YouTube und Fernsehen: Konkurrenz oder Ergänzung?
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Reihe Rezeptionsforschung l 34 Verdrängen Internetformate wie YouTube etablierte Medien wie das Fernsehen? Zur Prüfung dieser Frage wird aus vorhandenen Theorie- bausteinen ein integrativer Ansatz entwickelt und damit empirisch geprüft, ob Fernsehen und YouTube in einem Ergänzungs- oder Kon- kurrenzverhältnis zueinander stehen. Rudolph 34 Dominik Rudolph YouTube und Fernsehen: YouTube und Fernsehen: Konkurrenz oder Ergänzung? Konkurrenz oder Ergänzung? Eine mehrstufige, vergleichende Analyse aus Nutzersicht unter besonderer Berücksichtigung der Digital Natives ISBN 978-3-8487-1923-5 BUC_Rudolph_1923-5.indd 1 31.10.14 09:04
http://www.nomos-shop.de/23935 Die Reihe Rezeptionsforschung ist ein Forum für aktuelle empirische und theoretische Beiträge zum Thema Medienrezeption. Dazu gehören Un- tersuchungen der aktiven Auseinandersetzung der Rezipienten mit Me- dienbotschaften, die von der Selektion von Medienangeboten und ihren Gründen über Rezeptionsqualitäten und Verarbeitungsprozesse bis hin zur Einbettung der Rezeption in den Alltag und den sich daraus erge- benden individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen reicht. Kurz: Es geht um die Frage „Was machen die Menschen mit den Medien?“ Ansprechpartner für die Redaktion der Reihe: Marco Dohle Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Sozialwissenschaften Kommunikations- und Medienwissenschaft I Universitätsstraße 1 40225 Düsseldorf E-Mail: marco.dohle@phil.uni-duesseldorf.de Reihe Rezeptionsforschung herausgegeben von Marco Dohle, Tilo Hartmann, Carsten Wünsch, Holger Schramm Beirat: Helena Bilandzic, Volker Gehrau, Uwe Hasebrink, Patrick Rössler Band 34 BUT_Rudolph_1923-5.indd 2 23.10.14 08:10
http://www.nomos-shop.de/23935 Dominik Rudolph YouTube und Fernsehen: Konkurrenz oder Ergänzung? Eine mehrstufige, vergleichende Analyse aus Nutzersicht unter besonderer Berücksichtigung der Digital Natives BUT_Rudolph_1923-5.indd 3 23.10.14 08:10
http://www.nomos-shop.de/23935 © Titelbild: fotolia.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Münster, Univ., Diss., 2014 ISBN 978-3-8487-1923-5 (Print) ISBN 978-3-8452-6049-5 (ePDF) D6 1. Auflage 2014 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. BUT_Rudolph_1923-5.indd 4 23.10.14 08:10
http://www.nomos-shop.de/23935 Meinen Eltern
http://www.nomos-shop.de/23935 Inhaltsverzeichnis 1 Forschungsstand und Forschungsfragen 13 1.1 Aufbau der Arbeit 15 1.2 Fernsehen, ein Medium im Niedergang? 18 1.3 Das Internet als »Multimedium« 20 1.4 Entgrenzungsprozesse als Triebfedern des digitalen Wandels 21 1.4.1 Aufhebung der Kapazitätsgrenze des Angebotes 21 1.4.2 Aufhebung der Grenze zwischen Kommunikator und Rezipient 27 1.4.3 Aufhebung von Raumgrenzen 32 1.4.4 Aufhebung von Zeitgrenzen 34 1.5 Forschungsinteresse 35 1.6 Forschungsstand 38 1.6.1 Zeitbudgetstudien 38 1.6.2 Gratifikationsstudien 41 1.6.3 Einordnung 43 2 Lineares Fernsehen im Spannungsfeld von digitalem Wandel und neuen Akteuren im TV-Markt 45 2.1 Begriffsbestimmung 46 2.2 Entwicklungsphasen 47 2.2.1 Die »klassische« Ära 47 2.2.2 Die Multikanal-Ära 49 2.2.3 Die Konvergenz-Ära 49 2.3 Fernsehen auf dem Weg in die »post-broadcast«-Ära? 50 2.3.1 Neue Akteure auf dem Bewegtbildmarkt 52 2.3.2 Triebfedern des Wandlungsprozesses 52 3 Videoportale als neues Bewegtbildformat im Internet 55 3.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Videoportalen 55 3.2 Forschungsstand 58 3.3 Entwicklung von Videoportalen 60 3.3.1 Nutzung in Deutschland 60
