                                                                                      weitere Anpassung auf dann 20 NZ$ angekündigt
                          Portugal                   5,8               5,5            01.01.2020      (umgerechnet 11,77 €). Der Mindestlohn wird dann
                          Spanien                    5,6               4,7            01.01.2020      voraussichtlich zwei Drittel des Medians erreicht
                          Großbritannien             4,9               3,0            01.04.2019      haben (Lees-Galloway 2019).
                          Brasilien                  4,1               0,3            01.01.2020          In Spanien wurde bereits Anfang 2019 mit ei-
                                                                                                      nem Zuwachs von mehr als 22 % die bislang größte
                          Japan                      3,1               2,1            01.01.2020
                                                                                                      Mindestlohnerhöhung in der Geschichte des Lan-
                          Australien                 3,0               1,3            01.07.2019      des vollzogen (Schulten/Lübker 2019). Nachdem
                          Korea                      2,9               2,4            01.01.2020      die spanische Wirtschaft diese außerordentliche
                          Luxemburg                  2,5               0,8            01.01.2020      Anhebung relativ gut verkraftete hat und sich die
                                                                                                      negativen Beschäftigungsprognosen nicht bestä-
                          Kanada                     2,4               0,4            01.01.2020
                                                                                                      tigt haben (Vacas-Soriano 2019), kam es im Januar
                          Niederlande                2,3              -0,3            01.01.2020      2020 auf Vermittlung der neuen Linksregierung aus
                          Malta                      2,0               0,4            01.01.2020      Sozialisten und Unidas Podemos zu einer Einigung
                          Deutschland                1,7               0,3            01.01.2020      zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-
                                                                                                      den, den Mindestlohn ab 1. Januar 2020 um weite-
                          Frankreich                 1,2              -0,1            01.01.2020
                                                                                                      re 5,6 % zu erhöhen. In dem Regierungsprogramm
                          Irland                     0,0              -0,9            01.01.2019      der neuen spanischen Linksregierung findet sich
                          Belgien                    0,0              -1,2            01.09.2018      darüber hinaus das Ziel, den Mindestlohn innerhalb
                          Lettland                   0,0              -2,7            01.01.2018      der Legislaturperiode bis 2024 auf 60 % des Durch-
                          Albanien                   0,0              -1,8            01.01.2019      schnittslohns anzuheben. Auch in Portugal hat die
                                                                                                      2019 neugewählte Linksregierung einen längerfris-
                          USA                        0,0              -1,8            24.07.2009
                                                                                                      tigen Plan zur strukturellen Erhöhung des Mindest-
                                                                                                      lohns vorgelegt, wonach dieser bis 2023 auf mo-
                         Anmerkung: Angegeben ist die Veränderungsrate des Standes am                 natlich 750 € steigen soll (Khalip 2019). Ausgehend
                         1​. Januar 2020 im Vergleich zum Vorjahreswert. Reale Veränderungen sind     von dem jetzigem Niveau entspricht dies einer Stei-
                         bereinigt um die Entwicklung der nationalen Verbraucherpreise in 2019.
                                                                                                      gerung von mehr als 18 %.
                         Quelle: WSI -Mindestlohndatenbank 2020                                           Innerhalb Europas zeigt sich insgesamt ein ein-
                                                                                                      deutiger Trend hin zu höheren Mindestlohnzuwäch-

