ZERREISPROBE EINER POLIZISTIN - Von Annette Lüders - Über Hürden, Chancen und den Mut, Courage hoch Drei e.V.

 
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ZERREISPROBE EINER POLIZISTIN - Von Annette Lüders - Über Hürden, Chancen und den Mut, Courage hoch Drei e.V.
Über Hürden, Chancen und den Mut,
        eigene Wege zu gehen

ZERREISPROBE
   EINER
 POLIZISTIN
 Meine Geschichte - Ein Tatsachenbericht

        Von Annette Lüders
Ich fahre mit meinem beigen Ford Fiesta auf der Autobahn: in Richtung Karriere und
mit der Hoffnung, dieses hässliche Auto bald loszuwerden. Am Spiegel tanzt ein
Vanilleduftbaum, 20:05 zeigt die Uhr. Es ist 1983 und aus dem Radio tönt „Blinded
by the light“, genau das richtige Lied für meine gute Laune.

Ich bin ein bisschen nervös und aufgeregt, denn heute habe ich meinen ersten
Dienst in dem mir zugewiesenen Polizeirevier. Kürzlich hat das Land Niedersachsen
die Ausbildung von Schutzpolizistinnen ins Leben gerufen. Ich gehöre zu den ersten
Frauen, die an diesem Versuch teilnehmen. Heute, in meinem ersten Nachtdienst
nach dreijähriger Ausbildung, werde ich endlich beginnen meinen Traum, anderen
Menschen zu helfen, sie zu schützen und für Gerechtigkeit zu sorgen, in die Praxis
umzusetzen.

Ich verlasse die Autobahn, fahre auf den Parkplatz vor dem Revier, stelle den Motor
aus und male mir meine Zukunft bei der Polizei in den schönsten Farben aus. Hätte
ich den Zündschlüssel wieder herumgedreht, den Motor gestartet und wäre nach
Hause gefahren, wenn ich damals gewusst hätte, was mich in dieser ersten Nacht
und den folgenden Jahren erwartet?

An diesem Abend aber gehe ich mutig in die Wache. Dort nimmt mich der
Dienstabteilungsleiter in Empfang, bietet mir sofort das Du an und stellt mich den
neuen Kollegen vor. Alle sehen nett und vertrauenswürdig aus. Ich freue mich, eine
von ihnen zu werden. Der Chef zeigt mir die Wache, dann trinken wir alle
gemeinsam Kaffee. Ich lerne auch Maik, meinen Bärenführer, kennen. Bärenführer
haben die Aufgabe, Berufsanfänger in der Praxis auszubilden, ständiger
Streifenpartner zu sein und „aufzupassen“. Sie sollen Bezugs- und Vertrauensperson
sein.

Maik ist Mitte 30, hat im Team die meiste Erfahrung und ist schon seit einigen
Jahren auf diesem Revier. Die Einsatzlage ist ruhig. Er schlägt vor, gemeinsam mit mir
und Kollege Scotti eine erste Runde durch das Revier zu drehen. Wir überprüfen
unsere Pistolen und Ausstattung, nehmen die Einsatztasche und laufen auf den
Hinterhof zu unserem grünweißen Streifenwagen. Maik fährt, ich nehme auf dem
Beifahrersitz Platz, hinter mir sitzt Scotti. Es wird bereits dunkel. Das Rolltor öffnet
sich und wir fahren hinaus in das Abenteuer Polizei.

Die Beiden zeigen mir den Revierbereich, erklären wo Brennpunkte sind und wann
mit häufigen Einsätzen zu rechnen ist. Da ich mich in dieser Stadt nicht auskenne,
versuche ich, mir markante Punkte zu merken. Sie erzählen Geschichten aus ihrem
Berufsleben, es kommt gute Stimmung auf. Ich kann es kaum erwarten, zum ersten
Einsatz gerufen zu werden. So fahren wir einige Zeit. Irgendwann, es ist mittlerweile
stockduster, lenkt Maik das Fahrzeug auf einen Parkplatz. An der äußersten Ecke
stellt er Motor und Licht aus. Ich weiß nicht, wo ich bin und warum wir halten,
vertraue aber darauf, dass mein Bärenführer das Richtige tut. Keine Menschen.
Keine Geräusche. Das was jetzt kommt, könnte auch aus einer „Tatort“-Folge
stammen. Mit mir in einer der Hauptrollen.