http://www.nomos-shop.de/23935 8 Inhaltsverzeichnis 3.3.2 Mobile Nutzung als Treiber 62 3.3.3 Marktüberblick 64 3.4 Genres und Angebotsformen 66 3.5 Nutzungsmodi auf Videoportalen: Lurker und Partizipatoren 75 4 Kritische Würdigung theoretischer Ansätze zu den Auswirkungen neuer Medienformate auf etablierte Medien 82 4.1 Der kommunikationswissenschaftliche Diskurs über neue Medien 83 4.4.1 Die Diskussion des Rieplschen Gesetzes 84 4.1.2 Schwächen des kommunikationswissenschaftlichen Diskurses 85 4.2 Medienkonkurrenz aus mikroökonomischer Sichtweise 91 4.2.1 Begriffsbestimmung: Konkurrenz und Komplementarität 92 4.2.2 Das Rationalitätsprinzip des Homo oeconomicus und seine Weiterentwicklungen 94 4.3 Die Diffusionstheorie und das TAM-Modell 100 4.4 Der Uses-and-Gratifications-Ansatz 104 4.5 Das Nutzungsstilkonzept von Schweiger 109 4.6 Die Theorie der Nische 110 4.7 Das Live-Cycle-Modell von Lehman-Wilzig und Cohen-Avigdor 113 5 Ein integriertes Untersuchungsmodell zur Analyse und Messung des Verhältnisses von neuen zu etablierten Medien 116 5.1 Grundannahmen 117 5.1.1 Rationale Nutzungsentscheidung 117 5.1.2 Funktionale Ähnlichkeit 117 5.1.3 Relative Vorteile 118 5.1.4 Nutzungsnischen 118 5.1.5 Messung auf Nutzerseite 118 5.2 Der Selektionsprozess als aktive Medienwahl 119 5.3 Medienschemata als Orientierungshilfe 120 5.4 Metakommunikation innerhalb des Diffusionsprozesses 121 5.5 Schlüsseltexte und Schlüsselereignisse 123 5.6 Gratifikationen der Mediennutzung 124 5.6.1 Inhaltliche Gratifikationen 127 5.6.2 Mediale Gratifikationen 131 5.7 Gratification Opportunities 135
http://www.nomos-shop.de/23935 Inhaltsverzeichnis 9 5.7.1 Technisches Potential 136 5.7.2 Institutionell bestimmte Medieneigenschaften 138 5.8 Nutzungskosten 138 5.8.1 Suchkosten 139 5.8.2 Risikokosten 140 5.8.3 Zeitkosten 141 5.8.4 Opportunitätskosten 142 5.8.5 Reputationsverluste als Kosten 143 5.8.6 Bundlingkosten durch unerwünschte Werbebeimengung 144 5.8.7 Negative externe Effekte (externe Kosten) 146 5.9 Medieninhalte 147 5.10 Ausprägungen des Verhältnisses von Medienangeboten 147 5.11 Zusammenfassung 150 6 Anwendung des Untersuchungsmodells auf die Beziehung zwischen Fernsehen und Videoportalen 153 6.1 Funktionale Äquivalenz: Verdrängungskonkurrenz 154 6.1.1 Konkurrenzsituation am Beispiel der USA 156 6.1.2 Konkurrenzsituation bei den Digital Natives 157 6.1.3 Konkurrenzsituation von Bewegtbildformaten im Internet 158 6.2 Funktionale Differenzierung: Komplementarität 159 6.2.1 YouTube als Quelle für das Fernsehen 160 6.2.2 YouTube als Verbreitungsplattform für TV-Inhalte 161 6.2.3 Parallele Angebotsnutzung: Second Screen 162 6.3 Konvergenz: Verschmelzung von Fernsehen und Internet? 165 6.3.1 Medienkonvergenz 165 6.3.2 Smart-TV: Internet auf dem Fernsehgerät 167 6.3.3 Verbreitung von TV-Inhalten im Internet 168 6.4 Optimierungsprozesse des Fernsehens 171 6.4.1 Ausweitung des Angebotes: Die Fragmentierungshypothese 172 6.4.2 Verbesserung der technischen Qualität 176 6.5 Vergleich der Gratifikationsprofile von TV und Internet 178 6.5.1 Das Gratifikationsprofil des Fernsehens 178 6.5.2 Das Gratifikationsprofil des Internets 186 6.5.3 Vergleich von Internet- und Fernsehnutzungsmotiven 194 6.6 Vergleich der Gratification Opportunities von TV und Videoportalen 196