WSI Report Nr. 55, Februar 2020    Seite 10
sen (►Abbildung 5). Nominal sind die Mindestlöhne sicht 1). Die höchsten Forderungen werden derzeit
in der EU zum 1. Januar 2020 im Mittel um 6,0 % von den Gewerkschaften in Belgien und den Nie-
angestiegen, was innerhalb der letzten 20 Jahre derlanden erhoben, die sich in beiden Ländern für
dem zweitgrößten jährlichen Zuwachs entspricht. einen Mindestlohn von 14 € aussprechen, was einer
Nach Abzug der Preissteigerungsrate bleibt ein re- Erhöhung des jetzigen Mindestlohns um 45 % bzw.
aler Zuwachs von 4,4 %, was ebenfalls innerhalb 38 % entsprechen würde. In anderen Ländern, wie
der letzten beiden Jahrzehnte ein außerordentlich z. B. Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg,
hoher Wert ist. Allerdings gab es vor allem in West- Spanien und Portugal, Tschechien und der Slowa-
europa auch einige Länder mit einer sehr schwa- kei, variieren die Forderungen nach einer außeror-
chen Mindestlohnentwicklung. Hierzu gehören vier dentlichen Mindestlohnerhöhung zwischen 10 %
Länder (Belgien, Frankreich, Irland und Niederlan- und 30 %. Darüber hinaus zeigt das Beispiel Öster-
de), in denen nach Bereinigung um die Inflation die reich, dass gewerkschaftliche Mindestlohnkampa-
Kaufkraft der Mindestlöhne sogar gesunken ist. In gnen sich nicht nur auf gesetzliche, sondern auch
Deutschland (reales Wachstum: 0,3 %) und Luxem- auf tarifvertraglich festgelegte Mindestlöhne bezie-
burg (0,8 %) verbleibt den Beschäftigten nach Be- hen können. Schließlich reiht sich auch die aktuelle
rücksichtigung der Inflation real nur ein sehr klei- Forderung der deutschen Gewerkschaften nach ei-
nes Plus.                                            nem Mindestlohn von 12 €, der eine Mindestlohn-
   Der Trend hin zu deutlich höheren Mindestlöh- erhöhung von 28 % nötig machen würde, in den
nen dürfte sich innerhalb Europas auch in den allgemeinen europäischen Trend ein. Im Kern geht
kommenden Jahren weiter fortsetzen. Darauf deu- es bei allen gewerkschaftlichen Initiativen darum,
ten auch die in vielen europäischen Ländern um- die bestehenden Mindestlöhne auf ein armutsfes-
fänglichen Kampagnen der Gewerkschaften hin, tes und existenzsicherndes Niveau anzuheben und
die auf eine strukturelle Erhöhung des jeweiligen in „Living Wages“, also existenzsichernde Einkom-
nationalen Mindestlohnniveaus zielen (Aumayr- men zu verwandeln (Hurley et al 2019; Schulten/
Pintar et al. 2019; Schulten/Müller 2019; ( ►Über- Müller 2017, 2019).

                                                                                                                                                                          Abbildung 5

Entwicklung der gesetzlichen Mindestlöhne in der EU, 2000–2020
Angaben in Prozent, mittlere Veränderung zum Vorjahr

    8

    7                                              6,7

                             5,9                                                                                                                                           6,0
    6
                                   5,3                            5,5
                      5,3                                                   5,3
                                            5,3           5,5                                                                                 5,0 5,0
    5                                                                                                                                                               4,9
                                                                                                                                                            4,4               4,4
    4          4,2                                                                  4,0

                                                                                                                                      3,0     3,2
    3                                                                                                                                                                2,9
                                                                   2,5                                                          2,5
                            2,2                                                                            2,0   2,0                                      2,7
             1,9                                                             2,2                                          2,5
    2
                                     1,6                    2,0
                     1,6                            1,7                                           1,6                                 1,5
                                                                                          1,5
    1                                       1,2                                                                             0,9
                                                                                   0        0,2     -0,2
    0
         2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020
   -1                                                                        -0,6
                                                                        -1,2

–
   -2

        nominale Entwicklung (Median für die EU)
        reale Entwicklung (Median für die EU)
Anmerkungen: Angegeben ist der Medianwert der nationalen Veränderungsraten, jeweils Stand am 1. Januar im Vergleich zum Vorjahreswert.
Reale Werte sind preisbereinigt um die Veränderung der nationalen Verbraucherprise im Vorjahr. Datengrundlage sind jeweils alle EU-Staaten mit einem gesetzlichen Mindestlohn
(derzeit 22 Länder).

