Zwischenstopp mit Zeitreise - Vom Entstehen einer außergewöhnlichen Infrastrukturmaßnahme - IBA Thüringen
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Zwischenstopp mit Zeitreise — Vom Entstehen einer außergewöhnlichen Infrastrukturmaßnahme Elina Potratz An der Bundesautobahn A71 ist zwischen Erfurt und Sangerhausen mit der Tank- und Rastanlage Leubinger Fürstenhügel eine zukunftsweisende Infrastrukturmaßnahme entstanden, die als Fenster in die Region und die umgebende Landschaft und — so hochtrabend es auch klingen mag — sogar in die Menschheitsgeschichte gesehen werden kann. Der Leubinger Großgrabhügel entstand vor ca. 4.000 Jahren als Zeugnis einer starken Hierarchisierung der frühbronzezeitlichen Gesellschaft Mitteleuropas. Die Abtrennung einer absoluten Oberschicht gegenüber der Restbevölkerung wird erstmals deutlich sichtbar. 38 IBA THÜRINGEN MAGAZIN!#7
»Dieses Hügelmonument kennt keine vergleichbaren Vorläufer in Mitteleuropa«, macht Archäologe Dr. Mario Küßner die historische Sprengkraft des Fundes deutlich. Eine ungewöhnliche Zusammenarbeit Von 2010 bis 2015 wurde im Umfeld des Grabhü- gels die Autobahn A71 neu gebaut — eine insbe- sondere für die Region sehr bedeutende Strecke, die heute von Schweinfurt über den Thüringer Wald und Erfurt bis nach Sangerhausen führt. Die mit Planung und Bau der Autobahn sowie Autobahnen und Autobahnraststätten — das sind der Tank- und Rastanlage vom Freistaat Thü- für uns in erster Linie Orte der Effizienz: schnell ringen beauftragte Projektmanagementgesell- und praktisch, komfortabel und charakterlos. Wie schaft DEGES Deutsche Einheit Fernstraßenpla- reine Transitorte erscheinen sie, entrückt vom nungs- und -bau GmbH stand dabei von Beginn Treiben in Dörfern und Städten. Doch selbstver- an in engem Austausch mit Dr. Mario Küßner von ständlich sind auch Verkehrsinfrastrukturen ver- der Denkmalfachbehörde, dem Thüringischen woben mit komplexen Kulturlandschaften, von Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie. denen wir jedoch viel zu selten etwas erfahren. »Es gab ein sehr großes Bewusstsein dafür, dass Doch es gibt auch Ausnahmen. es sich hierbei um ein wichtiges Kulturdenkmal handelt«, berichtet DEGES-Projektleiterin Britta Sauter, eine der zentralen Koordinatorinnen des Die lange Entstehungsgeschichte gesamten Prozesses, »es war daher von Anfang an der Wunsch des Freistaates Thüringen, der An der Autobahn 71 ist als Ergebnis einer Ko- Tank- und Rastanlage eine sogenannte ›themati- operation mehrerer Gestaltungsdisziplinen ein sche Prägung‹ durch den Fürstenhügel und das Ort des Rastens geschaffen worden, der sowohl Thema der Archäologie zu geben«. ästhetisch als auch horizonterweiternd auf die Die ungewöhnliche Entscheidung, die Tank- Reisenden einwirkt. Protagonist dieses einmali- und Rastanlage mit dem Grabmonument zu gen Ortes ist, wie der Name schon sagt, der früh- verbinden, rief schließlich die Akteurinnen und bronzezeitliche Leubinger Fürstenhügel. Akteure der IBA Thüringen auf den Plan. Wie Die Entstehungsgeschichte dieses Projekts IBA Projektleiterin Ulrike Rothe erläutert, er- muss daher — genau genommen — schon vor rund kannte man hier früh das enorme Potenzial eines 4.000 Jahren angesetzt werden, als der Fürst, der ganzheitlich entwickelten Konzepts: »Für uns war in dem ursprünglich etwa zehn Meter hohen Grab- der entscheidende Punkt, dass wir interdiszip- hügel bestattet wurde, starb und die Hinterbliebe- linär denken müssen. Es müssen sowohl die Land- nen einen beispiellosen Aufwand unternahmen, schaftsarchitektur, die Architektur und das Kom- um ihm ein Denkmal zu setzen. Der Archäologe munikationsdesign gemeinsam gedacht und ein Dr. Mario Küßner vom Thüringischen Landesamt Wettbewerb ausgelobt werden.