Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

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                                                                                                                                                        Zur historischen
                                                                                                                                                        Entwicklung der
                                                                                                                                                        schulischen Integration
                                                                                                                                                                                                                      Markus Gebhardt Mathias Krammer Peter Rossmann
                                                                                                                                                        in der Steiermark
                                                                                                                                                                                                                      neunten Schulstufe ausgedehnt. Die bundesgesetzlichen
                                                                                                                                                           Zusammenfassung                                            Regelungen sehen vor, dass den Eltern von Schulkindern mit
                                                                                                                                                           Die integrative Beschulung von Schülern und Schü-          sonderpädagogischem Förderbedarf ein Wahlrecht zwischen
                                                                                                                                                           lerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist          der integrativen Beschulung ihrer Kinder in der Regelschule
                                                                                                                                                           in Österreich seit dem Jahr 1993 gesetzlich möglich.       und dem Besuch einer Sonderschule zukommt. Die zustän-
                                                                                                                                                           Obwohl die Gesetzgebung bundesweit einheitlich ist,        digen regionalen Schulbehörden haben die Aufgabe, die von
                                                                                                                                                           unterscheiden sich die Bundesländer in den Quoten der      den Eltern nach eingehender pädagogischer Beratung getrof-
                                                                                                                                                           integrativen Beschulung der Schüler mit sonderpädago-      fene Entscheidung bezüglich des Schulbesuchs ihrer Kinder
                                                                                                                                                           gischem Förderbedarf erheblich. Während die meisten        schulorganisatorisch umzusetzen (Landesschulrat für Steier-
                                                                                                                                                           Bundesländer die schulische Integration eher verhalten     mark, 1998). Bedingt durch die föderalen Strukturen des
                                                                                                                                                           umsetzten, stieg die Integrationsquote in der Steiermark   österreichischen Staats haben die Länder in Bezug auf die
                                                                                                                                                           innerhalb weniger Jahre rasant an und konnte auf einem     Umsetzung von bundesgesetzlichen Regelungen im Schul-
                                                                                                                                                           sowohl im nationalen als auch im internationalen Ver-      wesen allerdings einen relativ großen Gestaltungsspielraum
                                                                                                                                                           gleich sehr hohem Niveau gehalten werden. Anhand           (Buchner & Gebhardt, 2011). Daraus ergaben sich erstaun-
                                                                                                                                                           von drei Interviews der verantwortlichen Schulinspekto-    liche Unterschiede in der Umsetzung der gesetzlichen Be-
                                                                                                                                                           rinnen (als Stakeholder) werden im nachfolgenden Bei-      stimmungen in den einzelnen Bundesländern. So verzeich-
                                                                                                                                                           trag die Hintergründe für diese Entwicklung aufgezeigt     nete beispielsweise das Bundesland Steiermark bereits in
                                                                                                                                                           und damit die Bedingungen für die Entstehung eines         den 1990-er Jahren eine steil ansteigende Integrationsquote
                                                                                                                                                           weitgehend integrativen Schulsystems illustriert und       (Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förder-
                                                                                                                                                           diskutiert.                                                bedarf, die in Regelschulklassen unterrichtet werden) bis
                                                                                                                                                                                                                      zu Werten im Bereich von 80%, während das Bundesland
                                                                                                                                                        Problemstellung                                               Niederösterreich die Integration im Schulwesen eher verhal-
                                                                                                                                                        Das österreichische Bundesland Steiermark nimmt seit Jah-     ten einführte und selbst in den diesbezüglich besten Jahren
                                                                                                                                                        ren in Bezug auf die integrative Beschulung von Schülern      im Maximum nur eine ungefähr halb so hohe Integrations-
                                                                                                                                                        mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Vorreiterrol-       quote zu vermelden hatte, was in Abbildung 1 im Zeitver-
                                                                                                                                                        le in Österreich wie auch im gesamten deutschsprachigen       lauf dargestellt ist. Die Abbildung zeigt aber nicht nur die
                                                                                                                                                        Raum ein. Bislang kann man wissenschaftlich aber keine Be-    massiven länderspezifischen Unterschiede in Bezug auf den
                                                                                                                                                        gründung abgeben, warum gerade in der Steiermark schuli-      Anstieg der Integrationsquoten vor der Jahrtausendwende,
                                                                                                                                                        sche Integration so erfolgreich umgesetzt werden konnte und   sondern auch eine Stagnation der gesamtösterreichischen
                                                                                                                                                        kann. Das Anliegen des vorliegenden Forschungsbeitrags        Integrationsquote in den Jahren danach, wobei sich wiederum
                                                                                                                                                        ist es, mündliches Wissen und wenig beachtete Beiträge aus    insbesondere das Bundesland Niederösterreich durch einen
                                                                                                                                                        der Fachliteratur zugänglich zu machen, um die Entstehung     drastischen Rückgang der Integrationsquote auf Werte unter
                                                                                                                                                        eines weitgehend integrativen Schulsystems in einer Region    30% auszeichnet. Diese massiven Unterschiede zwischen
                                                                                                                                                        des deutschsprachigen Raums nachvollziehbar zu machen.        den Integrationsquoten in einzelnen Bundesländern kann
                                                                                                                                                                                                                      man als Ergebnis von grundlegenden Unterschieden bei der
                                                                                                                                                        Entwicklung der Integration in Österreich                     Implementierung einer bundesgesetzlichen Regelung in den
                                                                                                                                                        Im Jahr 1993 machte die österreichische Schulpolitik nach     Ländern interpretieren. So bezeichneten Rutte und Schön-
                                                                                                                                                        einer Reihe von erfolgreichen Schulversuchen, welche in       wiese (2000) die Jahre nach den kämpferischen 1980-ern und
                                                                                                                                                        den späten 1980-er Jahren durchgeführt und wissenschaft-      nach den grundlegenden Implementierungsjahren Anfang der
                                                                                                                                                        lich begleitet worden waren (Specht, 1991 & 1993), mit der    1990-er als die „beschwerliche Gegenwart“ der Integration,
                                                                                                                                                        15. Novelle des Bundesgesetzes über die Schulorganisation     in der die Auseinandersetzung mit Vertretern und Vertrete-
                                                                                                                                                        den Weg für die bundesweite Einführung der integrativen       rinnen der Sonderschulen wieder aufflammte. Zwar konnten
                                                                                                                                                        Beschulung von Schülern und Schülerinnen mit sonderpäda-      die Befürworter und Befürworterinnen einer segregativen
                                                                                                                                                        gogischem Förderbedarf im Bereich der Volksschule frei.       Beschulung das Rad der Zeit in Bezug auf die Integration
                                                                                                                                                        Mit der 17. Schulorganisationsgesetz-Novelle wurde im         von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht
                                                                                                                                                        Jahr 1996 diese Regelung auch auf die Sekundarstufe I bis     völlig zurückdrehen, sie konnten aber einen durch Stillstand
                                                                                                                                                        zur achten Schulstufe und schließlich im Jahr 2012 bis zur    charakterisierbaren Status quo erreichen.