Quelle: WSI -Mindestlohndatenbank 2020

                                                                                                                                            WSI Report Nr. 55, Februar 2020      Seite 11
Übersicht 1

                         Vorwort (bei Bedarf löschen)
                         Gewerkschaftliche Forderungen und Kampagnen für substantielle Erhöhungen der Mindestlöhne in Europa

                          Land                          Aktueller Mindestlohn                  Gewerkschaftliche Forderungen                                            Angestrebte
                                                                                                                                                                         Erhöhung
                          Belgien*                      9,66 €/Stunde                          14,00 €/Stunde                                                               45 %
                                                        (bei 38 Stunden/Woche)*                Belgischer Gewerkschaftsbund FGTB
                                                        1.593,81 €/Monat
                          Deutschland                   9,35 €/Stunde                          12,00 €/Stunde                                                               28 %
                                                                                               Deutscher Gewerkschaftsbund DGB
                          Frankreich                    10,15 €/Stunde                         1.800 €/Monat (= 11,87 €/Stunde)                                             17 %
                                                        1.539,42 €/Monat                       Französischer Gewerkschaftsbund, CGT
                          Großbritannien**              8,72 £/Stunde                          10,00 £/Stunde                                                               15 %
                                                                                               Britischer Gewerkschaftsbund TUC
                          Irland***                     10,10 €/Stunde                         12,30 €/Stunde = berechneter Living Wage                                     22 %
                                                                                               Irischer Gewerkschaftsbund ITUC
                          Luxemburg                     12,38 €/Stunde                         13,62 €/Stunde = Strukturelle Erhöhung um 10 %                               10 %
                                                                                               Luxemburgische Gewerkschaftsverbund OLGB
                          Niederlande*                  10,14 €/Stunde                         14,00 €/Stunde                                                               38 %
                                                        (bei 37,5 Stunden/Woche)*              Niederländischer Gewerkschaftsbund FNV
                                                        1.653,60 €/Monat
                          Österreich****                1.500 €/Monat                          1.700 €/Monat                                                                13 %
                                                                                               Österreichischer Gewerkschaftsbund ÖGB
                          Portugal                      3,83 €/Stunde                          800 €/Monat (= 4,82 €/Stunde)                                                26 %
                                                        635 €/Monat                            Portugiesische Gewerkschaft UGT
                                                                                               850 €/Monat (= 5,12 €/Stunde)                                                34 %
                                                                                               Portugiesische Gewerkschaft CGTP
                          Slowakei                      3,33 €/Stunde                          640 €/Monat; 3,68 €/Monat = 60 % des Durchschnittslohns                      10 %
                                                        580 €/Monat                            Slowakischer Gewerkschaftsbund KOZ SR S
                          Spanien                       5,76 €/Stunde                          1.000 €/Monat (= 6,06 €/Stunde)                                               5%
                                                        950 €/Monat                            perspektivisch 60 % des Durchschnittslohns:
                                                                                               1.200 €/Monat (= 7,27 €/Stunde)                                              26 %
                                                                                               Spanische Gewerkschaften CC.OO und UGT
                          Tschechien                    87,30 Kč/Stunde                        108 Kč /Stunde; 18.025 Kč /Monat = 50 % des                                  24 %
                                                        14.600 Kč /Monat                       Durchschnittslohns
                                                                                               Tschechischer Gewerkschaftsbund ČMKOS

                         * In Belgien und den Niederlanden wird der Mindestlohn lediglich als Monatslohn festgelegt und kann je nach Wochenarbeitszeit pro Stunde variieren.
                         Hier wird jeweils die durchschnittliche tarifvertragliche Wochenarbeitszeit zugrunde gelegt; ** ab 1.4.2020; *** ab 1.2.2020; **** In Österreich existiert kein
                         gesetzlicher Mindestlohn, sondern eine tarifvertragliche Mindestlohnnorm für die jeweils unterste Lohngruppe in den Tarifverträgen

