Zugang zu Bildung unabhängig vom Aufenthaltsrecht
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Zugang zu Bildung unabhängig vom Aufenthaltsrecht
Vorwort Meiner Erfahrung nach findet nirgendwo rascher Integration statt als im Klassenzimmer einer öffentlichen Schule. Je früher der Bil- dungszugang ermöglicht wird, desto schneller erfolgt die Eingliederung junger neu Ankommenden in die Gesellschaft. Daher sollten die Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass alle junge Menschen, ohne Unterscheidung nach Herkunft oder aufenthaltsrechtlichem Status, über die gleichen Chancen im Bildungssystem verfügen. Eine nachhaltig gelungene «Integration» kommt nicht von heute auf morgen zustande. Der Begriff ist interpretationsbedürftig und er lässt sich nicht in wenigen Sätzen beschreiben. So einen komplexen Begriff sollte man auch nicht einzig in zeitlicher Hinsicht betrachten. Ich spreche über die Integration als eine Herangehensweise und weniger als ein Endzustand. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass Integration erst dann stattfindet, wenn sowohl die neu Ankommenden als auch die bereits hier lebenden Menschen bereit sind, sich an diesem Prozess zu beteiligen. In erster Linie muss man ein gemeinsa- mes Begriffsverständnis schaffen. Darauf basierend können mit Hilfe der jungen Menschen Integrationsmassnahmen entwickelt werden. Nur wenn beide Seiten die Erwartungen der anderen kennen und verstehen, können sie versuchen, diese zu erfüllen. Ein Grund, dass diese Kooperation zwischen beiden Seiten nicht Impressum zustande kommt, ist oftmals der Mangel an gegenseitigem Vertrauen. Und genau an dieser Stelle kommt dem Bildungszugang eine entschei- Herausgeberin © 2021 Schweizerische Beobachtungsstelle dende Rolle zu: Um erstmals Vertrauen zu schaffen. Eine Teilhabe für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) am öffentlichen Bildungssystem fördert Kompetenzen der jungen Autor Tobias Heiniger Menschen, vermittelt ihnen das hiesige Wertesystem und schafft Konzept Noémi Weber, Ruth-Gaby Vermot, Christoph Reichenau erste Begegnungen zwischen den einheimischen und neu ankommen- den Jugendlichen. Redaktion Noémi Weber, Yael Hecke Übersetzung Karin Vogt B.J. Geboren 1997, lebt seit rund 10 Jahren in der Schweiz Illustrationen Zoya Mahallati (KreativAsyl) Gestaltung Paola Moriggia (grafik & webdesign; www.moriggia.ch) Druck AST & FISCHER AG, Bern Auflage 1000 Exemplare Deutsch / 500 Exemplare Französisch Kontakt Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Hallerstrasse 58, 3012 Bern Tel: 031 381 45 40 info@beobachtungsstelle.ch www.beobachtungsstelle.ch 2 3
Résumé Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) hat für den vorliegenden Fachbericht Einzel- Der gleichberechtigte Zugang zu Bildung ist eine elementare fälle aus allen Stufen des Bildungssystems und aus verschiedenen Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. Während er beim Grund- Landesteilen dokumentiert. Die Fülle an formaler und non-formaler schulunterricht rechtlich eingefordert werden kann, ist er im nachobli- Bildung, welche die jungen Menschen mitbringen, spiegelt sich in den gatorischen Bereich bis anhin eine politische Zielvorgabe. Jugendliche Dokumentationen wider. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen und junge Erwachsene, die nicht in der Schweiz aufwachsen, treffen einen Beitrag dazu leisten, die Fähigkeiten und Vorbildung der jungen im gesamten Bildungssystem auf besondere Hindernisse. Der Zugang Menschen im Interesse der Gesamtgesellschaft anzuerkennen und zu zu Bildung ist insbesondere für Asylsuchende, vorläufig Aufgenomme- nutzen. ne oder Personen ohne Bleiberecht rechtlich und praktisch erschwert. Während eines Asylverfahrens ist der Zugang zu Bildung – trotz Neuerungen wie Grundschulunterricht in Bundesasylzentren und früh- zeitiger Sprachförderung – nach wie vor stark eingeschränkt. Minder- jährige erhalten nicht überall umfassenden Unterricht und Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren werden oft ganz ausgeschlossen. Bei jungen Erwachsenen wird zu wenig Gewicht auf die Nutzung bereits vorhandener Kompetenzen gelegt. Ausserdem wird zu einseitig auf die sprachliche statt auf eine allgemeinbildende Förderung gesetzt. Im Bereich der Grundschule werden Kinder oft zu lange separat in Aufnahmeklassen beschult. Die schrittweise Inklusion in Regelklassen findet zu zögerlich statt und es fehlt stellenweise an einer fachlich kompetenten Aufsicht durch die Bildungsbehörden. Für Jugendliche ab 16 Jahren gibt es zwar eine Vielzahl von integrationsorientierten Bildungsangeboten. Das verfassungsmässige Recht dieser Altersgrup- pe auf einen ihrem Alter angemessenen Umfang des Unterrichts wird dabei aber regelmässig verletzt. Auf der Ebene der nachobligatorischen Bildung ist der Zugang zu Bildung nur bis zu einer gewissen Stufe gewährleistet und bestimm- te Menschen werden kategorisch ausgeschlossen. Die viel besunge- ne Durchlässigkeit des dualen Bildungssystems ist für Personen mit ausländischen Abschlüssen und fehlenden Unterstützungsnetzwerken nicht gegeben. Der Bildungsweg für Jugendliche und junge Erwach- sene ohne Bleiberecht ist nach Abschluss rein schulischer Bildungs- angebote faktisch zu Ende. Es bestehen derzeit keine praktikablen Instrumente, um diesen jungen Menschen eine Perspektive zu bieten. Schliesslich gibt es soziale Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Bildung hemmen oder fördern. Die Wohnsituation in Kollek- tivunterkünften und der knappe finanzielle Grundbedarf stellen für viele eine zusätzliche Schwierigkeit dar. Wenn Familien durch Flucht oder fehlende finanzielle Mittel getrennt sind und Reisen ins benachbarte Entfaltung Ausland nicht möglich sind, ist dies auch schädlich für den Lernfort- schritt. Zudem führen fehlende Kontinuität und Verbindlichkeit in der Begleitung und Unterstützung zu Brüchen in der Aus- und Weiter Zu den Bildern bildung. Die Illustrationen in diesem Bericht stammen von Zoya Mahallati. Sie bringen ihre Sicht auf die Themen Bildung und persönliche Entwicklung zum Ausdruck. Die Motive zeigen junge Menschen mit Kompetenzen, Potenzial und Wille 4 aber auch mit Schwächen, Bürden und Ängsten. 5