http://www.nomos-shop.de/23935 10 Inhaltsverzeichnis 7 Methode 199 7.1 Empirisches Forschungsprogramm und Analyseschritte 199 7.2 Wahl der Methode 201 7.3 Aufbau des Fragebogens 203 7.4 Operationalisierung und Indexbildung 204 7.4.1 Mediennutzung 204 7.4.2 Zahlungsbereitschaft und Bindung 205 7.4.3 Themeninteresse und -nutzung 208 7.4.4 Nutzungsstil 210 7.4.5 Gratifikationen 213 7.4.6 Nutzungskosten 215 7.4.7 Gratification Opportunities 215 7.4.8 Ermittlung der Nischenbreite 217 7.4.9 Ermittlung der funktionalen Ähnlichkeit 218 7.4.10 Ermittlung relativer Vorteile 218 7.4.11 Soziodemographische Angaben 220 7.5 Pretest 220 7.6 Technische Umsetzung der Befragung 222 7.7 Stichprobe 222 7.7.1 Soziodemografische Zusammensetzung 224 7.7.2 Themeninteresse 228 8 Ergebnisse der Befragung 231 8.1 Analyseschritt 1: Beschreibung des Status Quo 231 8.1.1 Mediennutzungsintensität 231 8.1.2 Bindung 237 8.1.3 Nischenbreite 239 8.2 Analyseschritt 2: Messung der funktionalen Äquivalenz 241 8.2.1 Inhaltliche Ähnlichkeit: Vergleich des genutzten Themenspektrums 241 8.2.2 Motivationale Ähnlichkeit: Vergleich der Nutzungsmotive 247 8.2.3 Ähnlichkeit der Nutzungsmuster: Nutzungsstilvergleich 252 8.2.4 Zwischenfazit: Funktionale Äquivalenz und Nischenüberschneidung 260 8.3 Analyseschritt 3: Messung der Überlegenheit 262 8.3.1 Zahlungsbereitschaftsüberlegenheit 263 8.3.2 Themenkompetenzüberlegenheit 268 8.3.3 Gratifikationsüberlegenheit 271
http://www.nomos-shop.de/23935 Inhaltsverzeichnis 11 8.3.4 Kostenüberlegenheit: Vergleich der Nutzungskosten 274 8.3.5 Strukturelle Überlegenheit: Vergleich der Gratification Opportunities 276 8.3.6 Zwischenfazit: Wettbewerbsüberlegenheit 286 8.4 Analyseschritt 4: Determinanten der Wettbewerbsstärke 287 8.5 Gesamtfazit 294 9 Zusammenfassung und Diskussion 298 9.1 Zusammenfassung der Studie 298 9.2 Implikationen für die Forschung zu neuen Medieninnovationen 299 9.3 Forschungsdesiderate 301 9.4 Implikationen für die Medienpraxis 302 Literaturverzeichnis 306 Fragebogen 370
http://www.nomos-shop.de/23935 1 Forschungsstand und Forschungsfragen »YouTube is not just a web phenomenon; it is in open contest with broadcast TV« (Fagerjord, 2010, S. 187). Die obige Aussage von Anders Fagerjord klingt noch fast harmlos ange- sichts der vielen martialischen Schlagzeilen, mit denen etliche Medien zu- letzt das Verhältnis von Fernsehen und Videoportalen umschrieben ha- ben: Titel mit Kriegsmetaphern wie »YouTube bläst zu Großangriff gegen Fernsehsender« (Welt.de, 2012), »YouTube-Strategie: Angriff aufs Fern- sehen« (Romberg, 2012), »YouTube: Google stellt 100 Millionen für TV- Großangriff bereit« (Handelsblatt, 2012) oder »YouTube geht auf allen Bildschirmen in die Offensive« (Focus Online, 2010) postulieren ein un- versöhnliches Konkurrenzverhältnis, wobei das Fernsehen in der Defen- sive zu sein scheint. Letzteres erscheint auf den ersten Blick besonders überraschend: Zwar hat YouTube in den letzten Jahren einen beeindruckenden Aufstieg erfah- ren und scheint sich auch bei den meisten Mediennutzern etabliert zu ha- ben (Busemann & Gscheidle, 2012, S. 387–388; van Eimeren & Frees, 2012, S. 371–372), der Vergleich mit dem Fernsehen wirkt allerdings vor dem Hintergrund der noch sehr deutlichen Unterschiede hinsichtlich der Reichweite und Nutzung auf den ersten Blick wie der Kampf Davids ge- gen Goliath, denn jeder Deutsche ab 14 Jahren verbringt täglich in seiner Freizeit durchschnittlich 327 Minuten mit Fernsehen (Arbeitsgemein- schaft Fernsehforschung, 2013c) – weit mehr als mit jedem anderen Me- dium. Das ist ein Spitzenwert, der über die letzten Jahre kontinuierlich angestiegen ist. Und 99,2 Prozent aller Einwohner in Deutschland verfü- gen über mindestens ein Fernsehgerät, 47,4 Prozent sogar über zwei und mehr Geräte (ARD.de, 2013). Jeder YouTube-Nutzer besucht das Video- portal dagegen im Schnitt nur 14-mal im Monat und verbringt jeweils etwa 25 Minuten dort (Royal Pingdom, 2011), das macht pro Tag weniger als 12 Minuten.
