X - und Familienberatung in Berlin
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x Erziehungs- und Familienberatung im Gespräch x Herausgegeben von den Landesarbeitsgemeinschaften für Erziehungsberatung Brandenburg und Berlin In dieser Ausgabe: • DIGITAL-voll normal? • Internet/PC – Sucht • Spurensuche – 70 Jahre EFB Themen • Digitale Welten im Kinderzimmer- Immer online? • Fremdheit und Beratung • Flüchtlingsfamilien und ihre Kinder x 16
TRI∆LOG 16/2015 IMPRESSUM TRI∆LOG HerausgeberInnen: Vorstände der Landesarbeitsgemeinschaften für Erzie- ist die offizielle Fachzeitschrift der Landesarbeits- hungs- und Familienberatung Brandenburg (LAG-Geschäftsstelle: Erziehungs- und Familienbera- gemeinschaften für Erziehungs- und Familienbera- tungsstelle, DRK KV Märkisch-Oder-Havel-Spree e.V., tung Brandenburg und Berlin. Albert-Buchmann-Str. 17, 16515 Oranienburg, Sie richtet sich an deren Mitglieder sowie an Tel.: 03301/530107; Email: vorstand@lag-bb.de) und alle, die an Fachfragen der Erziehungs- und Berlin (LAG-Geschäftsstelle: Familienberatungsstelle des Familienberatung interessiert sind. DRK Berlin Südwest gGmbH; Haus der Familie, Düppel- Sie nimmt Stellung zu fachlichen und fachpoliti- straße 36, 12163 Berlin). schen Entwicklungen. Verantwortliche Redakteure: Dagmar Brönstrup- Häuser 03362/5454 Michael Freiwald 030/902952273 Achim Haid-Loh 0171/6282954 Karin Weiss 033209/71525 TRI∆LOG Tim Wersig 0173/2376200 Die Redaktion verantwortet die plurale Auswahl der Artikel dieser Fachzeitschrift. • berichtet über Erfahrungen aus der Für den Inhalt der jeweiligen Einzelbeiträge zeichnen die Berufspraxis, Autoren derselben allein verantwortlich. Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber wieder. • informiert über Forschungsergebnisse, die für die Arbeit der Erziehungs- und Familienbera- Gestaltung der Titelseite und Satz: Verbum, Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, tung von Interesse sind, Paul-Robeson-Straße 11, 10439 Berlin • nimmt Stellung zu berufs-, familien- und www.verbum-berlin.de gesellschaftspolitischen Themen. Titelbild: Das Titelbild wurde von Herrn O. Alt gestaltet und freundli- cherweise kostenfrei für diese Zeitschrift zur Verfügung gestellt. Die Vervielfältigung bedarf der Genehmigung durch den Künstler. TRI∆LOG Vervielfältigung: © Die Zeitschrift TRIΔLOG und alle in ihr enthaltenen ist ein Diskussionsforum für Praktiker, deren Ko- Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung operationspartner und weiteren an Erziehungs- und erfordert die Zustimmung der Herausgeber. Familienberatung interessierten Personen. Bezug: Für Mitglieder der Landesarbeitsgemeinschaften ist der Bezugspreis durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten. Weitere Bestellungen zum Selbstkostenpreis von 4,- Euro je Exemplar zzgl. 1,50 Euro für Porto und Verpackung (Selbstabholung möglich) richten Sie bitte an die Ge- schäftsstellen der Landesarbeitsgemeinschaften. Bei Selbstabholung entfällt der Preis für Porto und Verpa- ckung. Druck: Druckerei Schmohl & Partner, Gustav-Adolf-Str. 150, 13086 Berlin Auflage: 550 Exemplare Redaktionsschluss für die folgende Ausgabe ist der April 2016
TRI∆LOG 16/2015 INHALT FACH UND MACHT Martin Merbach Umgang mit dem Fremden 3 in der Beratung ANALYSEN Jürgen Müller- Fremd in der Beratung 8 KONFLIKTFELDER Hohagen KONTEXTE AUS DER WERKSTATT Dr. Bernd Sobottka Pathologischer PC-/ 19 Internet-Gebrauch: PRAXISBERICHTE Wenn Gamen, Chatten, Surfen und Streamen den Alltag KONZEPTE UND VISIONEN dominieren ...ZUR DISKUSSION GESTELLT Dr. Detlef Scholz Zum familiären Umgang mit 24 digitalen Medien Thomas-Gabriel Digital Natives = Naive Digitale? 26 Rüdiger Die Generation wird`s schon richten! Andreas Niggestich Computerspiel und 33 Internetsucht vorbeugen. Das Präventionsprojekt DIGITAL-voll normal?! FORUM GEMEINWESEN Karin Jacob & „Flüchtlingskinder in Berlin…“ 39 Achim Haid-Loh Wer schützt, unterstützt und ZIELORIENTIERTE fördert sie? GRUPPENORIENTIERTE & Franziska Herbst Die Situation junger Flüchtlinge 43 und ihrer Familien – PROBLEMORIENTIERTE Zahlen, Daten, Fakten ANGEBOTE & Thema Kompakt Unbegleitete minderjährige 46 Flüchtlinge ZEITGESCHICHTLICHES Claudia Spurensuche – 70 Jahre: 51 von der Haar Zur Geschichte der EFB Reinickendorf 1945-2015 VISITENKARTEN Erziehungs- und Familienberatung im Landkreis 57 Oberhavel- Oranienburg, Gransee, Hennigsdorf DIGITAL - voll normal?! 59 Präventionsprojekt Medienabhängigkeit
TRI∆LOG 16/2015 INHALT GELESEN & GESICHTET Michael Freiwald „Gesellschaft der Angst“ 60 von Heinz Bude BÜCHER Michael Freiwald „Deutschland mißhandelt 63 ZEITSCHRIFTEN seine Kinder“ von Michael Tsokos, DIAGNOSTIKA Saskia Guddat Tim Wersig „Patient Scheidungsfamilie. 65 Ein Ratgeber für professionelle Helfer“ von Helmuth Figdor Tim Wersig „ Lösungsfokussierte 66 Gutachten innerhalb familiengerichtlicher Verfahren“ - Vorstellung einer Studie und deren Ergebnisse GEHÖRT & GEWICHTET Uta Bruch Tätigkeitsbericht des LAG- 70 Vorstandes Brandenburg 2014 NEUES AUS Felix Krüger & Tätigkeitsbericht des LAG- 80 BERLIN & BRANDENBURG Hannelore Grauel Vorstandes Berlin für 2014 von Strünck Einladung zu Mitgliederversammlung 2015 der 82 LAG Berlin und Workshop: „Flüchtlingskinder und -jugendliche in Berlin- Wer schützt unterstützt und fördert sie?“ Einladung zum Fachtag 2015 der LAG Brandenburg, 83 Thema: „Die digitale Welt verändert die Familien“ Katharina Schiersch Bericht über den 11. Fachtag 86 der LAG Brandenburg 2015 GEPLANT & GEPGNT LeiterInnentagung der LAG für Erziehungs- -und 87 Familienberatung Brandenburg e.V. 2015 EREIGNISSE 12. Fachtag der LAG für Erziehungs- -und 87 TERMINE Familienberatung Brandenburg e.V. 2016 FORTBILDUNGEN Supervision für Teamassistentinnen 88 PGN-BRETT Einladung zum Fachtag „Kindheit“ 88 Geschäftsstellenwechsel im Vorstand von Brandenburg 89 Geschäftsstellenwechsel im Vorstand von Berlin 89
