Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark
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Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration Markus Gebhardt Mathias Krammer Peter Rossmann in der Steiermark neunten Schulstufe ausgedehnt. Die bundesgesetzlichen Zusammenfassung Regelungen sehen vor, dass den Eltern von Schulkindern mit Die integrative Beschulung von Schülern und Schü- sonderpädagogischem Förderbedarf ein Wahlrecht zwischen lerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist der integrativen Beschulung ihrer Kinder in der Regelschule in Österreich seit dem Jahr 1993 gesetzlich möglich. und dem Besuch einer Sonderschule zukommt. Die zustän- Obwohl die Gesetzgebung bundesweit einheitlich ist, digen regionalen Schulbehörden haben die Aufgabe, die von unterscheiden sich die Bundesländer in den Quoten der den Eltern nach eingehender pädagogischer Beratung getrof- integrativen Beschulung der Schüler mit sonderpädago- fene Entscheidung bezüglich des Schulbesuchs ihrer Kinder gischem Förderbedarf erheblich. Während die meisten schulorganisatorisch umzusetzen (Landesschulrat für Steier- Bundesländer die schulische Integration eher verhalten mark, 1998). Bedingt durch die föderalen Strukturen des umsetzten, stieg die Integrationsquote in der Steiermark österreichischen Staats haben die Länder in Bezug auf die innerhalb weniger Jahre rasant an und konnte auf einem Umsetzung von bundesgesetzlichen Regelungen im Schul- sowohl im nationalen als auch im internationalen Ver- wesen allerdings einen relativ großen Gestaltungsspielraum gleich sehr hohem Niveau gehalten werden. Anhand (Buchner & Gebhardt, 2011). Daraus ergaben sich erstaun- von drei Interviews der verantwortlichen Schulinspekto- liche Unterschiede in der Umsetzung der gesetzlichen Be- rinnen (als Stakeholder) werden im nachfolgenden Bei- stimmungen in den einzelnen Bundesländern. So verzeich- trag die Hintergründe für diese Entwicklung aufgezeigt nete beispielsweise das Bundesland Steiermark bereits in und damit die Bedingungen für die Entstehung eines den 1990-er Jahren eine steil ansteigende Integrationsquote weitgehend integrativen Schulsystems illustriert und (Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förder- diskutiert. bedarf, die in Regelschulklassen unterrichtet werden) bis zu Werten im Bereich von 80%, während das Bundesland Problemstellung Niederösterreich die Integration im Schulwesen eher verhal- Das österreichische Bundesland Steiermark nimmt seit Jah- ten einführte und selbst in den diesbezüglich besten Jahren ren in Bezug auf die integrative Beschulung von Schülern im Maximum nur eine ungefähr halb so hohe Integrations- mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Vorreiterrol- quote zu vermelden hatte, was in Abbildung 1 im Zeitver- le in Österreich wie auch im gesamten deutschsprachigen lauf dargestellt ist. Die Abbildung zeigt aber nicht nur die Raum ein. Bislang kann man wissenschaftlich aber keine Be- massiven länderspezifischen Unterschiede in Bezug auf den gründung abgeben, warum gerade in der Steiermark schuli- Anstieg der Integrationsquoten vor der Jahrtausendwende, sche Integration so erfolgreich umgesetzt werden konnte und sondern auch eine Stagnation der gesamtösterreichischen kann. Das Anliegen des vorliegenden Forschungsbeitrags Integrationsquote in den Jahren danach, wobei sich wiederum ist es, mündliches Wissen und wenig beachtete Beiträge aus insbesondere das Bundesland Niederösterreich durch einen der Fachliteratur zugänglich zu machen, um die Entstehung drastischen Rückgang der Integrationsquote auf Werte unter eines weitgehend integrativen Schulsystems in einer Region 30% auszeichnet. Diese massiven Unterschiede zwischen des deutschsprachigen Raums nachvollziehbar zu machen. den Integrationsquoten in einzelnen Bundesländern kann man als Ergebnis von grundlegenden Unterschieden bei der Entwicklung der Integration in Österreich Implementierung einer bundesgesetzlichen Regelung in den Im Jahr 1993 machte die österreichische Schulpolitik nach Ländern interpretieren. So bezeichneten Rutte und Schön- einer Reihe von erfolgreichen Schulversuchen, welche in wiese (2000) die Jahre nach den kämpferischen 1980-ern und den späten 1980-er Jahren durchgeführt und wissenschaft- nach den grundlegenden Implementierungsjahren Anfang der lich begleitet worden waren (Specht, 1991 & 1993), mit der 1990-er als die „beschwerliche Gegenwart“ der Integration, 15. Novelle des Bundesgesetzes über die Schulorganisation in der die Auseinandersetzung mit Vertretern und Vertrete- den Weg für die bundesweite Einführung der integrativen rinnen der Sonderschulen wieder aufflammte. Zwar konnten Beschulung von Schülern und Schülerinnen mit sonderpäda- die Befürworter und Befürworterinnen einer segregativen gogischem Förderbedarf im Bereich der Volksschule frei. Beschulung das Rad der Zeit in Bezug auf die Integration Mit der 17. Schulorganisationsgesetz-Novelle wurde im von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht Jahr 1996 diese Regelung auch auf die Sekundarstufe I bis völlig zurückdrehen, sie konnten aber einen durch Stillstand zur achten Schulstufe und schließlich im Jahr 2012 bis zur charakterisierbaren Status quo erreichen. Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013 249