                                                                                                                                                        Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013                                                                               249
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                          90
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                                                                                                                                                                                                                                     ■

                                                                                                                                                                                                                                               ■
                                                                                                                                                                                                                                          ■
                                                                                                                                                                                                              ■
                                                                                                                                                                                                        ■

                                                                                                                                                                                                                                                                  ■
                                                                                                                                                                                                   ■

                                                                                                                                                                                                                                                     ■

                                                                                                                                                                                                                                                          ■
                                                                                                                                                          70

                                                                                                                                                                                             ■
                                                                                                                                                                                       ■
                                                                                                                                                          60
                                                                                                                                                                                                                                                                         Österreich
                                                                                                                                                                                  ■
                                                                                                                                                                                                                                                                   ■
                                                                                                                                                          50                                        ■    ■     ■                      ■    ■     ■    ■    ■
                                                                                                                                                                            ■

                                                                                                                                                                                              ■
                                                                                                                                                          40
                                                                                                                                                                       ■

                                                                                                                                                                                         ■               ▲     ▲
                                                                                                                                                                                                   ▲
                                                                                                                                                                                   ■                                                                               ▲     Nieder-
                                                                                                                                                          30                 ■           ▲    ▲                                       ▲                                  österreich
                                                                                                                                                                  ■

                                                                                                                                                                                   ▲                                                       ▲     ▲    ▲    ▲
                                                                                                                                                                        ■                                                                                  x
                                                                                                                                                          20      ■          ▲                                                                   x    x
                                                                                                                                                                                                                                 x    x    x
                                                                                                                                                          10      ▲
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                                                                                                                                                                                              x     x    x     x     x    x                                        x     Deutschland

                                                                                                                                                              0
                                                                                                                                                          19 5

                                                                                                                                                          19 6

                                                                                                                                                          19 7

                                                                                                                                                          19 8

                                                                                                                                                          19 9

                                                                                                                                                          20 0

                                                                                                                                                          20 1

                                                                                                                                                          20 2

                                                                                                                                                          20 3

                                                                                                                                                          20 4

                                                                                                                                                          20 5

                                                                                                                                                          20 6

                                                                                                                                                          20 7

                                                                                                                                                          20 8

                                                                                                                                                          20 9

                                                                                                                                                          20 0
                                                                                                                                                                  1
                                                                                                                                                               /1
                                                                                                                                                               /9

                                                                                                                                                               /9

                                                                                                                                                               /9

                                                                                                                                                               /9

                                                                                                                                                               /9

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /0

                                                                                                                                                               /1
                                                                                                                                                             10
                                                                                                                                                            94

                                                                                                                                                            95

                                                                                                                                                            96

                                                                                                                                                            97

                                                                                                                                                            98

                                                                                                                                                            99

                                                                                                                                                            00

                                                                                                                                                            01

                                                                                                                                                            02

                                                                                                                                                            03

                                                                                                                                                            04

                                                                                                                                                            05

                                                                                                                                                            06

                                                                                                                                                            07

                                                                                                                                                            08

                                                                                                                                                            09
                                                                                                                                                          19

                                                                                                                                                        Abb. 1: Integrationsquoten von Österreich, Steiermark und Niederösterreich 1994-2010

                                                                                                                                                        Einige Ergebnisse der empirischen                                     wohler fühlen werde. Des Weiteren wurden als positive Ent-
                                                                                                                                                        Integrationsforschung in Österreich                                   scheidungskriterien kleinere Schülergruppen und ein besse-
                                                                                                                                                        Um die Faktoren zu identifizieren, die hinter steigenden              res Angebot an Therapie- und Fördermöglichkeiten genannt.
                                                                                                                                                        Integrationsquoten stecken, ist eine genauere Betrachtung             Auch wurde von den Eltern als Grund für ihre Entscheidung
                                                                                                                                                        der Arbeiten von Klicpera und Gasteiger-Klicpera aus den              die Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung ihrer Kinder in
                                                                                                                                                        Jahren 2000 bis 2004 hilfreich. Diese Forscher untersuch-             einer Integrationsklasse genannt, sowie die Erfahrung, dass
                                                                                                                                                        ten die Beratung der Eltern von Kindern mit sonderpäda-               die künftige Klassenlehrerin so negativ auf ihr Kind reagiert
                                                                                                                                                        gogischem Förderbedarf durch die Schulverantwortlichen,               habe, dass ihnen gar nichts anderes übrig geblieben sei, als
                                                                                                                                                        das Zustandekommen der Elternentscheidung bezüglich der               die Sonderschule zu wählen (ebd., 2005).
                                                                                                                                                        Wahl der Beschulung ihrer Kinder und die Beantragung des
                                                                                                                                                        sonderpädagogischen Förderbedarfs in den österreichischen             Für die Eltern gab es somit in Bezug auf beide Beschulungs-
                                                                                                                                                        Bundesländern Wien, Niederösterreich und Steiermark.                  modelle sowohl positive als auch negative Aspekte. Verall-
                                                                                                                                                        Hierzu wurden in mehreren Projekten 89 Eltern narrativ                gemeinernd kann man sagen, dass die Eltern Sorge hatten,
                                                                                                                                                        interviewt und 1215 Eltern schriftlich befragt. Des Weiteren          ob in dem jeweiligen Beschulungsmodell die Förderung
                                                                                                                                                        wurden in jedem Bundesland fünf bis sechs Direktoren und              ihres Kinds auf dem passenden Niveau sichergestellt werden
                                                                                                                                                        Direktorinnen und insgesamt 14 Bezirksschulinspektoren                könne. Am liebsten hätten Sie die Entscheidung bezüglich
                                                                                                                                                        und -inspektorinnen gebeten, aus ihrer Sicht den Umgang               der Beschulung erst nach dem Kennenlernen der zukünfti-
                                                                                                                                                        mit der Wahl der Beschulung und dem Elternwahlrecht dar-              gen Lehrer und Lehrerinnen getroffen. Dieses Kennenlernen
                                                                                                                                                        zustellen (Klicpera, 2005; Klicpera, 2007).                           erfolgte aber in den allermeisten Fällen erst zu einem späte-
                                                                                                                                                                                                                              ren Zeitpunkt.
                                                                                                                                                        In den 89 narrativen Interviews äußerten die Eltern, die sich
                                                                                                                                                        für integrative Beschulung ihrer Kinder in der Regelschule            Eine generelle Unsicherheit in Bezug auf die Wahl der
                                                                                                                                                        entschieden hatten, als Hauptgründe für ihre Schulwahl die            Beschulungsform äußerten in der schriftlichen Befragung
                                                                                                                                                        erhoffte Anregung durch nichtbehinderte Kinder, die bessere           ein Viertel der Eltern der integrativ unterrichteten Kinder
                                                                                                                                                        soziale Integration ihres Kinds am Wohnort sowie Vertrauen            und ein Drittel der Eltern von Kindern aus Förderschulen.
                                                                                                                                                        in die Fähigkeiten ihres Kinds und den positiven Eindruck,            Nur die Hälfte der Eltern der integrativen beschulten Schü-
                                                                                                                                                        den die zukünftige Lehrerin auf sie gemacht hatte. Als große          ler und ein Drittel der Eltern von Kindern aus Förderschulen
                                                                                                                                                        Sorge wurde in diesem Zusammenhang geäußert, ob sich wohl             gaben dagegen an, dass Sie über diese Entscheidung nicht
                                                                                                                                                        noch genug andere Kinder mit sonderpädagogischem Förder-              lange nachdenken mussten (Klicpera, 2007). Insgesamt fiel
                                                                                                                                                        bedarf finden würden, um eine volle Integrationslehrerstelle          die Entscheidung den Eltern von Kindern mit einer geisti-
                                                                                                                                                        für die Regelschulklasse zu bekommen (Klicpera, 2005). Die            gen Behinderung leichter als Eltern mit Kindern mit einer
                                                                                                                                                        Eltern, die sich für die Beschulung in einer Sonderschule ent-        Lernbehinderung. Es kann angenommen werden, dass die
                                                                                                                                                        schieden hatten, äußerten als Begründung für ihre Wahl die            Entscheidung für ein bestimmtes Beschulungsmodell von
                                                                                                                                                        erwartete größere Rücksichtnahme auf die Behinderung ihres            den Erfahrungen mit der sonderpädagogischen Betreuung im
                                                                                                                                                        Kinds in der Sonderschule, den geringeren Leistungsdruck              vorschulischen Bereich beeinflusst wurde.
                                                                                                                                                        und die damit verbundene Annahme, dass sich ihr Kind dort