                         Quelle: Aktualisierte Version von Schulten/Müller (2019)

                            Die Entwicklung hin zu deutlich höheren Min- beitsplatzverlusten von bis zu einer Million oder
                         destlohnsteigerungen in Europa und entspre- mehr aus (Knabe et al. 2014; Henzel/Engelhardt
                         chenden Forderungen der Gewerkschaften wird 2014). Grundlage war in aller Regel die Annahme,
                         auch dadurch unterstützt, dass die vielfach in der dass steigende Löhne automatisch zu einer sinken-
                         Wirtschaftswissenschaft behaupteten negativen den Arbeitskräftenachfrage führen. Dies hat sich
                         Auswirkungen des Mindestlohns auf die Beschäf- jedoch als Trugschluss erwiesen, da Unternehmen
                         tigung (stellvertretend: Neumark/Wascher 2007) statt Entlassungen andere Anpassungsmöglich-
                         sich in der Praxis nicht bewahrheitet haben. Ge- keiten genutzt haben (Bellmann et al. 2016; Brut-
                         rade in Deutschland wurde von vielen Ökonomen tel 2019). Außerdem können höhere Löhne positi-
                         vor der Einführung des Mindestlohns gewarnt. So ve Nachfragewirkungen haben, die ihrerseits zum
                         prognostizierten Arni et al. (2014), dass etwa 1,6 % Beschäftigungswachstum beitragen können (Herr
                         aller Erwerbstätigen – oder rund 570.000 Perso- et al. 2017).
                         nen – ihren Arbeitsplatz nach der Einführung des       Nach fünf Jahren konstatiert die Forschung in-
                         Mindestlohnes verlieren würden. Andere Forscher zwischen weitgehend übereinstimmend, dass der
                         gingen, je nach Modellannahmen, sogar von Ar- Mindestlohn in Deutschland zwar positive Loh-