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Gibt es hier etwas zu observieren?“, möchte ich wissen. „Wir machen das, weshalb
ihr Frauen doch bei der Polizei angefangen habt“, sagt Maik. Ich weiß nicht, was er
meint, und sage das auch. Maik: „Na, ihr wollt doch flachgelegt werden. Eine schnelle
Nummer!“ Mir fehlen die Worte. Meine Kollegen sind in der Überzahl und mir
körperlich überlegen. Als ich meine Stimme wiederfinde, sage ich mit Nachdruck:
„Nein, das stimmt nicht! Ich will das auf keinen Fall!“ Ein flaues Gefühl breitet sich in
meinem Magen aus. Ich kenne mich hier nicht aus. Riefe ich um Hilfe, es würde mich
kein Mensch hören. Ich will die Situation beenden: „Was soll das denn jetzt?!“ Scotti
hinter mir: „Nun stell dich nicht so an, du willst es doch auch!“ „Nein, das stimmt
nicht! Ich will das nicht!“ So geht das hin und her. „Ich zeige euch an, wenn ihr mich
anfasst!“ Darauf Maik: „Was denkst du, wem man mehr glauben wird? Uns Beiden,
die wir schon jahrelang unbescholten unseren Dienst versehen, oder dir, die du neu
hier ankommst?“ „Dann lasse ich einen Abstrich nehmen und beweise es damit!“ Ich
kriege Atemnot, mein Puls rast. „Tja“, entgegnet Maik, „aber wir werden sagen, du
hast uns verführt, uns praktisch genötigt, gedrängt, dass wir hier eine Nummer mit
dir machen.“

Meine Angst schlägt in Panik um. Ich versuche trotzdem, an meinem Mut
festzuhalten und greife mit schweißnassen Händen nach meiner Waffe: „Wenn ihr
mich anfasst, erschieße ich euch!“ In diesem Moment zieht mir Scotti die Waffe von
hinten aus meinem Holster. Jetzt bin ich ohne Waffe, völlig wehrlos. Nein, nicht
völlig! Ich habe immer noch meinen Verstand und fange an, auf kumpelhafte Art zu
scherzen: „Leute, einen Moment habe ich euch das Ganze wirklich geglaubt! Ich habe
den Test bestanden. Lasst uns jetzt wieder ins Revier fahren und einen Kaffee
nehmen, ok?“ Ich lache gezwungen, ziehe alles, was gerade eben passiert ist, betont
ins Lächerliche.

Schweigen und Kämpfen
Wir fahren tatsächlich ins Revier. Trinken mit den anderen einen Kaffee, als wäre
nichts gewesen. Wir werden nie über die soeben erlebte Situation sprechen. Was
bleibt, ist meine Unsicherheit: Hätte man mir tatsächlich nicht geglaubt? Immerhin
hätte mein Wort gegen das von zwei erfahrenen und beliebten Kollegen gestanden.
Und hätten Maik und Scotti mich wirklich vergewaltigt? Um meiner Hilflosigkeit zu
entfliehen, rede ich mir ein, dass sie nur einen Scherz machen wollten.

Meinen Eltern erzähle ich vom nächtlichen Geschehen nichts. Mein Vater, Mitte 40,
selbst Polizeibeamter, lebt ein dominantes Rollenmodell zwischen Mann und Frau. Er
hätte kein Verständnis für mich gehabt, mir vielleicht sogar die Schuld gegeben.
Meine Mutter möchte ich nicht belasten, sie würde sich sonst große Sorgen um mich
machen. Ich finde mich also im Schweigen wieder, schäme mich, suche den Fehler
bei mir und mache das Ganze mit mir allein aus. Welch Ironie: Ich habe einen Beruf
gewählt, um Menschen zu schützen und stehe nun selbst schutzlos da. Nach einiger
Recherche erfahre ich, dass in Konfliktsituationen am Arbeitsplatz meist das Opfer
gehen muss, weil Kollegen es als „Nestbeschmutzer“ betrachten.

Das will ich nicht!
Ich will kein Opfer sein!
Ich bleibe!
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Solidarität unter Frauen gab es nicht
Ich bin die einzige Frau im Revier und nur wenige andere Schutzpolizistinnen
versehen ihren Dienst in dieser Stadt. Wir tauschen uns nicht darüber aus, was uns
im Alltag mit männlichen Kollegen passiert, obwohl mir das sicherlich geholfen hätte.
Frauensolidarität gibt es in meinem Umfeld noch nicht. Heute weiß ich, dass damals
auch andere Frauen in ähnliche Situationen gekommen sind. Sie erzählen mir im
Vertrauen später von Demütigungen, sexuellen Belästigungen oder Ausgrenzungen.
Doch alle schweigen – aus unterschiedlichen Gründen.

