150 Jahre "unanständige Form der Mitteilung", die Post- oder Ansichtskarte - Ortskundliche ...
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Nr. 114, Februar 2020 Rütner Dürntner 43 150 Jahre «unanständige Form der Mitteilung», die Post- oder Ansichtskarte Die neue Ausstellung der Gemeindechronik ab 8. April Britische Zeitungen lachten schon 1899 über das deutsche Postkartenfieber: «Der reisende Vor ihrer Einführung am 1. Oktober 1869 noch als «unanständige Form tion, die heute WhatsApp, SMS Teutone scheint es als seine fei der Mitteilung auf offenem Postblatt» kritisiert, traf die Postkarte den und Co. übernommen haben. erliche Pflicht zu betrachten, von Nerv der Zeit: Sie erfüllte ein Massenbedürfnis nach vereinfachtem und Eine schnelle, formlose und jeder Station seiner Reise eine raschem Informationsaustausch. preiswerte Form der Kommuni Postkarte zu schicken, als befände kation zu Zeiten, als noch längst er sich auf einer Schnitzeljagd. nicht alle Haushalte über einen Seine erste Sorge ist es, ein Gast Als man in Deutschland die Ein in denen sich nur die Gebildeten Telefonanschluss verfügten. Denn haus zu finden, wo er abwech führung eines offenen «Postblat schrieben. Das Medium Postkarte erst 1880 wurde das erste Schwei selnd sein Bier trinken und Post tes» als preiswerte Alternative nutzten Menschen aus allen so zer Telefonnetz in Zürich eröff karten adressieren kann.» zum Brief vorschlug, reagierten zialen Schichten – auch weil das net. Die private «Zürcher Telefon Zu Kriegszeiten gelangte die Post viele allergisch: Eine solche, für Porto seit 1872 nur halb so teuer gesellschaft» richtete eine Tele karte als Gratis-Lebenszeichen jedermann lesbare Karte verteu war wie für einen Brief. In einer fonzentrale mit 200 Anschlüssen zu weiterer Popularität: Schon felten sie als «unanständige Form Welt der zunehmenden Industri ein. Die Zentrale war anfänglich im Deutsch-Französischen Krieg der Mitteilung», die nicht nur das alisierung und Mobilität, in der nur tagsüber geöffnet. Ab dem 6. 1870/71 millionenfach versandt, Briefgeheimnis verletze und die die Menschen massenhaft in die November 1880 war der Betrieb wurden im Ersten Weltkrieg al Sitten verderbe, sondern – durch Städte abwanderten, hielten sie aber bereits durchgehend. Im sel lein von deutschen Soldaten laut ihren geringeren Preis –auch per Postkarte Kontakt zu den Da ben Jahr erschien auch das erste Schätzungen zehn Milliarden por noch zu sinkenden Einnahmen heimgebliebenen. Telefonverzeichnis mit 141 Teil tofreie Feldpostkarten in die Hei führe. Man verabredete sich per Post nehmern. mat geschickt. Auch die an den Weniger ängstlich als die Preus karte zum nachmittäglichen Die Postkarte profitierte aber Grenzen eingesetzten Schweizer sen gebärdeten sich die Nachbarn 15-Uhr-Tee oder mittags zum auch von der Entwicklung der Aktiv-Dienst-Soldaten nutzten in Österreich-Ungarn: Dort warb Abendessen oder einem Stell Fotografie. Sie stillte den Bilder die Feldpost, um den Daheimgeb man für die Postkarte, um teures dichein gleichentags. Da damals hunger Ende des 18. Jahrhunderts liebenen Lebenszeichen zu schi Briefpapier, Kuverts, Tinte und die Post noch mehrmals am Tag und dank dem aufkommenden cken. Das Ansichtskartebildmate Siegellack zu sparen. Die öster ausgetragen wurde, funktionier Massentourismus verbreitete sie rial war einerseits propagandis reichische Postverwaltung führte ten solche kurzfristigen Abma sich rasant. «Was ist das Erste, tisch, patriotisch oder eben auch die «Correspondenz-Karte» zum chungen meistens. wenn Herr und Frau Müller in fotografisch. Fast jede Einheit 1. Oktober 1869 ein – und löste Wenige Worte, rasch auf Papier den Himmel kommen? Sie bitten konnte Fotos der Truppe als An einen ungeahnten Hype aus. Das gekritzelt – und ab in den Brief um Ansichtspostkarten», frotzelte sichtskarte nach Hause schicken. kleine Rechteck aus Papier traf kasten damit: Die Postkarte er der Dichter Christian Morgen Dies war möglich, weil die Ama den Nerv der Zeit: Vorbei die Ära, füllte zu ihrer Blütezeit die Funk stern 1907. teur-Fotografie damals gross im Kommen war. Gleichzeitig kam die Fotopostkarte auf. So konnten die Soldaten sich solche Karten auf kartoniertem Fotopapier im üblichen Format, mit Adressfeld und Platz für ein paar Zeilen fer tigen lassen. Nach Kriegsende ebbte die Post kartenleidenschaft in dem Mass ab, in dem die Zahl der Telefon anschlüsse zunahm. Von den 1931 in Deutschland verschickten 5,7 Milliarden Briefsendungen be trug der Anteil der Postkarten nur noch 20 Prozent. Trotzdem lebte das Medium als Urlaubs- oder Weihnachtsgruss weiter. Das Bedürfnis, die Da heimgebliebenen zu grüssen und vielleicht neidisch zu machen blieb ungebrochen. Die mittler weile verbreitete Fotografie er möglichte das Versenden von Auf nahmen aus dem Urlaubsort, wo sie käuflich zu erwerben waren: Korrespondenz mit Caspar Honegger 1895. «Seht her, so schön hab ich’s hier!»