                                                                                                                                                        250
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                        Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Untersuchung war,           Die Frage nach der Wahl der Schulform und damit des Schul-
                                                                                                                                                        dass vor allem unsichere Eltern berichteten, dass versucht      orts stellt sich spätestens im Zusammenhang mit der Beantra-
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                                                                                                                                                        wurde, sie umzustimmen und sie zu Gunsten einer bestimm-        gung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Zwar können
                                                                                                                                                        ten Beschulungsform zu beeinflussen. Dies war sowohl in         Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förder-
                                                                                                                                                        Richtung der integrativen Beschulung als auch in Richtung       bedarf auch nach der Anerkennung des sonderpädagogischen
                                                                                                                                                        der Förderbeschulung der Fall. Um den Eltern die Entschei-      Bedarfs noch die Schule wechseln. Allerdings müsste dabei
                                                                                                                                                        dung in Bezug auf die Schulwahl zu erleichtern, wurde im        wieder ein neuer Antrag gestellt werden, da das sonderpäda-
                                                                                                                                                        Beantragungsverfahren der Mehrheit der Eltern (ca. 60%)         gogische Gutachten sowohl den Schulort als auch die Lehr-
                                                                                                                                                        vorgeschlagen, mit der zukünftigen Lehrerin Kontakt aufzu-      planzuweisung beinhaltet. Der formale Weg ist hier, dass
                                                                                                                                                        nehmen oder die in Frage kommende Schule zu besuchen und        die Eltern oder die Lehrerinnen einen Antrag auf Zuweisung
                                                                                                                                                        anzusehen. Konkret zur Besichtigung kam es jedoch nur bei       eines sonderpädagogischen Förderbedarfs beim zuständigen
                                                                                                                                                        14% bis 27% der befragten Eltern (Klicpera, 2007). Hierbei      Bezirksschulrat stellen. Dann wird ein sonderpädagogisches
                                                                                                                                                        ist zu erwähnen, dass von den Eltern das direkte Kennen-        Gutachten nach den Grundsätzen der Förderdiagnostik an-
                                                                                                                                                        lernen des Schulorts und der Lehrerin bzw. des Lehrers          gefertigt (Schulorganisationsgesetz, BMUK-Erlass, 1996).
                                                                                                                                                        als eines der wichtigsten Kriterien für die Wahl der Schule     Auch die Eltern können eigene Gutachter beauftragen und
                                                                                                                                                        genannt wurde. Obwohl dies für die Eltern eine wesentliche      Gutachten vorlegen. Während des Verfahrens kann das Kind
                                                                                                                                                        Hilfe bei der Entscheidungsfindung wäre, wird es in der         auf Wunsch bzw. mit Zustimmung der Eltern für höchstens
                                                                                                                                                        Praxis immer noch relativ selten durchgeführt.                  fünf Monate in der beantragten Schulform zur Beobachtung
                                                                                                                                                                                                                        beschult werden (Landesschulrat für Steiermark, 1998). In
                                                                                                                                                        Neben den Eltern wurden von Klicpera und Gasteiger-             unserer Befragung der Schulakteure wurde angegeben, dass
                                                                                                                                                        Klicpera (2004) auch die handelnden Akteure auf den Ebenen      in der Praxis der Antrag auf Zuweisung eines sonderpädago-
                                                                                                                                                        der Schulen und der Schulverwaltung in die Untersuchung         gischen Förderbedarfs fast immer von Lehrerinnen gestellt
                                                                                                                                                        einbezogen. Bei der Befragung der Eltern zeigte sich, dass      wird und Eltern dies, wenn überhaupt, höchstens gemeinsam
                                                                                                                                                        die Beratung in Bezug auf die Form der Beschulung meist         mit den Lehrern beantragen. Allerdings wird der Antrag nicht
                                                                                                                                                        von den Direktoren und Direktorinnen der Regelschulen und/      gestellt, wenn die Eltern strikt dagegen sind. Dann werden
                                                                                                                                                        oder den Leitern und Leiterinnen der zuständigen Sonder-        zuerst andere Möglichkeiten der Unterstützung der Schüler
                                                                                                                                                        pädagogischen Zentren durchgeführt wurde. In Österreich sind    im Schulsystem gesucht (Klicpera, 2007). Meist wird der
                                                                                                                                                        die Leiter der sonderpädagogischen Zentren in ihrer Eigen-      Antrag auf Zuerkennung des sonderpädagogischen Förder-
                                                                                                                                                        schaft als Sonderpädagogen im Rahmen des Verfahrens zur         bedarfs in den Anfangsjahren der Grundschule gestellt,
                                                                                                                                                        Zuerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für         wobei in allen drei Bundesländern angegeben wurde, dass
                                                                                                                                                        die Erstellung der sonderpädagogischen Gutachten zuständig      ein verlorenes Schuljahr schon ein Mindestkriterium sein
                                                                                                                                                        und sie organisieren sowohl die Beschulung der Kinder in den    müsse. Ein Beobachtungszeitraum von fünf Monaten böte
                                                                                                                                                        angegliederten Förderschulen als auch die Entsendung von        nach Meinung einiger Bezirksschulinspektoren eine gute
                                                                                                                                                        Förderschullehrer und -lehrerinnen für die in Regelschulen      Informationsgrundlage vor einer Antragstellung. Dies
                                                                                                                                                        integrierten Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogi-       kommt aber eher selten (nur in etwa zehn Prozent der Fälle)
                                                                                                                                                        schem Förderbedarf. In Niederösterreich wurden die Eltern       vor. Akteure aus der Steiermark erachteten diese befristete
                                                                                                                                                        nach ihren Angaben auch von den jeweils zuständigen Be-         Zuweisung für weniger sinnvoll. Man vertrat hier eher die
                                                                                                                                                        zirksschulinspektorinnen beraten, die letztlich auch über den   Ansicht, dass die schulsystemischen Ressourcen, welche auf
                                                                                                                                                        Antrag auf Zuerkennung des sonderpädagogischen Förder-          Bezirksebene gebündelt sind, zuerst voll beansprucht werden
                                                                                                                                                        bedarfs entscheiden. Während die Bezirksschulinspektoren        sollten und erst dann bei Vorliegen berechtigter Gründe der
                                                                                                                                                        sich nach Meinung der Eltern im Beratungsgespräch meist         Antrag auf Zuweisung eines sonderpädagogischen Förder-
                                                                                                                                                        neutral in Bezug auf die möglichen Beschulungsformen ver-       bedarfs gestellt werden sollte (Klicpera, 2007). Zum besse-
                                                                                                                                                        hielten und beide Förderungsmöglichkeiten gleichrangig          ren Verständnis muss hier erwähnt werden, dass der sonder-
                                                                                                                                                        behandelten, war dies bei Besprechungen mit den Direktoren      pädagogische Förderbedarf in Österreich nur für eine recht
                                                                                                                                                        der Regelschulen und den Leitern der sonderpädagogischen        kleine Schülergruppe reserviert ist, nämlich für jene, die auf-
                                                                                                                                                        Förderzentren nicht immer der Fall. Dieses Bild bestätigte      grund einer Behinderung dem Unterricht in der Regelschule
                                                                                                                                                        sich auch bei der Befragung der Akteure im Schulsystem.         ohne zusätzliche Unterstützung nicht zu folgen vermögen.
                                                                                                                                                        Vor allem die Leiter der sonderpädagogischen Förderzentren      Daher darf heute der Prozentsatz an Kindern mit sonderpäda-
                                                                                                                                                        gaben an, nach ihrer jeweiligen eigenen Überzeugung für         gogischem Förderbedarf auch nicht größer sein als der Pro-
                                                                                                                                                        oder gegen die integrative Beschulung zu beraten. Bei der       zentsatz jener Kinder, die früher aus denselben Gründen
                                                                                                                                                        Auswertung der Befragungen zeigte sich diesbezüglich auch       eine Sonderschule besucht hatten. Dies trifft beispielsweise
                                                                                                                                                        ein Unterschied zwischen den Bundesländern. So gaben die        in der Steiermark nur auf etwa 3,4 % der Schülerinnen zu.
                                                                                                                                                        Leiter der sonderpädagogischen Förderzentren aus dem inte-      In Diskussion ist allerdings der Ausbau des Schulsystems
                                                                                                                                                        grativen System der Steiermark an, bei den Besprechungen        in Richtung Prävention (Specht, Pirchenegger, Seel, Stan-
                                                                                                                                                        mit den Eltern eher für die Integration zu werben, während      zel-Tischler & Wohlhart, 2007), in dessen Rahmen es auch
                                                                                                                                                        ihre Kollegen aus Niederösterreich eher die Sonderbeschu-       Ressourcen und Förderstunden für Schülerinnen und Schüler
                                                                                                                                                        lung favorisierten.                                             mit weniger stark ausgeprägten und/oder nicht auf Behinde-
                                                                                                                                                                                                                        rungen zurückzuführende Schulschwierigkeiten geben sollte.
                                                                                                                                                                                                                        Ein solches System könnte prinzipiell einem Response-to-

                                                                                                                                                        Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013                                                                                    251
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                        Intervention-Ansatz (Huber & Grösche, 2012) entsprechen,         mit der vorliegenden Interviewstudie der Frage nachgehen,
                                                                                                                                                        wobei der sonderpädagogische Förderbedarf dann erst die          was dazu geführt hat, dass die steirische Schuladministration
Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet.