http://www.nomos-shop.de/23935 14 1 Forschungsstand und Forschungsfragen Abbildung 1: Entwicklung der Verweildauer von TV und Internet Deutschspr. Onlinenutzer ab 14 Jahren (van Eimeren & Frees, 2012, S. 376, 2013, S. 361). Fernsehnutzer in Deutschland ab 14 Jahren (Arbeitsgemeinschaft Fern- sehforschung, 2013). Auch wenn man berücksichtigt, dass viele der Internetvideos von Video- portalen auf anderen Webangeboten eingebunden sind und dort rezipiert werden (Busemann & Gscheidle, 2012, S. 384) und somit bei den obigen Zahlen nicht erfasst sind, bleibt der Unterschied zum Fernsehen sehr groß. Bezogen auf alle Onliner zwischen 14 und 49 Jahren werden kos- tenlose Videoinhalte im Internet im Schnitt 11 Minuten am Tag genutzt (SevenOne Media, 2013a, S. 12). Vor dem Hintergrund dieser Zahlen er- scheint es auf den ersten Blick verwunderlich, dass Fernsehvertreter und Buchautoren (vgl. dazu Abschnitt 1.1) Szenarien vom Niedergang des Fernsehens durch das Internet beschwören, da der Unterschied in der Nutzungsdauer beider Medien trotz eines stärkeren Wachstums des Inter- netkonsums nach wie vor hoch geblieben ist (vgl. Abbildung 1).
http://www.nomos-shop.de/23935 1.1 Aufbau der Arbeit 15 1.1 Aufbau der Arbeit Im Kapitel 1 soll zunächst der Forschungsstand und das Forschungsinte- resse dargelegt sowie wichtige Entgrenzungsprozesse des digitalen Wan- dels geschildert werden. Darauf aufbauend werden im ersten Hauptab- schnitt der Arbeit (Kapitel 2 und 3) zunächst die beiden Untersuchungs- objekte, das lineare Fernsehen und Videoportale, in den Blick genommen. So- wohl die momentan zu beobachtende enorme Veränderung des Mediums Fernsehen als auch die Entstehung von Videoportalen sind eng mit die- sem Wandel verknüpft, der sich in dem Auftauchen neuer Akteure, neuer Genres und neuer Spannungsverhältnisse manifestiert. Die genannten zwei Kapitel, die beide Medienangebote zunächst vor allem einzeln be- trachten, bilden die Grundlage für die spätere vertiefte Untersuchung des Verhältnisses zwischen beiden. Das Kapitel 2 widmet sich zunächst dem Fernsehen. Nach einer Begriffs- bestimmung und einem kurzen Überblick über die Entwicklungsphasen hin zu der aktuellen Ära des »post-broadcast« (Turner & Tay, 2010) sollen die veränderten Rahmenbedingungen des Fernsehens mit seinen Triebfe- dern (Digitalisierung, Globalisierung und Individualisierung) und den neuen Akteuren auf dem TV-Markt dargestellt werden. Das 3. Kapitel fokussiert auf Videoportale als dem zweiten zentralen Un- tersuchungsobjekt. Hier ist zunächst eine Abgrenzung von anderen Be- wegtbildformaten im Internet wie Web-TV, Internetfernsehen oder Me- diatheken nötig. Da die Angebotsform noch relativ neu ist, wird zunächst ein Überblick über die bisherige Entwicklung und den Forschungsstand, aber auch über die neu entstandenen Genres und Angebotsformen gege- ben. Da auf Videoportalen die traditionellen Grenzen zwischen Kommu- nikatoren und Rezipienten aufgehoben sind und auch Amateure Videos publizieren können, sind auch die verschiedenen Kommunikatoren in den Blick zu nehmen, die sich durch eine Vermischung der Rezipienten- und Kommunikatorrolle auszeichnen. In Kapitel 4 werden die theoretischen Grundlagen für die Betrachtung von neuen zu etablierten Medienangeboten gelegt, die später die Basis für die Entwicklung eines integrierten Untersuchungsmodells liefern. Dabei wird zunächst der kommunikationswissenschaftliche Diskurs rekurriert, der immer noch stark durch die Rezeption des Rieplschen Gesetzes geprägt ist und aus Sicht des Verfassers einige Schwächen aufweist. Vor diesem Hin- tergrund wird die Eignung verschiedener interdisziplinärer Theorieansätze zu den Beziehungen zwischen neuen und etablierten Medien diskutiert.