TRI∆LOG 16/2015 FACH UND MACHT Martin Merbach „Umgang mit dem Fremden in der Beratung1“ ANALYSEN KONFLIKTFELDER EINLEITUNG KONTEXTE In den letzten Jahren haben Menschen mit einem anderskulturellen Hintergrund in der Beratungsar- beit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dabei wirken sich vor allem das gegenseitige Befremden im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Ver- ständnissen über Erziehung, Familie und Beratung Seite Inhalt und die daraus entstehenden Berührungsängste in der Begegnung mit dem „Fremden“ auf die Bezie- 3 Martin Merbach hung zwischen den Beratenden und Ratsuchenden Umgang mit dem Fremden aus. Der nachfolgende Artikel möchte den Aspekt in der Beratung des Fremden in der Beratung für die eigene Arbeit vertiefen und reflektieren. Dabei wird in einem ers- 8 Jürgen Müller-Hohagen ten Schritt eine Definition über das Fremde ver- Fremd in der Beratung sucht, um dann die soziologischen Perspektiven über den Fremden von Georg Simmel und Alfred Schütz vorzustellen. In der psychodynamischen Perspektive, die sich daran anschließt, wird das Fremde zum einen als ein Aspekt des eigenen Un- bewussten konzipiert. Zum Anderen wird das frem- de Objekt als wichtiger Baustein in der Entwicklung des Selbst beschrieben. Der Artikel schließt mit der Vorstellung von eher kollektiven Bewältigungsmus- tern der Fremdheit. 1. Definitionen Das Wort „fremd“ hat laut dem Etymiologischen Wörterbuch (Kluge, 2004) gotische und germani- sche Wurzeln und stammt von dem althochdeut- schen Wort „fram“ ab, was soviel wie „vorwärts“ und „fort“ bedeutete (im Englischen lässt sich ja heute noch das Wort „from“ finden). Später wurde es dann in der Bedeutung „außerhalb der gewohn- ten Umgebung“ gebraucht. Der Philosoph Bruno Waldenfels (1997) beschreibt drei Aspekte des Fremden: Das Fremde ist erstens das außerhalb des eigenen Bereichs vorkommen- de und bezeichnet somit einen Raum (externum, 1Dieser Beitrag ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung des Arti- kels Merbach, M. (2014). Das Fremde in der Beratungsbeziehung. Fokus Beratung, (EKFuL 2014, Heft 24, S.58-64 ) und Basismanuskript des Vortra- ges des Autors auf der EFB-LeiterInnen-Fachtagung zum Thema:„Umgang mit dem Fremden in der Beratung“ am 10.10.2014 in Berlin Seite 3
TRI∆LOG 16/2015 étranger, foreign). Zweitens definiert es etwas, das des Sirius, der für uns kein Fremder ist, sondern für einem Anderen gehörig ist (alienum) und beschreibt uns nicht existiert. Einen weiteren für unseren Kon- in dieser Verwendung einen Besitz. Schließlich text spannenden Punkt beschreibt Simmel in seiner charakterisiert es eine Eigenschaft von Personen Unterscheidung von Distanz und Fremdsein. Dabei oder Erlebnissen als fremdartig (strange). Wie die bedeutet Distanz, dass der Nahe fern ist, während Begriffe in Klammern zeigen, haben andere Spra- Fremdsein bedeutet, dass der Ferne nah ist. Das chen als das Deutsche verschiedene Wörter für Fremde zwischen zwei bekannten Menschen wür- die Bedeutungen des Fremden und können somit de Simmel somit als Distanz beschreiben, während die Facetten des Fremden klarer voneinander ab- Fremdsein nur auf die „fernen“ Menschen als Kate- grenzen. In der deutschen Sprache bleibt das Wort gorie zutrifft. „fremd“ mehrdeutig und muss jeweils aus dem Kon- Die Zeit, in der Simmel seinen Exkurs über den text erschlossen werden. Fremden verfasste, ist zwar durch große Wande- rungsbewegungen in der Form geprägt, dass Men- schen aus ländlichen Gebieten desselben Landes Wo begegnet uns nun das, der oder die Fremde? aber auch anderen Ländern in die Städte zogen. Gleichzeitig gab es aber noch viele Menschen und Einerseits ist die Fremde ein Ort der Nicht-Heimat Kulturen, über die man nichts wusste, also Bewoh- und damit primär ein geographisches Phänomen, ner des Sirius, die für einen nicht existieren. Im Zeit- aber auch eine innerpychische Repräsentation die- alter der Globalisierung hat sich dies gewandelt. Auf- ses Raums. Dieser Aspekt, der mit der Heimat und/ grund der modernen Kommunikationsmittel erfahren oder Beheimatung verbunden ist, würde an dieser wir sehr viel über fast alle Menschen der Welt, sind Stelle, obwohl an unser Thema gekoppelt, von der mit diesen wirtschaftlich, ökologisch und teilweise Charakteristik und Besonderheit des Fremden weg- sozial verbunden. Somit werden im Duktus Simmels führen und soll daher nicht im Zentrum der Betrach- für uns mehr Menschen zu Fremden. tung stehen. Eine zweite soziologische Perspektive soll hier mit Der oder die Fremde ist weiterhin eine Person, die Hilfe Alfred Schütz (1972) eröffnet werden. Der nicht zur eigenen Gruppe gehört und somit ein so- Fremde ist bei ihm ein in einer Gruppe, Organisation ziologisches Phänomen. Diese Dimension wird im oder gesamten Gesellschaft unbekannter Mensch, nächsten Kapitel anhand zweier soziologischer The- über dessen soziale und individuelle Existenz man orien näher ausgeführt werden. nicht genug weiß, um mit ihm soziale Kontakte auf- Als psychisches Phänomen begegnet uns das zunehmen, ihm Rollen zuzuweisen und Status an- Fremde in dem Kontext, dass wir uns manchmal zuerkennen. Somit kann jemand Fremder sein in durch eine andere Person bzw. Erzählung befrem- Bezug auf die Familie, die Dorfgemeinschaft, auf det fühlen, dass wir bestimmte Aspekte der eige- die Arbeitsgruppe, das Land oder die Kultur. Fremd- nen Person als fremd empfinden. Oftmals bezeich- heit entsteht dadurch, dass einerseits die Gruppe net auch das Fremde das zwischen zwei Personen eine Reihe von sprachlosen Selbstverständlichkei- stehende. Darum geht es dann im dritten Kapitel. ten (Regeln, Normen, Verhaltenscodices) teilt, die Doch zuerst ein kurzer Blick auf die Soziologie des nicht formal kommuniziert werden. Ebenso besitzt Fremden: der Fremde solche sprachlose Selbstverständlich- keiten bezüglich seines Handelns. Das Fazit daraus ist, dass der Fremde und die Gruppe jeweils anders 2. Soziologische Perspektiven funktionieren und gegenseitig nicht verstehbar sind. Dieses von Schütz auf Gruppenebene beschriebene Einer der ersten, der das Fremde in der deutschen Phänomen der sprachlosen Selbstverständlichkei- Soziologie beschrieben hat, ist Georg Simmel ten lässt sich auch auf die Beziehung zweier Men- (1908, 1992) in seinem „Exkurs über den Fremden“. schen übertragen. Es findet sich in jeder zwischen- Er charakterisiert den Fremden als einen Wanderer, menschlichen Beziehung mehr und weniger intensiv der heute kommt und morgen bleibt. Fremdsein ist und wird besonders deutlich in bikulturellen Paar- somit ein relationales Phänomen: Den Fremden an oder Beratungsbeziehungen. Dazu zwei Beispiele sich gibt es nicht, sondern nur den mir (uns) Frem- über diese sprachlosen Selbstverständlichkeiten in den. Diesen Aspekt bebildert er an dem Bewohner bikulturellen Partnerschaften: Seite 4
TRI∆LOG 16/2015 In einer Selbsterfahrungsgruppe von Frauen aus selbst“ den schönen Satz: „Das Andere, das ist mein Lateinamerika, die mit ihrem deutschen Partner in eigenes Unbewusstes, mein unbewusst Eigenes.