Ich frage mich, wie mein Weg und der anderer verlaufen wäre, wenn wir damals
nicht geschwiegen hätten. Wir hätten vielleicht schon viel früher etwas bewegen
können. Doch es ist nie zu spät und heute leider immer noch so nötig wie damals,
dass Menschen vor Gewalt im Arbeitsumfeld geschützt werden. Das zeigen allein
diese drei Beispiele: Im Februar 1999 tötet sich eine Polizistin nach sexueller
Belästigung durch einen Vorgesetzten in München. Im März 2019 lautet eine
Schlagzeile in der „Braunschweiger Zeitung“: „Sexuelle Belästigung bei Polizei in
Hannover? Polizist versetzt“. Hier hatte eine Führungskraft der Zentralen
Polizeidirektion Niedersachsen mehrere Kolleginnen sexuell belästigt. Und im Mai
2020 heißt es in den „Wolfsburger Nachrichten“: „BGH bestätigt Urteil gegen
Wolfsburger Ex-Polizeichef“. Er soll einer Untergebenen Karriere in der Dienststelle
in Aussicht gestellt und dafür sexuelle Gefälligkeiten gefordert haben.

Noch immer widerfahren Frauen bei der Polizei und auch in anderen Berufen Dinge
wie mir damals. Schweigen sie immer noch aus Angst vor Konsequenzen? Welche
Macht wird dem Täter oder auch einer Täterin heute eingeräumt? Und welche
Konsequenzen gibt es nach solchen Übergriffen? Frauen und ausdrücklich auch
Männer, die in die Situation kommen, sexuell belästigt, diskriminiert oder gemobbt zu
werden, ermutige ich: Schweigt nicht, sucht euch Unterstützer, bringt Licht und
Transparenz in die Vorfälle. Dies kann euch und anderen helfen.

Umgang mit stressigen Situationen lernen
In der darauffolgenden Zeit arbeite ich fast täglich mit Maik, Scotti und den anderen
Kollegen. Ich baue mit ihnen eine gute Beziehung auf in der Hoffnung, dass sich ein
Vorfall wie in meinem ersten Nachteinsatz nicht wiederholt und schlichtweg, weil ich
bleiben möchte. Mit der Zeit vergebe ich ihnen, auch wenn es mir schwerfällt. Denn
ich sage mir immer wieder: Sie begreifen gar nicht, was sie getan haben. Meinen
endgültigen Frieden mit ihnen mache ich, als ich Jahre später an ihren Beerdigungen
teilnehme. Doch zuvor lerne ich von ihnen und anderen Kollegen für den Beruf und
fürs Leben.

„5612, fahren Sie zur Bahnhofstrasse, Verdacht auf Tötungsdelikt. Schlüsseldienst
bereits vor Ort!“, so der Funkspruch an unser Fahrzeug. Ich bin mittlerweile seit
einigen Monaten im Revier und nun wird es ernst: Ich habe noch nie eine Leiche
gesehen. Was wird mich erwarten? Was mache ich, wenn mir gleich schlecht wird
oder ich ohnmächtig werde? Wie peinlich das wäre! Diese Gedanken bringen mich
zum Schwitzen, obwohl es bereits Winter ist. Ein Mann vom Schlüsseldienst lässt uns
ins Einfamilienhaus.

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Drinnen ist es gespenstisch still. Ich höre nur meinen lauten Herzschlag. „Hier ist die
Polizei“, rufen Maik und ich mehrfach. Trotz weicher Knie gehe ich mit Maik
entschlossen von Raum zu Raum. Nur keine Schwäche zeigen! Im Schlafzimmer
finden wir einen Mann. Nur mit einer Unterhose bekleidet liegt er im Doppelbett.
Überall ist Blut: auf dem Laken, auf ihm, an der Wand. Ist das etwa Gehirn? Ich kann
vor Ekel und Entsetzen kaum atmen. Der Mann hat sich augenscheinlich mit einem
Schrotgewehr in den Kopf geschossen.