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark 90 Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. 80 Steiermark ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ 70 ■ ■ 60 Österreich ■ ■ 50 ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ 40 ■ ■ ▲ ▲ ▲ ■ ▲ Nieder- 30 ■ ▲ ▲ ▲ österreich ■ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ■ x 20 ■ ▲ x x x x x 10 ▲ ▲ x x x x x x x Deutschland 0 19 5 19 6 19 7 19 8 19 9 20 0 20 1 20 2 20 3 20 4 20 5 20 6 20 7 20 8 20 9 20 0 1 /1 /9 /9 /9 /9 /9 /0 /0 /0 /0 /0 /0 /0 /0 /0 /0 /1 10 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 19 Abb. 1: Integrationsquoten von Österreich, Steiermark und Niederösterreich 1994-2010 Einige Ergebnisse der empirischen wohler fühlen werde. Des Weiteren wurden als positive Ent- Integrationsforschung in Österreich scheidungskriterien kleinere Schülergruppen und ein besse- Um die Faktoren zu identifizieren, die hinter steigenden res Angebot an Therapie- und Fördermöglichkeiten genannt. Integrationsquoten stecken, ist eine genauere Betrachtung Auch wurde von den Eltern als Grund für ihre Entscheidung der Arbeiten von Klicpera und Gasteiger-Klicpera aus den die Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung ihrer Kinder in Jahren 2000 bis 2004 hilfreich. Diese Forscher untersuch- einer Integrationsklasse genannt, sowie die Erfahrung, dass ten die Beratung der Eltern von Kindern mit sonderpäda- die künftige Klassenlehrerin so negativ auf ihr Kind reagiert gogischem Förderbedarf durch die Schulverantwortlichen, habe, dass ihnen gar nichts anderes übrig geblieben sei, als das Zustandekommen der Elternentscheidung bezüglich der die Sonderschule zu wählen (ebd., 2005). Wahl der Beschulung ihrer Kinder und die Beantragung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in den österreichischen Für die Eltern gab es somit in Bezug auf beide Beschulungs- Bundesländern Wien, Niederösterreich und Steiermark. modelle sowohl positive als auch negative Aspekte. Verall- Hierzu wurden in mehreren Projekten 89 Eltern narrativ gemeinernd kann man sagen, dass die Eltern Sorge hatten, interviewt und 1215 Eltern schriftlich befragt. Des Weiteren ob in dem jeweiligen Beschulungsmodell die Förderung wurden in jedem Bundesland fünf bis sechs Direktoren und ihres Kinds auf dem passenden Niveau sichergestellt werden Direktorinnen und insgesamt 14 Bezirksschulinspektoren könne. Am liebsten hätten Sie die Entscheidung bezüglich und -inspektorinnen gebeten, aus ihrer Sicht den Umgang der Beschulung erst nach dem Kennenlernen der zukünfti- mit der Wahl der Beschulung und dem Elternwahlrecht dar- gen Lehrer und Lehrerinnen getroffen. Dieses Kennenlernen zustellen (Klicpera, 2005; Klicpera, 2007). erfolgte aber in den allermeisten Fällen erst zu einem späte- ren Zeitpunkt. In den 89 narrativen Interviews äußerten die Eltern, die sich für integrative Beschulung ihrer Kinder in der Regelschule Eine generelle Unsicherheit in Bezug auf die Wahl der entschieden hatten, als Hauptgründe für ihre Schulwahl die Beschulungsform äußerten in der schriftlichen Befragung erhoffte Anregung durch nichtbehinderte Kinder, die bessere ein Viertel der Eltern der integrativ unterrichteten Kinder soziale Integration ihres Kinds am Wohnort sowie Vertrauen und ein Drittel der Eltern von Kindern aus Förderschulen. in die Fähigkeiten ihres Kinds und den positiven Eindruck, Nur die Hälfte der Eltern der integrativen beschulten Schü- den die zukünftige Lehrerin auf sie gemacht hatte. Als große ler und ein Drittel der Eltern von Kindern aus Förderschulen Sorge wurde in diesem Zusammenhang geäußert, ob sich wohl gaben dagegen an, dass Sie über diese Entscheidung nicht noch genug andere Kinder mit sonderpädagogischem Förder- lange nachdenken mussten (Klicpera, 2007). Insgesamt fiel bedarf finden würden, um eine volle Integrationslehrerstelle die Entscheidung den Eltern von Kindern mit einer geisti- für die Regelschulklasse zu bekommen (Klicpera, 2005). Die gen Behinderung leichter als Eltern mit Kindern mit einer Eltern, die sich für die Beschulung in einer Sonderschule ent- Lernbehinderung. Es kann angenommen werden, dass die schieden hatten, äußerten als Begründung für ihre Wahl die Entscheidung für ein bestimmtes Beschulungsmodell von erwartete größere Rücksichtnahme auf die Behinderung ihres den Erfahrungen mit der sonderpädagogischen Betreuung im Kinds in der Sonderschule, den geringeren Leistungsdruck vorschulischen Bereich beeinflusst wurde. und die damit verbundene Annahme, dass sich ihr Kind dort 250
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Untersuchung war, Die Frage nach der Wahl der Schulform und damit des Schul- dass vor allem unsichere Eltern berichteten, dass versucht orts stellt sich spätestens im Zusammenhang mit der Beantra- Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. wurde, sie umzustimmen und sie zu Gunsten einer bestimm- gung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Zwar können ten Beschulungsform zu beeinflussen. Dies war sowohl in Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förder- Richtung der integrativen Beschulung als auch in Richtung bedarf auch nach der Anerkennung des sonderpädagogischen der Förderbeschulung der Fall. Um den Eltern die Entschei- Bedarfs noch die Schule wechseln. Allerdings müsste dabei dung in Bezug auf die Schulwahl zu erleichtern, wurde im wieder ein neuer Antrag gestellt werden, da das sonderpäda- Beantragungsverfahren der Mehrheit der Eltern (ca. 60%) gogische Gutachten sowohl den Schulort als auch die Lehr- vorgeschlagen, mit der zukünftigen Lehrerin Kontakt aufzu- planzuweisung beinhaltet. Der formale Weg ist hier, dass nehmen oder die in Frage kommende Schule zu besuchen und die Eltern oder die Lehrerinnen einen Antrag auf Zuweisung anzusehen. Konkret zur Besichtigung kam es jedoch nur bei eines sonderpädagogischen Förderbedarfs beim zuständigen 14% bis 27% der befragten Eltern (Klicpera, 2007). Hierbei Bezirksschulrat stellen. Dann wird ein sonderpädagogisches ist zu erwähnen, dass von den Eltern das direkte Kennen- Gutachten nach den Grundsätzen der Förderdiagnostik an- lernen des Schulorts und der Lehrerin bzw. des Lehrers gefertigt (Schulorganisationsgesetz, BMUK-Erlass, 1996). als eines der wichtigsten Kriterien für die Wahl der Schule Auch die Eltern können eigene Gutachter beauftragen und genannt wurde. Obwohl dies für die Eltern eine wesentliche Gutachten vorlegen. Während des Verfahrens kann das Kind Hilfe bei der Entscheidungsfindung wäre, wird es in der auf Wunsch bzw. mit Zustimmung der Eltern für höchstens Praxis immer noch relativ selten durchgeführt. fünf Monate in der beantragten Schulform zur Beobachtung beschult werden (Landesschulrat für Steiermark, 1998). In Neben den Eltern wurden von Klicpera und Gasteiger- unserer Befragung der Schulakteure wurde angegeben, dass Klicpera (2004) auch die handelnden Akteure auf den Ebenen in der Praxis der Antrag auf Zuweisung eines sonderpädago- der Schulen und der Schulverwaltung in die Untersuchung gischen Förderbedarfs fast immer von Lehrerinnen gestellt einbezogen. Bei der Befragung der Eltern zeigte sich, dass wird und Eltern dies, wenn überhaupt, höchstens gemeinsam die Beratung in Bezug auf die Form der Beschulung meist mit den Lehrern beantragen. Allerdings wird der Antrag nicht von den Direktoren und Direktorinnen der Regelschulen und/ gestellt, wenn die Eltern strikt dagegen sind. Dann werden oder den Leitern und Leiterinnen der zuständigen Sonder- zuerst andere Möglichkeiten der Unterstützung der Schüler pädagogischen Zentren durchgeführt wurde. In Österreich sind im Schulsystem gesucht (Klicpera, 2007). Meist wird der die Leiter der sonderpädagogischen Zentren in ihrer Eigen- Antrag auf Zuerkennung des sonderpädagogischen Förder- schaft als Sonderpädagogen im Rahmen des Verfahrens zur bedarfs in den Anfangsjahren der Grundschule gestellt, Zuerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für wobei in allen drei Bundesländern angegeben wurde, dass die Erstellung der sonderpädagogischen Gutachten zuständig ein verlorenes Schuljahr schon ein Mindestkriterium sein und sie organisieren sowohl die Beschulung der Kinder in den müsse. Ein Beobachtungszeitraum von fünf Monaten böte angegliederten Förderschulen als auch die Entsendung von nach Meinung einiger Bezirksschulinspektoren eine gute Förderschullehrer und -lehrerinnen für die in Regelschulen Informationsgrundlage vor einer Antragstellung. Dies integrierten Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogi- kommt aber eher selten (nur in etwa zehn Prozent der Fälle) schem Förderbedarf. In Niederösterreich wurden die Eltern vor. Akteure aus der Steiermark erachteten diese befristete nach ihren Angaben auch von den jeweils zuständigen Be- Zuweisung für weniger sinnvoll. Man vertrat hier eher die zirksschulinspektorinnen beraten, die letztlich auch über den Ansicht, dass die schulsystemischen Ressourcen, welche auf Antrag auf Zuerkennung des sonderpädagogischen Förder- Bezirksebene gebündelt sind, zuerst voll beansprucht werden bedarfs entscheiden. Während die Bezirksschulinspektoren sollten und erst dann bei Vorliegen berechtigter Gründe der sich nach Meinung der Eltern im Beratungsgespräch meist Antrag auf Zuweisung eines sonderpädagogischen Förder- neutral in Bezug auf die möglichen Beschulungsformen ver- bedarfs gestellt werden sollte (Klicpera, 2007). Zum besse- hielten und beide Förderungsmöglichkeiten gleichrangig ren Verständnis muss hier erwähnt werden, dass der sonder- behandelten, war dies bei Besprechungen mit den Direktoren pädagogische Förderbedarf in Österreich nur für eine recht der Regelschulen und den Leitern der sonderpädagogischen kleine Schülergruppe reserviert ist, nämlich für jene, die auf- Förderzentren nicht immer der Fall. Dieses Bild bestätigte grund einer Behinderung dem Unterricht in der Regelschule sich auch bei der Befragung der Akteure im Schulsystem. ohne zusätzliche Unterstützung nicht zu folgen vermögen. Vor allem die Leiter der sonderpädagogischen Förderzentren Daher darf heute der Prozentsatz an Kindern mit sonderpäda- gaben an, nach ihrer jeweiligen eigenen Überzeugung für gogischem Förderbedarf auch nicht größer sein als der Pro- oder gegen die integrative Beschulung zu beraten. Bei der zentsatz jener Kinder, die früher aus denselben Gründen Auswertung der Befragungen zeigte sich diesbezüglich auch eine Sonderschule besucht hatten. Dies trifft beispielsweise ein Unterschied zwischen den Bundesländern. So gaben die in der Steiermark nur auf etwa 3,4 % der Schülerinnen zu. Leiter der sonderpädagogischen Förderzentren aus dem inte- In Diskussion ist allerdings der Ausbau des Schulsystems grativen System der Steiermark an, bei den Besprechungen in Richtung Prävention (Specht, Pirchenegger, Seel, Stan- mit den Eltern eher für die Integration zu werben, während zel-Tischler & Wohlhart, 2007), in dessen Rahmen es auch ihre Kollegen aus Niederösterreich eher die Sonderbeschu- Ressourcen und Förderstunden für Schülerinnen und Schüler lung favorisierten. mit weniger stark ausgeprägten und/oder nicht auf Behinde- rungen zurückzuführende Schulschwierigkeiten geben sollte. Ein solches System könnte prinzipiell einem Response-to- Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013 251