Inhalt Vorwort 3 Résumé 4 1 Einleitung 8 2 Aufenthaltsstatus und Bildungsstufen 9 3 Zahlen und Fakten 10 4 Recht auf Zugang zu Bildung 11 4.1 Grundschule 11 4.2 Sekundarstufe II 12 4.3 Tertiäre Bildung 13 4.4 Weiterbildung 14 4.5 Exkurs Integrationsagenda 14 5 Zugang zu Bildung während des Asylverfahrens 16 5.1 Grundschule für Minderjährige in Bundesasylzentren 16 5.2 Erhebung von Bildungsstand und Kompetenzen 18 5.3 Bildung im erweiterten Asylverfahren 20 6 Obligatorische Bildung 22 6.1 Alter zum Zeitpunkt der Einschulung 22 6.2 Aufnahmeklassen: Inklusion und fachliche Aufsicht 23 7 Nachobligatorische Bildung 25 7.1 Durchlässigkeit des Bildungssystems und Finanzierung 25 des Hochschulstudiums 7.2 Bildung von Personen ohne Bleiberecht 28 7.2.1 Berufliche Grundbildung nach vorherigem Schulbesuch 28 7.2.2 Bildung von abgewiesenen Asylsuchenden 32 8 Soziale Erfolgsfaktoren 36 8.1 Familieneinheit und Bewegungsfreiheit 36 8.2 Finanzieller Grundbedarf und Wohnsituation 38 8.3 Kontinuität und Zuständigkeit der Begleitung 39 9 Empfehlungen 41 Dank 45 Abkürzungen 46 Literatur 47 6 7
1 Einleitung 2 Aufenthaltsstatus und Bildungsstufen Der chancengerechte Zugang zu Bildung ist ein zentrales Ziel Zum besseren Verständnis der in diesem Fachbericht ver- der Schweizer Bildungspolitik. Auf allen Bildungsstufen sollen Kinder, wendeten Begriffe werden die wichtigsten Stufen des schweizeri- Jugendliche und junge Erwachsene die gleichen Bildungschancen schen Bildungssystems 9 und die verschiedenen Aufenthaltsstatus erhalten. 95 Prozent aller 25-Jährigen in der Schweiz sollen über einen im Folgenden vereinfacht erklärt.10 Abschluss auf Sekundarstufe II verfügen – das heisst, zum Beispiel eine Berufslehre oder eine Matura abschliessen.1 Dieses ambitionierte Ziel soll in den Regelstrukturen des Bildungs- Bildung Aufenthalt wesens erreicht werden. Es gilt auch für Personen, die erst als Ju- Grundschule (obligatorische Personen ohne Bleiberecht gendliche oder junge Erwachsene in die Schweiz kommen.2 Für die Bildung) (Sans-Papiers) spezifische Förderung dieser Zielgruppe gibt es im Rahmen der Inte- Kindergarten, Primarschule und Menschen, deren Asylgesuch abge- grationspolitik zusätzliche finanzielle Mittel.3 Von den jungen Menschen, Sekundarstufe I. Etwa ab 4 Jahren, lehnt wurde, deren Visum abgelaufen die in die Schweiz geflüchtet sind, sollen mithilfe dieser Mittel zwei dauert zehn bis elf Jahre. ist, oder die nie über einen Aufent- Drittel aller Bleibeberechtigten zwischen 16 und 25 Jahren fünf Jahre Brückenangebote haltstitel verfügt haben. nach ihrer Einreise eine berufliche Grundbildung absolvieren.4 Übergangsangebote zur Vorbereitung Asylsuchende (Status N) Der Unterschied zwischen hier geborenen Schweizer:innen und im der beruflichen Grundbildung, wie Menschen, die ein Asylgesuch gestellt Ausland geborenen Migrant:innen beim Abschluss der Sekundarstufe z. B. ein 10. Schuljahr. Etwa ab haben und deren Asylverfahren noch II ist dennoch weiterhin frappant: Schweizer:innen erreichen das Ziel 16 Jahren, dauert ein Jahr. nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. mit 93 Prozent erfolgreichen Abschlüssen fast. Migrant:innen sind mit Sekundarstufe II (nachobligatorische Vorläufig Aufgenommene (Status F) 77 Prozent erfolgreichen Abschlüssen weit davon entfernt.5 Jede:r Bildung) Menschen, deren Rückkehr in ihr fünfte nicht in der Schweiz geborene Migrant:in hat keinen Lehr- oder Berufsbildung (Lehre), berufliche Herkunftsland nicht möglich, nicht Schulabschluss. Auch im internationalen Vergleich liegt die Schweiz bei oder schulische Maturität. Etwa ab zumutbar oder nicht zulässig ist. der Bildung für Migrant:innen bloss im Mittelfeld.6 16 Jahren, dauert drei bis vier Jahre. Aufenthaltsbewilligung (Status B) Es ist offensichtlich, dass es – trotz aller Bemühungen – viel Raum Tertiäre Bildung Menschen, die wegen ihrer Flucht- für Verbesserungen gibt. Im vorliegenden Fachbericht beleuchtet die Studium an einer Fachhochschule oder gründe als Flüchtlinge anerkannt sind. Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Universität. Auch mittels Passerelle Oder Menschen, die aufgrund einer (SBAA) ausgewählte Themenkomplexe und formuliert Empfehlungen erreichbar, dauert drei bis acht Jahre. Ehe oder eingetragenen Partnerschaft, zugunsten eines Zugangs zu Bildung – unabhängig vom Aufenthaltssta- aufgrund von familiären Beziehungen Weiterbildung tus. Dabei stehen Menschen im Fokus, die als Jugendliche oder junge oder aufgrund ihrer Erwerbstätig- Alle Formen von Bildung für Erwachsene in die Schweiz eingereist sind. Die SBAA hat einige ihrer keit ein gesichertes Aufenthaltsrecht Erwachsene. Dauert ein Leben lang. haben. Bildungsbiografien aufgearbeitet und dokumentiert. Dieser Fachbericht wurde während der COVID-19-Pandemie verfasst.7 In einer Zeit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Un- sicherheit kommt dem chancengerechten Zugang zu Bildung eine Die zitierten Webseiten wurden allesamt am 30. Juni 2021 zuletzt aufgerufen. Die digitale Version des Berichts mit aktiven Links ist unter www.beobachtungsstelle.ch verfügbar. besondere Bedeutung zu.8 Alle Menschen müssen – unabhängig von ihrer Herkunft und von ihrem Aufenthaltsstatus – befähigt werden, 1 EDK und WBF, Erklärung zu Nr. 215, S. 21 ff., 2020. tionsbereich, terra cognita 37, selbstbestimmt am wirtschaftlichen und sozialen Leben in der Schweiz den gemeinsamen bildungs- 3 Art. 58 Abs. 5 AIG und 2021, S. 70 ff. politischen Zielen für den Art. 12 Abs. 1 Bst. g VIntA. 8 SKOS, Aktuelle Lage und teilhaben zu können. Bildungsraum Schweiz, 2019. 4 SEM, «Schweizer Integrations- zukünftige Herausforderunge 2 Art. 54 lit. a AIG. Siehe auch politik», 2021. für die Sozialhilfe, Analysepapier, Spescha: Kommentar Migra- 5 BFS, «Sekundarstufe II: 2021, S. 9. tionsrecht, N 1 zu Art. 54 AIG. Abschlussquote», 2018. 9 Für eine grafische Darstellung Auf die Zuschreibung «spätzu- 6 Migrant Integration Policy Index siehe EDK, Das Bildungssystem gewanderte Jugendliche» wird (MIPEX) 2020, Education. Schweiz, 2019. im vorliegenden Fachbericht 7 Für einen kompakten Abriss zu 10 Für einen Überblick über die bewusst verzichtet. Siehe dazu den Auswirkungen der Pande- Statusrechte aus asylrechtlicher Kathrin Oester: Das Konstrukt mie auf die Bildungssituation Perspektive siehe SFH, Über- des «spät zugewanderten» siehe Inés Mateos: Ein Wettlauf sicht über asylrechtliche Jugendlichen, in: Bildung für gegen die Zeit., in: Corona: Ausweise und die wichtigsten 8 Geflüchtete, vpod bildungspolitik Auswirkungen auf den Migra- Statusrechte, 2020. 9