« So wurde nach für Denkmalpflege und Archäologie (TLDA) be- Formulierung der komplexen Aufgabenstellung tont: »Das war eine Aufgabe, an der mehrere Dut- durch die DEGES mit Unterstützung durch das zend, vermutlich eher Hunderte von Menschen Weimarer Büro PAD in den Jahren 2014/2015 über Monate, möglicherweise über Jahre hinweg ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, beteiligt waren.« Doch nicht nur die überwälti- bei dem Teams aus jeweils einem Architektur-, gende Bauleistung erstaunt bei diesem Denkmal. einem Landschafts- und einem Kommunikations- Es sind die zahlreichen wertvollen Grabbeigaben, designbüro Entwurfskonzepte vorlegten. Die IBA die in der Grabkammer neben den Überresten des unterstützte hierbei mit ihrer fachlichen Exper- Toten gefunden wurden: insgesamt ein halbes tise als Kooperationspartnerin in den gestalteri- Pfund Goldschmuck, dazu Waffen sowie kostbare schen Bereichen, insbesondere bei der Auswahl Alltagsgegenstände. der Wettbewerbsjury. AUS DEN IBA PROJEKTEN 39
Der passende Entwurf Wettbewerbssiegern gut mit der Gestaltung in Einklang gebracht wurde. Dies betont insbeson- 16 Die Wettbewerbsjury wurde schließlich am meis- dere Projektleiterin Britta Sauter von der DEGES: ten von dem Büro MONO Architekten, dem Land- »Begeistert hat mich das Verständnis bei den schaftsarchitekturbüro Planorama sowie dem Wettbewerbsteilnehmern, sich wirklich an die Kommunikationsdesignbüro MUS (ehemals DAS funktionalen Vorgaben zu halten, um am Ende MOMENT) — allesamt aus Berlin — überzeugt. auch eine Aussicht auf Umsetzung zu haben.« Ihr gemeinschaftlich entwickeltes Entwurfskon- Bei der Gestaltung der mittlerweile fast voll- zept war dabei bestechend klar und raffiniert zu- ständig fertiggestellten Tank- und Rastanlage gleich: Der lang gezogene Baukörper des Rast- diente der Fürstenhügel nicht nur bei der Ge- hauses weist mit seiner verglasten Giebelseite bäudeausrichtung als Impulsgeber. So berichtet auf den Leubinger Fürstenhügel, inszeniert ihn Landschaftsarchitekt Ulf Schrader von Planora- dabei und nimmt sich selbst optisch zurück. Eine ma: »Die neue Baumbepflanzung haben wir be- vom Büro MUS konzipierte und vom TLDA fach- wusst sehr artifiziell und in Kreisen angelegt, um lich begleitete, niedrigschwellige Ausstellung zur die Form des Hügels aufzugreifen.« Auch bei Form frühbronzezeitlichen Kultur im Inneren des Ge- und Größe des Hauptbaukörpers orientierten sich bäudes setzt sich in den Außenanlagen als ›Zeit- die Architekten an der Archäologie: Namentlich reiseweg‹ bis zum Hügel fort. Dieser soll mittels am sogenannten Langhaus von Dermsdorf, einem Informationstafeln ein schrittweises Eintauchen frühbronzezeitlichen Versammlungsbau von etwa in die Vergangenheit der Region ermöglichen. 44 mal 11 Metern, dessen Überreste in Sichtweite Der Zeitreiseweg umrundet den Hügel und führt des Hügels vor einigen Jahren entdeckt wurden. zu einer Aussichtsplattform auf der Hügelkuppe, »Diese Langhaus-Typologie haben wir als Inspi- von der aus sich den Besucherinnen und Besu- ration mitgenommen und anschließend trans- chern ein beeindruckender Blick über das Thürin- formiert«, erläutert André Schmidt von MONO ger Becken erschließt. Architekten, der mit seinem Kollegen Jonas Greu- Bis aber die Umsetzung des Projekts in An- bel das Projekt betreut. griff genommen werden konnte, galt es, zunächst Während das Äußere des Baus von einer einen Betreiber — in der Fachsprache: einen Kon- Metallfassade und dem Stahltragwerk bestimmt zessionsnehmer — zu finden, der die Tank- und wird, überwiegt im Inneren des Gastraums eine Rastanlage baut und über mehrere Jahrzehnte Auskleidung aus Massivholz. »Es war eine Frage hinweg bewirtschaftet. In einem europaweiten der Ruhe, des Rastens und der Kontemplation«, Vergabeverfahren setzte sich hierbei die Shell beschreibt Architekt Jonas Greubel die hier an- Deutschland Oil GmbH durch, die sich, obwohl gestrebte Atmosphäre, »die Hoffnung ist, dass es dies nicht verpflichtend war, auch für die Umset- hier einen überraschenden Moment für die klas- zung des Siegerentwurfs aus dem Planungswett- sischen Autoreisenden gibt, die erkennen, dass bewerb gewinnen ließ. Frank Warncke, Manager hier etwas anders ist, dass dies kein reiner Transit- bei Shell Deutschland Oil, würdigt dabei die Her- ort ist, sondern wirklich ein Aufenthaltsort.