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark Intervention-Ansatz (Huber & Grösche, 2012) entsprechen, mit der vorliegenden Interviewstudie der Frage nachgehen, wobei der sonderpädagogische Förderbedarf dann erst die was dazu geführt hat, dass die steirische Schuladministration Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. letzte Stufe einer Hierarchie von Fördermöglichkeiten dar- die oben genannten Bundesgesetze so rasch und zielstrebig stellen würde. Aktuell gibt es aber neben dem sonderpäda- und über weitere zwei Jahrzehnte so beharrlich umsetzte, gogischen Förderbedarf nur wenige schulsystemische Res- während andere Bundesländer diesbezüglich eher verhalten sourcen für kompensatorische pädagogische Maßnahmen, reagierten. beispielsweise für die individuelle Förderung von Schülern aus benachteiligten sozialen Milieus. Im Gegensatz zum Methode sonderpädagogischen Förderbedarf besteht jedenfalls kein Hinweise zur Beantwortung solcher, auf systemische Hinter- Rechtsanspruch auf Unterstützungen dieser Art und es gibt gründe gerichtete Fragen kann man nur von Experten erwar- dafür auch keine schulgesetzlich festgeschriebenen Ressour- ten, die selbst Teil des jeweiligen Systems waren oder sind. cen. Denn weder haben andere Akteure aus dem Bildungsbereich das entsprechende Wissen darüber, noch ist dieses durch Fragestellung Analysen der vorliegenden Forschungsliteratur oder anhand Aus aktuellen Forschungsübersichten und den Zahlen der der Publikationen von (Schul-) Behörden oder Ministerien Bildungsstatistik geht hervor, dass Österreich in einzelnen rekonstruierbar (Lamnek, 2005). Bundesländern ein gut ausgebautes integratives Schulsystem hat, während andere Bundesländer weiterhin ein eher segre- Unsere Interviewpartnerinnen waren Frau Dr. Brigitte Pet- gatives System beibehalten haben (Buchner & Gebhardt, ritsch (Steiermärkische Landesschulinspektorin für Sonder- 2011). Es ist aber keineswegs geklärt, warum sich die Inte- pädagogik von 1994-2003), Frau Hofrätin Dipl.-Päd. Helga grationsquoten bzw. die verfolgten (schul-) pädagogischen Thomann (Steiermärkische Landesschulinspektorin für die Ansätze in den Bundesländern so stark unterscheiden. Durch Volksschulen seit 1998) und Frau Dipl.-Päd. Sabine Hau- die schulgesetzlichen Regelungen, die auf Bundesebene cinger (Steiermärkische Landesschulinspektorin für Sonder- getroffen wurden und daher für ganz Österreich Gültigkeit pädagogik seit 2012). Den befragten Expertinnen wurden haben, wäre es im Prinzip in allen Bundesländern gleicher- Stichwortzettel vorgelegt und sie wurden gebeten, die Stich- maßen möglich, dass sich die Eltern von Kindern mit sonder- worte bei ihrer narrativen Erzählung über die Entwicklung pädagogischem Förderbedarf für die integrative Beschulung der schulischen Integration in der Steiermark als Gliede- entscheiden. Unterschiede zwischen den Integrationsquoten rungshilfen zu nutzen. Gegen Ende des jeweiligen Gesprächs der einzelnen Bundesländer sind demnach vermutlich auf fand eine Diskussion statt. Die Gespräche fanden an der Uni- Aspekte der unterschiedlichen Implementation der schul- versität Graz statt, dauerten jeweils etwa 90 Minuten, wurden gesetzlichen Bestimmungen zurückzuführen. Die Ergebnisse mittels eines digitalen Diktiergeräts aufgezeichnet und in der der Forschungsarbeiten von Klicpera und Gasteiger-Klicpe- Folge wörtlich transkribiert. ra legen den Schluss nahe, dass in der Praxis die Beratung der Eltern durch die schulischen Akteure und das konkrete Ergebnisse schulische Angebot die Elternentscheidung wesentlich be- Im Jahre 1983 hatte die damalige Sonderschullehrerin einflussen. Wenn es in einer Region ein breites Angebot für Brigitte Petritsch die integrative Fläming Grundschule in die integrative Beschulung von Kindern mit sonderpädagogi- Berlin besucht. Die dortigen Erfahrungen und Einblicke in schem Förderbedarf gibt, scheint sich auch die Mehrzahl der ein integratives Schulsystem bewirkten einen Erkenntnis- Eltern für diese zu entscheiden. Noch weniger klar ist aber, gewinn und einen nachhaltigen Einstellungswandel, den sie warum gerade die Steiermark eine solche Vorreiterstellung wie folgt beschreibt: in Bezug auf den integrativen Weg einnahm. Zwar gab es, historisch betrachtet, in der Steiermark in den 1980-er Jahren „Dort ist mir der Knopf aufgegangen. Plötzlich habe ich eine breitere und größere Elternbewegung pro Integration als erkannt, dass ich die beste Lehrerin der Welt sein kann, dass in anderen Bundesländern, jedoch keine wesentlichen Unter- ich aber den Kindern mit Behinderung nie die Kinder ohne schiede in Bezug auf andere schulische Rahmenbedingun- Behinderung ersetzen kann. Ich bin zwar ein gutes Modell, gen. Auch die Bildungspolitik der Steiermärkischen Landes- aber sie haben keine anderen Modelle und sie sind letztlich regierung (die Steiermark wurde bis 2005 von Konservativen isoliert, am schönen Rosenhain, in der teuersten Gegend, und in der jüngeren Vergangenheit von Sozialdemokraten als schön abseits von der Welt, von den anderen Menschen.“ stimmenstärkste Fraktion regiert, mit der jeweils anderen (Petritsch) Partei als Koalitionspartnerin), war ursprünglich nicht grund- sätzlich anders angelegt als jene in anderen Bundesländern. In der Steiermark fand Frau Petritsch weitere Mitstreiter aus Es gibt also von außen betrachtet keinen unmittelbar einsich- Lehrerinnen, Erzieherinnen und Eltern. Diese Vorkämpfer tigen Grund, warum gerade in der Steiermark – verglichen für die Integration von behinderten Kindern waren es auch, mit anderen österreichischen Bundesländern, aber auch im die in Graz die „Initiative Soziale Integration“ gründeten und Vergleich zu Deutschland – eine solch konsequente Umset- damit zu den Wegbereitern eines inklusiven Schulsystems zung des Integrationsgedankens in der Schule stattfand. Die in der Steiermark wurden (Schilcher, 2012, S. 139). Eine Vermutung liegt nahe, dass eine der wesentlichen Ursachen dieser Pionierinnen war Frau Thomann, damals Volksschul- für diesen nachdrücklichen Systemwechsel in der Schul- direktorin in Kalsdorf bei Graz und selbst Mutter einer verwaltung selbst zu suchen ist. Konkret wollten wir daher behinderten Tochter. Sie selbst beschreibt die Gründe für ihr 252