3 Zahlen und Fakten 4 Recht auf Zugang zu Bildung Eine möglichst frühe Förderung von Kindern und eine inklusive Verschiedene völkerrechtliche Verträge enthalten ein Recht auf Ausgestaltung der Grundschule werden oft als Schlüssel für eine chan- Bildung.17 Die obligatorische Bildung (der Grundschulunterricht) ist ein cengerechte Bildung bezeichnet.11 Der vorliegende Fachbericht fokus- Recht jeder einzelnen Person. Die weiterführende Bildung ist bis heute siert auf Jugendliche und junge Erwachsene. Die Statistiken zeigen, eher ein politisches und soziales Ziel. Die völkerrechtlichen Grundlagen dass auch in Bezug auf diese Altersgruppe Handlungsbedarf besteht. verlangen dabei aber die Gleichbehandlung aller Menschen und ver- bieten Diskriminierung.18 Die Frage des vorliegenden Berichts ist daher Grundschule M igrant:innen besuchen in der Grundschule überproportional Klassen stets, ob ein für alle gleichberechtigter Zugang zu den in der Schweiz mit tieferen Anforderungen.12 Damit haben sie schlechtere Vorausset- vorhandenen Bildungsstrukturen besteht. zungen für den Übergang in die weiteren Bildungsstufen oder in den Arbeitsmarkt. 4.1 Grundschule Auch die Kinderrechtskonvention der UNO (KRK) enthält ein Recht Sekundarstufe II V ielen jungen Migrant:innen gelingt der direkte Übertritt von der auf Bildung. Des Weiteren erwähnt sie bildungspolitische Ziele.19 Das Grundschule in die Sekundarstufe II nicht. Fast ein Drittel aller jungen in der KRK enthaltene Recht auf Bildung besteht insbesondere aus Menschen, die nicht in der Schweiz geboren sind, besucht ein dem unentgeltlichen Besuch der Grundschule. Es gilt für alle, unabhän- Brückenangebot.13 gig von ihrem Aufenthaltsstatus.20 Auch Jugendliche im Alter zwischen Grosse Unterschiede bestehen auch bei Abbrüchen vor Abschluss 16 und 18 Jahren können sich darauf berufen.21 der Sekundarstufe II: Jede:r achte Migrant:in der ersten Generation Das Recht auf Grundschulunterricht ist auch in der Bundesver- zwischen 18 und 24 Jahren gibt an, eine nachobligatorische Ausbildung fassung verankert. Dies ist wichtig, da das Bundesgericht die direkte abgebrochen zu haben. Diese Quote ist doppelt so hoch wie diejenige Anwendbarkeit des Rechts auf Bildung aus Verträgen der UNO und der von Gleichaltrigen.14 KRK in der Schweiz verneint.22 Laut Bundesverfassung ist es jedoch ein soziales Grundrecht, mindestens neun Jahre die Schule besuchen Tertiäre Bildung Bei Migrant:innen der ersten Generation ist der Anteil an Personen mit zu dürfen.23 Dieses kann vom Individuum eingefordert werden. Gleich- einem Hochschulabschluss, die für ihre aktuelle Arbeit überqualifiziert zeitig begründet die Bundesverfassung ein Obligatorium: Das heisst, sind, sehr hoch. Rund ein Fünftel verfügt über eine tertiäre Ausbildung, dass sich Kinder einem Besuch der Grundschule nicht entziehen arbeitet aber in Berufen, die nicht einem solchen Abschluss entspre- können und deren Eltern dafür sorgen müssen, dass sie in die Schule chen.15 gehen.24 Das Recht auf Grundschulbildung gilt unbestrittenermassen für Weiterbildung E ine grosse Zahl der Erwachsenen in der Schweiz verfügt – unabhän- alle Kinder, unabhängig von ihrem Aufenthaltsrecht in der Schweiz.25 gig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus – nicht über die Vorausset- Da die Bundesverfassung keine altersmässige Einschränkung vorsieht, zungen, um vollumfänglich an der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt besteht ein Anspruch bis zum 18. Geburtstag, weil eine Person recht- teilhaben zu können. Die Bevölkerungsgruppe im erwerbsfähigen Alter, die Mühe mit Lesen hat, wurde bei der letzten umfassenden Erhebung vor 15 Jahren in der Schweiz auf circa 800‘000 Personen geschätzt.16 11 Siehe dazu z. B. EDK (Hrsg.), 17 So z. B. Art. 26 der Allgemeinen tion mit Zusatzprotokollen, Hand- Ähnliches gilt für Kompetenzen in Mathematik und für Computer Equity – Diskriminierung und Erklärung der Menschen- kommentar, N 9 zu Art. 28/29. Chancengerechtigkeit im rechte, Art. 13 des Pakts über 21 Ibid., N 35 zu Art. 28/29; zum kenntnisse. Bildungswesen, 2015. wirtschaftliche, soziale und formellen Schutzbereich siehe 12 SKBF: Bildungsbericht Schweiz kulturelle Rechte (UNO-Pakt I), hingegen Früh: Die UNO-Kinder- 2018, S. 34. Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls rechtskonvention [..], S. 56 f. 13 BFS, «Übergang von der Sekun- zur Europäischen Menschen- 22 Biaggini: Kommentar BV, darstufe I in die Sekundarstufe rechtskonvention (EMRK), Art. 2. Titel, N 2 zu Art. 19. II», 2018. 14 der Charta der Grundrechte 23 Gemäss HarmoS-Konkordat 14 BFS, «Frühzeitige Schulab der Europäischen Union sind es 11 Jahre. Verfassungs- gänger/innen», 2019. (2000/C 364/01) oder Art.14 rechtlich garantiert sind jedoch 15 BFS, «Übereinstimmung der Aufnahmerichtlinie der EU mindestens neun Jahre. Siehe Bildungsniveau und ausgeübte (2013/33/EU). Biaggini: Kommentar BV, Tätigkeit», 2019. 18 Siehe beispielhaft Günther: 3. Titel, N 6 zu Art. 62. 16 BFS, Lesen und Rechnen im Die Auslegung des Rechts auf 24 Ibid. Alltag, Grundkompetenzen von Bildung [..], S. 321 f. 25 Siehe Biaggini: Kommentar BV, Erwachsenen in der Schweiz, 19 Art. 28 und 29 KRK. 2. Titel, N 6 zu Art. 19. 10 2006, S. 6. 20 Schmahl: Kinderrechtskonven- 11
lich gesehen bis zu diesem Zeitpunkt als Kind gilt.26 Die Schulpflicht eine Mittelschule besucht. Für Jugendliche, die erst nach ihrem hingegen gilt in den meisten Kantonen nur bis zum 16. Geburtstag. 16. Geburtstag in die Schweiz kommen, ist der Zugang noch schwieri- Kinder zwischen 16 und 18 Jahren müssen also nicht mehr in die ger, weil Jugendliche in der Schweiz das Gymnasium in diesem Alter Grundschule gehen und im Umkehrschluss auch nicht dort beschult üblicherweise bereits begonnen haben.36 werden. Trotzdem haben sie einen Anspruch auf einen umfassenden, ihrem Alter entsprechenden Unterricht. In einem Bereich wird das 4.3 Tertiäre Bildung Recht auf Grundschulunterricht in der Bundesverfassung explizit über Gemäss den in der Schweiz geltenden rechtlichen Grundlagen die Volljährigkeit hinaus ausgedehnt: Die Bundesverfassung schreibt besteht kein Anspruch auf ein Studium an einer Universität oder einer den Kantonen vor, dass Kinder mit Behinderung bis zum 20. Geburts- Fachhochschule – weder auf dessen Finanzierung noch auf die Zu- tag gemäss ihren Bedürfnissen beschult werden müssen.27 lassung zur Hochschule.37 Die Bundesverfassung beinhaltet zwar einen Artikel zu den Hochschulen,38 doch dieser erwähnt keinen Anspruch 4.2 Sekundarstufe II auf unbeschränkten Zugang zu denselben.39 Konventionen wie die KRK, die Europäische Grundrechtscharta Der Aufenthaltsstatus ist jedoch kein ausschlaggebendes Element, und der UNO-Pakt I über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen um jemandem den Zugang zur tertiären Bildung zu verwehren. Auch Rechte28 kennen eine weite Definition des Rechts auf Bildung.29 Sie für Menschen, die erst als Jugendliche oder junge Erwachsene in die erweitern das Recht auf Grundschulunterricht um weitere, sogenannt Schweiz kommen, besteht also die Möglichkeit, ein Studium aufzu- nachobligatorische Bildungsangebote. Dabei tauchen Begriffe wie nehmen.40 Da diese jedoch oft weder über eine anerkannte Maturität «weiterführende Schulen» und «Berufsbildung» auf. Die internatio- noch über die finanziellen Mittel verfügen, ist der Zugang zu einer nalen Verträge