                                                                                                                                                        letzte Stufe einer Hierarchie von Fördermöglichkeiten dar-       die oben genannten Bundesgesetze so rasch und zielstrebig
                                                                                                                                                        stellen würde. Aktuell gibt es aber neben dem sonderpäda-        und über weitere zwei Jahrzehnte so beharrlich umsetzte,
                                                                                                                                                        gogischen Förderbedarf nur wenige schulsystemische Res-          während andere Bundesländer diesbezüglich eher verhalten
                                                                                                                                                        sourcen für kompensatorische pädagogische Maßnahmen,             reagierten.
                                                                                                                                                        beispielsweise für die individuelle Förderung von Schülern
                                                                                                                                                        aus benachteiligten sozialen Milieus. Im Gegensatz zum           Methode
                                                                                                                                                        sonderpädagogischen Förderbedarf besteht jedenfalls kein         Hinweise zur Beantwortung solcher, auf systemische Hinter-
                                                                                                                                                        Rechtsanspruch auf Unterstützungen dieser Art und es gibt        gründe gerichtete Fragen kann man nur von Experten erwar-
                                                                                                                                                        dafür auch keine schulgesetzlich festgeschriebenen Ressour-      ten, die selbst Teil des jeweiligen Systems waren oder sind.
                                                                                                                                                        cen.                                                             Denn weder haben andere Akteure aus dem Bildungsbereich
                                                                                                                                                                                                                         das entsprechende Wissen darüber, noch ist dieses durch
                                                                                                                                                        Fragestellung                                                    Analysen der vorliegenden Forschungsliteratur oder anhand
                                                                                                                                                        Aus aktuellen Forschungsübersichten und den Zahlen der           der Publikationen von (Schul-) Behörden oder Ministerien
                                                                                                                                                        Bildungsstatistik geht hervor, dass Österreich in einzelnen      rekonstruierbar (Lamnek, 2005).
                                                                                                                                                        Bundesländern ein gut ausgebautes integratives Schulsystem
                                                                                                                                                        hat, während andere Bundesländer weiterhin ein eher segre-       Unsere Interviewpartnerinnen waren Frau Dr. Brigitte Pet-
                                                                                                                                                        gatives System beibehalten haben (Buchner & Gebhardt,            ritsch (Steiermärkische Landesschulinspektorin für Sonder-
                                                                                                                                                        2011). Es ist aber keineswegs geklärt, warum sich die Inte-      pädagogik von 1994-2003), Frau Hofrätin Dipl.-Päd. Helga
                                                                                                                                                        grationsquoten bzw. die verfolgten (schul-) pädagogischen        Thomann (Steiermärkische Landesschulinspektorin für die
                                                                                                                                                        Ansätze in den Bundesländern so stark unterscheiden. Durch       Volksschulen seit 1998) und Frau Dipl.-Päd. Sabine Hau-
                                                                                                                                                        die schulgesetzlichen Regelungen, die auf Bundesebene            cinger (Steiermärkische Landesschulinspektorin für Sonder-
                                                                                                                                                        getroffen wurden und daher für ganz Österreich Gültigkeit        pädagogik seit 2012). Den befragten Expertinnen wurden
                                                                                                                                                        haben, wäre es im Prinzip in allen Bundesländern gleicher-       Stichwortzettel vorgelegt und sie wurden gebeten, die Stich-
                                                                                                                                                        maßen möglich, dass sich die Eltern von Kindern mit sonder-      worte bei ihrer narrativen Erzählung über die Entwicklung
                                                                                                                                                        pädagogischem Förderbedarf für die integrative Beschulung        der schulischen Integration in der Steiermark als Gliede-
                                                                                                                                                        entscheiden. Unterschiede zwischen den Integrationsquoten        rungshilfen zu nutzen. Gegen Ende des jeweiligen Gesprächs
                                                                                                                                                        der einzelnen Bundesländer sind demnach vermutlich auf           fand eine Diskussion statt. Die Gespräche fanden an der Uni-
                                                                                                                                                        Aspekte der unterschiedlichen Implementation der schul-          versität Graz statt, dauerten jeweils etwa 90 Minuten, wurden
                                                                                                                                                        gesetzlichen Bestimmungen zurückzuführen. Die Ergebnisse         mittels eines digitalen Diktiergeräts aufgezeichnet und in der
                                                                                                                                                        der Forschungsarbeiten von Klicpera und Gasteiger-Klicpe-        Folge wörtlich transkribiert.
                                                                                                                                                        ra legen den Schluss nahe, dass in der Praxis die Beratung
                                                                                                                                                        der Eltern durch die schulischen Akteure und das konkrete        Ergebnisse
                                                                                                                                                        schulische Angebot die Elternentscheidung wesentlich be-         Im Jahre 1983 hatte die damalige Sonderschullehrerin
                                                                                                                                                        einflussen. Wenn es in einer Region ein breites Angebot für      Brigitte Petritsch die integrative Fläming Grundschule in
                                                                                                                                                        die integrative Beschulung von Kindern mit sonderpädagogi-       Berlin besucht. Die dortigen Erfahrungen und Einblicke in
                                                                                                                                                        schem Förderbedarf gibt, scheint sich auch die Mehrzahl der      ein integratives Schulsystem bewirkten einen Erkenntnis-
                                                                                                                                                        Eltern für diese zu entscheiden. Noch weniger klar ist aber,     gewinn und einen nachhaltigen Einstellungswandel, den sie
                                                                                                                                                        warum gerade die Steiermark eine solche Vorreiterstellung        wie folgt beschreibt:
                                                                                                                                                        in Bezug auf den integrativen Weg einnahm. Zwar gab es,
                                                                                                                                                        historisch betrachtet, in der Steiermark in den 1980-er Jahren   „Dort ist mir der Knopf aufgegangen. Plötzlich habe ich
                                                                                                                                                        eine breitere und größere Elternbewegung pro Integration als     erkannt, dass ich die beste Lehrerin der Welt sein kann, dass
                                                                                                                                                        in anderen Bundesländern, jedoch keine wesentlichen Unter-       ich aber den Kindern mit Behinderung nie die Kinder ohne
                                                                                                                                                        schiede in Bezug auf andere schulische Rahmenbedingun-           Behinderung ersetzen kann. Ich bin zwar ein gutes Modell,
                                                                                                                                                        gen. Auch die Bildungspolitik der Steiermärkischen Landes-       aber sie haben keine anderen Modelle und sie sind letztlich
                                                                                                                                                        regierung (die Steiermark wurde bis 2005 von Konservativen       isoliert, am schönen Rosenhain, in der teuersten Gegend,
                                                                                                                                                        und in der jüngeren Vergangenheit von Sozialdemokraten als       schön abseits von der Welt, von den anderen Menschen.“
                                                                                                                                                        stimmenstärkste Fraktion regiert, mit der jeweils anderen        (Petritsch)
                                                                                                                                                        Partei als Koalitionspartnerin), war ursprünglich nicht grund-
                                                                                                                                                        sätzlich anders angelegt als jene in anderen Bundesländern.      In der Steiermark fand Frau Petritsch weitere Mitstreiter aus
                                                                                                                                                        Es gibt also von außen betrachtet keinen unmittelbar einsich-    Lehrerinnen, Erzieherinnen und Eltern. Diese Vorkämpfer
                                                                                                                                                        tigen Grund, warum gerade in der Steiermark – verglichen         für die Integration von behinderten Kindern waren es auch,
                                                                                                                                                        mit anderen österreichischen Bundesländern, aber auch im         die in Graz die „Initiative Soziale Integration“ gründeten und
                                                                                                                                                        Vergleich zu Deutschland – eine solch konsequente Umset-         damit zu den Wegbereitern eines inklusiven Schulsystems
                                                                                                                                                        zung des Integrationsgedankens in der Schule stattfand. Die      in der Steiermark wurden (Schilcher, 2012, S. 139). Eine
                                                                                                                                                        Vermutung liegt nahe, dass eine der wesentlichen Ursachen        dieser Pionierinnen war Frau Thomann, damals Volksschul-
                                                                                                                                                        für diesen nachdrücklichen Systemwechsel in der Schul-           direktorin in Kalsdorf bei Graz und selbst Mutter einer
                                                                                                                                                        verwaltung selbst zu suchen ist. Konkret wollten wir daher       behinderten Tochter. Sie selbst beschreibt die Gründe für ihr