“ Deutschland leben, berichten die Frauen, dass sie Sie setzt dazu das Fremde und das Eigene in einen in der Beziehung sehr vermissen würden, von ihrem Zusammenhang und bezieht sich auf einen Aufsatz Mann Liebesschwüre zu hören. Interessant dabei von Sigmund Freud über das Unheimliche (Freud, ist, dass mehrere der Frauen erzählen können, dass 1917, 1972). Diesen Aufsatz beginnt Freud mit ety- bei der Thematisierung dieses „Mangels“ der Mann miologischen Überlegungen, in dem er die Gemein- darauf hinwies, dass man seine Liebe doch im Alltag samkeiten von Unheimlichen und Heimlichen dis- aus seinem Verhalten der gegenüber, in dem er ihr kutiert, wobei das Heimliche eher die bewusste und beispielsweise Frühstück zubereitet sehen könne. das Unheimliche unbewusste Aspekte eines selben Diese beiden mentalen Modelle von Liebe scheinen Sachverhaltes vermittelt. Seine Überlegungen zum somit derart verinnerlicht sein, dass sie nur schwer Unheimlichen illustriert Freud anhand der Erzählung kommunizierbar sind, sie sind für beide sprachlos „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann. In dieser wird selbstverständlich. Das Paar würde beim Thema beschrieben, dass der Student Nathaniel in Wien Liebe immer eine Fremdheit spüren, könnte diese einem Optiker begegnet, dem er sehr misstrauisch möglicherweise nicht aus eigener Kraft beheben. und mit Angst gegenüber tritt. Er glaubt, in ihm die Ein anderes Beispiel ist das Flirten vor und in der Schreckgestalt seiner Kinderjahre, den Sandmann, Ehe. In einigen arabischen Ländern flirten die Män- zu erkennen. In seiner Kindheit pflegte die Mutter, ner sehr stark mit unverheirateten Frauen. Sobald damit der Sohn rechtzeitig zu Bett gehe, zu sagen, sie verheiratet sind, stellen sie dieses Verhalten, dass der Sandmann komme, der den Kindern die mitunter auch das Schenken von Blumen, gegen- Augen stehle (damals war der Sandmann im Gegen- über ihren Ehefrauen ein. Sie haben die Vorstellung, satz zu den heutigen Sandmännchen eine Schreck- wenn sie mit ihrer Ehefrau flirten würden, diese nicht gestalt). Wenn Nathanael nun abends im Bett lag, als verheiratete Frau zu respektieren, sondern als hörte er manchmal noch schwere Schritte auf der noch zu habende. In einer bikulturellen Partnerschaft Treppe. Als er aus Neugier einmal aufstand und sich könnte nun beispielsweise eine deutsche Frau gera- im Zimmer seines Vaters versteckte, um die Ursache de von dem offensichtlicheren Flirten ihres zukünf- dieser Schritte zu erkunden, sah er einen älteren tigen Mannes angezogen sein, der doch so anders Mann. Dieser entdeckte ihn und ging auf ihn zu. In ist als die Männer, die sie sonst kennt. Sie würde dem Glauben, dass der Besuch nun der Sandmann erwarten, dass er dieses Flirtverhalten auch nach sei, fiel Nathanael in Ohnmacht. Im weiteren Verlauf der Hochzeit fortsetzt und vielleicht auf Geschenke der Erzählung stirbt der Vater, als der ältere Mann ihn und Blumen nicht nur an ihren Geburtstagen hoffen. besuchte, was Nathanaels Angst- und Schuldgefüh- Der Mann hätte, wie bereits erwähnt, eine andere le noch steigerte. Neben aller anderen psychodyna- Vorstellung. Auch diese beiden Konzepte könnten mischen Aspekte (Schulddynamik, Bestrafung etc.) jeweils sprachlos selbstverständlich sein. dieser Geschichte ist für unseren Kontext spannend, Für den Beratungskontext ergibt sich aus dem eben dass Nathanael im Erwachsenenalter einem Frem- beschriebenen, dass es eine Grenze des Verstehens den begegnet, auf den der mit Angst reagiert. Der und des Mitfühlens gibt, ein Empathielag. In Bera- Fremde löst etwas aus, was Nathanael schon einmal tungen, in denen das Fremde eine Bedeutung hat empfunden und verdrängt hatte. Im Fremden begeg- (und das ist mehr oder weniger in jeder Beratung der net er den eigenen Ängsten. Fall) geht es also um den Prozess des Verstehens Das Fremde ist demzufolge das Bekannte, einst ver- und das Aushalten des Nichtverstehens. Schütz’ traut Gewesene, das zunächst ins Unbewusste ver- sprachlose Selbstverständlichkeiten sind hierbei ein drängt, im Bewusstsein erscheinend nun zum Frem- schönes Bild für diese Dynamik. den wird. Auch in diesem Kontext gesehen ist das Fremdheit ein Beziehungsphänomen, welches nicht absolut und objektiv zu fixieren ist. 3. Das Fremde und das Eigene – Das Aufspüren der Fremdheit in uns selbst, ist somit Psychodynamische Perspektiven der einzige Weg zu dem Fremden. Dazu eine kleine Übung, die uns hilft, dem Fremden in uns anzunähern: Die französische Analytikerin Julia Kristeva (1990) Erinnern Sie sich bitte an eine Situation (eine schreibt in ihrem Buch „Das Fremde sind wir uns Begegnung mit einem anderen Menschen) in Seite 5
TRI∆LOG 16/2015 letzter Zeit, in der Sie Fremdheitsgefühle ver- lie und Kultur, wobei Kultur in diesem Zusammen- spürt haben. Wenn Sie eine Szene vor Ihrem hang der Raum außerhalb der Familie ist. Erdheim inneren Auge haben, machen Sie sich bitte Ge- (1992) beschreibt dies sehr schön in seinem Auf- danken zu folgenden Fragen! satz „Das Eigene und das Fremde. Über die eth- • Wie kam es zu meinem Befremden (Verhalten nische Identität“: „Die Familie ist der Ort des Auf- der anderen Person, eigene Erinnerungen …)? wachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und • Mit welchen anderen Gefühlen waren meine im Bösen, der Pietät und der Verfemung. Die Kultur Fremdheitsgefühle verbunden? ist hingegen der Ort der Innovation, der Revolution, • Wie ging es in der Begegnung weiter? Was pas- der Öffentlichkeit und der Vernunft.“ Dabei stehen sierte mit meinen Gefühlen? Kultur und Familie in einem Spannungsverhältnis, • Traten meine Fremdheitsgefühle und die damit welches Sigmund Freud 1930 (1972) im „Unbeha- verbunden Emotionen schon zu vor (in ähnli- gen in der Kultur“ wie folgt charakterisiert: „Die Fa- chen Begegnungen) auf? Wie oft? milie will das Individuum nicht frei geben. Je inniger • Welche Fantasien und Ideen habe ich darüber, der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto wie dieses Befremden und die damit verbunde- mehr sind sie geneigt, sich von den anderen ab- nen Gefühle in meiner Biografie verankert sind? zuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Ein- tritt in den größeren Lebenskreis.“ Die Kultur, die Das Fremde erscheint aber nicht nur als Eigenes, das zwischenmenschliche Zusammenleben von es entsteht auch in der Beziehung zu anderen größeren Gruppen regelt, wird gebraucht, um aus Personen (Objekten). Der/die erste Fremde ist die der Familie heraustreten zu können. Dabei legt die (Nicht-)Mutter / die (Nicht-) Bezugsperson. Ihm / Ihr Kultur bestimmte Regeln, wie beispielsweise das gegenüber befinden wir uns im Spannungsfeld von Inzesttabu fest, die diesen Prozess ermöglichen: Angst und Entwicklung, von Bindungsbedürfnis und „Das Inzesttabu treibt das Individuum gleichsam in Explorationsbedürfnis. die Fremde, welche jenseits der Grenzen der Fami- Ein Beispiel für dieses Spannungsfeld ist das Frem- lie anfängt“ (Erdheim 1992). In der Kultur lernt das deln, welches Oerter und Montada (1998) als „eine Individuum den Umgang mit seinen Bedürfnissen heftige emotionale Reaktion beim Anblick einer (Trieben), wird also von ihnen teilweise entfremdet fremden Person“ beschreiben. Dieses Fremdeln und kann somit zum sozialen Wesen werden. Somit wird auch als 8-Monats-Angst bezeichnet und pas- wird die Kultur zu einem Raum, in dem es nicht die siert zu einer Zeit, in der sich die Wahrnehmung sofortige, spontane Bedürfniserfüllung gibt, der es des Babies ausdifferenziert: Es kann mittlerweile aber gleichzeitig ermöglicht, kreative und schöpfe- zwischen vertrautem und fremdem Gesicht unter- rische Leistungen zu vollbringen. Die eigene „frem- scheiden. Parallel dazu findet eine stärkere Mobili- de“ Kultur verbietet und ermöglicht. tät statt. Das Baby kann krabbeln, sich