http://www.nomos-shop.de/23935 16 1 Forschungsstand und Forschungsfragen Hier bietet sich zunächst die Betrachtung der mikroökonomischen Sichtweise auf Konkurrenzverhältnisse mit dem zugrunde liegenden Men- schenbild des Homo oeconomicus und seiner Weiterentwicklungen in den So- zialwissenschaften an. Bewährte theoretische Ansätze zu Medienkonkur- renzverhältnissen, die in dieser Tradition von rationalen Auswahlentschei- dungen ausgehen, wie die Diffusionstheorie, des Uses-and-Gratification-Ansatz, das Nutzungsstilkonzept bzw. der Domestizierungsansatz sowie insbesondere die Theorie der Nische liefern wichtige theoretische Bausteine zum Verständ- nis und können für ein allgemeines Modell nutzbar gemacht werden. Darauf aufbauend, werden in Kapitel 5 fruchtbare Elemente der ver- schiedenen Theorieansätze zu einem erweiterten, allgemeinen Untersuchungs- modell zusammengeführt, mit dem sich verschiedene Ausprägungen des Verhältnisses von neuen zu etablierten Medienangeboten ermitteln und beschreiben lassen. Hierbei wird der Selektionsprozess eines Medienange- botes als aktive Wahl modelliert, dem insbesondere bei neuen Medien ein interner Evaluationsprozess vorausgeht, der durch Medienschemata, Me- takommunikation sowie Schlüsseltexte und Schlüsselereignisse geprägt ist. Eine besondere Rolle kommt dabei den unterschiedlichen Gratifikatio- nen, den durch das technische Potential vorgegebenen Gratification Op- portunities, den Nutzungskosten sowie den Medieninhalten zu. Das entwickelte Untersuchungsmodell wird in Kapitel 6 auf das Verhält- nis zwischen dem Fernsehen und Videoportalen angewandt. Dazu werden zu- nächst anhand bisheriger empirischer Daten Belege für die einzelnen denkbaren Ausprägungen Substitution, Komplementarität und Konvergenz ge- sucht, wie sie das Medienevolutionsmodell vom Lehman-Wilzig und Co- hen-Avigdor postuliert. Im Hinblick auf die Forschungsfrage der Bezie- hungen zwischen Internet und Fernsehen sind hier insbesondere crossmediale Beziehungen von Interesse, d. h. die Einbindung von Vide- oportalen in ein verzweigtes Geflecht anderer Medien, sowohl als Quelle als auch als Verbreitungsplattform. Außerdem wird der Frage nachgegan- gen, ob es durch Medienkonvergenz und die Verbreitung von TV-Inhal- ten im Internet bzw. von Internetangeboten auf dem Fernsehgerät zu ei- ner Verschmelzung von Fernsehen und Internet kommt. Daneben wird der Trend der zunehmenden Parallelnutzung von Fernsehen und Internet, der sogenannte Second Screen, betrachtet. Weiterhin wird die Frage be- leuchtet, ob durch Reaktionen des Fernsehens bereits eine Minimierung einer möglichen Konkurrenz zu Videoportalen erfolgt ist. Mit Hinblick auf die zunehmende technische Verbesserung des Fernsehangebotes