                                                                                                                                                        252
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                        erwachendes Interesse am Integrationsgedanken folgender-          normalen Behördenweg, sondern öffentlich im Rahmen einer
                                                                                                                                                        maßen:                                                            Radiosendung des Österreichischen Rundfunks geschah, an
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                                                                                                                                                                                                                          der Minister Moritz als Gesprächspartner für Schulfragen
                                                                                                                                                        „Ich bin Mutter einer behinderten Tochter, die mittler weile      teilnahm. Dies war gewissermaßen der erste Schulversuch
                                                                                                                                                        44 Jahre alt ist, sie ist Spastikerin. Ich habe diesen Leidens-   in Österreich, der über das Radio genehmigt wurde. Frau
                                                                                                                                                        weg ganz genau persönlich miterlebt. Zuerst hat es geheißen,      Petritsch beschreibt die damaligen Ereignisse folgender-
                                                                                                                                                        naja, Sondervorschule, Sonderschule... Ohne noch bewusst          maßen:
                                                                                                                                                        zu empfinden, was Integration ist, haben wir sie heraus-
                                                                                                                                                        gerissen aus der Sonderschule, weil wir gemerkt haben,            „Frau Thomann rief an: ‚Herr Minister, wir wollen einen
                                                                                                                                                        dass ihre Entwicklung sich verschlechtert hat. Das Kind hat       Schulversuch machen, er läuft bereits, und wir brauchen
                                                                                                                                                        vorher tadellos gesprochen und hat in der Vorschulklasse          ihre Genehmigung: behinderte und nicht behinderte Kinder
                                                                                                                                                        Sprachfehler angenommen – es war reine Intuition damals,          gemeinsam.‘ Und er sagte: ‚Gehen Sie davon aus, der Schul-
                                                                                                                                                        Michaela nicht in der Sonderschule zu lassen.“ (Thomann)          versuch wird genehmigt.‘“ (Petritsch)

                                                                                                                                                        Durch den Austausch mit zwei weiteren Lehrerinnen, welche         Ab dem Schuljahr 1987/88 liefen bereits in ganz Öster-
                                                                                                                                                        ebenfalls Kinder mit Behinderungen hatten, wurden ihre            reich behördlich genehmigte Schulversuche zur Integration
                                                                                                                                                        persönlichen Erfahrungen zu den gemeinsamen beruflichen           von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der
                                                                                                                                                        Erfahrungen in Beziehung gesetzt:                                 Regelschule. Im Jahr 1990 besuchte der damals neu ernannte
                                                                                                                                                                                                                          Steirische Landesschulratspräsident Univ.-Prof. Dr. Bernd
                                                                                                                                                        „Unter anderem war das Kind der Religionslehrerin mit             Schilcher auf Einladung von Frau Petritsch die integrativen
                                                                                                                                                        Down-Syndrom ausschlaggebend. Mein eigener Sohn war               Klassen in Kalsdorf und dies stellte quasi eine Initialzündung
                                                                                                                                                        damals im Kindergarten und hat gesagt: ‚Mama, warum soll          für die weiteren Entwicklungen dar, vor allem auf der formel-
                                                                                                                                                        denn der Matthias jetzt nicht mit uns in die Schule gehen?‘ –     len und juristischen Ebene. In den Worten von Frau Petritsch:
                                                                                                                                                        Matthias ist das Kind mit Down-Syndrom. Und dann haben
                                                                                                                                                        wir eigentlich erst darüber nachzudenken angefangen.“
                                                                                                                                                                                                                          Im Übrigen zeigt das Beispiel Öster-
                                                                                                                                                        (Thomann)
                                                                                                                                                                                                                          reich allerdings auch, dass die
                                                                                                                                                        In Frau Thomanns Schule wurde im Jahr 1985 (ohne                  gleichzeitige Umsetzung sowohl des
                                                                                                                                                        Genehmigung der Schulbehörden) die erste Integrations-
                                                                                                                                                        klasse der Steiermark eingerichtet. Besonders hervorzuheben       integrativen Systems als auch des
                                                                                                                                                        ist dabei, dass es allen Beteiligten wichtig war, dass diese      segregativen Systems die teuerste
                                                                                                                                                        Integrationsklasse keine Kooperationsklasse darstellte.
                                                                                                                                                        Erleichtert wurde die Umsetzung dadurch, dass die belieb-
                                                                                                                                                                                                                          aller denkbaren Varianten ist.
                                                                                                                                                        teste Lehrerin der Volksschule – Frau Helga Vukan – von
                                                                                                                                                        Frau Thomann für das Projekt als Klassenlehrerin gewonnen         „Er hatte so wenig Ahnung, er fragte mich flüsternd: ‚Was
                                                                                                                                                        werden konnte.                                                    hat denn das Kind?‘ Mittlerweile weiß er das natürlich. Von
                                                                                                                                                                                                                          dort ist dann eine Österreichinitiative entstanden. Die Tiro-
                                                                                                                                                        „Jeder in Kalsdorf wollte immer schon sein Kind bei Frau          ler haben nachgezogen, die Wiener. Und irgendwann ist es
                                                                                                                                                        Vukan in der Klasse haben. Es war ein guter Coup von mir,         gelungen, mit Hilfe von Schilcher, Ministerin Hawlicek, die
                                                                                                                                                        sie zu gewinnen. Wir waren dann in der Schule, Herr No-           sehr viel mithalf, und dann dem entscheidenden Minister,
                                                                                                                                                        bis, der Sonderschullehrer, der zu uns versetzt wurde, und        Scholten, – der als roter Minister mit dem schwarzen Lan-
                                                                                                                                                        ich, haben den Eltern einen Film gezeigt, sie informiert,         desschulratspräsidenten gut konnte, das ist ja in Österreich
                                                                                                                                                        nicht gedrängt. Die Eltern hatten eine Woche Zeit, sich zu        eine Seltenheit. Es beginnt an der Spitze. Die Bewegung ist
                                                                                                                                                        entscheiden. Es sollten drei Parallelklassen entstehen und        von unten gekommen, aber wenn nicht der Minister und der
                                                                                                                                                        80 % der Eltern der nicht behinderten Kinder haben sich für       Landesschulratspräsident dagewesen wären, hätten wir uns
                                                                                                                                                        die Integrationsklasse entschieden. […] Und dann, bin ich         ‚brausen gehen‘ können. Und dadurch, dass ich dann da
                                                                                                                                                        mit gutem Beispiel vorangegangen, und habe meinen nicht-          war, war allen Lehrerinnen und Schulleiterinnen klar: Jetzt
                                                                                                                                                        behinderten Sohn in diese Klasse gegeben, weil ich Interesse      geht es in diese Richtung!“ (Petritsch)
                                                                                                                                                        daran gehabt habe, dass er wegen seiner Schwester natür-
                                                                                                                                                        lich einen guten Zugang zu Menschen mit Behinderungen             Der erwähnte Landesschulratspräsident Schilcher ent-
                                                                                                                                                        bekommt. Für die Eltern war das ein Zugpferd, weil mein           wickelte sich in der Folge zu einem wichtigen Unter-
                                                                                                                                                        Bub begabt war, und da haben sie gewusst, wenn ich das            stützer der Integrationsbewegung. Auf seine Initiative war
                                                                                                                                                        wage, dann können sie das vielleicht auch wagen. Diese            es wesentlich zurückzuführen, dass der Steiermärkische
                                                                                                                                                        Ängste, die die Eltern haben, muss man ernst nehmen und           Landtag im Jahr 1992 einen Initiativantrag verabschiedete,
                                                                                                                                                        die sind heute immer noch genauso vorhanden.“ (Thomann)           in dem die Landesregierung aufgefordert wurde, an die
                                                                                                                                                                                                                          Bundesregierung heranzutreten, sie möge beschließen, dass
                                                                                                                                                        Dieser Schulversuch wurde im Laufe des Jahrs 1985 vom             in Österreich „entsprechend der Zielsetzung der von der
                                                                                                                                                        damaligen Unterrichtsminister Moritz nachträglich ge-             UN erklärten Dekade behinderter Menschen das Recht auf
                                                                                                                                                        nehmigt. Hierbei ist anzumerken, dass dies nicht über den         volle Teilnehme am schulischen Leben verwirklicht wird“