Mir rauscht das Blut in den Ohren, ich habe einen metallischen Geschmack im Mund
und Angst, ohnmächtig zu werden. Maik schaut mich an und erfasst die Situation
blitzschnell. „Kitzel den mal am großen Zeh, mal sehen, ob er noch zuckt! Den kannst
du küssen, ohne dass der vor dir wegläuft“. Seine makabren Sprüche bewirken, dass
ich plötzlich lachen muss. Meine Anspannung löst sich. Mir fallen sogar selbst
Sprüche ein und auf einmal merke ich, dass ich wieder voll einsatzfähig bin. Maik hat
mir geholfen, so unethisch unser Verhalten auch klingen mag, Stress abzubauen.
Durch dieses Ereignis entwickele ich Techniken, um mit stressigen und belastenden
Situationen umzugehen und handeln zu können. Dieses intuitive
Stressbewältigungskonzept nutze ich heute als bewährte Coachingmethode.

Respekt gewinnen
Ich lerne, in Stresssituationen souverän zu handeln. Doch dass sich meine
männlichen Kollegen in einer brenzligen Situation auf mich verlassen können, trauen
sie mir noch immer nicht zu. Ich bekomme fast täglich zu hören: „Wenn es zur
Schlägerei kommt, kann ich mich nicht auf dich verlassen!“ oder „Ich begebe mich
doch nicht in Gefahr, nur weil ich mit einer Frau Streife fahre!“ Dass es auch
männliche Kollegen gibt, die nicht fit sind und im Ernstfall lieber weglaufen, will
keiner hören. Als aktive Handballerin bin ich durchtrainiert und mutig, was für die
meisten Kollegen allerdings nicht zählt. Weil ich das Gegenteil beweisen will,
gehe ich eines Tages ein Risiko ein, das mich Gesundheit und sogar Leben hätte
kosten können.

Mein Bärenführer und ich fahren „Z-Streife“, „Z“ für zivil, also in Alltagskleidung und
in einem alten Passat. Natürlich ausgerüstet mit Waffe, Handschellen und allem
anderen. Kurz nach Mitternacht kommt über Funk: „An alle Fahrzeuge! Soeben
versuchter Einbruch in Kiosk. Welches Fahrzeug fährt?“ Weil Maik und ich in der
Nähe sind, melde ich: „5612 steht günstig, wir fahren!“ Maik wendet und wir rasen
zum Tatort.

Dort angekommen sehen wir, wie der vermutliche Täter die Flucht ergreift. Unser
Fahrzeug steht noch nicht ganz, da springe ich schon aus dem Auto und nehme die
Verfolgung auf. Der Täter läuft in den gegenüber liegenden Gartenverein. Ich
hinterher. Er hat zwar einige Meter Vorsprung, aber mich hat das Jagdfieber erfasst.
Ich ignoriere alle Vorsichtsgedanken und Eigensicherungsmaßnahmen und denke
nur: Das ist meine Chance, ich muss ihn kriegen! Das Adrenalin in meinen Adern lässt
mich schneller und schneller laufen. „Halt Polizei, stehen bleiben!“, schreie ich.
Der Mann läuft weiter. In einer Sackgasse angekommen, beginnt er über einen Zaun
zu klettern.

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Ich aktiviere meine ganze Kraft, nehme Schwung, springe ihn an und reiße ihn
rückwärts vom Zaun. Er fällt und es gelingt mir, ihn auf den Bauch zu drehen und ihm
den Arm auf dem Rücken zu fixieren. Immer wieder drohe ich: „Beweg dich nicht
oder ich breche dir den Arm.“ Wir sind beide außer Puste, atmen schwer. Wer von
uns mehr Angst hat, weiß ich nicht. Ich rufe Maik um Hilfe. Warte eine gefühlte
Ewigkeit auf ihn. Vermutlich ist er bereits wenige Augenblicke später bei mir.
Gemeinsam bringen wir den Täter ins Revier. In der Vernehmung sagt der mehrfach
Vorbestrafte, dass er niemals wieder so etwas wie diese Festnahme erleben möchte:
von einer Frau, die ihm fast den Arm gebrochen hätte.

Wir feiern meinen Erfolg und fortan hat keiner meiner Kollegen hat mehr Zweifel
oder Angst, mit mir auf Streife zu fahren. Ich habe bewiesen, dass ich genauso viel
kann wie sie und bin in dieser Hinsicht nun ein akzeptiertes Mitglied. Dass diese
Festnahme dabei sehr geholfen hat, begreife ich erst später. Für immer im Dunkeln
bleiben wird jedoch, was passiert wäre, wenn der Täter das Messer, welches er bei
sich trug, eingesetzt hätte.