bleiben aber zu wenig konkret, um einen individuellen Universität oder Fachhochschule in der Praxis faktisch oft nicht ge- Anspruch zu begründen. Vielmehr handelt es sich um Absichtserklärun- währleistet. Ausländische Diplome werden häufig nicht anerkannt, die gen. Dennoch können und sollen sie dazu dienen, die Ziele des staat- Zulassungskriterien sind unflexibel und nicht alle haben die gleichen lichen Handelns zu leiten. Auch das schon erwähnte bildungspolitische Möglichkeiten, ein Studium zu finanzieren. Das macht die Lage bezüg- Ziel eines Abschlusses auf Sekundarstufe II (fast) aller Personen ist in lich der Frage, wie offen zugänglich die Hochschulen effektiv sind, sehr diesem Licht zu betrachten. unübersichtlich. Deshalb fordert eine Gruppe studentischer Geflüch- Der Bund erlässt gemäss Bundesverfassung Vorschriften zur teter – gemeinsam mit Studierenden von schweizerischen Hochschu- Berufsbildung.30 Aus diesem Auftrag sind das Berufsbildungsgesetz len – mehr Informationen und eigens für die Thematik eingerichtete und die dazugehörige Verordnung entstanden.31 Darin ist ein Ziel zur Anlaufstellen.41 Förderung der Chancengleichheit und Integration von Ausländer:in- Besonders erwähnenswert ist im vorliegenden Kontext schliess- nen festgeschrieben.32 Zudem müssen die Kantone Massnahmen lich die Ergänzungsprüfung ECUS, die beim Hochschulzugang oft eine ergreifen, um Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende Rolle spielt.42 Diese muss von Personen abgelegt werden, die über der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorzube- eine in der Schweiz nicht anerkannte ausländische Maturität verfügen. reiten.33 Diese beiden Punkte finden ergänzende Unterstützung in der Während diese Prüfung früher subventioniert war und deren Vorbe- 2019 lancierten Integrationsagenda (siehe Kapitel 4.5). Im vorliegenden reitung an einer öffentlichen Universität stattfand, ist sie heute privat Kontext muss schliesslich in Erinnerung gerufen werden, dass die organisiert.43 Antreten darf nur, wer von einer Hochschule angemeldet Berufsbildung neben dem schulischen Aspekt stets praktische Teile beinhaltet. Da diese – ausser bei berufsvorbereitenden Angeboten 26 Siehe auch Früh: Die UNO- 31 Verordnung über die Berufs- in der Schweiz, S. 4. Kinderrechtskonvention [..], S. bildung, BBV, SR 412.101. 38 Art. 63a BV. – immer mit einer Arbeitserlaubnis einhergehen, sind sie gewissen 82 f. und 127 f.; und Aeschli- 32 Art. 3 lit. c BBG. 39 Biaggini: BV Kommentar, Personengruppen kaum zugänglich.34 mann-Ziegler: Der Anspruch 33 Art. 12 BBG. 3. Titel, N 4 zu Art. 63a. auf ausreichenden und unent- 34 Kurt: Der Zugang zu Bildung 40 Kurt: Der Zugang zu Bildung In Bezug auf gymnasiale Maturitätsschulen, Fachmittelschulen und geltlichen Grundschulunterricht für geflüchtete Personen in der für geflüchtete Personen in der weitere schulische Angebote kann hinsichtlich des formellen Zugangs [..], S. 188. Schweiz, S. 231. Schweiz, S. 229. 27 Aeschlimann-Ziegler: Der 35 SKBF: Bildungsbericht Schweiz 41 Perspektiven – Studium, grundsätzlich auf Kapitel 4.1 verwiesen werden. Diese Angebote Anspruch auf ausreichenden 2018, S. 193. Forderungen der Arbeitsgruppe und unentgeltlichen Grund 36 Zur Frage der praktischen «Integration durch Bildung», stehen allen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, offen. Es stellt sich schulunterricht [..], S. 32 ff. Möglichkeit der Erwachse- Chancengerechter Hochschul- aber die Frage des effektiven, praktischen Zugangs. Schon für Mig- 28 Allgemeine Bemerkung nenmaturität siehe Fall 387, zugang für Geflüchtete, 2021. Nr. 13 des UNO-Ausschusses «Justin». 42 ECUS – Examen Complémen rant:innen, die in der Schweiz die ganze oder Teile der Grundschule für wirtschaftliche, soziale 37 Perspektiven – Studium, taire des Hautes Écoles Suisses. besucht haben, ist die Hürde ins Gymnasium einzutreten recht hoch.35 und kulturelle Rechte, 1999. Stipendienbericht 2019 – Die 43 VSS, Positionspapier Hoch- 29 Siehe Fussnote 17. stipendienrechtliche Situation schulzugang für studentische 12 So beeinflusst zum Beispiel der Bildungsgrad der Eltern, ob jemand 30 Art. 63 BV. studentischer Geflüchteter Geflüchtete, 2017. 13
wird. Die Finanzierung der Prüfungsgebühren und eines allfälligen sie richten. Dies wird sich in naher Zukunft aber voraussichtlich ändern: Vorbereitungskurses ist Sache der potenziellen Studierenden. All dies So wird zum Beispiel mittlerweile die Integrationsvorlehre auch für erschwert den Zugang zur Hochschulbildung zusätzlich. diese Personengruppe angeboten.55 Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) des Ständerates hat zudem eine Motion 4.4 Weiterbildung lanciert, um genau diese Lücke der Integrationsagenda zu füllen.56 Weiterbildung wird als Teil des lebenslangen Lernens definiert.44 Weiterbildung im Sinne des Bundesgesetzes über die Weiterbildung Für den vorliegenden Fachbericht sind insbesondere folgende (WeBiG) bedeutet: strukturierte Bildung ausserhalb der formalen, Bereiche und Ziele der Integrationsagenda unmittelbar relevant: staatlich geregelten Bildung.45 Weiterbildung soll jedoch an die formale Bildung anrechenbar sein und zu anerkannten Abschlüssen führen.46 • Potenziale erkennen: Es soll systematisch abgeklärt werden, über Die Voraussetzung zur Teilnahme an Weiterbildung sind gewisse welche Fähigkeiten die Menschen bereits verfügen. Möglichst kurz Grundkompetenzen. Als solche gelten Lesen, Schreiben und die nach dem Asylentscheid sollen deshalb Potenzialabklärungen statt mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer Landessprache sowie Grund- finden.57 kenntnisse der Mathematik und der Anwendung von Informations- und • Sprache: Drei Jahre nach der Einreise sollen alle über für den Alltag Kommunikationstechnologien.47 Diese Kompetenzen entsprechen genügende Sprachkenntnisse verfügen. Dafür werden Sprachkurse dem, was Schüler:innen am Ende der obligatorischen Schule wissen und andere Bildungsangebote gefördert.58 und können sollten. Bund und Kantone ermöglichen Erwachsenen den • Bildung: Für Menschen, die als «ausbildungsfähig» gelten, ist nach- Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen.48 haltige Bildung einer möglichst raschen Erwerbstätigkeit vorzuziehen. Der Erwerb von Grundkompetenzen und die daran anschliessende Dies gilt insbesondere für Geflüchtete zwischen 16 und 25 Jahren, Weiterbildung bieten also eine zweite Bildungschance für alle. Um von denen nach fünf Jahren zwei Drittel eine nachobligatorische die Chancengleichheit zu verbessern, wird die Integration von Aus- Ausbildung absolvieren sollen.59 länder:innen im Gesetz explizit als Ziel der staatlichen Bestrebungen • Fallführung: Vom Zeitpunkt der Einreise an sollen die Personen in in diesem Bereich genannt.49 Gemäss der Verordnung zum Weiter- ihrem auf sieben Jahre ausgelegten Integrationsprozess gezielt und bildungsgesetz müssen zudem die Förderung der Grundkompetenzen durchgehend begleitet werden.60 und die Integration koordiniert werden.50 Die Gesetzgebung in Bezug auf Weiterbildung ist somit ein vielversprechender Ausgangspunkt für die Förderung junger, erwachsener Migrant:innen. 