« angehensweise, die Besonderheit des Ortes zu in- szenieren: »Die Region hat aus meiner Sicht die Chancen und Perspektiven des Standortes er- kannt und optimal für die Gestaltung des Umfelds genutzt«. Doch natürlich spielte auch die Wirt- schaftlichkeit und Funktionalität des Gebäude- entwurfs eine entscheidende Rolle, die von den Der lang gezogene Baukörper des Rasthauses weist mit seiner verglasten Giebelseite auf den Leubinger Fürstenhügel, inszeniert ihn dabei und nimmt sich selbst optisch zurück. 40 IBA THÜRINGEN MAGAZIN!#7
Die Neugier der Reisenden, bei einem Spaziergang auch den Leubinger Fürstenhügel zu erkunden, soll durch die Blickbeziehung und die Aus- stellung geweckt werden. > Visualisierung Ausstellungsgang (Blickrichtung Norden) < Der Ausstellungsgang spielt eine zentrale Rolle für die Erschließung der Gesamtanlage: Er empfängt, schützt und leitet die Reisenden zu allen wichtigen öffentlichen Funktionen, zu Tankshop und Raststätte. Auch das gläserne Foyer ist angebunden, die zentrale Anlaufstelle für die Besucherinnen und Besucher. ©"MONO Architekten Seite 42/43: der fast fertige Ausstellungsgang im März 2021. Der Bau der Tank- und Rastanlage begann im Oktober 2018. Die Shell Deutschland Oil GmbH wird die Anlage mindestens 30 Jahre lang betreiben. AUS DEN IBA PROJEKTEN 41
Die Neugier der Reisenden, bei einem Spazier- Mit der Inbetriebnahme der Anlage, die für Ende gang auch den Hügel zu erkunden, soll durch März 2021 vorgesehen ist, sind zahlreiche posi- die Blickbeziehung und die Ausstellung geweckt tive Erwartungen verbunden: Neugier und Be- werden. Die hier integrierten Elemente enthalten geisterung für die Archäologie sowie Interesse Vitrinen mit Funden und Nachbildungen, ertast- für die Landschaft und ihre Hintergründe zu we- bare Gegenstände, interaktive Karten sowie Hör- cken. Mit der Aufwertung dieses ungewöhnlichen nischen. Dabei treten in der Vermittlung der his- Ortes wird dabei das Potenzial von Architektur, torischen Inhalte auch Kontinuitäten bis ins Heute zutage, wie Kommunikationsdesigner Bram Loss von MUS verdeutlicht: »Diese Region konnte durch Handel und reisende Handwerker, die Tech- niken des Metallschmelzens hierherbrachten, be- sonders aufblühen und zu Wohlstand kommen — Mit der Inbetriebnahme der Anlage, die man kann durchaus Parallelen zwischen den für Ende März 2021 vorgesehen ist, sind damaligen Handels- und den heutigen Verkehrs- routen sehen.« zahlreiche positive Erwartungen verbun- den: Neugier und Begeisterung für die Archäologie sowie Interesse für die Land- Ein StadtLandKnoten schaft und ihre Hintergründe zu wecken. In südlicher Richtung vom Leubinger Fürstenhü- gel ausgehend sind aufgrund des Autobahnbaus sogenannte Ausgleichsflächen geschaffen wor- den, in denen sich die Vegetation entfalten kann. Auch hierhin führt ein Weg, der schließlich in einer Landschafts- und Kommunikationsgestaltung er- Art Landschaftsterrasse mitten im Grünen und kennbar und somit veranschaulicht, dass Infra- mit Blick auf Architektur und Fürstenhügel mün- strukturmaßnahmen nicht nur für die schnelle Be- det. Die Reisenden können somit auf verschiede- friedigung der nötigsten Grundbedürfnisse von nen Pfaden das eigentliche Raststättengelände Reisenden, sondern durchaus für