Lernen als Schlüssel zum Wachstum
In den ersten Berufsjahren lerne ich nicht allein mich als Frau in einer
Männerdomäne zu behaupten, sondern auch wie wichtig es ist, mit Kollegen über
Herausforderungen zu sprechen und auch mal nach Hilfe zu fragen. Anfang der
Achtziger gibt es bei der Polizei noch keine Computer. Wir schreiben Strafanzeigen,
Berichte und Vernehmungen auf mechanischen Schreibmaschinen, was mir keinen
Spaß macht. Ich bemühe mich, wenig Fehler zu machen. Wenn ich mich oft
verschreibe, beginne ich von vorn. Denn ich will gut werden. Meine Kollegen sowie
der Dienstabteilungsleiter geben mir gefragt und ungefragt erbesserungsvorschläge.
Unter diesem Druck werde ich zunehmend frustriert und mache immer mehr Fehler.

Ich beginne an mir zu zweifeln und vertraue mich einem „alten Hasen“ an, der
empfiehlt: „Werde besser als alle anderen! Übe! Lerne! Übernimm Sonderaufgaben!
Und wenn der Schlechteste aus der Mannschaft dich um Rat fragt, dann hast du es
geschafft!“ Ich übe also, wo ich nur kann: im Schreibmaschineschreiben, verbessere
meine Rechtssicherheit und halte Augen und Ohren offen, um möglichst viel zu
lernen. Für viele Sonderaufgaben und Sondereinsätze melde ich mich freiwillig. Das
bringt mir Sicherheit, Ausstrahlung und Anerkennung. Es dauert nicht lange und der
Erfolg gibt mir Recht, als Lars, ein von mir bewunderter Kollege, mich bittet ihn bei
einem Fall rechtlich zu unterstützen.

Lernen macht mir zunehmend Spaß. Fortan bilde ich mich kontinuierlich weiter und
werde mein Wissen später als Coach an polizeiliche Führungskräfte, Unternehmer
und Selbständige weitergeben. Damit werde ich dazu beitragen, ein besseres
Miteinander mit weniger verbaler oder körperlicher Gewalt zu ermöglichen. Meine
Erfahrungen und Erkenntnisse halfen und helfen mir bis heute, dass es mir selbst
besser geht und ich viele Menschen unterstützen kann. Den Worten anderer Gehör
zu schenken, aber keinen uneingeschränkten Glauben – zuhören, nachdenken,
weitermachen – wird mein zukünftiges Motto.

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Sich selbst treu bleiben
Gleichzeitig dominiert zu Beginn meiner Laufbahn bei der Polizei der Wunsch,
dazuzugehören. Völlig unbewusst nehme ich die männlichen Verhaltensweisen und
Ausdrücke an: Ich esse, stehe, gehe, spreche und verhalte mich wie ein Mann.
Solange, bis meine Mutter das eines Tages mit Schrecken feststellt und mein
breitbeiniges Sitzen sowie meine schlechten Essmanieren nachahmt. Da erkenne ich,
dass diese Vermännlichung nicht zu mir passt, mich unglaubwürdig und vielleicht
sogar abstoßend macht. Denn ich bin gerne Frau, will aber trotzdem nicht wieder in
die Schiene „Mädchen, weich und nicht belastbar“ abrutschen.

Doch damals gibt es keine weiblichen Vorbilder bei der Schutzpolizei, an denen ich
mich orientieren kann. Seminare oder Fachliteratur zur Persönlichkeitsentwicklung
sind mir zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Ich bin verunsichert, fühle mich in meiner
eigenen Haut nicht wohl. Ab diesem Zeitpunkt beginne ich auszuprobieren, wie ich
ich bleiben und trotzdem eine von ihnen werden kann. Immer wieder feile ich an
dem, was gut funktioniert und lasse weg, was nicht wirksam ist. Ich lerne durch
diesen Prozess mit Höhen und Tiefen, zu mir zu stehen und authentisch zu sein. Und
ich achte sehr genau darauf, mit welchen Menschen ich mich umgebe, weil deren
Verhalten auf mich abfärben kann.