aufrichten, In diesem Kontext ist schließlich noch die Bezie- versucht das Stehen. Physiologisch kann das Baby hung der Kulturen untereinander spannend – wie also stärker explorieren, wobei das Fremdeln den beispielsweise eine Kultur eine andere als „fremd“ Aktionsradius begrenzt, das Bindungsbedürfnis definiert und welche Dynamik sich dahinter verbirgt. aktiviert und das Baby somit vor allzu expansiver Doch auf diesen Aspekt soll hier aus Platzgründen Exploration schützt. nicht näher eingegangen werden. In der Subjekt- und Objektdifferenzierung ist das Objekt also immer fremd. Es ist beispielsweise der oder die Dritte in der ödipalen Konstellation, der 5. Der Umgang mit dem Fremden Partner, die Partnerin, die Außenbeziehung. Es wird gebraucht, um Selbst zu werden, selbst zu sein. Um die durch das Fremde ausgelösten Gefühle nicht spüren zu müssen, gibt es verschiedene Mög- lichkeiten das Fremde zu Bannen. Ziemer (2006) 4. Die fremde Kultur beschreibt in diesem Kontext fünf Formen 1. Verleugnen: Mir macht das Fremde gar nichts Das Spannungsverhältnis von Bekanntem und aus. Ich habe keine Berührungsängste. Fremden, von Eigenem und Fremden findet sich 2. Vereinnahmen: Unbekanntes wird auf Vertrau- auch in der Beziehung des Individuums zu Fami- tes zurückgeführt: Eine möglicherweise unge- Seite 6
TRI∆LOG 16/2015 wohnte Teezeremonie in England entspricht Selbstentwicklung zwingend notwendig: Ohne den/ dem Kaffeetrinken in Deutschland die Andere kann es kein Eigenes Geben. Um die 3. Transformation ins Gemeinsame: Wir sind alle mit dem Befremden verbundenen Ängste und Neu- Menschen, Europäer. Uns vereinen die huma- gierden regulieren zu können, lassen sich sowohl nistischen Ideale, die soziale Marktwirtschaft.... auf der individuellen als auch auf der gesellschaft- 4. Ästhetisierung: Beim Italiener schmeckt es bes- lichen Ebene verschiedene Bewältigungsstrategien ser. Der edle Wilde. Die Großfamilie in manchen finden. Fremdheit wird somit Phänomen in jeder afrikanischen Ländern ist erstrebenswert. Beratung: Es taucht als Thema der Klient_innen 5. Überbetonung (der Unterschiedlichkeit): Der und der Beratungsbeziehung auf. Eine Vorausset- Fremde ist ganz anders, überhaupt nicht ver- zung zum Verstehen des Fremden ist, dem eigenen stehbar. Befremden, dem Eigenen im Fremden nachzuspü- Aber auch über die Kulturen hinweg lassen sich ren. stereotype Muster des Umgangs mit dem Fremden finden, die Erdheim (1988) unterscheidet in Ent- Literatur fremdung, Verwertung und Idealisierung. Mit Entfremdung ist dabei die Tendenz gemeint, Curevello, Tatiana Lima, Merbach, Martin (2012). das Fremde zu unterwerfen, anzupassen etc., also Psychologische Beratung bikultureller Familien und im wahrsten Sinne des Wortes zu entfremden. In Paare. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel. rationalen Gesellschaften beispielsweise soll das Irrationale erklärt, verstanden und entfernt werden. Erdheim, Mario (1988): Psychoanalyse und Unter Verwertung kann die Ökonomisierung des Unbewusstheit in der Kultur. Frankfurt / M.: Suhr- Fremden verstanden werden. Fremde in Führungs- kamp. positionen oder mit bestimmten Qualifikationen sind willkommen. Fremde füllen möglicherweise Lücken Erdheim, Mario (1992): Das Eigene und das im psychosozialen Versorgungssystem. Das heißt, Fremde. Über ethnische Identität. Psyche 46, 730- dass Fremde eher problematisch gesehen werden, 744. aber nützlich, um Klienten für die Krankenhäuser und Beratungsstellen zu bekommen. Freud, Sigmund (1972): Das Unheimliche. GW Schließlich meint die idealisierende Tendenz die Bd.XII, 229-268, Frankfurt/Main: Fischer. Überhöhung der Betroffenen unter Ausblendung ihrer Fehler und Schwächen. Hier findet eine Auf- Freud, Sigmund (1972): Das Unbehagen in spaltung in Gut und Böse statt. Der Fremde wird der Kultur. GW Bd.XIV, 419-506, Frankfurt/Main: zum „edlen Wilden“, zum Naturverbundenen, zum Fischer. wahre Werte lebenden, zum Intakten etc.. Kluge, Friedrich (2002): Etymiologisches Wör- terbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage Zusammenfassung bearbeitet von Elmar Seefeld. Berlin und New York: De Gruyter. Das Fremde ist in erster Linie ein Beziehungsphä- nomen, welches im Kontakt zwischen Menschen Kristeva, Julia (1990): Das Fremde sind wir uns entstehen kann. Eine andere Kultur ist in diesem Zu- selbst. Frankfurt/Main: Suhrkamp. sammenhang keine notwendige Bedingung für das Entstehen von Fremdheit. Fremdheit konstituiert Oerter, Rolf und Montada, Leo (1998). Entwick- sich immer in der Begegnung zweier Objekte, somit lungspsychologie. Ein Lehrbuch. Beltz/PVU. auch in der Begegnung zu sich selbst. Fremdheit setzt Bekanntheit voraus und wird in einer globali- Schütz, Alfred (1972): Der Fremde. In: Alfred sierten Welt zum Massenphänomen. Psychodyna- Schütz. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Studien zur misch wurzelt dieses Erleben einerseits im eigenen soziologischen Theorie. Den Haag, 53-69. Unbewussten: In der Begegnung mit dem Fremden werden eigene Wünsche und Ängste mobilisiert Simmel, Georg (1992): Exkurs über den Frem- und abgewehrt. Andererseits ist das Fremde für die den. In: Loycke, A. (Hrsg.) Der Gast, der bleibt. Seite 7
TRI∆LOG 16/2015 Dimensionen von Georg Simmels Analyse des bringen, der schickt es in die Klapsmühle“, diesen Fremdseins. Frankfurt/ Main: Campus. Satz und ähnliche hörte ich, wenn das erste Eis Waldenfels, Bruni (1997): Topographie des Frem- gebrochen war, seit Ende der siebziger Jahre in den. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. schätzungsweise zehn Prozent meiner Erstgesprä- Frankfurt/Main: Suhrkamp. che innerhalb der Ambulanz des Kinderzentrums München. Dass an dieser ärztlichen Institution, Ziemer, Jürgen (2006): Das Fremde als Heraus- am Sozialpädiatrischen Zentrum, eine Vorstellung forderung. EZI-Korrespondenz 22, S. 9-16. beim Psychologen mit zum Ersttermin gehörte, traf offensichtlich viele Familien hart. Und mir war klar: Jene 10% Prozent machten nur den sichtbaren Teil Zum Autor: des Eisbergs aus. In jener Zeit überwogen in mir trotz allen Befrem- Dr. rer. med Martin Merbach, Diplom-Psychologe, detseins über solches „Fremdeln“ die Zufriedenheit Systemischer Berater und Familientherapeut; und Freude, gleichwohl und auf der Basis dieser of- Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung fenen Eingeständnisse in einen lebendigen Dialog gGmbH, Berlin eintreten zu können. Mittlerweile allerdings, nach Kontakt: Tel.: 030/28395-276 fünfzehn, bald zwanzig Jahre monotoner Wieder- holungen immer des Gleichen – Befremdung bei mir, die nicht weichen will, Fremdheitsgefühle mit Anklängen des Unheimlichen, Beängstigenden: In welcher Welt leben wir eigentlich, die solches Zu- Jürgen Müller-Hohagen rückschrecken vor beraterischer Hilfe dermaßen aufrechterhalten lässt? Fremd in der Beratung1 Fremdheit in der Beratung 1. EINLEITUNG Dunkle Gefühle von Schuld, oder dies nicht