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark erwachendes Interesse am Integrationsgedanken folgender- normalen Behördenweg, sondern öffentlich im Rahmen einer maßen: Radiosendung des Österreichischen Rundfunks geschah, an Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. der Minister Moritz als Gesprächspartner für Schulfragen „Ich bin Mutter einer behinderten Tochter, die mittler weile teilnahm. Dies war gewissermaßen der erste Schulversuch 44 Jahre alt ist, sie ist Spastikerin. Ich habe diesen Leidens- in Österreich, der über das Radio genehmigt wurde. Frau weg ganz genau persönlich miterlebt. Zuerst hat es geheißen, Petritsch beschreibt die damaligen Ereignisse folgender- naja, Sondervorschule, Sonderschule... Ohne noch bewusst maßen: zu empfinden, was Integration ist, haben wir sie heraus- gerissen aus der Sonderschule, weil wir gemerkt haben, „Frau Thomann rief an: ‚Herr Minister, wir wollen einen dass ihre Entwicklung sich verschlechtert hat. Das Kind hat Schulversuch machen, er läuft bereits, und wir brauchen vorher tadellos gesprochen und hat in der Vorschulklasse ihre Genehmigung: behinderte und nicht behinderte Kinder Sprachfehler angenommen – es war reine Intuition damals, gemeinsam.‘ Und er sagte: ‚Gehen Sie davon aus, der Schul- Michaela nicht in der Sonderschule zu lassen.“ (Thomann) versuch wird genehmigt.‘“ (Petritsch) Durch den Austausch mit zwei weiteren Lehrerinnen, welche Ab dem Schuljahr 1987/88 liefen bereits in ganz Öster- ebenfalls Kinder mit Behinderungen hatten, wurden ihre reich behördlich genehmigte Schulversuche zur Integration persönlichen Erfahrungen zu den gemeinsamen beruflichen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Erfahrungen in Beziehung gesetzt: Regelschule. Im Jahr 1990 besuchte der damals neu ernannte Steirische Landesschulratspräsident Univ.-Prof. Dr. Bernd „Unter anderem war das Kind der Religionslehrerin mit Schilcher auf Einladung von Frau Petritsch die integrativen Down-Syndrom ausschlaggebend. Mein eigener Sohn war Klassen in Kalsdorf und dies stellte quasi eine Initialzündung damals im Kindergarten und hat gesagt: ‚Mama, warum soll für die weiteren Entwicklungen dar, vor allem auf der formel- denn der Matthias jetzt nicht mit uns in die Schule gehen?‘ – len und juristischen Ebene. In den Worten von Frau Petritsch: Matthias ist das Kind mit Down-Syndrom. Und dann haben wir eigentlich erst darüber nachzudenken angefangen.“ Im Übrigen zeigt das Beispiel Öster- (Thomann) reich allerdings auch, dass die In Frau Thomanns Schule wurde im Jahr 1985 (ohne gleichzeitige Umsetzung sowohl des Genehmigung der Schulbehörden) die erste Integrations- klasse der Steiermark eingerichtet. Besonders hervorzuheben integrativen Systems als auch des ist dabei, dass es allen Beteiligten wichtig war, dass diese segregativen Systems die teuerste Integrationsklasse keine Kooperationsklasse darstellte. Erleichtert wurde die Umsetzung dadurch, dass die belieb- aller denkbaren Varianten ist. teste Lehrerin der Volksschule – Frau Helga Vukan – von Frau Thomann für das Projekt als Klassenlehrerin gewonnen „Er hatte so wenig Ahnung, er fragte mich flüsternd: ‚Was werden konnte. hat denn das Kind?‘ Mittlerweile weiß er das natürlich. Von dort ist dann eine Österreichinitiative entstanden. Die Tiro- „Jeder in Kalsdorf wollte immer schon sein Kind bei Frau ler haben nachgezogen, die Wiener. Und irgendwann ist es Vukan in der Klasse haben. Es war ein guter Coup von mir, gelungen, mit Hilfe von Schilcher, Ministerin Hawlicek, die sie zu gewinnen. Wir waren dann in der Schule, Herr No- sehr viel mithalf, und dann dem entscheidenden Minister, bis, der Sonderschullehrer, der zu uns versetzt wurde, und Scholten, – der als roter Minister mit dem schwarzen Lan- ich, haben den Eltern einen Film gezeigt, sie informiert, desschulratspräsidenten gut konnte, das ist ja in Österreich nicht gedrängt. Die Eltern hatten eine Woche Zeit, sich zu eine Seltenheit. Es beginnt an der Spitze. Die Bewegung ist entscheiden. Es sollten drei Parallelklassen entstehen und von unten gekommen, aber wenn nicht der Minister und der 80 % der Eltern der nicht behinderten Kinder haben sich für Landesschulratspräsident dagewesen wären, hätten wir uns die Integrationsklasse entschieden. […] Und dann, bin ich ‚brausen gehen‘ können. Und dadurch, dass ich dann da mit gutem Beispiel vorangegangen, und habe meinen nicht- war, war allen Lehrerinnen und Schulleiterinnen klar: Jetzt behinderten Sohn in diese Klasse gegeben, weil ich Interesse geht es in diese Richtung!“ (Petritsch) daran gehabt habe, dass er wegen seiner Schwester natür- lich einen guten Zugang zu Menschen mit Behinderungen Der erwähnte Landesschulratspräsident Schilcher ent- bekommt. Für die Eltern war das ein Zugpferd, weil mein wickelte sich in der Folge zu einem wichtigen Unter- Bub begabt war, und da haben sie gewusst, wenn ich das stützer der Integrationsbewegung. Auf seine Initiative war wage, dann können sie das vielleicht auch wagen. Diese es wesentlich zurückzuführen, dass der Steiermärkische Ängste, die die Eltern haben, muss man ernst nehmen und Landtag im Jahr 1992 einen Initiativantrag verabschiedete, die sind heute immer noch genauso vorhanden.“ (Thomann) in dem die Landesregierung aufgefordert wurde, an die Bundesregierung heranzutreten, sie möge beschließen, dass Dieser Schulversuch wurde im Laufe des Jahrs 1985 vom in Österreich „entsprechend der Zielsetzung der von der damaligen Unterrichtsminister Moritz nachträglich ge- UN erklärten Dekade behinderter Menschen das Recht auf nehmigt. Hierbei ist anzumerken, dass dies nicht über den volle Teilnehme am schulischen Leben verwirklicht wird“ Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013 253