4.5 Exkurs Integrationsagenda Die Integration hat in der Schweizer Migrationsinnenpolitik in den letzten Jahren stets an Bedeutung gewonnen. Davon zeugt auch die Umbenennung des ehemaligen Ausländer:innengesetzes in Auslän- der:innen- und Integrationsgesetz. In erster Linie soll Integration in den Regelstrukturen erfolgen, die für alle zugänglich sind – wie die öffent- 44 Art. 1 Abs. 1 WeBiG. Bericht der Koordinationsgrup- Motion 21.3964. Siehe auch lichen Schulen, die Berufsbildung und der Arbeitsmarkt.51 Bund und 45 Art. 3 WeBiG. pe, 2018. Im Jahr 2020 wurde Büro BASS: Auslegeordnung 46 Art. 7 WeBiG. das Finanzierungssystem auf zu spät zugewanderten Jugend- Kantone fördern die wirtschaftliche und soziale Teilhabe von anerkann- 47 Art. 13 Abs. 1 WeBiG. Fehlanreize untersucht und soll lichen und jungen Erwachsenen 48 Art. 13 bis 16 WeBiG. nun angepasst werden, um den an der Nahtstelle I. ten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen zudem spezifisch. 49 Art. 8 lit. c WeBiG. Anreiz für eine Berufsbildung 57 Berner Fachhochschule BFH Seit dem Jahr 2019 geschieht dies unter dem Begriff «Integrations- 50 Art. 9 Abs. 3 der Verordnung bei Jugendlichen und jungen in Zusammenarbeit mit social über die Weiterbildung Erwachsenen zu verstärken. design ag und AOZ Zürich, agenda»52 und mittels einer Integrationspauschale von 18‘000 CHF (WeBiV, SR 419.11). Siehe dazu Bundesrat, Potenzialabklärung bei Flüchtl pro Person.53 Asylsuchende profitieren kaum von dieser Förderung,54 51 Art. 54 AIG, siehe auch SEM, «Integrationsagenda Schweiz: ingen und Vorläufig Aufgenom- Rundschreiben Kantonale Projektphase abgeschlossen menen, Erläuterungen des Personen ohne Bleiberecht gar nicht. Integrationsprogramme KIP und Vernehmlassung für neue Vorgehens und Leitfäden der 2022–2023 inkl. Integrations- Finanzierung eröffnet», 2021. Instrumente, S. 6 ff. Jugendliche und junge Erwachsene ausserhalb des Asylbereichs, agenda Schweiz IAS (KIP 2bis), 54 Siehe dazu Kapitel 5.3. 58 SEM, SBFI, KdK, EDK, SODK, die aufgrund einer Ehe, einer eingetragenen Partnerschaft oder fami- 2020, Ziff. 5.1, S. 8. 55 SEM, «Integrationsvorlehre Faktenblatt – Die Integrations- 52 Für einen Überblick siehe SEM, (INVOL)», 2021. agenda kurz erklärt, 2018, S. 1. liären Beziehungen in die Schweiz kommen, sind nicht explizit aus- «Integrationsagenda Schweiz 56 WBK-S, Lücken in der 59 Ibid. geschlossen. Da der Bund in ihrem Fall jedoch keine Integrationspau- (IAS)», 2019. Integrationsagenda füllen – 60 SEM und KdK, Anhang 4: 53 EJPD, WBF, KdK, EDK, SODK, Chancengerechtigkeit für alle Empfehlungen zur Umsetzung 14 schale bezahlt, ist es Sache der Kantone, ob sich die Angebote auch an Integrationsagenda Schweiz, Jugendlichen in der Schweiz, der IAS, 2018, S. 2. 15
5 Zugang zu Bildung während des Asylverfahrens schulunterrichts sowie die Erstellung der Konzepte und Lehrpläne Sache der Kantone.63 Der Bund – agierend durch das Staatssekretariat Seit 2019 werden die Asylverfahren in der Schweiz beschleunigt für Migration (SEM) – finanziert diesen Unterricht mit und hat dazu mit und in Bundesasylzentren in allen Landesteilen durchgeführt.61 Da die den Kantonen entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen. Fluchtgeschichte gewisser Menschen nicht innert kurzer Zeit beurteilt Der garantierte Grundschulunterricht in den BAZ seit 2019 stellt werden kann, gibt es neben dem beschleunigten noch das erweiterte eine wesentliche Verbesserung im Vergleich zur vorherigen Situation Asylverfahren.62 Dieses dauert etwas länger und die Personen halten dar, zumal dieser in den ehemaligen Empfangs- und Verfahrenszentren sich währenddessen meist in Kollektivunterkünften in den Kantonen nicht gewährleistet war. So hebt die Nationale Kommission zur Ver- auf. Im folgenden Kapitel geht es um den Bildungszugang von Per- hütung von Folter (NKVF) diese Entwicklung in ihrem Bericht als positiv sonen, die in die Schweiz geflüchtet sind und ein Asylgesuch gestellt hervor.64 Es bestehen in der Praxis jedoch nach wie vor Lücken im haben, über welches noch nicht entschieden wurde. Zugang zur obligatorischen Schule, weswegen nachfolgend einzelne problematische Aspekte hervorgehoben werden. 5.1 Grundschule für Minderjährige in Bundesasylzentren Die Bundesverfassung gewährleistet einen Anspruch auf aus - Alter zum Zeitpunkt der Einschulung reichenden, unentgeltlichen Grundschulunterricht (siehe Kapitel 4.1). Das kantonale Recht definiert, bis zu welchem Alter Kinder am Grund- Auch in den Bundesasylzentren (BAZ) ist die Durchführung des Grund- schulunterricht in den Bundesasylzentren teilnehmen dürfen. Während sie derzeit in sechs Zentren die Schule bis zur Volljährigkeit besuchen können, gilt die Schulpflicht an den meisten Standorten nur bis zum vollendeten 15. Lebensjahr.65 «Josef» galt zu Beginn seines Asylverfahrens als minderjährig. Er wurde im Bundesasylzentrum eingeschult, obwohl er seinen 16. Geburtstag bereits gefeiert hatte. Nach einer Altersschätzung Fall 399 wurde sein Geburtsdatum angepasst. Er galt fortan als volljährig, wurde in ein anderes BAZ umplatziert und von der Schule ausgeschlossen. Er konnte nun nur noch zweimal pro Woche für eineinhalb Stunden einen Sprachkurs besuchen. Da die Bildungsangebote für Erwachsene in den Bundesasyl- zentren auf wenige Sprachkurse beschränkt sind und die Beschäfti- gungsprogramme kaum bildungsrelevante Aspekte aufweisen, haben Minderjährige über 16 Jahre in einem Grossteil der Bundesasylzentren keinen ihrem Alter angemessenen Zugang zu Bildung. 61 SFH, Handbuch zum Asyl- shilfe, 2020. Sandra Locher-Benguerel, 65 Erwartung und Wegweisungsverfahren, 63 Art. 80 Abs. 4 AsylG. Beschulung von Kindern und S. 73 f. 64 NKVF, Bericht betreffend die Jugendlichen in Bundes 62 Siehe dazu: SFH, Zuteilung ins Überprüfung der Bundes asylzentren, Interpellation erweiterte Verfahren: Kriterien asylzentren durch die Nationale 21.3105. für Triage, Positionspapier der Kommission zur Verhütung 16 Schweizerischen Flüchtling von Folter (2019 – 2020), S. 36. 17