einmal gefühlt, sondern nur über Wirkungen erschließbar, „Ein Hellseher bin ich nicht“, so lautet einer der we- stehen oft dahinter. Besonders massiv ist mir das in nigen von mir fast standardmäßig verwendeten Sät- meinem mittlerweile zwanzigjährigen Befassen mit ze in der Beratung, nämlich in zahlreichen Erstge- behinderten Kindern und ihren Familien begegnet, sprächen. Wir sitzen uns fremd gegenüber, fremd zentral dabei die „Schuld der Mütter“: als Beschul- im unschuldigen Sinne von unbekannt, von noch digung erlebte Reaktionen von außen, aus dem unbekannt, aber auf dem Wege, uns gegenseitig Familienkreis, durch Fachleute, Beschuldigungen vertrauter zu werden. Meist sind es fast unmerk- auch von ihnen selber. liche „Kleinigkeiten“, die mich jedoch aufhorchen In Familien mit nicht behinderten Kindern findet sich lassen und mir eine tiefer reichende Unsicherheit Ähnliches ebenfalls erschreckend häufig: Schuld, der anderen Seite signalisieren, ausgedrückt in ei- Versagen, totales Verurteilt-Sein, kaum aussprech- ner unrealistischen Hoffnung, jemand könne den bare Scham; Angst, das Kind für sein ganzes Le- Ursachen ihrer Misere durch schnelles Hinschauen ben geschädigt zu haben... auf die Spur kommen und das Rezept gleich mit- Hintergründe für jene zuvor genannten Vorurteile liefern, ihre Sorge aber zugleich, dabei bis in die gegenüber Beratung werden greifbarer: tiefe Ängs- innerste Seele durchschaut zu sein. te vor der befürchteten Konfrontation mit eigenem Die Befürchtungen sind enorm, sowohl in ihrer In- Versagen, mit eigenem „Unmöglichsein“. tensität als auch in der Verbreitung. Und wieder meine Frage: In welcher Welt leben „Ihr werdet euer Kind doch nicht zum Psychiater wir, wenn Schuld- und Schamgefühle in solchem Maße untergründig wirken? Woher dieser absurde 1 Dieser Text gibt einen Vortrag wieder, den Dr. Müller-Hohagen bei der Wissenschaftlichen Jahrestagung der bke 1998 gehalten hatte, die unter Umgang mit unserer unausweichlichen Fehler- und dem Thema „Fremdheit in Beratung und Therapie“ stand (Ersatzabdruck in der bke-Dokumentation: Friese und Kluge (Hg.): 2000, dort S. 123-135). Mängelhaftigkeit? Achim Haid-Loh und er haben diese ursprüngliche Fassung bearbeitet und aktualisiert sowie an einigen Stellen etwas gekürzt. Seite 8
TRI∆LOG 16/2015 Quellen der Fremdheit teil mit erhöhtem sozialpolitischem Handlungsbe- darf“. Zugleich befinden sich im Einzugsbereich Oft hören wir von Leuten, die es eigentlich wissen unserer Stelle ausgedehnte Eigenheimsiedlungen müssten, diese Frage: „Was machen Sie an der Er- sowie das „letzte Dorf Münchens“ mit traditionellem ziehungsberatungsstelle?“ Brauchtum und tatsächlich oder vermeintlich „heiler Wer sind wir in dieser Gesellschaft? Fremdkörper. Welt“. Ein soziologisch interessantes Gebiet also. Ich fühle mich fremd, wenn ich dies bedenke. Fremd Das zweite Spezifikum für meine Herangehens- weniger für mich selbst, denn ich kann mit solcher weise liegt in meiner langjährigen und wesentlich Abwertung leben. Fremd vielmehr beim Gedanken innerhalb der EB-Tätigkeit entstandenen Beschäf- an Menschen, an Gespräche mit ihnen, die so in- tigung mit den seelischen Aus- und Fortwirkungen tensiv waren gerade im Hinblick auf die zuvor ange- des Nationalsozialismus bis in die dritte und vierte sprochenen Themen von Schuld, Versagen, Angst Generation, wie ich dem in der Arbeit mit meinen vor Verrücktheit, die so befreiend wirkten und damit Klientenfamilien begegne. Zusammenhänge zwi- den weiteren Lebensweg einer ganzen Familie viel- schen Individuellem und Gesellschaftlichem wer- leicht dermaßen bestärkten, dass ich mir manches den da konkret sichtbar – und die Verleugnung sol- Mal schon in allem Ernst gesagt habe: Dieses eine cher Bezüge. Gespräch, vielleicht das einzige überhaupt mit die- Und als drittes haben wir an unserer Stelle eine ser Familie, etwa im Rahmen einer Sprechstunde, solche Gemengelage von sich wechselseitig kumu- könnte mein Gehalt für einen ganzen Monat wert lierenden Veränderungsprozessen zu verzeichnen, gewesen sein. Ohne Selbstüberschätzung, son- dass Empfindungen von Fremdheit fast schon die dern in aller Nüchternheit: Gilt das nicht für eine Anmutung des Vertrauten angenommen haben, ganze Reihe unserer „Interventionen“? Wieso dann Gleichmaß und Überschaubarkeit fast schon fremd aber diese verbreitete gesellschaftliche Negierung, wirken. wie sie in solchen Fragen immer wieder anklingt? Hier weht mich ein eisiger Wind des Fremdseins Zu nennen sind insbesondere: an. • massive Infragestellungen der Existenzberech- tigung und der Arbeitsweise von Erziehungs- beratungsstellen, u.a. bundesweit durch einige Zur Perspektive der folgenden Betrachtungen: Kinder- und Jugendhilfeberichte der Bundesre- Fremdheit in der Erziehungs- und Familienbe- gierung (BMFSFJ) ratung • Teilnahme am Modellprojekt Qualitätsmanage- ment in der Münchener Jugendhilfe, initiiert und Nach diesen in meiner Erfahrung auffällig wieder- finanziert durch das Münchener Stadtjugendamt kehrenden und mich deshalb zunehmend fremder für die Familienbildungsstätten und die Erzie- anmutenden Erlebnissen möchte ich in einigen Li- hungsberatungsstellen nien meine Perspektiven skizzieren, unter denen • weitreichende Wandlungen beim Trägerverein, ich diesen Beitrag konzipiert habe. was Organisation und Unternehmensmanage- Als erstes ist zu nennen, dass die Erziehungsbe- ment angeht ratungsstelle, die ich von 1986 bis 20112 innehatte, • Umzug unserer Stelle und Einzug in ein High- in einem Stadtviertel, dem Hasenbergl, liegt, das tec-Haus, das eher nachrangig auf die Belange durch die größte Notunterkunftsanlage Münchens von Beratung hin konzipiert worden war geprägt ist sowie durch eine Massierung Sozialen • sich beschleunigender gesellschaftlicher Wan- Wohnungsbaus, wobei diese Wohnungen aufgrund del mit gravierenden Auswirkungen auf die ihrer (relativen) Größe mittlerweile in immer höhe- Arbeits- und Lebensrealitäten unseres Klien- rem Maße durch kinderreiche „Ausländer“-Familien tel – Stichwort: Mobilität und Flexibilisierung; belegt werden; es gibt demzufolge hier Kinderta- Zeitarbeit; Verdichtung, Beschleunigung und gesstätten mit einem „Ausländer“-Anteil von bis zu Digitalisierung; prekäre und atypische Beschäf- 90 %. „Sozialer Brennpunkt“ hieß so etwas bis vor tigungsverhältnisse; Pluralisierung der Lebens- Kurzem, mittlerweile offiziell umbenannt in „Stadt- formen. 2 Seit 2011 bin ich im Ruhestand. Seite 9