Aufenthaltsqua- verlassen, was in Deutschland im Übrigen unge- lität und gesellschaftlichen Mehrwert stehen kön- wöhnlich ist. »Von der Landschaftsterrasse und nen. Für die Projektakteurinnen und -akteure hat dem Hügel aus kann man in besonderer Weise die sich zudem deutlich gezeigt, was eine intensive Kulturlandschaft wahrnehmen«, betont IBA Pro- Zusammenarbeit vieler Disziplinen unter sorgsa- jektleiterin Ulrike Rothe, »deswegen nehmen wir mer Koordination und guter Kommunikation her- das Projekt sehr stark als StadtLandKnotenpunkt vorzubringen vermag. »Beim Leubinger Fürsten- und als Schaufenster in die Region wahr.« Diese hügel wurde durch die engagierte und kreative Idee funktioniert dabei auch umgekehrt: Durch Arbeit einer Vielzahl von Menschen in Behörden, den nahe gelegenen Saale-Unstrut-Radweg sol- Unternehmen, in regionalen und lokalen Interes- len auch Fahrradfahrende und Wandernde vom sensgruppen die Chance genutzt, aus einer ›nor- Fürstenhügel ausgehend den Zeitreiseweg zur malen‹ Tank- und Rastanlage ein Highlight zu kre- Raststätte sowie die Gastronomie nutzen können. ieren«, so fasst es Shell Deutschland Oil Manager Frank Warncke zusammen. Hiermit kann der Pro- zess sicherlich für viele weitere Projekte in der Re- gion und bundesweit Modell stehen. Träger • Konzessionsgeber: Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Die Autobahn GmbH des Bundes, diese vertreten durch DEGES Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH • Konzessionsnehmer: Shell Deutschland Oil GmbH Partner • Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie • Landkreis Sömmerda • Stadt Sömmerda Förderer Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft Planungsbeteiligte • Artelia GmbH • MUS Studio • KMP Bauplanungs- und Projektmanagement • Planorama Landschaftsarchitektur • MONO Architekten • PAD Weimar IBA Projektstatus IBA Projekt seit Juni 2017 IBA Projektleiterin Ulrike Rothe 44 IBA THÜRINGEN MAGAZIN!#7
Der Siegerentwurf zur Tank- und Rastanlage Leubinger Fürstenhügel von MONO Architekten, Planorama Landschaftsarchitekten und MUS Kommunikationsdesign. Stopover with an opportunity for time travel IBA Project Leubinger Fürstenhügel Motorway Services On the A$71 motorway between Erfurt and Sanger- long, linear building that houses the services area hausen, motorists will be able to stop at a new kind and points with its glazed gable end towards the of service station that is not just a piece of motor- Leubinger Fürstenhügel. The architecture sets the way infrastructure but also serves as a gateway to scene for the burial site while remaining discreet the region and the surrounding landscape — and and restrained in its expression. An exhibition on even to the history of mankind. The namesake of the Early Bronze Age culture begins inside the this unique site is the Leubinger Fürstenhügel, a building and continues outside along the building burial mound from the Early Bronze Age in which as a ‘time travel trail’ that leads up towards the the princes of times past were interned some mound. Information panels along the way succes- 4,000 years ago. The extension to the A$71 motor- sively immerse interested visitors in the region’s way, which was built between 2010 and 2015, past. The trail eventually circles the mound and passes close by the site. leads to a viewing platform at its top, from which The concept for the planned motorway ser- visitors are able to enjoy an impressive view of the vices envisaged linked it to the ancient burial site. Thuringian Basin. A design competition was held in 2014—2015 re- The motorway service station is scheduled to sulting in a compelling design that features a be installed by the end of march 2021. AUS DEN IBA PROJEKTEN 45
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