Umfang, Inhalt und Infrastruktur «Hanna» Nach der Universität absolvierte «Hanna» in ihrem Kinder unter 16 Jahren besuchen in allen Bundesasylzentren den Herkunftsland ein einjähriges Praktikum. Danach begann sie, als Grundschulunterricht. Sie erhalten Unterricht in einer «Aufnahme Rechtsanwältin zu arbeiten. Im Februar 2019 musste klasse», in der sie die im betreffenden Kanton gesprochene Landes- «Hanna» flüchten. Im Frühjahr 2019 reiste sie in die Schweiz sprache lernen. In weiteren Fächern werden sie an die Inhalte des ein und stellte ein Asylgesuch. «Hanna» wurde in einem Bundes- schweizerischen Schulsystems herangeführt. Es bestehen jedoch auch asylzentrum (BAZ) untergebracht. Es gab dort keine Bildungs hier grosse Unterschiede in der Art der Beschulung: angebote. Während einer Befragung zu ihrem Asylgesuch wur- Fall 395 den ihr auch Fragen zu ihrer Ausbildung und ihrem Beruf gestellt. • Während der Unterricht in einigen Zentren an fünf Wochentagen Nach rund vier Monaten wurde ihr Asylgesuch gutgeheissen, sie angeboten wird, sind es in anderen Zentren bloss vier Tage. In Schul wurde als Flüchtling anerkannt und erhielt eine Aufenthaltsbewilli- stunden gerechnet, ergibt das eine Bandbreite zwischen 16 und gung (B). Danach wurde «Hanna» in einer Unterkunft mit abge- 29 Stunden pro Woche.66 wiesenen Asylsuchenden untergebracht. Während dieser Der Lehrplan unterscheidet sich von Zentrum zu Zentrum. Da viele • Zeit konnte sie keinen Sprachkurs besuchen. Nach vier Monaten Geflüchtete nach ihrem Aufenthalt in den BAZ anderen Landesteilen hatte «Hanna» ihren ersten Termin mit der für sie zuständigen zugeteilt werden, lernen die Kinder teilweise in einer Landessprache Sozialarbeiterin und konnte mit der Wohnungssuche beginnen. und später in einer anderen. Bloss in einem Zentrum besuchen die Kinder die Schule in einem • Schulhaus ausserhalb des Zentrums. Das Schulhaus teilen sie mit Dieser Fall zeigt eines eindrücklich auf: Mit Asylsuchenden wird einheimischen Kindern. weder während ihres Aufenthaltes im Bundesasylzentrum noch bei Während den offiziellen Schulferien findet kein Unterricht statt, • der Ankunft in den Kantonen genügend über ihre Kompetenzen ge- weshalb zeitliche Lücken in der Grundbildung entstehen können. sprochen. Und in den Fällen, in denen das geschieht, gehen die daraus gezogenen Informationen verloren. Seit Potenzialabklärungen71 oder 5.2 Erhebung von Bildungsstand und Kompetenzen alternative Herangehensweisen72 eingeführt wurden, ändert sich dies Für erwachsene Asylsuchende gibt es in den Bundesasylzentren in Bezug auf den Aufenthalt in den Kantonen langsam. Dennoch sollten Sprachkurse und Beschäftigungsprogramme. Deren Umfang und Gespräche auf Augenhöhe zur Vorbildung und zu den Kompetenzen Ausgestaltung variieren von Zentrum zu Zentrum,67 womit auch für Er- schon früher geführt werden. wachsene kein einheitlicher Zugang zu Bildung besteht. Aufgrund der Dies zeigt auch das Beispiel der Niederlande, die für das beschleu- beschränkten Aufenthaltsdauer,68 des starken Fokus auf die beschleu- nigte Asylverfahren stets als Inspiration genannt werden. Geflüchtete nigte Behandlung des Asylgesuchs und des übergeordneten Ziels der haben dort im Erstaufnahmezentrum die Gelegenheit, sich zu ihren potenziellen Aufenthaltssicherung stellt sich gleichzeitig die Frage, ob Fähigkeiten und Ambitionen zu äussern. Dies geschieht ausserhalb eine umfassende Bildung im Umfeld dieser grossen Kollektivunterkünf- des Asylverfahrens. Die Aussagen werden mit Informationen aus den te überhaupt möglich ist. Verschiedene Gesprächspartner:innen der Gemeinden abgeglichen, sodass sich die Menschen dort nieder- SBAA lernen deshalb ergänzend im Selbststudium. Dieses könnte mit lassen können, wo sie gemäss ihrer Biografie die grössten Chancen einfachen Mitteln gefördert werden.69 Gemäss einigen Quellen ist hingegen bereits heute vorgesehen, dass die schulischen und beruflichen Kompetenzen Asylsuchender in 66 Ibid. Zum Vergleich: Ende ohne Verfahrensfunktion oder et al.: «Je früher, desto besser dieser ersten Zeit des Aufenthalts erhoben werden.70 Dies hätte den 2019 betrug das Mittel der um ein sogenanntes besonderes für alle», S. 20. Tatsächlich wird positiven Effekt, dass nach dem Aufenthalt im Bundesasylzentrum Schulstunden pro Woche in den Zentrum handelt – stets auf wohl bei der Erhebung der Deutschschweizer Kantonen 140 Tage beschränkt. Danach Personalien und teilweise auch rasch Vorkehrungen zur weiteren Aus- und Weiterbildung dieser Perso- zwischen 25 (1. Klasse) und 35 muss eine asylsuchende Person in einem Gespräch nach Aus- (3. Sekundarstufe) Wochen- in einem Kanton untergebracht bildung und Beruf gefragt. Es nen getroffen werden könnten. In der Praxis scheint diese Massnahme lektionen: BKZ Geschäftsstelle, werden. ist jedoch nicht ersichtlich, dass zugunsten eines später besseren Zugangs zu Bildung jedoch nicht oder Stundentafeln zum Lehrplan 21, 69 Für den deutschsprachigen diese Informationen weiterver- 2019, S. 9 und 20. Raum ist das Angebot des wendet oder -gegeben werden. unzureichend umgesetzt. 67 Per E-Mail erhaltene Auskunft Vereins voCHabular beispielhaft. 71 SEM, «Potenzialabklärungen des SEM vom 28. Januar 2021. Einerseits wird dieses Selbst- bei Flüchtlingen und vorläufig 68 Gemäss Art. 24 Abs. 4 AsylG lernmittel analog und digital an- Aufgenommenen». ist die Dauer des Aufenthalts geboten. Andererseits schliesst 72 Kanton Glarus, «Digitalisierung in einem Bundesasylzentrum – es eine Lücke: den sprachlichen konkret: Glarner Integrationspro- unabhängig davon, ob es sich Graben. jekt wird ausgezeichnet», 2020. 18 dabei um ein Zentrum mit oder 70 Siehe unter anderem Fehlmann 19
auf eine erfolgreiche berufliche und persönliche Entwicklung haben.73 Der Fall von «Josef» zeigt zwar, dass die Integrationsagenda In der Schweiz könnte dieses Vorgehen ein bereits laufendes Pilot langsam eine gewisse Wirkung entfaltet. Asylsuchende werden ver- projekt ergänzen. In diesem werden Asylsuchende mittels eines Algo- mehrt – zumindest sprachlich – ausgebildet.78 Von Kanton zu Kanton rithmus auf die Kantone verteilt, womit insbesondere ihre Integration und von Gemeinde zu Gemeinde ist es jedoch sehr unterschiedlich, in den Arbeitsmarkt gefördert werden soll.74 ob, ab wann und in welchem Umfang eine Person gefördert wird. Dies widerspricht der Erkenntnis, dass eine frühzeitige Förderung auch 5.3 Bildung im erweiterten Asylverfahren gesamtwirtschaftlich lohnenswert ist.79 Lange hatten Asylsuchende ab einem Alter von 16 Jahren in den Positiv hervorzuheben sind die Initiativen einzelner Kantone – Kantonen keinen Zugang zu Bildung. Sobald jemand der Schulpflicht beispielsweise Genf, Basel-Stadt und Thurgau,80 sowie die folgende entwachsen war, hiess es: Ohne eine Anerkennung als Flüchtling oder im Kanton Luzern: Bis zum Alter von 23 Jahren werden junge Asyl- ohne eine vorläufige Aufnahme gibt es keinen Sprachkurs. suchende – unabhängig von ihrer Bleibeperspektive – in einer Vielzahl Die neuen, beschleunigten