TRI∆LOG 16/2015 2. ZUR SUBJEKTIVEN PHÄNOMENOLOGIE VON Markt, überall Markt, Sozialmarkt statt Sozialstaat, FREMDHEIT IN DER BERATUNG dahinter die Drohung, unsere Zukunft zu gefähr- den, wenn wir uns nicht weit mehr als zuvor bewe- Diesem Beitrag liegt ein subjektives Forschungs- gen würden. projekt zugrunde. Über ein halbes Jahr habe ich Aber wie und wohin? Und hilft das dann wirklich? genauer zu registrieren versucht, wann und wie Globalisierung der Märkte – heißt das vor allen Din- ich mich innerhalb meiner Arbeitssituation subjektiv gen: Steigerung der Gewinnchancen für wenige, fremd fühlte. Nähere Abgrenzungen von Fremdheit bei gleichzeitiger Individualisierung der materiellen habe ich dabei bewusst nicht vorgängig getroffen, und sozialen Risiken für alle? Von den ökologi- außer dass für mich klar war, bloßes anfängliches schen Kollateralschäden ganz zu schweigen. Unvertrautsein mit einer neuen Situation nicht dar- Zwei junge Eltern, beide Akademiker, unterhalten unter zu fassen. sich mit Freunden, ebenfalls Jungakademiker, eben- Vielmehr richtete ich meine Aufmerksamkeit auf falls von einem Kurzzeitjob zum nächsten sich han- solche Formen von Fremdheit, die etwas länger- gelnd, Sozialhilfe zeitweilig eingeschlossen, und sie dauernd Belastendes mit sich brachten oder an- unterhalten sich über die Zukunft des 15-monatigen klingen ließen. Kindes, auch über dessen dereinstige Berufswahl. Ich liste in aller Knappheit eine Reihe von Stich- Einer wirft schließlich ein: „Und wie wär‘s mit So- punkten auf, die mir dabei auffielen. zialpädagogik?“ Alle prusten vor Lachen. Das wäre wirklich das Letzte. Eben, so was braucht es doch nicht mehr in einer Zukunft, wo jeder für sich sorgt. Fremd in der Beratung nach Invasionen aus Fort mit dem betulichen Sozialkram, mit all diesen der Betriebswirtschaft? Sozios und Psychos. Alte Zöpfe ohne Zukunft. Ein Beispiel nur. Aber wie fühle ich mich, wenn ich An diesen Punkt denken wohl viele von uns in der Sätze wie diese innerhalb meiner Familie höre? Beratungslandschaft sehr schnell, wenn es um Fremdheit geht. Das Stichwort „Kunden“ ist seit Jahren Auslöser allergischer Reaktionen im Sozial- Fremdheit im Treibsand gesellschaftlichen bereich: Synonym des Fremden für uns Beraterin- Wandels nen und Berater? Zentrale Figur des „betriebswirtschaftlichen Den- Was wollen wir mit all unserem atemlosen Engage- kens, das uns an den Beratungsstellen durch Qua- ment, mit all den aufgeregten Sitzungen, mit allen litätsmanagement und ähnliches übergestülpt wer- Anstrengungen des Vernetzens und Öffentlichkeits- den soll“? arbeitens noch bewirken angesichts globaler Fi- Effizienzbasierte Medizin, das klingt inzwischen nanzkatastrophen, zerstörerischen Klimawandels, schon vertraut – aber effizienzorientierte Beratung unmenschlicher Hungersnöte und nicht endender und effizienzbasierte Psychotherapiemethoden Flüchtlingsströme!? lässt manchen noch erschaudern... Wie ging und Weltweit sind heute sechzig Millionen Menschen wie geht es mir damit im Rahmen unseres Quali- auf der Flucht – mehr als zu den schlimmsten Zei- tätsmanagementprojekts? ten des Zweiten Weltkrieges, die Hälfte davon Kin- Fremd im Sinne von unbekannt war zunächst vie- der! les, unvertraut ist mir weiterhin manches. Aber Fremdheit, die nicht weichen will, ist das eigentlich doch nicht. Dafür habe ich doch zu viel an Wichti- Fremd im Leben gem hinzulernen und eigene Skepsis als zumindest teilweise vorurteilsbehaftet erkennen können. Und immer mehr und immer drängender: Müsste ich nicht? Müsste ich nicht noch mehr? Wieso habe ich immer noch nicht? Wieso bin ich so Fremdheit in Zeiten neoliberaler Deregulierung lahm? Wieso bin ich denn so energielos? Fremd in mir selber. Eher bemerkte ich anhaltende Fremdheitsgefühle Allmählich ging mir auf, mich in einer intensiven angesichts dieser Themen: Zeit erneuter Selbsterfahrung zu befinden, diesmal Seite 10
TRI∆LOG 16/2015 nicht im schützenden Schoß einer Gruppe oder welcher Welt leben wir? Wir sehen in den Fern- einer Einzeltherapie, sondern im zerfließenden sehnachrichten den massenhaften Schrecken aus Durcheinander der organisatorischen Abläufe und aller Welt, wir wissen um die Fakten des Holocaust äußeren Bezüge, beim verwirrenden Um- und Neu- und des Ersten und Zweiten Weltkriegs, doch dass aufbau unserer Stelle... Die aktuelle Gemengelage jedes Kind, jede Mutter, jeder Vater, mit denen wir der Veränderungsprozesse an unserer konkreten zu tun bekommen, darin ganz konkret und sehr be- Beratungsstelle ist weiterhin besonders hoch, doch deutsam verwickelt sein kann, darum machen auch grundsätzlich aus dem Rahmen fällt sie nicht. wir Beraterinnen und Berater nicht selten einen Bo- Mit Besorgnis betrachte ich seit Längerem in mei- gen. nem beruflichen Umfeld die Zunahme stressbe- Oder: Falls wir uns dem doch zuwenden, erfah- dingter Beschwerden wie Schlafstörungen, Tinnitus ren wir vielleicht mit Erstaunen, selber beiseitege- und Bluthochdruck, das Auftreten von zum Teil gra- schoben zu sein, wenn wir darüber nach außen zu vierenden Erschöpfungszuständen. Ich gehe da- berichten versuchen – Öffentlichkeitsarbeit sollte von aus, dass sich dahinter breite Störungsfelder in positiv orientiert, Erfolg suggerierend, kurzum: fröh- der Arbeitssituation verbergen, die sicherlich auch licher sein! in die Familien hineinwirken. Fließende Übergänge zum Burnout... Fremd in der Beratung – Anerkennung ist weit Fremd in der Beratung: Traumatisierungen Ob nun Traumatisierung oder nicht, jedenfalls ha- ben wir in unserer Beratungsarbeit, und mögen wir Besonders meine Arbeit mit behinderten Kindern uns noch so ressourcenorientiert ausgerichtet ha- und ihren Familien und meine Beschäftigung mit ben, viel mit Dunklem zu tun. konkreten Aus- und Weiterwirkungen des National- Das dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum An- sozialismus haben mich seit Langem gelehrt, den erkennung spärlich fließt. Aber gerade da wäre sie Anteil traumatischer Faktoren bei den Klientenfami- so wichtig. lien für weitaus höher anzusetzen, als ich das früher getan hätte und als das bis heute weithin geschieht. Wenn ich beispielsweise auf die Sprechstunden ei- Fremd in der Leitung – Spagat zwischen allen nes Jahres in einer Kinderkrippe zurückblicke, so Stühlen zeigte sich dort in fast jeder Beratung Traumati- sches, sei es aktuell, sei es in der Vorgeschichte: Das war ein wichtiger Punkt in meiner subjektiven Misshandlungen, sexualisierte Gewalt innerhalb Erhebungsaktion. Die Position des Leiters oder und außerhalb der Familien, Kinder als Zeugen von der Leiterin einer Erziehungsberatungsstelle hat- Partnerschaftsgewalt und emotionaler Missbrauch, te schon seit Längerem den Reiz, sich in diversen tragische Todesfälle, boatpeople aus Myanmar, Spagaten üben zu können: zwischen Team und Fluchterfahrungen und Vertreibung aus Syrien und Träger, freier und öffentlicher Jugendhilfe, Psycho- dem ganzen Nahen Osten; massives Leiden unter logie und Sozialpädagogik, Vernetzung und Psy- den Folgen der Kriege in Ex-Jugoslawien, Schre- chotherapie, Komm- und Gehstruktur, Prävention cken und Langzeitauswirkungen ganz „normaler“ und Fallarbeit, Elternwille und Kindeswohl... Migration mit plötzlichem, manchmal mehrmaligem Wieviel darin an kreativen Möglichkeiten steckt, Herausreißen der Kinder aus ihren gewohnten Le- brauche ich nicht auszuführen. bensbezügen... Was die Schwierigkeiten betrifft, so beschäftigt Und immer wieder dann: „Ich hätte gar nicht ge- mich besonders der Zwiespalt zwischen grundsätz- dacht, dass das etwas mit den Schwierigkeiten lichem Kommenlassen in den Beratungen und dem meines Kindes zu tun haben könnte. Das ist doch „Machen“ im Sinne von „Performance“-Bringen- so lange her.“ Oder: „Davon hat es doch nichts ge- Müssen und der Strukturierung von Arbeitsabläufen merkt, es war ja noch so klein.“ und Angeboten der Stelle. Die Verleugnung traumatischer Hintergründe ist Wie halten wir das durch? Diese Frage gilt zuneh- so massiv, so gesellschaftsweit, da überfällt mich mend für alle Teammitglieder. immer wieder ein tiefes Gefühl von Fremdheit. In Artisten – fremd auf dem Hochseil? Seite 11