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark (Landesschulrat für Steiermark, 1998, S. 8). Da von den zurück… Es lässt sich eh nicht mehr zurückentwickeln, aber Genannten und ihren Mitstreitern auch auf der formellen und trotzdem könnte man wahrscheinlich schon [bei einer Inte- Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. institutionellen Ebene eine Reihe von Befürwortern der Inte- grationsquote] gegen 100 % sein.“ (Petritsch) gration gewonnen werden konnte, wurde es möglich, dass das österreichische Parlament im Jahr 1993 die bereits er- Frau Thomann wurde nach ihrer Tätigkeit als Schuldirek- wähnte Novellierung des Bundesgesetzes verabschiedete. torin in Kalsdorf zuerst zur Bezirksschulinspektorin für die Auf der Ebene der Bundesregierung war dabei vor allem Volksschulen im Bezirk Graz-Umgebung ernannt und dann Bundesminister Rudolf Scholten eine treibende Kraft. Frau ab 1998 zur Landesschulinspektorin für das Volksschul- Petritsch, die Integrationsbefürworterin, wurde 1994 zur wesen in der Steiermark. In beiden Positionen konnte sie ent- steirischen Landesschulinspektorin für Sonderpädagogik scheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung ausüben: ernannt und ging sogleich daran, in ihrem Wirkungsbereich die neuen gesetzlichen Möglichkeiten zielstrebig umzu- „Ich war 12 Jahre Schulleiterin und Kalsdorf war dann die setzen. Die geschilderten Entwicklungen und die Tatsache, einzige Integrationsschule, die Integration als durchlaufen- dass wichtige Entscheidungspositionen in der Schulbehörde des Prinzip hatte. Die erste Klasse in Oberwart ist nämlich mit Integrationsbefürworterinnen besetzt waren, welche die die einzige geblieben. Wir haben dann jedes Jahr eine weitere aufgebaut – und dann bin ich Bezirksschulinspektorin für Graz-Umgebung Nord geworden und war das fünf Jahre und Die integrative Beschulung in der hab eigentlich Integration in der Folge umsetzen können. Und das war für mich wirklich eine interessante Phase, Steiermark wurde durch Eltern- und denn da habe ich es geschafft, dass in Graz-Umgebung Nord Lehrerinnenbewegungen in den keine Schule mehr Angst vor Integration hatte. – Zuerst war 1980-er Jahren initiiert. es doch so, dass es geheißen hat, die Kinder mit sonder- pädagogischem Förderbedarf sollen irgendwohin gehen aber nicht zu uns. Als ich den Bezirk dann verlassen habe, Entstehung eines integrativen Schulsystems entscheidend weil ich Landessschulinspektorin geworden bin, waren alle unterstützten, machen es erklärbar, warum gerade in der Schulen bereit, Kinder [mit sonderpädagogischem Förder- Steiermark in den 1990-er Jahren die Integrationsquote der- bedarf] aufzunehmen und es hat auch recht gut geklappt. art stark angestiegen ist. Einen ganz wesentlichen Einfluss- Und jetzt zur historischen Entwicklung der Inklusion - faktor in diesem Zusammenhang stellte die Beratung der jedenfalls war Integration so gedacht, als absolut inklusiv. Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Im Schulversuch mussten wir keine Bescheide ausstellen, da bei ihrer Entscheidung zwischen integrativer Beschulung in haben wir das so gehandhabt, dass wir einfach beschrieben einer Regelschule oder traditioneller Unterrichtung in einer haben, wie weit das Kind entwickelt ist. Dann mussten wir Förderschule dar. Diese Beratungsfunktion kommt nach den einen Vermerk machen: In dem Gegenstand hat das Kind bundesgesetzlichen Regelungen insbesondere den Bezirks- [mit sonderpädagogischem Förderbedarf] den Volksschul- schulräten zu, die als regionale Schulbehörden damit großen lehrplan nicht erfüllt, sondern ist nach allgemeinem Sonder- Einfluss ausüben können. Aus empirischen Untersuchungen schullehrplan oder Schwerstbehindertenlehrplan unterrich- wissen wir, dass die Eltern sich je nach Schulbezirk unter- tet worden. – Anfangs war es aber nur ein kleiner Vermerk. schiedlich häufig für oder gegen die integrative Beschulung Es hat keine Bescheide gegeben, das heißt, für uns war das entscheiden. Zwar liegt die letztgültige Entscheidung darü- damals eigentlich viel inklusiver als heute, aber die Juristen ber, in welchem Rahmen ein Kind mit sonderpädagogischem haben uns sozusagen klar gemacht, dass es Rechtssicher- Förderbedarf beschult wird, bei den Eltern (Landesschulrat heit geben muss. Wir haben es dann auch verstanden, dass für Steiermark, 1998), jedoch zeigten sowohl Befragungen Eltern das Recht haben müssen zu berufen und so weiter, von Eltern als auch Interviews mit Bezirksschulinspekto- aber ich bin nach wie vor der Meinung, diese Entwicklung rinnen (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2003 & 2004; war nicht ganz positiv.” Klicpera, 2005), dass die Beratung durch die Schulbehörden in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Einfluss Auch die jetzige Landesschulinspektorin Frau Haucinger hatte (und immer noch hat). ist in Bezug auf schulische Integration eine Frau der ersten Stunde. Die ausgebildete Sonderschullehrerin bekam schon Im Jahr 2003 trat die Landesschulinspektorin Petritsch in den zu einem frühen Zeitpunkt Zweifel an der Sinnhaftigkeit Ruhestand und ab diesem Zeitpunkt war auch im Bundesland einer