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neffekte, aber kaum negative Beschäftigungsef- (angesichts zahlreicher Ausnahmeregelungen in
fekte gehabt hat (Börschlein/Bossler 2019; Bruttel vielen Ländern), der Verfahren und Kriterien seiner
2019; Dustmann et al. 2019; Herzog-Stein et al. regelmäßigen Anpassung sowie der Beteiligung
2018). Dieser Befund steht im Einklang mit der in- von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften
ternationalen Mindestlohn-Forschung, die jedoch an der Festlegung des Mindestlohns. Das Ziel der
in Deutschland in der Vergangenheit oft nur sehr Kommission besteht darin, im Hinblick auf alle vier
verzerrt wahrgenommen wurde (Bruttel et al. 2019, Punkte gemeinsame europäische Standards zu
S. 243ff.). So kommt eine umfangreiche Überblicks- entwickeln, die in allen EU-Staaten die Durchset-
arbeit im Auftrag der britischen Regierung zu dem zung angemessener Mindestlöhne fördern können.
Schluss, dass Mindestlöhne zu signifikanten Lohn-          Die aktuelle Initiative der Europäischen Kom-
erhöhungen beitragen, aber nur sehr begrenzte mission bildet den vorläufigen Höhepunkt einer bis
Auswirkungen auf das Beschäftigungsvolumen in die frühen 1990er Jahre zurückreichenden De-
haben (Dube 2019). Dies gilt auch für ambitionier- batte über die Möglichkeiten einer europäischen
te Mindestlohnerhöhungen, sodass aus Sicht der Mindestlohnpolitik (Schulten 2008). Sie findet ihre
Wissenschaft auch in Großbritannien noch Spiel- normativen Grundlagen in zahlreichen interna-
raum für eine weitere strukturelle Erhöhung des tionalen und europäischen Vereinbarungen und
Mindestlohns auf bis zu zwei Drittel des Median- Deklarationen, in denen das Recht auf eine faire,
lohns besteht (ebd.).                                   existenzsichernde Entlohnung als soziales Grund-
                                                        recht postuliert wird (Zimmer 2018). Hierzu gehört
                                                        auch die 2017 verabschiedete „Europäische Säule
                                                        sozialer Rechte“, wonach alle Arbeitnehmerinnen
                                                        und Arbeitnehmer das „Recht auf eine gerechte
AUSBLICK: WIRD 2020 DAS JAHR DES Entlohnung, die ihnen einen angemessenen Le-
                                                        bensstandard ermöglicht“, haben (Europäisches
MINDESTLOHNS IN EUROPA?                                 Parlament et al. 2017, Artikel 6). Die jüngste Kom-
Nachdem das Thema Mindestlöhne bereits im Eu- missionsinitiative über gerechte Mindestlöhne wird
ropawahlkampf 2019 in zahlreichen EU-Staaten denn auch explizit als Beitrag zur Umsetzung der
eine zentrale Rolle gespielt hatte (Schulten/Lüb- „Europäischen Säule sozialer Rechte“ begriffen (Eu-
ker 2019), hat die neue EU-Kommissionpräsidentin ropäische Kommission 2020, S. 1).
Ursula von der Leyen in ihrem Antrittsprogramm             Angesichts der großen nationalen Unterschie-
angekündigt: „Innerhalb der ersten 100 Tage mei- de in Europa geht es bei der europäischen Min-
ner Amtszeit werde ich ein Rechtsinstrument vor- destlohnpolitik weder um die Festlegung eines
schlagen, mit dem sichergestellt werden soll, dass einheitlichen europäischen Mindestlohnbetrages,
jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen ge- noch um die Harmonisierung der nationalen Min-
rechten Mindestlohn erhält“ (Von der Leyen 2019, destlohnsysteme. Die Grundidee besteht vielmehr
S. 11). Anfang Januar 2020 hat dann die Europäi- darin, auf europäischer Ebene gemeinsame Krite-
sche Kommission ein erstes Konsultationspapier rien für angemessene Mindestlöhne zu definieren,
über „mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der die dann auf nationaler Ebene entsprechend dem
Herausforderungen im Zusammenhang mit ge- dort geltenden Lohnniveau und den traditionell
rechten Mindestlöhnen“ vorgelegt und damit ein gewachsenen Systemen der Lohnfestsetzung um-
offizielles Konsultationsverfahren mit den europäi- gesetzt werden. Im Kern besteht die Herausforde-
schen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften rung darin, Kriterien für ein angemessenes Min-
eröffnet (Europäische Kommission 2020). Da we- destlohnniveau zu definieren, das armutsfest und
gen der grundsätzlich ablehnenden Haltung der eu- existenzsichernd ist. Aus der gesamten Diskussion
ropäischen Arbeitgeberverbände gegen jede Form um Living Wages lässt sich ableiten, dass es kaum
einer europäischen Mindestlohninitiative (Business möglich sein wird, auf der Basis von Warenkorb-
Europe 2020) nicht damit zu rechnen ist, dass die analysen zu einem europaweit einheitlichen Modell
Tarifvertragsparteien selbst eine Initiative starten, zu gelangen (Schulten/Müller 2019). Als pragma-
wird die Kommission nach Abschluss des Konsul- tische Alternative hat sich deshalb in der Debatte
tationsverfahrens wahrscheinlich im Frühjahr 2020 eine Orientierung am Kaitz-Index durchgesetzt,
einen konkreten Gesetzesvorschlag vorlegen.             wonach ein angemessener Mindestlohn mindes-
   Bei dem aktuell von der Kommission vorgeleg- tens bei 60 % des jeweils nationalen Medianlohns
ten Konsultationspapier handelt es sich im Wesent- liegen müsste. Eine solche Orientierung als Kern
lichen um eine Analyse der bestehenden Mindest- einer europäischen Mindestlohnregelung würde in
lohnsysteme in Europa, die in der These mündet, vielen europäischen Ländern zu einer erheblichen
dass „viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Steigerung der Mindestlöhne führen und die ver-
in der EU […] derzeit nicht durch angemessene schiedenen nationalen Initiativen für eine stärkere
Mindestlöhne geschützt (sind)“ (Europäische Kom- Erhöhung des Mindestlohns in eine europäische
mission 2020, S. 4). Probleme gibt es der Kommissi- Gesamtstrategie einbinden. Dies gilt nicht zuletzt
on zufolge vor allem bei vier Punkten (ebd., S. 11ff.): auch für Deutschland, wo die vielfach geforderten
dem Niveau des Mindestlohns, seiner Reichweite 12 € etwa 60 % des Medianlohns entsprechen.