TRI∆LOG 16/2015 Fremdheit in der Beratung – dank Beschleuni- Fremd in der Beratung – wo bleiben die Klien- gung und Außenorientierung? tInnen? Entfremdungsgefühle finden sich gehäuft in Zeiten In meinem subjektiven Forschungsprojekt kamen gesellschaftlichen Wandels, zumal wenn er so wild- sie kaum vor. Was heißt das? wüchsig, entfesselt und widersprüchlich verläuft in So unwichtig? Nein. Nur eben nicht fremd. all seinen Perspektiven wie der gegenwärtige. Unbekannt und in diesem Sinne fremd waren sie Hier bewegen wir uns in einer schwer zu fassenden mir natürlich alle am Anfang. Das ist eine Trivialität. Form von Fremdbestimmung – bei der nicht einmal Aber fremd im Sinne von dauerhaft belastend, von recht klar ist, ob wir überhaupt und, wenn ja, von unheimlich? Ganz selten. Auch nicht im „Sozialen wem und wie fremdbestimmt werden. Brennpunkt“. Oder gerade hier nicht. Vielleicht bilden wir uns die Selbstentfremdung ja Fremdheit eher schon mal, wenn ich auf eigene nur ein? Aber Zukunftsängste, existenzielle Risi- Vorurteile stieß. Erstaunen, Irritation, Fremdheit ken und Gefahren schweben allgegenwärtig um mir selbst gegenüber. Aber dann kann ich ja ver- uns herum und in unseren Köpfen. Und so hecheln suchen, darüber hinauszukommen. Ich habe nicht wir um die Wette von einem Gremientermin zum den Anspruch, ohne blinde Flecken zu sein. nächsten, von einer tatsächlich oder vermeintlich Also: Fremdheit in der Arbeit mit den Klientenfami- existenzwichtigen Besprechung zur anderen, Be- lien eher nicht. ratungsarbeit irgendwie dazwischen, nerven als „Aber die Migranten?“ StellenleiterInnen unsere Teammitglieder durch chronisches Auffordern zu Innovation und Mobilität oder diese uns durch tatsächliches oder unterstell- Fremd in der Beratung: „Ausländer“, Migran- tes Beharrungsvermögen... Über uns allen die Dro- ten, Flüchtlinge hung: Schließung, Kürzung, Fusion – irgendwann, irgendwie... Wir hecheln. Unsere Statistik für 1997 verzeichnete in 20 % un- Das als solches ist vielleicht nicht einmal Grund serer Familien beide Eltern als „ausländisch“ (so zum besonderen Klagen. Anderswo wird noch hieß das damals noch), in weiteren 10 % einen El- mehr gehechelt. Doch sehr bedenklich stimmt es ternteil. In den folgenden 15 Jahren ist dieser Anteil mich, wenn ich unser Hecheln in Verbindung setze bis heute auf insgesamt etwa 60 % angestiegen. zu unserem Auftrag, der ohne Zeit für Beziehungs- Das entspricht etwa der Bevölkerungsverteilung in “Arbeit“ nicht zu erfüllen ist; und diese wiederum unserem Einzugsgebiet. Die Herkunft dieser Rat- setzt ein ausreichendes Maß an Ruhe und Gelas- suchenden umfasste 34 Nationen, verteilt über die senheit voraus, bei uns genauso wie im Kindergar- ganze Welt. Wir haben schon seit einiger Zeit auf ten oder zu Hause. Ist unsere Situation – gesamt- diese Entwicklungen reagiert, uns entsprechend gesellschaftlich gesehen – nicht seismographisch über „Ausländer“-Fragen informiert, haben eine bedeutsam? griechische Psychologin und einen Psychologen türkischer Herkunft zur regelmäßigen Mitarbeit ge- Wie wird in dieser Gesellschaft mit Beziehungs- wonnen; später dann in Festanstellung eine türki- arbeit und Zeit für Bindungen umgegangen? Wird sche und eine russisch-ukrainische Kollegin. nicht in hohem Maße Beziehungs-“Arbeit“ abge- Darüber hinaus setzen wir uns zur Zeit für die Eta- wertet und missachtet, speziell hinsichtlich der Er- blierung einer Migrantenberatung im Stadtteil ein, ziehungs-, Pflege- und Familienarbeit und damit dies vor allem mit der Zielrichtung auf Vernetzung vor allem immer noch der Arbeit und Lebensleis- für interkulturelle Arbeit. Daraus ist inzwischen ein tung von Frauen? Arbeitskreis „Migration“ entstanden, den ich mehre- Und wieder die Frage: In welcher Welt leben wir re Jahre moderiert habe und der dann im Rahmen eigentlich? einer Umstrukturierung der Vernetzungsstruktur in München in einen regionalen Facharbeitskreis „In- terkulturelles Zusammenleben“ überging. Doch fremd in der Beratung angesichts der „Frem- den“? Wenn ich unter diesem Aspekt auf meine Seite 12
TRI∆LOG 16/2015 Beratungsarbeit etwa des letzten Jahres mit „aus- Aufenthalts, Eigenverständnis der KlientInnen? ländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ zurück- Immer wieder weiß ich nicht, was ich ankreu- blicke, so fällt mir zwar manches Unvertrautsein im zen soll. Selten fühle ich mich fremder in meiner Detail ein, doch das ließ sich meist klären oder ver- Arbeit als an dieser Stelle. In welcher Welt leben mindern, durch Nachfragen bei ihnen oder mit Hilfe wir? Fremdheit angesichts unseres Umgangs mit jener beiden KollegInnen. Fremdheit als etwas, das „Fremden“. nicht weichen will, Fremdheit als etwas Unheimli- Migrantenfamilien haben wir in der Zwischenzeit ches blieb da eher nicht. ganz besonders durch unsere gezielten Koopera- tionen erreicht, insbesondere mit der Bezirkssozi- Der Zürcher Kinderpsychiater Heinz Stefan Herz- alarbeit ka spricht mir aus dem Herzen, wenn er am Ende (Allgemeiner Sozialdienst) und den Kinderkrippen. seines Artikels über „Multikulturelle und dialogische Die über eigene Verträge mit spezieller Finanzie- Identitätsbildung“ folgendermaßen resümiert: rung geregelte Zusammenarbeit zwischen den „Ich vermute, dass die heftigen und oft emotio- Münchener Kinderkrippen und den Erziehungsbe- nal geführten Diskussionen um die Probleme der ratungsstellen war für mich in dieser Hinsicht ein ‚Ausländerkinder‘ und damit der Multi- bzw. Inter- Highlight meiner EB-Arbeit. Darüber hinaus haben kulturalität eine Art Kulisse bilden, hinter der sich wir aber auch eigene Projekte für die Arbeit mit Mig- die Problematik der modernen (oder postmoder- rantenfamilie ins Leben gerufen. Im Einzelnen habe nen) Identitätsbildung überhaupt verbirgt. Diese ich über diese Punkte an anderer Stelle berichtet aber betrifft jeden, ob fremd oder einheimisch. Die (Müller-Hohagen 2012). Schwierigkeiten mit dieser Identitätsbildung, die Hilflosigkeit unserer neuen Epoche und die Angst vor Identitätsverlust wird im Sinne der System- 3. FREMD IN DER BERATUNG – SCHRITTE DER theorie an die Minderheit der ‚Fremden‘ delegiert VERALLGEMEINERUNG bzw. auf das Minderheitsproblem verschoben und als Fremdenfeindlichkeit manifest (...) Damit sol- Ich habe zuvor versucht, in einigen Stichpunkten len ethnische Unterschiede und interethnische konkret genug, aber möglichst nicht ausufernd ei- Probleme keineswegs verwischt und verharmlost, niges von dem anzuleuchten, wo ich im Verlauf wohl aber als eine grundsätzliche, jeden und jede meines subjektiven Forschungsprojekts Fremdheit betreffende Erscheinung und Entwicklungsaufgabe im Zusammenhang meiner Beratungsarbeit wahr- dargestellt werden. Denn wir haben einzusehen: genommen habe. Zugleich habe ich mit einigen „...