                                                                                                                                                        Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013                                                                                     253
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                        (Landesschulrat für Steiermark, 1998, S. 8). Da von den         zurück… Es lässt sich eh nicht mehr zurückentwickeln, aber
                                                                                                                                                        Genannten und ihren Mitstreitern auch auf der formellen und     trotzdem könnte man wahrscheinlich schon [bei einer Inte-
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                                                                                                                                                        institutionellen Ebene eine Reihe von Befürwortern der Inte-    grationsquote] gegen 100 % sein.“ (Petritsch)
                                                                                                                                                        gration gewonnen werden konnte, wurde es möglich, dass
                                                                                                                                                        das österreichische Parlament im Jahr 1993 die bereits er-      Frau Thomann wurde nach ihrer Tätigkeit als Schuldirek-
                                                                                                                                                        wähnte Novellierung des Bundesgesetzes verabschiedete.          torin in Kalsdorf zuerst zur Bezirksschulinspektorin für die
                                                                                                                                                        Auf der Ebene der Bundesregierung war dabei vor allem           Volksschulen im Bezirk Graz-Umgebung ernannt und dann
                                                                                                                                                        Bundesminister Rudolf Scholten eine treibende Kraft. Frau       ab 1998 zur Landesschulinspektorin für das Volksschul-
                                                                                                                                                        Petritsch, die Integrationsbefürworterin, wurde 1994 zur        wesen in der Steiermark. In beiden Positionen konnte sie ent-
                                                                                                                                                        steirischen Landesschulinspektorin für Sonderpädagogik          scheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung ausüben:
                                                                                                                                                        ernannt und ging sogleich daran, in ihrem Wirkungsbereich
                                                                                                                                                        die neuen gesetzlichen Möglichkeiten zielstrebig umzu-          „Ich war 12 Jahre Schulleiterin und Kalsdorf war dann die
                                                                                                                                                        setzen. Die geschilderten Entwicklungen und die Tatsache,       einzige Integrationsschule, die Integration als durchlaufen-
                                                                                                                                                        dass wichtige Entscheidungspositionen in der Schulbehörde       des Prinzip hatte. Die erste Klasse in Oberwart ist nämlich
                                                                                                                                                        mit Integrationsbefürworterinnen besetzt waren, welche die      die einzige geblieben. Wir haben dann jedes Jahr eine weitere
                                                                                                                                                                                                                        aufgebaut – und dann bin ich Bezirksschulinspektorin für
                                                                                                                                                                                                                        Graz-Umgebung Nord geworden und war das fünf Jahre und
                                                                                                                                                        Die integrative Beschulung in der                               hab eigentlich Integration in der Folge umsetzen können.
                                                                                                                                                                                                                        Und das war für mich wirklich eine interessante Phase,
                                                                                                                                                        Steiermark wurde durch Eltern- und
                                                                                                                                                                                                                        denn da habe ich es geschafft, dass in Graz-Umgebung Nord
                                                                                                                                                        Lehrerinnenbewegungen in den                                    keine Schule mehr Angst vor Integration hatte. – Zuerst war
                                                                                                                                                        1980-er Jahren initiiert.                                       es doch so, dass es geheißen hat, die Kinder mit sonder-
                                                                                                                                                                                                                        pädagogischem Förderbedarf sollen irgendwohin gehen
                                                                                                                                                                                                                        aber nicht zu uns. Als ich den Bezirk dann verlassen habe,
                                                                                                                                                        Entstehung eines integrativen Schulsystems entscheidend         weil ich Landessschulinspektorin geworden bin, waren alle
                                                                                                                                                        unterstützten, machen es erklärbar, warum gerade in der         Schulen bereit, Kinder [mit sonderpädagogischem Förder-
                                                                                                                                                        Steiermark in den 1990-er Jahren die Integrationsquote der-     bedarf] aufzunehmen und es hat auch recht gut geklappt.
                                                                                                                                                        art stark angestiegen ist. Einen ganz wesentlichen Einfluss-    Und jetzt zur historischen Entwicklung der Inklusion -
                                                                                                                                                        faktor in diesem Zusammenhang stellte die Beratung der          jedenfalls war Integration so gedacht, als absolut inklusiv.
                                                                                                                                                        Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf         Im Schulversuch mussten wir keine Bescheide ausstellen, da
                                                                                                                                                        bei ihrer Entscheidung zwischen integrativer Beschulung in      haben wir das so gehandhabt, dass wir einfach beschrieben
                                                                                                                                                        einer Regelschule oder traditioneller Unterrichtung in einer    haben, wie weit das Kind entwickelt ist. Dann mussten wir
                                                                                                                                                        Förderschule dar. Diese Beratungsfunktion kommt nach den        einen Vermerk machen: In dem Gegenstand hat das Kind
                                                                                                                                                        bundesgesetzlichen Regelungen insbesondere den Bezirks-         [mit sonderpädagogischem Förderbedarf] den Volksschul-
                                                                                                                                                        schulräten zu, die als regionale Schulbehörden damit großen     lehrplan nicht erfüllt, sondern ist nach allgemeinem Sonder-
                                                                                                                                                        Einfluss ausüben können. Aus empirischen Untersuchungen         schullehrplan oder Schwerstbehindertenlehrplan unterrich-
                                                                                                                                                        wissen wir, dass die Eltern sich je nach Schulbezirk unter-     tet worden. – Anfangs war es aber nur ein kleiner Vermerk.
                                                                                                                                                        schiedlich häufig für oder gegen die integrative Beschulung     Es hat keine Bescheide gegeben, das heißt, für uns war das
                                                                                                                                                        entscheiden. Zwar liegt die letztgültige Entscheidung darü-     damals eigentlich viel inklusiver als heute, aber die Juristen
                                                                                                                                                        ber, in welchem Rahmen ein Kind mit sonderpädagogischem         haben uns sozusagen klar gemacht, dass es Rechtssicher-
                                                                                                                                                        Förderbedarf beschult wird, bei den Eltern (Landesschulrat      heit geben muss. Wir haben es dann auch verstanden, dass
                                                                                                                                                        für Steiermark, 1998), jedoch zeigten sowohl Befragungen        Eltern das Recht haben müssen zu berufen und so weiter,
                                                                                                                                                        von Eltern als auch Interviews mit Bezirksschulinspekto-        aber ich bin nach wie vor der Meinung, diese Entwicklung
                                                                                                                                                        rinnen (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2003 & 2004;             war nicht ganz positiv.”
                                                                                                                                                        Klicpera, 2005), dass die Beratung durch die Schulbehörden
                                                                                                                                                        in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Einfluss            Auch die jetzige Landesschulinspektorin Frau Haucinger
                                                                                                                                                        hatte (und immer noch hat).                                     ist in Bezug auf schulische Integration eine Frau der ersten
                                                                                                                                                                                                                        Stunde. Die ausgebildete Sonderschullehrerin bekam schon
                                                                                                                                                        Im Jahr 2003 trat die Landesschulinspektorin Petritsch in den   zu einem frühen Zeitpunkt Zweifel an der Sinnhaftigkeit
                                                                                                                                                        Ruhestand und ab diesem Zeitpunkt war auch im Bundesland        einer Sonderbeschulung. Bereits im Jahr 1990 suchte sie um
                                                                                                                                                        Steiermark keine weitere Erhöhung der Integrationsquote         Versetzung von einer sehr gut ausgestatteten Sonderschule an
                                                                                                                                                        mehr festzustellen, sie blieb bei etwa 80% stehen (siehe        eine der neu gebildeten Integrationsklassen in der Sekundar-
                                                                                                                                                        Abbildung 1). Als Ursache für diese Stagnation gibt Frau        stufe an. Sie besuchte auch die von Frau Petritsch gemein-
                                                                                                                                                        Petritsch vor allem personelle Gründe an:                       sam mit Frau Vukan und Herrn Rutte ab 1990 initiierten und
                                                                                                                                                                                                                        angebotenen „Freitagskurse“, einen Ausbildungslehrgang
                                                                                                                                                        „Das stagnierte aber in den letzten Jahren und das hängt        für Integrationslehrerinnen an der Pädagogischen Akademie,
                                                                                                                                                        wiederum mit dem Kopf zusammen, der nach mir gekom-             in denen sich die Lehrer weiterbilden konnten. Diese ersten
                                                                                                                                                        men ist. Er war ein überzeugter Sonderschuldirektor und         Erfahrungen mit Integration und der fachliche Austausch
                                                                                                                                                        hat eigentlich auch gesagt, er wird das Pendel sozusagen        haben sie so geprägt, dass sie selbst sagte:

                                                                                                                                                        254
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                        „Am Ende des Schuljahres habe ich endgültig gewusst, in          einige andere Bundesländer in Österreich so nicht zutrifft,
                                                                                                                                                        der Sonderschule kann ich den Kindern alles geben, mein          womit erklärbar wird, warum sich das Schulsystem in der
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                                                                                                                                                        Bestes geben, wir hatten die besten Materialien, wir waren       Steiermark im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem fast
                                                                                                                                                        viel besser ausgestattet, aber das Wichtigstes fehlte ihnen:     vollständig integrativen entwickelt hat, während in ande-
                                                                                                                                                        Das sind die nichtbehinderten Kinder. Das ist sowohl für die     ren Bundesländern, beispielweise in Niederösterreich, zur
                                                                                                                                                        Kinder, wie auch für die LehrerInnen wichtig, auch um ein        gleichen Zeit und bei gleicher Gesetzeslage das segregative
                                                                                                                                                        Gefühl für die Realität zu behalten.“ (Haucinger)                System weitgehend unverändert bestehen blieb.

                                                                                                                                                        Auch Frau Haucinger ist eine Befürworterin der integrati-        So waren zwar das freie Elternwahlrecht und der Rechts-
                                                                                                                                                        ven Beschulung und möchte dazu beitragen, ein vollständig        anspruch auf integrative Beschulung wichtige Voraussetzun-
                                                                                                                                                        integratives Schulsystem zu schaffen. Als neue Landesschul-      gen für die Einführung eines integrativen Schulsystems in
                                                                                                                                                        inspektorin ist sie auch maßgeblich an der Umsetzung des         Österreich, noch wichtiger waren aber die einzelnen Ebenen
                                                                                                                                                        Projekts der Modellregionen verantwortlich, in dessen            der Umsetzung, von den Ministerien bis zu den verantwort-
                                                                                                                                                        Rahmen die ersten inklusiven Regionen (d. h. Integrations-       lichen Sonderpädagoginnen, welche die Beratung der Eltern
                                                                                                                                                        quote 100%) entstehen sollen. Zur Umsetzung dieser Vor-
                                                                                                                                                        gabe äußerte sie sich jedoch etwas skeptisch:                    Die Professionalisierung der
                                                                                                                                                        „Vorgabe vom Ministerium ist 2020. Bis dahin sollen die
                                                                                                                                                        Schulen soweit sein. Es sollen jetzt einmal Modellregionen
                                                                                                                                                                                                                         sonderpädagogischen Fachrichtungen
                                                                                                                                                        entstehen und damit sind nicht politische Bezirke gemeint,       ist in manchen deutschen Bundes-
                                                                                                                                                        sondern zum Beispiel die gesamte Steiermark, wo Gemein-          ländern sehr weit fortgeschritten
                                                                                                                                                        den und Länder – wo die Schulen so gebaut werden, dass es
                                                                                                                                                        Therapien vom Kindergarten an in diesem Umfeld gibt, dass        und auch die Förderbeschulung ist
                                                                                                                                                        Anwesenheit sinnvoll ist. Es soll bis 2020 nicht mehr nötig      im internationalen Vergleich extrem
                                                                                                                                                        sein, dass Kinder in Sonderschulen aufgenommen werden            differenziert ausgebaut.
                                                                                                                                                        müssen. Die Sonderschule ist also ein Auslauf modell.
                                                                                                                                                        Auch eben weil, was ich zu Beginn gesagt habe, aus mei-          von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf kon-
                                                                                                                                                        ner eigenen Erfahrung, weil die Didaktik dort schlechter ist.    kret durchführen und jenen, die die Schüler und Schülerin-
                                                                                                                                                        Es ist nicht nur aus Menschenrechtsaspekten für die Kinder       nen dann in integrativen Settings unterrichten. Hierbei wäre
                                                                                                                                                        besser in die Regelschule zu gehen. Ob aber bis 2020 alles       es auch zu begrüßen, wenn die Eltern die zukünftige Schule
                                                                                                                                                        umgebaut ist und alle Lehrerinnen [an ihren Schulen] einen       und die Lehrer und Lehrerinnen auch vor ihrer Entscheidung
                                                                                                                                                        Arbeitsplatz haben, das bezweifle ich.“ (Haucinger)              kennenlernen könnten. In Bezug auf das Elternwahlrecht
                                                                                                                                                                                                                         zwischen Förderschule und Integration hat sich allerdings
                                                                                                                                                        Diskussion                                                       inzwischen durch die Ratifizierung der UN­Konvention
                                                                                                                                                        Die integrative Beschulung in der Steiermark wurde durch         über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2008) ein
                                                                                                                                                        Eltern- und Lehrerinnenbewegungen in den 1980-er Jahren          Paradoxon ergeben: Im Artikel 24 dieser Konvention findet
                                                                                                                                                        initiiert. Jedoch zeigen die geschichtlichen Daten und auch      sich nämlich der Passus, dass die Vertragsstaaten das Recht
                                                                                                                                                        die Interviews mit unseren Zeitzeuginnen, dass eine sehr         von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anerkennen
                                                                                                                                                        engagierte Kerngruppe von Lehrerinnen nötig war, um die          und sich verpflichten, ein integratives Bildungssystem auf
                                                                                                                                                        integrative Schule gegen alle Widerstände im Bildungs-           allen Ebenen zu gewährleisten, um dieses Recht ohne Dis-
                                                                                                                                                        system zu etablieren. Dabei reichte es nicht, dass integrative   kriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit
                                                                                                                                                        Schulmodelle in Schulversuchen erfolgreich umgesetzt wor-        zu verwirklichen. Aus dieser Sicht betrachtet würde eine
                                                                                                                                                        den waren, es reichte nicht einmal, dass ein Bundesgesetz        Elternentscheidung für die Förderbeschulung bedeuten, dass
                                                                                                                                                        die freie Wahl der Eltern von Kindern mit sonderpädagogi-        die Eltern ihren Kindern stellvertretend die (Menschen-)
                                                                                                                                                        schem Förderbedarf zwischen Integration und Sonderschule         Rechte aberkennen können. Im Übrigen zeigt das Beispiel
                                                                                                                                                        festschrieb. Ausschlaggebend war vielmehr, dass sich die         Österreich allerdings auch, dass die gleichzeitige Umsetzung
                                                                                                                                                        Befürworterinnen der Integration in der Schulpolitik und         sowohl des integrativen Systems als auch des segregativen
                                                                                                                                                        ganz besonders auch in der Schulverwaltung konsequent            Systems die teuerste aller denkbaren Varianten ist.
                                                                                                                                                        und beharrlich dafür weiter engagierten. Dadurch war die
                                                                                                                                                        Implementierung der integrativen Beschulung nicht mehr           Vergleichbare bundesländerspezifische Probleme und
                                                                                                                                                        nur ein Wunsch einer Graswurzelbewegung, sondern wurde           Effekte dürften auch beim bevorstehenden Systemwandel in
                                                                                                                                                        zu einer Aufgabe im Rahmen eines Top-Down-Prozesses              Deutschland zu erwarten sein (Blanck, Edelstein & Powell,
                                                                                                                                                        von der Landesschulinspektorin bis zur (sonder-) pädago-         2013). Möglicherweise allerdings werden die Widerstände
                                                                                                                                                        gischen Lehrkraft im Schulsystem. Es kam daher also nicht        dagegen in Deutschland aus noch mehr unterschiedlichen
                                                                                                                                                        nur zu einem gesetzlichen Systemwandel im österreichi-           Quellen gespeist werden und damit könnte die Lage noch
                                                                                                                                                        schen Schulsystem, sondern in der Steiermark waren zudem         unübersichtlicher werden als in Österreich, denn die Profes-
                                                                                                                                                        anschließend auch genau jene Personen, die sich für diesen       sionalisierung der sonderpädagogischen Fachrichtungen ist
                                                                                                                                                        Systemwandel eingesetzt hatten, in den Stakeholder-Positi-       in manchen deutschen Bundesländern sehr weit fortgeschrit-
                                                                                                                                                        onen und konnten diesen Wandel in der Praxis entscheidend        ten und auch die Förderbeschulung ist im internationalen
                                                                                                                                                        mitgestalten und unterstützen. Dies ist ein Umstand, der auf     Vergleich extrem differenziert ausgebaut.