Asylverfahren und die Integrations- von Fächern geschult und im ganzen Kanton gleich behandelt wie agenda versprechen Besserung. Neu ankommende Menschen sollen Personen, die bereits einen Aufenthaltsstatus haben.81 Trotz möglichen nun rasch einen Asylentscheid erhalten, womit es keine langen Warte- Kritikpunkten – wie die Alterslimite der Teilnehmenden oder der Um- zeiten mehr geben sollte. Vergleicht man die Verfahrensdauern des fang des Unterrichts82 – entspricht diese Umsetzung klar dem Motto Jahres 2019 mit denjenigen vor der Einführung der neuen Asylver- «Je früher, desto besser für alle.»83 fahren, trifft dies zu. Gemäss den neuesten Zahlen verdoppelte sich Im Jahr 2022 werden die Massnahmen zur frühzeitigen Förderung die Dauer der erweiterten Asylverfahren aber bereits im zweiten Jahr von Asylsuchenden evaluiert.84 Aus Sicht der SBAA sollte dann eine der Umsetzung (2020) von rund 105 Tagen auf 235 Tage.75 Es wird sich breite Diskussion zur effektiven Wirkung solcher und ähnlicher Beispie- also erst noch zeigen müssen, wie lange diese Verfahren durchschnitt- le geführt werden. Weiter darf sich die Koordination der Programme lich dauern. zur Förderung von Grundkompetenzen im Bereich der Weiterbildung Asylsuchende dürfen im erweiterten Verfahren bereits heute an mit denjenigen der Integration nicht bloss auf Finanzierungsfragen Sprachkursen teilnehmen.76 Sie dürfen zudem in weiteren Grundkom- beschränken.85 Vielmehr müssen zugunsten eines gleichberechtigten petenzen – wie Mathematik und Computerkenntnisse – unterrichtet Zugangs zu Bildung die reinen Sprachkurse um weitere, verbindlich werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine «Kann-Bestimmung», anzubietende Fächer erweitert werden. Im besten Fall geschieht dies, nicht um einen Anspruch. Für die Teilnahme an den im Rahmen des indem die Kursanbieter:innen inhaltlich zusammenarbeiten und die Pilotprogramms «Frühzeitige Sprachförderung» vom Bund mitfinanzier- Teilnehmenden unabhängig ihrer Herkunft gemeinsam unterrichtet ten Kursen ist zudem eine «hohe Bleibewahrscheinlichkeit» Vorausset- werden. zung.77 Das folgende Beispiel zeigt, dass in der Praxis in diesem Bereich kein wirklicher Zugang zu Bildung besteht. «Josef» Als «Josef» in die Schweiz kam, hatte er in seinem Leben erst ein Jahr lang die Schule in einem Transitland besucht. Nach seiner Zeit im BAZ wurde «Josef» zuerst einer Kollektivun- 73 CPB Netherlands Bureau for 77 Das SEM weist darauf hin, dass Jugendliche und junge Erwach- Economic Policy Analysis, auch Asylsuchende aus Ländern sene, S. 64 ff. terkunft im Kanton und später einer Gemeinde zugeteilt. Gemäss Promising policies for integration mit einer niedrigen Schutzquote 80 Ibid., S. 91 ff. on the labour market, English diese Kurse besuchen dürfen. 81 Kanton Luzern, Pädagogisches dem Geburtsdatum in seinem Ausweis war er zu diesem Zeit- summary, 2020. Auch die Ergänzung der Sprach- Konzept: Fremdsprachige junge punkt 21 Jahre alt. Sein Asylgesuch war noch nicht entschieden. 74 SRF, «Algorithmus verteilt neu kurse um weitere Fächer sei zu Erwachsene, Dienststelle Volks- Fall 399 Asylbewerber auf Kantone», begrüssen. All dies ist jedoch schulbildung, 2020. In den ersten vier Monaten in der Gemeinde durfte «Josef» trotz 2018. nicht verbindlich. Siehe SEM, 82 Rund 10 Wochenlektionen unter mehrmaligem Nachfragen – und obwohl er aus einem Land mit 75 Gemäss einer per E-Mail erhal- FAQ Pilotprogramm «Frühzeitige dem Lehrplan 21. tenen Auskunft des SEM vom Sprachförderung», S. 3 f. 83 Fehlmann et al.: «Je früher, hoher Bleiberechtsperspektive stammt –, weder einen Sprach- 7.5.2021 verdoppelte sich die 78 Zum Thema Umfang der desto besser für alle». durchschnittliche Dauer bis zur Bildungsangebote siehe auch 84 SEM, «Frühzeitige Sprachförde- kurs noch andere Bildungsangebote besuchen. Mittlerweile Erledigung eines Asylgesuchs Ecoplan, et al., Integrations- rung (FSF)». besucht er zwei Sprachkurse – einen der Gemeinde und einen in den erweiterten Verfahren im agenda Schweiz: Anpassung des 85 Siehe dazu auch SBFI und Jahr 2020 von 106,5 Tagen auf Finanzierungssystems, S. 100 ff. EDK, Grundsatzpapier von SBFI unentgeltlichen, zivilgesellschaftlich organisierten – und erhält 236,5 Tage. 79 Fehlmann et al.: Bildungsmass- und EDK für die Förderperiode 20 Unterstützung im Rahmen eines Nachhilfeangebots. 76 Art. 15 Abs. 5 VInta. nahmen für spät eingereiste 2021–2024, Ziff. 4.2, S. 5. 21
6 Obligatorische Bildung Dieses Beispiel zeigt, dass es möglich ist, das Recht von Minderjährigen auf eine Grundschulbildung zu wahren, ohne die Regel 6.1 Alter zum Zeitpunkt der Einschulung strukturen übermässig zu belasten. Das Fallbeispiel ist besonders In den meisten Kantonen der Schweiz werden Minderjährige nur interessant, weil die SBAA gleich drei ähnliche Fälle dokumentieren bis zu ihrem 16. Geburtstag in die Grundschule eingeschult (siehe Kapi- konnte.89 In allen Fällen reisten die Jugendlichen im Alter zwischen tel 4.1).86 Der Grossteil der Jugendlichen, die kurz vor oder nach ihrem 16 und 18 Jahren in die Schweiz ein. Eine definitive Einschulung in die 16. Geburtstag in die Schweiz kommen, besucht als Ersatz für die um- Regelstruktur gelang nur bei einem von ihnen. Alle verfügen jedoch fassende Schulbildung zuerst Sprachkurse und allenfalls integrations- nach rund fünf Jahren Aufenthalt im Land über ein Diplom, dass einem orientierten Unterricht. Daran schliessen die Berufsvorbereitung und Abschluss auf der Sekundarstufe I gleichwertig ist. Damit verfügen sie Berufsbildung an. In diesem Bereich gab es in den letzten Jahren mit über die besten Voraussetzungen, ihren Bildungsweg erfolgreich fort- neuen Bildungsangeboten wie integrationsorientierten Berufsvorberei- zusetzen. Nur für einen dieser Jugendlichen wird dies sehr schwierig, tungsjahren und der Integrationsvorlehre viele positive Änderungen. da er kein Bleiberecht hat. Somit ist es ihm nicht möglich, eine nach- Die SBAA kritisiert aber, dass vielen 16- bis 18-Jährigen ihr Recht obligatorische, berufliche Ausbildung mit Erwerbstätigkeit anzutreten.90 auf eine umfassende und ihrem Alter angemessene Grundbildung verwehrt wird.87 Der von der SBAA dokumentierte Fall von «Justin» 6.2 Aufnahmeklassen: Inklusion und fachliche Aufsicht veranschaulicht die Probleme beispielhaft: Aufgrund des formellen Kri- Fremdsprachige Minderjährige werden zu Beginn ihres Aufenthalts teriums, dass sein 16. Geburtstag bereits vorbei war, wurde «Justin» in der Schweiz oft zuerst in Aufnahmeklassen der öffentlichen Schule nicht in die öffentliche Grundschule aufgenommen. Er durfte zuerst nur unterrichtet. Diese Form des separaten Unterrichts ist bei einem zeit- einen halbtägigen Sprachunterricht besuchen