http://www.nomos-shop.de/23935 1.1 Aufbau der Arbeit 17 durch die Ausweitung der empfangbaren Kanäle und technische Entwick- lungen wie HDTV wird von einigen Autoren ein geringeres Konkurrenz- potential durch das Internet gesehen (Stipp, 2009). Diesen Argumenten soll nachgegangen werden. Außerdem werden die Gratifikationsprofile sowie die Gratification Op- portunities verglichen, d. h. das technische Potential beider Medienange- bote, um mögliche Wettbewerbsvorteile zu ermitteln. Da zu den Gratifi- kationen von Videoportalen bisher noch keine Studien vorliegen, werden hier hilfsweise die Gratifikationen des Internets herangezogen. Hierbei spielen neben den Rezeptionsgratifikationen auch die Partizipationsgrati- fikationen eine Rolle, die durch Veröffentlichungs- und Kommentierungs- möglichkeiten von Social Communities geschaffen werden. Die in den vorangegangenen Kapiteln entwickelten theoretischen Grundlagen werden in Kapitel 7 in einem Forschungsprogramm operationali- siert und in einen Fragebogen überführt. Weiterhin werden Erläuterungen zur Forschungsmethodik gegeben, Herausforderungen im Projektverlauf diskutiert und die Stichprobe hinsichtlich ihrer Eignung vorgestellt. Kapitel 8 schildert detailliert die Ergebnisse der quantitativen Befragung und diskutiert sie in Bezug zu den theoretischen Vorüberlegungen und den Ergebnissen anderer Studien. Dazu werden vier große Analyseschritte durchgeführt: 1. die Beschreibung des Status Quo beider Medien hinsichtlich der Bindung, der Mediennutzungsintensität, sowie ihres Speziali- sierungsgrades (Nischenbreite), 2. die Messung der funktionalen Ähnlichkeit (Nischenüberlappung) bezogen auf das genutzte Themenspektrum, die Gratifikati- onsprofile und die Gratification Opportunities, 3. die Messung potentieller relevanter Vorteile eines der beiden Medi- enangebote hinsichtlich der Zahlungsbereitschaft, der The- menkompetenz, der Gratifikationen, der Gratification Oppor- tunities sowie der Nutzungskosten sowie 4. die Ermittlung der Determinanten der Wettbewerbsstärke beider Medienangebote durch eine multivariate Regressionsanalyse, die gleichzeitig die Modellgüte des Untersuchungsmodells tes- tet.
http://www.nomos-shop.de/23935 18 1 Forschungsstand und Forschungsfragen Die Ergebnisse der empirischen Studie sowie der theoretischen Vor- überlegungen werden im abschließenden Kapitel 9 zusammengefasst und hinsichtlich ihrer Implikationen für die Forschung zu neuen Medien sowie für die Medienpraxis diskutiert. Außerdem werden Forschungsdesiderate für weitere Studien identifiziert. 1.2 Fernsehen, ein Medium im Niedergang? Wie eingangs angedeutet, machen etliche Journalisten, aber auch Fachau- toren das Fernsehen zum »Auslaufmodell« (Kaufmanns, Siegenheim & Sjurts, 2008), fürchten sein »Ende« (Katz & Scannell, 2009; Machill & Zenker, 2007), prognostizieren wie in vielen Technologieblogs seinen »Tod« (Ellis, 2010; Graham, 2011; Lawson, 2010; Orlin, 2010; Pevere, 2010; Stevens, 2006) oder sehen es bereits jetzt als Relikt der Vergangen- heit: »Fernsehen? Sowas von gestern!« (Schnaas, 2014). »Predicting the coming death of television seemed to become a new beat for many of the nation’s technology and culture writers in the mid- 2000« kommentierte Lotz (2007, S. 1) bereits vor Jahren den offenbar im- mer noch anhaltenden Trend, das nahe Ende des Massenmediums Fern- sehen zu beschreiben. Das Fernsehen, so die vorherrschende Meinung des Diskurses unter Fachautoren und Praktikern, habe seinen Zenit über- schritten und werde über kurz oder lang in einen Konkurrenzkampf mit dem aufstrebenden Internet eintreten müssen, wie etwa Anderson in sei- nem Bestseller »The Long Tail« behauptet: Today, TV viewership of eighteen- to thirty-four-year-old males, the most coveted demographic for advertisers, has peaked and is beginning to decline, as the more interactive charms of Internet