Sonderbeschulung. Bereits im Jahr 1990 suchte sie um Steiermark keine weitere Erhöhung der Integrationsquote Versetzung von einer sehr gut ausgestatteten Sonderschule an mehr festzustellen, sie blieb bei etwa 80% stehen (siehe eine der neu gebildeten Integrationsklassen in der Sekundar- Abbildung 1). Als Ursache für diese Stagnation gibt Frau stufe an. Sie besuchte auch die von Frau Petritsch gemein- Petritsch vor allem personelle Gründe an: sam mit Frau Vukan und Herrn Rutte ab 1990 initiierten und angebotenen „Freitagskurse“, einen Ausbildungslehrgang „Das stagnierte aber in den letzten Jahren und das hängt für Integrationslehrerinnen an der Pädagogischen Akademie, wiederum mit dem Kopf zusammen, der nach mir gekom- in denen sich die Lehrer weiterbilden konnten. Diese ersten men ist. Er war ein überzeugter Sonderschuldirektor und Erfahrungen mit Integration und der fachliche Austausch hat eigentlich auch gesagt, er wird das Pendel sozusagen haben sie so geprägt, dass sie selbst sagte: 254
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark „Am Ende des Schuljahres habe ich endgültig gewusst, in einige andere Bundesländer in Österreich so nicht zutrifft, der Sonderschule kann ich den Kindern alles geben, mein womit erklärbar wird, warum sich das Schulsystem in der Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. Bestes geben, wir hatten die besten Materialien, wir waren Steiermark im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem fast viel besser ausgestattet, aber das Wichtigstes fehlte ihnen: vollständig integrativen entwickelt hat, während in ande- Das sind die nichtbehinderten Kinder. Das ist sowohl für die ren Bundesländern, beispielweise in Niederösterreich, zur Kinder, wie auch für die LehrerInnen wichtig, auch um ein gleichen Zeit und bei gleicher Gesetzeslage das segregative Gefühl für die Realität zu behalten.“ (Haucinger) System weitgehend unverändert bestehen blieb. Auch Frau Haucinger ist eine Befürworterin der integrati- So waren zwar das freie Elternwahlrecht und der Rechts- ven Beschulung und möchte dazu beitragen, ein vollständig anspruch auf integrative Beschulung wichtige Voraussetzun- integratives Schulsystem zu schaffen. Als neue Landesschul- gen für die Einführung eines integrativen Schulsystems in inspektorin ist sie auch maßgeblich an der Umsetzung des Österreich, noch wichtiger waren aber die einzelnen Ebenen Projekts der Modellregionen verantwortlich, in dessen der Umsetzung, von den Ministerien bis zu den verantwort- Rahmen die ersten inklusiven Regionen (d. h. Integrations- lichen Sonderpädagoginnen, welche die Beratung der Eltern quote 100%) entstehen sollen. Zur Umsetzung dieser Vor- gabe äußerte sie sich jedoch etwas skeptisch: Die Professionalisierung der „Vorgabe vom Ministerium ist 2020. Bis dahin sollen die Schulen soweit sein. Es sollen jetzt einmal Modellregionen sonderpädagogischen Fachrichtungen entstehen und damit sind nicht politische Bezirke gemeint, ist in manchen deutschen Bundes- sondern zum Beispiel die gesamte Steiermark, wo Gemein- ländern sehr weit fortgeschritten den und Länder – wo die Schulen so gebaut werden, dass es Therapien vom Kindergarten an in diesem Umfeld gibt, dass und auch die Förderbeschulung ist Anwesenheit sinnvoll ist. Es soll bis 2020 nicht mehr nötig im internationalen Vergleich extrem sein, dass Kinder in Sonderschulen aufgenommen werden differenziert ausgebaut. müssen. Die Sonderschule ist also ein Auslauf modell. Auch eben weil, was ich zu Beginn gesagt habe, aus mei- von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf kon- ner eigenen Erfahrung, weil die Didaktik dort schlechter ist. kret durchführen und jenen, die die Schüler und Schülerin- Es ist nicht nur aus Menschenrechtsaspekten für die Kinder nen dann in integrativen Settings unterrichten. Hierbei wäre besser in die Regelschule zu gehen. Ob aber bis 2020 alles es auch zu begrüßen, wenn die Eltern die zukünftige Schule umgebaut ist und alle Lehrerinnen [an ihren Schulen] einen und die Lehrer und Lehrerinnen auch vor ihrer Entscheidung Arbeitsplatz haben, das bezweifle ich.“ (Haucinger) kennenlernen könnten. In Bezug auf das Elternwahlrecht zwischen Förderschule und Integration hat sich allerdings Diskussion inzwischen durch die Ratifizierung der UNKonvention Die integrative Beschulung in der Steiermark wurde durch über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2008) ein Eltern- und Lehrerinnenbewegungen in den 1980-er Jahren Paradoxon ergeben: Im Artikel 24 dieser Konvention findet initiiert. Jedoch zeigen die geschichtlichen Daten und auch sich nämlich der Passus, dass die Vertragsstaaten das Recht die Interviews mit unseren Zeitzeuginnen, dass eine sehr von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anerkennen engagierte Kerngruppe von Lehrerinnen nötig war, um die und sich verpflichten, ein integratives Bildungssystem auf integrative Schule gegen alle Widerstände im Bildungs- allen Ebenen zu gewährleisten, um dieses Recht ohne Dis- system zu etablieren. Dabei reichte es nicht, dass integrative kriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit Schulmodelle in Schulversuchen erfolgreich umgesetzt wor- zu verwirklichen. Aus dieser Sicht betrachtet würde eine den waren, es reichte nicht einmal, dass ein Bundesgesetz Elternentscheidung für die Förderbeschulung bedeuten, dass die freie Wahl der Eltern von Kindern mit sonderpädagogi- die Eltern ihren Kindern stellvertretend die (Menschen-) schem Förderbedarf zwischen Integration und Sonderschule Rechte aberkennen können. Im Übrigen zeigt das Beispiel festschrieb. Ausschlaggebend war vielmehr, dass