Vertrauen schaffen und sich durchsetzen
Vor allem aber lerne ich mich durchzusetzen, nicht mit Gewalt, aber mit Ausdauer
und Einfühlungsvermögen. Die gesellschaftliche Sensibilisierung für
Gleichberechtigung und sexuelle Diskriminierung sind in den Achtzigern und
Neunziger wenig ausgeprägt, Mobbing ist ein noch unbekannter Begriff. Meine
Kollegen und Vorgesetzten sind vermutlich zu wenig oder gar nicht auf die
Zusammenarbeit mit Frauen in der Schutzpolizei vorbereitet worden. Das kann
erklären, weshalb sie in meiner Gegenwart oft frivol, sexistisch und herb reden. Ich
bin oftmals angewidert von den Sprüchen, Erzählungen und Pornos, die meine
Kollegen während des Dienstes schauen. Obwohl ich häufig interveniere und sie
bitte, das in meiner Gegenwart zu unterlassen, finde ich lange kein Gehör – auch
nicht bei der Führungskraft, die sich selbst so verhält. „Bleib mal locker! Stell dich
nicht so an“, heißt es nur.

Weil ich zunehmend begreife, dass Kommunikation der Schlüssel für viele Probleme
sein kann, schaffe ich in offenen Gesprächen und mit viel Verständnis für die andere
Seite Verbundenheit zwischen mir und meinen Kollegen. Wir lernen, uns zu
vertrauen und gegenseitig zu unterstützen. Und tatsächlich verändern mehr und
mehr Kollegen ihr Verhalten und weisen andere Kollegen darauf hin, in meiner
Gegenwart sexistische Sprüche und Verhaltensweisen zu unterlassen. Damit
verbessert sich das Miteinander in der gesamten Dienstabteilung.

Diesbezüglich geht mein Plan voll auf, doch hatte ich Folgendes nicht einkalkuliert:
Während der vielen Streifenfahrten verbringe ich teilweise mit den Kollegen mehr
Zeit als sie mit ihren Partnerinnen. Durch ihre Offenheit erfahre ich viel aus deren
Leben, höre zu, gebe Tipps aus meiner Sicht oder aus meinem Denken als Frau.
Vielleicht gerade deswegen machen sich bei den Partnerinnen Unsicherheit,
Eifersucht und Angst vor Fremdgehen breit.

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Manch eine kommt zur Wache und beschwert sich bei meinem Chef, dass ihr Partner
so viel Zeit auf engstem Raum mit einer anderen Frau verbringt. Ein paar Kollegen
wollen daraufhin nicht mehr mit mir fahren. Ich bin traurig und will nicht, dass die
Kollegen wegen mir Probleme haben. Auch hier helfen Gespräche: Einige Frauen
fassen Vertrauen zu mir und die Akzeptanz der gemischten Streife steigt allmählich.

Neuanfang und niemals aufgeben
Weil ich schon früh in meinem Leben den immerwährenden Wunsch verspüre, mich
weiterzuentwickeln, bewerbe ich mich Mitte der Achtziger erfolgreich bei der
Kriminalpolizei. Der Abschied von meinen mittlerweile liebgewonnenen Kollegen
fällt auf beiden Seiten schwer. Für einen Überleitungslehrgang drücke ich erneut die
Schulbank und muss Praktika in verschiedenen Kriminalfachbereichen absolvieren.
Ich beginne im KDD, dem Kriminaldauerdienst. Meine Wachgruppe besteht aus fünf
Kriminalbeamten und einer Wachgruppenleiterin. Ich freue mich, endlich einmal mit
einer Frau in einer Schicht zusammenarbeiten zu dürfen und bin gespannt auf ihren
Führungsstil.

Wieder starte ich mit einem Nachtdienst und erneut wird mir der Anfang schwer
gemacht. Weil gerade Wachablösung ist, bleibt keine Zeit, mich in Empfang zu
nehmen. Ich setze mich in den Aufenthaltsraum und werde nach einiger Zeit von den
neuen Kollegen mit den Worten begrüßt: „Na, Du bist ja von Schnittlauch, grün und
hohl! Von Dir können wir ja nicht viel erwarten!“ Die Schutzpolizei trägt damals noch
eine Uniform in der Farbe Beige-Grün, die abfällig mit Schnittlauch assoziiert wird.
Die Kripo hält sich bekanntlich für etwas Besseres und lässt mich das sofort spüren.