and video games win the competition for eyeballs. Overall TV viewership is at all-time highs, so it’s not panic time in broadcast land yet. But the day when the Internet becomes a real rival to TV appears near (An- derson, 2008, S. 194). Auch ein Videoportal-Vertreter wie der YouTube-Manager Kyncl ist sich sicher, dass das klassische Fernsehen in wenigen Jahren durch das Internet fast vollständig verdrängt werde: »Wir glauben, dass mit dem Aufstieg des Internets bis 2020 etwa 75 Prozent aller Video-Inhalte über das Internet übertragen und angesehen werden« (Kyncl, zitiert nach Handelsblatt, 2012). Die Untergangsprognosen des Fachdiskurses stehen dabei im Gegen- satz zu der Meinung der Fernsehnutzer, die nach den Ergebnissen der
http://www.nomos-shop.de/23935 1.2 Fernsehen, ein Medium im Niedergang? 19 Langzeitstudie Massenkommunikation mit großer Mehrheit (94 Prozent) davon ausgehen, dass das Fernsehen trotz aller Veränderungen auch in Zukunft seine Bedeutung behalten wird (Ridder & Engel, 2010b, S. 534). Auch für die Schweiz kommt eine repräsentative Studie von Publisuisse zu ähnlichen Ergebnissen. Hier gaben 75 Prozent an, dass sich Fernsehen und Internet ideal ergänzen (Publisuisse, 2011, S. 10), nur elf Prozent rech- nen mit einer deutlich geringeren TV-Nutzung im Jahr 2017 (Publisuisse, 2011, S. 11). Auch die wirtschaftliche Lage der Fernsehbranche spricht nicht für einen Niedergang: So stiegen die Erlöse weltweit zwischen 2008 und 2012 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 4,4 Prozent auf 303,7 Milliarden Euro1 (Ofcom, 2013, S. 135)2. »Digital ist besser«3 (Renner & Renner, 2011) lautet stark vereinfacht die Argumentation all jener, die die Verdrängung des Fernsehens durch das Internet postulieren. Bereits in der Frühphase des Internets wurde ein Niedergang des Fernsehens prognostiziert (Gilder, 1994; Negroponte, 1995). Diese Vorhersagen vom »end of televison as we know it« (IBM Institute for Business Value, 2006) haben sich bislang nicht bestätigt4, si- cher auch, weil das Internet seit den Anfängen lange Zeit vornehmlich ein reines Textmedium war. Erst seit Kurzem sind durch schnelle und kos- tengünstige Internetzugänge, hochkomprimierende Videocodecs und mo- derne Browsertechnologien zur unkomplizierten Anzeige von Videos die technischen Voraussetzungen geschaffen worden, die das Internet in ein audiovisuelles Medium verwandeln. Gleichzeitig führt der Medienkonvergenzprozess zu einer Verschmel- zung der vormals stark getrennten Medien Fernsehen und Internet. Auf der Angebotsseite können Amateure mit herkömmlichen Smartphones HD-Videos produzieren, editieren und in wenigen Sekunden auf Video- portalen wie YouTube veröffentlichen, was zu einer nahezu unbegrenzten Angebotsvielfalt führt (vgl. Abschnitt 1.4.2). »Fernsehen war gestern«, so der selbstbewusste Werbeslogan des Videoportals Sevenload (Hornig, 2007), dessen großes Vorbild YouTube verspricht: »Broadcast yourself«. ____________________ 1 Für die Umrechnung von GBP zu EUR wurde ein Wechselkurs von 1 zu 1,21 zu Grunde gelegt (Stand: 08.03.2014). 2 In Deutschland lag die Wachstumsrate mit 1,2 Prozent etwas niedriger, allerdings im po- sitiven Bereich (Ofcom, 2013, S. 148). 3 Der Buchtitel ist angelehnt an das gleichnamige Debütalbum der deutschen Band Tocotronic, das mit diesem Namen im Jahr 1995 auf den Hype um das damals noch neue Medium Internet anspielte. 4 Zum Überblick über die damalige Diskussion in den USA vgl. auch Stipp (1994).
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