und wechselte erst nach lich klar beschränkten Aufenthalt an einem Ort und zum kurzzeitigen, einigen Monaten zu einem intensiveren Bildungsangebot.88 Wie im Fall intensiven Spracherwerb unbestritten. Sie setzt aber viel pädagogi- von «Justin», sind die Bildungswege vieler Jugendlicher geprägt von sches und interkulturelles Fachwissen voraus. Dies zeigt der überarbei- Wartezeiten sowie von einer unkoordinierten, einseitig sprachlichen tete Rahmenlehrplan für Aufnahmeklassen im Asylbereich des Kantons und wenig allgemeinbildenden Förderung. Dass es auch anders geht, Zürich.91 Damit die Rahmenbedingungen für eine Aufnahmeklasse zeigt der Bildungsweg von «Lesane». erfüllt sind und die mit dieser Aufgabe betrauten Lehrpersonen die notwendige Unterstützung erhalten, müssen sie von entsprechenden Fachpersonen begleitet werden. Andere Modelle – wie die Angliede- «Lesane» Rund drei Monate nach seiner Einreise in die Schweiz rung von Schulen bei den für Migration und Sicherheit zuständigen wurde der damals 16-jährige «Lesane» in eine Aufnahmeklasse Behörden – führen zwangsläufig zu nicht haltbaren Ergebnissen.92 der öffentlichen Schule eingeschult. Er sei zu diesem Zeitpunkt Soziale Aspekte und der Lernfortschritt sprechen jedoch klar für eine völlig überfordert gewesen und habe sich nichts zugetraut. Nach möglichst rasche Inklusion. dem Abschluss des einjährigen Zyklus der Aufnahmeklasse wurde er aufgrund seiner Fähigkeiten und mit seinem Einverständnis in eine weiterführende Klasse eingeteilt. Dort «Lea» Im Alter von 14 Jahren floh «Lea» aus ihrem Heimatland. Fall 397 wurde er in einzelnen Fächern in parallel laufenden Klassen der Rund zwei Jahre später reiste sie als unbegleitete Minderjährige Regelstruktur unterrichtet: Er besuchte Mathematik gemeinsam Fall 393 in der Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Zu diesem Zeit- mit einer 1. Klasse der Sekundarschule und Englisch mit einer punkt konnte sie weder lesen noch schreiben. In der Schweiz 2. Klasse. Nach einem weiteren Jahr begann er im Alter von besuchte sie zum ersten Mal eine Schule. «Lea» kam in ein 18,5 Jahren einen regulären Zyklus der Sekundarschule. Es sei nur am Anfang etwas ungewohnt gewesen, dass er die letzten drei Jahre gemeinsam mit jüngeren Jugendlichen zur Schule ging. Im Sommer 2021 steht sein Abschluss an. 86 Der Kanton Genf bildet hier seit NGO-Bericht an den UN-Aus- Unterrichten an Aufnahmeklas- einigen Jahren die Ausnahme. schuss für die Rechte des sen Asyl, Volksschulamt, 2021. Gemäss Art. 194 Abs. 1 der Kindes, S. 27. Zum Zeitpunkt der Drucklegung Verfassung der Republik und 88 Siehe Fall 387 «Justin». des vorliegenden Berichts noch des Kantons Genf ist Bildung 89 Siehe Fälle 396 «Austin», 397 nicht publiziert. bis mindestens zur Mündigkeit «Lesane» und 398 «Yassine». 92 Stefanie Hablützel, «Wenn das obligatorisch. 90 Fall 398 «Yassine». Siehe dazu Recht auf Volksschule nicht für 87 Siehe dazu auch: Netzwerk auch Kapitel 7.2. alle gilt». 22 Kinderrechte Schweiz: Vierter 91 Bildungsdirektion Kanton Zürich, 23
Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA). Dort 7 Nachobligatorische Bildung wohnte sie fast zwei Jahre. Sie besuchte zu Beginn die zentrums- interne Schule, lernte lesen und schreiben. Das Zentrum war sehr Die nachobligatorische Bildung, die an die Sekundarschule gross und wurde von vielen UMA bewohnt. «Lea» war unruhig und es anschliesst, bietet eine Fülle von Varianten. Üblicherweise folgt direkt war eine schwierige Zeit für sie. Ihre Lehrerin war der Ansicht, dass auf die obligatorische Bildung eine Berufslehre oder eine Mittelschule. «Lea» nicht viel lernte. Sie wollte, dass sie sich verbessert. «Lea» Es gibt zudem zahlreiche Brückenangebote für Personen, die weder wurde deshalb in die öffentliche Schule geschickt und stieg im zwei- eine Lehre finden noch eine weiterführende Schule besuchen.95 Diese ten Semester der 8. Klasse ein. In der Sekundarschule gefiel es ihr Massnahmen sind prinzipiell nicht an den Aufenthaltsstatus gebunden, gut. «Lea» schätzte es, mit Gleichaltrigen in der Klasse zu sein, fand wobei bleibeberechtigte Personen in der Praxis einen klaren Vorteil bei Freund:innen und lernte viel. der Auswahl geniessen. Die meisten Massnahmen sind zudem darauf ausgerichtet, dass möglichst viele Menschen, die erst als Jugendliche oder junge Erwachsene in die Schweiz kommen, eine Berufslehre ab- Eine über lange Zeit andauernde separate Beschulung und damit solvieren. Dies ist nur mit einem gefestigten Aufenthaltsrecht möglich. nicht stattfindende Inklusion kann auch verfassungswidrig sein. So zog In diesem Kapitel geht es zuerst um Personen, die an eine Glas- das Bundesgericht Ende 2019 in zwei fast deckungsgleichen Urteilen decke stossen. Sie verfügen zwar über einen Aufenthaltsstatus, der eine erstaunliche Analogie heran: Wie bei Kindern mit Behinderungen ihnen Unterstützung nach der Grundschule ermöglicht, kommen aber kann für Jugendliche, die «erst verspätet und ohne entsprechende trotzdem nicht weiter. Danach geht es um Menschen, denen der Vorbildung ins schweizerische Schulsystem» eintreten, eine vorüber- Zugang zu weiterführender Bildung aufgrund ihres fehlenden Bleibe- gehende separate Beschulung angezeigt sein. Dies gilt insbesondere rechts kategorisch verwehrt wird. für den Erwerb der sprachlichen Fähigkeiten, die es braucht, um dem weiterführenden Unterricht überhaupt folgen zu können. «Allerdings 7.1 Durchlässigkeit des Bildungssystems und Finanzierung darf eine solche besondere Beschulung nur vorübergehend sein und des Hochschulstudiums soll so rasch wie möglich durch die Beschulung in der Regelschule Das Schweizer Bildungssystem wird oft für seine Durchlässigkeit abgelöst werden.»93 Dies sei auch dann anzustreben, wenn das gelobt. So kann jemand mit einem Lehrabschluss unter gewissen schulische Niveau dieser Jugendlichen noch nicht demjenigen der Voraussetzungen eine Fachhochschule besuchen und schliesslich an Gleichaltrigen entspreche.94 einer Universität studieren. In der Theorie stehen diese Wege auch Menschen offen, die nicht ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht haben. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies auch praktisch möglich ist. Die SBAA hat zwei Fälle von Personen dokumentiert, die bereits gut ausgebildet waren, als sie in die Schweiz kamen. BGer 2C_892/2018 und 93 Bildung für Geflüchtete, vpod kantonalen Webseiten: 2C_893/2018, E. 6.3 ff. bildungspolitik Nr. 215, S. 13 ff., Schuljahr 2021-2022: Stand Siehe auch Bettina Looser: Was 94 2020. März 2021. braucht es für eine gelingende 95 EDK, Brückenangebote in den 24 Geduld schulische Integration? in: Kantonen: Informationen von 25
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