Kurz nach Dienstbeginn kommt eine Frau in die Wache, weinend, ihre Kleidung ist
zerrissen. Sie will eine Vergewaltigung melden. „Schnittlauch, dein Fall! Ihr glaubt ja,
dass ihr alles besser könnt! Dann zeig uns das mal!“, so die Wachgruppenleiterin. Alle
wissen, dass ich bei der Schutzpolizei noch nie solch eine Anzeige aufgenommen
habe. In diesem Handlungszwang vernehme ich die junge Frau so einfühlsam und
kompetent, wie ich nur kann: befrage sie zu Details und schreibe alles auf, denn für
spätere Ermittlungen und die Beweisführung muss alles hieb- und stichfest
aufgenommen werden. So dauert die Vernehmung mehrere Stunden.

Als ich anschließend die Wachgruppenleiterin frage, ob ich weitere Maßnahmen
ergreifen soll, antwortet sie: „Schnittlauch, wenn du so weitermachst, kommst du zu
nichts. Wie langsam du bist! Werd‘ endlich fertig und sieh zu, wie du klar kommst“.
Ich fahre dann mit dem Opfer ins Krankenhaus, um die erforderlichen
Untersuchungen durchführen zu lassen und fühle mich schuldig. Denn durch mein
langes Verhör musste die Frau unnötiger Weise länger leiden als vielleicht
erforderlich gewesen wäre. Bei der Kripo erschwert fortan nicht meine
Weiblichkeit, sondern meine polizeiliche Herkunft die gesamte Praktikumszeit.

Doch auch hier kommt Aufgeben nicht in Frage. Ich beiße die Zähne zusammen und
stehe auch diese neue Herausforderung durch. Durch meine kumpelhafte Art und
erneut viele Gespräche und Hilfsbereitschaft finde ich auch hier Verbündete. Wieder
lerne ich dazu und zeige, dass ich eine wertvolle Kollegin bin. Das bewährt sich auch
in den verschiedenen kriminalpolizeilichen Fachbereichen, in denen ich im Anschluss
tätig bin. So kann ich mich auch bei der Kripo behaupten und gehe einige Zeit später
nach erfolgreichem Test ins Studium für den gehobenen Dienst.
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An Herausforderungen wachsen
Anders zu sein und neue Wege gehen zu wollen ist in einer Männerdomäne leichter
gesagt als getan. Ich bin daran gewachsen und darauf bin ich stolz. In meinen fast 40
Jahren Polizeidienst und davon nebenberuflichen 15 Jahren Selbständigkeit als
Coach und Trainerin habe ich viel gesehen, viel erlebt und viel erreicht. Aber am
meisten gelernt.

Als Frau musste ich oft doppelt so viel leisten, um anerkannt zu werden. Hier hat mir
mein festes Ziel, mich nicht unterkriegen zu lassen, eine gute Polizistin zu werden
und in scheinbar ausweglosen Situationen Lösungen zu finden, sehr geholfen. Gute
und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und diese zu pflegen, die ständige
Erweiterung meiner Kompetenzen, ein offenes Ohr anderen gegenüber und
Ehrlichkeit haben mich Tiefen überstehen und Höhen erleben lassen.

Meine Erfahrungen und Qualifikationen ermöglichen mir, 2013 die
Führungskräfteentwicklung der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen in den
Soft-Skills mit aufbauen zu dürfen. Durch die Leitung des Gesundheitsmanagements
in einer Polizeiinspektion darf ich weiteren Einfluss auf Führungskräfte, Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen nehmen. Ähnlich läuft es in meiner Nebentätigkeit im
„Premium- Coaching“ und „Mord-im-Seminar“. Hier erzielen Unternehmer und
Unternehmerinnen schnelle Resultate, weil wir hier sehr tief in ihre
Herausforderungen gehen und hochwirksame Möglichkeiten in Kommunikation,
Mitarbeiterführung, Verhandlungsführung und Selbsterkenntnis erarbeiten.

An jeder Hürde, die mir das Leben bot, bin ich gewachsen, habe neue Fähigkeiten
entwickelt und nie meine Ziele aus den Augen verloren. Das können auch andere,
denn Mut ist kein angeborenes Talent, sondern viel mehr ein Muskel, der immer
etwas größer wird, je häufiger wir ihn nutzen.

Anmerkung der Autorin: Alle Namen und Orte wurden bewusst verändert.

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