‘Multi-Kulti‘ sind wir alle.“ Kolleginnen und Kollegen von anderen Stellen in- (Herzka 1994, S. 99) soweit Rücksprache gehalten, dass ich mir sicher sein konnte, mich nicht in irgendwelche rein per- Fremd in der Beratung angesichts von „Migranten“ sönlichen Einschätzungen verloren zu haben. – einmal im Jahr empfinde ich so etwas, und zwar Im Folgenden möchte ich ein paar Schritte über regelmäßig und mit steigender Intensität: beim Erar- diese „Materialsammlung“ hinausgehen. beiten der Statistik. Ist diese Familie, bei der die El- tern seit ihrer frühen Kindheit in Deutschland leben, wirklich „ausländisch“? Wieso ist dann jene Aus- Fremd in der Beratung – normal in einer ‚Welt siedlerfamilie von neulich, die hier so „fremd“ und der Fremdheit’ des Deutschen weit weniger mächtig Hilfe suchte, nicht „ausländisch“? Was ist mit jener Frau aus Po- In welcher Welt leben wir eigentlich? Das war zu- len, die einen dort lebenden „Schlesier“ geheiratet vor immer wieder die Frage. Es ist ein Blickwinkel, hat und daraufhin bei uns die deutsche Staatsan- der nicht recht zusammenpasst mit dem sich selbst gehörigkeit erhielt, von ihm inzwischen geschieden, verordnenden Optimismus aus Medien- und Politik- in zweiter Ehe mit einem Nigerianer verheiratet ist? diskursen. Da bricht es plötzlich ein: Dunkles taucht Sie fühlt sich aber trotz ihres Passes als „Auslän- auf – so wie des öfteren ja auch in unseren Bera- derin“. Wie gehe ich damit um? Welche Kriterien tungsgesprächen. haben für uns, die wir ja keine „Ausländer“-Behörde Und in diesem Licht erscheint so manche soziologi- sind, Vorrang? Pass, „Blut“, Geburtsort, Dauer des sche Analyse plötzlich als eigentümlich schal oder Seite 13
TRI∆LOG 16/2015 naiv, kluge Worte, an den entscheidenden Stellen Bauman sieht als einer der wenigen Sozialwissen- aber ohne Perspektiven, vielleicht sogar ohne Pro- schaftlern den Holocaust nicht als „Betriebsunfall blemsicht. Dunkles wird vielleicht kurz gestreift, der Geschichte“, nicht als bloßen „Rückfall in die letztlich aber in seiner subjektiven wie kollektiven Barbarei“, sondern im Sinne einer zentralen Ten- Bedeutung verleugnet. denz der Moderne, die er mit der Ambition eines Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman Gärtners vergleicht, nämlich die Gesellschaft nach hat genau dies an sich selber festgestellt, hat ge- dem Bild eines wohlgeordneten Gartens zu gestal- merkt, wie sehr und eigentlich in absurder Weise ten und alles für Unkraut Erklärte zu vernichten. er jahrzehntelang nicht nur wichtige Bereiche der Das sind Analysen, die Bedeutung haben auch für Wirklichkeit übersehen hat, sondern dass seine Erziehungsberatung, auch für unser tägliches Be- Blickweise insgesamt entscheidend von Verleug- raten. nung bestimmt war. Er, der als Kind mit seiner jüdischen Familie vor Bei Licht betrachtet, gehört es zu den Aufgaben von den Nazis noch aus Polen hatte fliehen können, Erziehungsberatung, die in der Generationenfolge machte sich während eines langen Akademikerle- ins Untergründige abgesunkenen Bezüge zur NS- bens erstaunlich wenig Gedanken über die allge- Gewalt aus ihrer heimlichen Virulenz herausholen meinere Bedeutung des Holocaust, sah in diesem zu helfen, dies nicht nur mit Blick auf junge Rechts- so etwas wie ein Bild unter vielen an einer Wand. radikale oder „moderne“ Bewegungen wie Pegida, Dass er in Wirklichkeit aber das Fenster ist, um die sondern in einer breiten Palette, in der das Schicksal Wirklichkeit zu sehen, das ging ihm erst auf anhand der Verfolgten und das Weiterwirken des Grauens von etwas „Lebenspraktischem“, nämlich als seine bei ihren Nachkommen den Horizont angibt. (Nähe- Frau ihre Erinnerungen an die Zeit im Warschauer res Zusatz 2015: Müller-Hohagen, 2005; Weissberg Ghetto niederschrieb und sich dafür längere Zeit und Müller-Hohagen 2015; J. u. I. Müller-Hohagen zurückzog. 2015). Insgesamt und in aller Kürze: Wenn wir als Baumans Buch „Dialektik der Ordnung“ (1992) be- Erziehungsberaterinnen und -berater uns nicht im- ginnt mit diesen Einsichten in eigene Verleugnung. mer wieder fremd fühlen innerhalb unserer Arbeit Das macht seine dann folgenden Analysen authen- angesichts so vieler Auswirkungen einer Welt, die tischer, und es zeigt zugleich, wie schwer uns der uns „fremd geworden ist“, dann müssen wir uns Blick auf die dunklen Seiten unserer Welt fällt. Und fragen, ob wir nicht wesentliche Bereiche der Wirk- das wiederum hat viel zu tun mit Fremdheit. Ich zi- lichkeit verleugnen. Es macht leider einen bestim- tiere eine in diesem Zusammenhang wichtige Stel- menden Teil unseres Lebens aus, auch als Bera- le: tende, dass wir in einer Welt der Fremdheit leben. „Schließlich ist es nicht der Holocaust, dessen Dieses Thema nur an den „Fremden“ abzuhandeln, Monstrosität wir nicht zu begreifen vermögen, es bedeutet Verleugnung. Wohl aber hängen die zu- ist die westliche Zivilisation überhaupt, die uns seit vor angesprochene Fremdheit und die wesentlich dem Holocaust fremd geworden ist – und das zu gesellschaftlich hergestellte Fremdheit der „Frem- einem Zeitpunkt, als sicher schien, dass sie be- den“ eng zusammen. Letztere habe ich sehr wohl herrschbar, dass ihre innersten Mechanismen und im Blick, auch wenn ich in diesem Beitrag nicht im ihr gesamtes Potential durchschaubar seien; zu Einzelnen darauf eingehe. einem Zeitpunkt, als diese Zivilisation einen welt- Weitere gewichtige Aspekte zu diesem Themenfo- weiten Siegeszug antrat. (...) Der Holocaust ereig- kus enthalten ja auch die beiden interessanten Bei- nete sich vor fast einem halben Jahrhundert; die träge von Elke von der Haar (s.S.52 ff) und Martin direkten Auswirkungen versinken in der Geschich- Merbach (s.S.3-8) in diesem TRIALOG-Heft. te. Von der Generation, die ihn erlebt hat, wird bald niemand mehr da sein. Dennoch, die vertrauten Merkmale der Zivilisation, die seit dem Holocaust Fremd in der Beratung – dank Neoliberalismus, wieder fremd geworden sind, begleiten uns finster QS & QE ? und unheilvoll immer noch. Sie sind ebenso wenig verschwunden wie die Denkbarkeit, die Möglichkeit Wenn ich hier nach allgemeineren Hintergründen des Holocaust selbst.“ (Bauman 1992, S. 98f) für meine subjektiven Empfindungen von Fremd- heit in der Beratungsarbeit frage, so sind nach den Seite 14
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