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                         Bellmann, L./Bossler, M./Dütsch, M./          dienst 67 (10), S. 23-29                        review of the OECD database on
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                         des Mindestlohns in Deutschland:              Herr, H./Herzog-Stein, A./Kromphardt, J./       the OECD earnings database, Part
                         Betriebe reagieren nur selten mit Ent-        Logeay, C./Nüß, P./Pusch, T./Schulten, T./      II, Paris
                         lassungen, IAB-Kurzbericht 18/2016,           Watt, A./Zwiener, R. (2017): Makroöko-
                         Nürnberg                                      nomische Folgen des gesetzlichen                Owczarek, D. (2019): Soziale Probleme
                                                                       Mindestlohns aus keynesianisch                  lösen oder Wähler gewinnen? Die
                         Börschlein, E.-B./Bossler, M. (2019): Eine    geprägter Perspektive. Studie im                Sozialpolitik der PiS seit 2015, in: Po-
                         Bilanz nach fünf Jahren gesetzlicher          Auftrag der Mindestlohnkommission,              len-Analysen Nr. 246 vom 1.11.2019,
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                         kaum Beschäftigungseffekte, IAB-                                                              polen-analysen/246/PolenAnaly-
                         Kurzbericht 24/2019, Nürnberg                 Herzog-Stein, A./Lübker, M./Pusch, T./Schul-    sen246.pdf
                                                                       ten, T./Watt, A. (2018): Der Mindestlohn:
                         Bruttel, O. (2019): The effects of the        Bisherige Auswirkungen und zukünf-              Rolf, D. (2016): The Fight for Fifteen:
                         new statutory minimum wage in Ger-            tige Anpassung. Gemeinsame Stel-                The right wage for a working Ameri-
                         many: a first assessment of the evi-          lungnahme von IMK und WSI anläss-               ca, New York
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                         Bruttel, O./Baumann, A. /Dütsch, M. (2019):   Hurley, J./Vacas-Soriano, C./Muraille, M./      and social Europe, in: European
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                                                                       The national minimum, in: Youth Un-             kräftige Lohnzuwächse und eine
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                         people-if-economy-works-well                  25 % minimum wage rise in his new               Schulten, T./Müller, T. (2017): Living Wa-
                                                                       term, in: Reuters Business News, 17.            ges – normative und ökonomische
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                         Wages: Review of the International                                                            Mindestlohn, in: WSI-Mitteilungen 70
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WSI Report Nr. 55, Februar 2020   Seite 14
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Ausgabe
WSI Report Nr. 55, Februar 2020                            Kontakt
WSI Mindestlohnbericht 2020                                Prof. Dr. Thorsten Schulten
                                                           Telefon +49 (2 11) 77 78-239
ISSN 2366-7079
                                                           thorsten-schulten@boeckler.de
Herausgeber
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)   Dr. Malte Lübker
der Hans-Böckler-Stiftung Düsseldorf                       Telefon +49 (2 11) 77 78-574
Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf                   malte-luebker@boeckler.de
Telefon +49 (2 11) 77 78-18 7
                                                           www.wsi.de
http://www.wsi.de

Pressekontakt
Rainer Jung, +49 (2 11) 77 78-15 0                         Dieses Werk ist lizensiert unter der
rainer-jung@boeckler.de                                    Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 International
                                                           (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode.de)
Satz : Daniela Buschke
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