                                                                                                                                                        Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013                                                                                  255
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark

                                                                                                                                                                                                                            Landesschulrat für Steiermark (1998). Behördenfibel II -
                                                                                                                                                        Schlüsselwörter                                                     Anleitung zur Handhabung der 15. SchOG-Novelle, der
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                                                                                                                                                        Integration; Experteninterview, Stakeholder, Österreich             weiteren Novellen und der korrespondierenden Gesetze
                                                                                                                                                                                                                            für Schulaufsicht, Schulerhalter und Schulleiter. Graz:
                                                                                                                                                        Abstract                                                            Autor. Verfügbar unter http://www.lsr-stmk.gv.at/cms/
                                                                                                                                                        The 1993 amendment of the federal law concerning com-               beitrag/10088649/395458/ [15.03.2013]
                                                                                                                                                        pulsory schooling in Austria made it possible that the Aus-         Rutte, V. & Schönwiese, V. (2000). Zur Geschichte und
                                                                                                                                                        trian education system moved from a segregative school              Situation der Integration in Österreich. In M. Hans &
                                                                                                                                                        system towards an inclusive one. Nowadays, about 50%                A. Ginnold (Hrsg.), Integration von Menschen mit Behinde-
                                                                                                                                                        of all pupils with Special Educational Needs are taught in          rung: Entwicklungen in Europa (S. 205-221). Berlin: Luch-
                                                                                                                                                        inclusive settings. However, the integration rates vary con-        terhand.
                                                                                                                                                        siderably between the different federal provinces of Austria,       Schilcher, B. (2012). Bildung nervt. Warum unsere Kinder
                                                                                                                                                        the province of Styria being one of the forerunners with very       den Politikern egal sind. Wien: Ueberreuter.
                                                                                                                                                        high integration rates of children with Special Educational         Specht, W. (1991). Perspektiven wissenschaftlicher Begleit-
                                                                                                                                                        Needs. The presented paper tries to examine why the Styrian         forschung im Bereich der Schulversuche zur Integration
                                                                                                                                                        school system has developed towards an inclusive one in             behinderter Kinder. Graz: Zentrum für Schulversuche und
                                                                                                                                                        such a quick and determined way. In order to do this, three         Schulentwicklung.
                                                                                                                                                        qualitative expert interviews were done with the responsible        Specht, W. (1993). Evaluation der Schulversuche zum
                                                                                                                                                        persons of the school administration. In addition, scientific       gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter
                                                                                                                                                        literature and other kinds of documents that are not easily         Kinder. Graz: Zentrum für Schulversuche und Schulentwick-
                                                                                                                                                        found elsewhere (grey literature such as codes of practices,        lung. Verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/specht-
                                                                                                                                                        recommendations and laws) were considered and used to               evaluation-index.html [15.03.2013]
                                                                                                                                                        validate and, respectively, verify the results of the interviews.   Specht, W., Pirchenegger, L. G., Seel, A., Stanzel-Tischler,
                                                                                                                                                                                                                            E. & Wohlhart, D. (2007). Individuelle Förderung im System
                                                                                                                                                        Keywords                                                            Schule: Strategien für die Weiterentwicklung von Qualität in
                                                                                                                                                        Inclusion, qualitative expert interview, Stakeholder, Austria       der Sonderpädagogik. Graz: Bifie.
                                                                                                                                                                                                                            UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behin-
                                                                                                                                                        Literatur                                                           derung (2008). New York: Vereinte Nationen. Verfügbar
                                                                                                                                                        Blanck, J. M., Edelstein, B. & Powell, J. J. W. (2013). Per-        unter http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/
                                                                                                                                                        sistente schulische Segregation oder Wandel zur inklusiven          ar61106-dbgbl.pdf [15.03.2013]
                                                                                                                                                        Bildung? Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonven-              Schulorganisationsgesetz – im Bundesgesetzblatt für die
                                                                                                                                                        tion für Reformprozesse in den deutschen Bundesländern.             Republik Österreich, Wien: Bundesverlag. Verfügbar unter
                                                                                                                                                        Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, im Druck.                http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage
                                                                                                                                                        Buchner, T. & Gebhardt, M. (2011). Zur schulischen Inte-            =Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265
                                                                                                                                                        gration in Österreich – historische Entwicklung, Forschung          [15.03.2013]
                                                                                                                                                        und Status quo. Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, S. 298-304.
                                                                                                                                                        Huber, C. & Grosche, M. (2012). Das response-to-interven-           Dr. Markus Gebhardt
                                                                                                                                                        tion-Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradig-             TU München, School of Education
                                                                                                                                                        menwechsel in der Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heil-            am Susanne-Klatten-Stiftungslehrstuhl
                                                                                                                                                        pädagogik, 63 (8), S. 312-322.                                      für Empirische Bildungsforschung
                                                                                                                                                        Klicpera, C. (2005). Elternerfahrung mit Sonderschulen und          Schellingstraße 33, 80799 München
                                                                                                                                                        Integrationsklassen. Eine qualitative Interviewstudie zur           markus.gebhardt@tum.de
                                                                                                                                                        Schulwahlentscheidung und zur schulischen Betreuung in
                                                                                                                                                        drei österreichischen Bundesländern. Wien: Lit-Verlag.              Mathias Krammer, MA
                                                                                                                                                        Klicpera, C. (2007). Erfahrungen von Eltern und Schulauf-           Universität Graz,
                                                                                                                                                        sicht mit dem Elternwahlrecht in der Entscheidung über den          Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft
                                                                                                                                                        Unterrichtsort. Wien: Lit-Verlag.                                   Arbeitsbereich Integrationspädagogik und
                                                                                                                                                        Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2003). Beratung der          Heilpädagogische Psychologie
                                                                                                                                                        Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf             Merangasse 70/2, 8010 Graz, Österreich
                                                                                                                                                        in Bezug auf die Wahl der für ihre Kinder geeigneten Schul-         mathias.krammer@uni-graz.at
                                                                                                                                                        form: Aussagen der Eltern. Heilpädagogische Forschung,
                                                                                                                                                        29, S. 133-147.                                                     Prof. Dr. Peter Rossmann
                                                                                                                                                        Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2004). Prozess der           Universität Graz,
                                                                                                                                                        Antragstellung auf einen sonderpädagogischen Förder-                Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft
                                                                                                                                                        bedarf: Ergebnisse einer Befragung der Bezirksschulinspek-          Arbeitsbereich Integrationspädagogik und
                                                                                                                                                        toren und der Leiter der sonderpädagogischen Zentren in 3           Heilpädagogische Psychologie
                                                                                                                                                        Bundesländern. Behindertenpädagogik, 43, S. 377-391.                Merangasse 70/2, 8010 Graz, Österreich
                                                                                                                                                        Lamnek, S. (2005). Qualitative Sozialforschung. Basel:              peter.rossmann@uni-graz.at
                                                                                                                                                        Beltz.

                                                                                                                                                        256
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