sich die Österreich allerdings auch, dass die gleichzeitige Umsetzung Befürworterinnen der Integration in der Schulpolitik und sowohl des integrativen Systems als auch des segregativen ganz besonders auch in der Schulverwaltung konsequent Systems die teuerste aller denkbaren Varianten ist. und beharrlich dafür weiter engagierten. Dadurch war die Implementierung der integrativen Beschulung nicht mehr Vergleichbare bundesländerspezifische Probleme und nur ein Wunsch einer Graswurzelbewegung, sondern wurde Effekte dürften auch beim bevorstehenden Systemwandel in zu einer Aufgabe im Rahmen eines Top-Down-Prozesses Deutschland zu erwarten sein (Blanck, Edelstein & Powell, von der Landesschulinspektorin bis zur (sonder-) pädago- 2013). Möglicherweise allerdings werden die Widerstände gischen Lehrkraft im Schulsystem. Es kam daher also nicht dagegen in Deutschland aus noch mehr unterschiedlichen nur zu einem gesetzlichen Systemwandel im österreichi- Quellen gespeist werden und damit könnte die Lage noch schen Schulsystem, sondern in der Steiermark waren zudem unübersichtlicher werden als in Österreich, denn die Profes- anschließend auch genau jene Personen, die sich für diesen sionalisierung der sonderpädagogischen Fachrichtungen ist Systemwandel eingesetzt hatten, in den Stakeholder-Positi- in manchen deutschen Bundesländern sehr weit fortgeschrit- onen und konnten diesen Wandel in der Praxis entscheidend ten und auch die Förderbeschulung ist im internationalen mitgestalten und unterstützen. Dies ist ein Umstand, der auf Vergleich extrem differenziert ausgebaut. Zeitschrift für Heilpädagogik | 06 2013 255
Zur historischen Entwicklung der schulischen Integration in der Steiermark Landesschulrat für Steiermark (1998). Behördenfibel II - Schlüsselwörter Anleitung zur Handhabung der 15. SchOG-Novelle, der Alle Urheberrechte liegen beim Verband Sonderpädagogik e. V. – Veröffentlichung und Wiedergabe sind nur mit Genehmigung des Rechteinhabers gestattet. Integration; Experteninterview, Stakeholder, Österreich weiteren Novellen und der korrespondierenden Gesetze für Schulaufsicht, Schulerhalter und Schulleiter. Graz: Abstract Autor. Verfügbar unter http://www.lsr-stmk.gv.at/cms/ The 1993 amendment of the federal law concerning com- beitrag/10088649/395458/ [15.03.2013] pulsory schooling in Austria made it possible that the Aus- Rutte, V. & Schönwiese, V. (2000). Zur Geschichte und trian education system moved from a segregative school Situation der Integration in Österreich. In M. Hans & system towards an inclusive one. Nowadays, about 50% A. Ginnold (Hrsg.), Integration von Menschen mit Behinde- of all pupils with Special Educational Needs are taught in rung: Entwicklungen in Europa (S. 205-221). Berlin: Luch- inclusive settings. However, the integration rates vary con- terhand. siderably between the different federal provinces of Austria, Schilcher, B. (2012). Bildung nervt. Warum unsere Kinder the province of Styria being one of the forerunners with very den Politikern egal sind. Wien: Ueberreuter. high integration rates of children with Special Educational Specht, W. (1991). Perspektiven wissenschaftlicher Begleit- Needs. The presented paper tries to examine why the Styrian forschung im Bereich der Schulversuche zur Integration school system has developed towards an inclusive one in behinderter Kinder. Graz: Zentrum für Schulversuche und such a quick and determined way. In order to do this, three Schulentwicklung. qualitative expert interviews were done with the responsible Specht, W. (1993). Evaluation der Schulversuche zum persons of the school administration. In addition, scientific gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter literature and other kinds of documents that are not easily Kinder. Graz: Zentrum für Schulversuche und Schulentwick- found elsewhere (grey literature such as codes of practices, lung. Verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/specht- recommendations and laws) were considered and used to evaluation-index.html [15.03.2013] validate and, respectively, verify the results of the interviews. Specht, W., Pirchenegger, L. G., Seel, A., Stanzel-Tischler, E. & Wohlhart, D. (2007). Individuelle Förderung im System Keywords Schule: Strategien für die Weiterentwicklung von Qualität in Inclusion, qualitative expert interview, Stakeholder, Austria der Sonderpädagogik. Graz: Bifie. UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behin- Literatur derung (2008). New York: Vereinte Nationen. Verfügbar Blanck, J. M., Edelstein, B. & Powell, J. J. W. (2013). Per- unter http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ sistente schulische Segregation oder Wandel zur inklusiven ar61106-dbgbl.pdf [15.03.2013] Bildung? Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonven- Schulorganisationsgesetz – im Bundesgesetzblatt für die tion für Reformprozesse in den deutschen Bundesländern. Republik Österreich, Wien: Bundesverlag. Verfügbar unter Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, im Druck. http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage Buchner, T. & Gebhardt, M. (2011). Zur schulischen Inte- =Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265 gration in Österreich – historische Entwicklung, Forschung [15.03.2013] und Status quo. Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, S. 298-304. Huber, C. & Grosche, M. (2012). Das response-to-interven- Dr. Markus Gebhardt tion-Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradig- TU München, School of Education menwechsel in der Sonderpädagogik. 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