44 Rütner Dürntner Nr. 114, Februar 2020 Mit zwei verschiedenen Wertstu fen zu vier und sechs Rappen soll ten damals die Tarife für den Post verkehr innerhalb des Kantons abgedeckt werden. Innerhalb der Stadt galt der Stadtposttarif von vier Rappen, innerhalb des Kan tons mussten sechs Rappen für die Beförderung eines Briefes auf gebracht werden. Einschreiben mussten mit einer zusätzlichen Marke zu vier und sechs Rappen frankiert werden. Diese beiden Freimarken, die von Sammlern auf Grund ihrer dominierenden Ziffernzeichnungen auch Zürich 4 und Zürich 6 genannt werden, konnten schliesslich ab dem 1. März 1843 verwendet werden. Diese ungezähnten Briefmarken besassen allerdings noch keine Gummierung. Joweid im Photochrom-Verfahren mit P.Z. (Photoglob Zürich) Vor 1862 war das Frankieren eines Briefes noch freiwillig, ein zelne Absender dachten sich Die Grüsse werden farbig wurden direkt an Sammler ver den Briefträger vom Einkassieren sogar, dass der Empfänger eines Die Postkarte mauserte sich kauft. und erleichterten ihm so seinen schon frankierten Briefes belei Ende des 19. Jahrhunderts also Der Auslöser des Hypes, Orell Dienst. digt sein und annehmen könne, rasch zur Ansichtskarte. Ein mas Füssli, spaltete das Photochrom- sentaugliches Farbbildverfah Geschäft 1889 in eine Tochter ren war noch nicht erfunden. Fo firma ab und daraus ging 1895 to-Ansichtskarten wurden Abzug die Aktiengesellschaft Photoglob für Abzug per Hand koloriert, & Co. hervor, die Lizenzen unter oft mittels Schablonen, damit es anderem nach London und Det schneller ging. roit vergab. Dank dem Tourismus Der Zürcher Lithograph Hans lief das Ansichtskartengeschäft Jakob Schmid erfand für seinen immer noch auf Hochtouren – ab Arbeitgeber Orell Füssli das Pho 1930 nicht mehr mit Photochrom, tochrom-Verfahren. Dabei wurde sondern mit echten Farbfotos. das Schwarz-Weiss-Negativ auf bis Die Photochrom-Postkarte ist zu 16 lichtempfindlich gemachte ebenfalls nicht gestorben. Nach Steine projiziert, die danach in einer vorübergehenden Sammel verschiedenen Farben gedruckt welle von den 1970er bis in die wurden. Weil die Farbe transpa 1990er Jahre ist der Handel zwar rent war, konnte mit 16 Steinplat etwas eingebrochen, aber es gibt ten eine fast unendliche Zahl an immer noch Vereine und Fan Farbnuancen generiert werden. clubs wie die «Ansichtskarten Für das Verfahren gab’s an der Pa sammler-Vereinigung Schweiz». riser Weltausstellung 1900 eine Historische Photochroms – er Goldmedaille. kennbar am goldenen «P.Z.» (Pho Die Photochrom-Abzüge zeigten toglob Zürich) in der Bildunter das «warme Leben der Wirklich schrift – sind schon ab 5 Fran keit», schwärmte die NZZ. Doch ken zu haben. So berichtete die die Bilder waren mehr, gleich «Aargauer Zeitung» 2019. sam wirklicher als wirklich: Das Blau der Flüsse und Seen war Kosten und Marken blauer, der Himmel dramati Bevor man in der Schweiz die scher, die Bäckchen der Damen Briefmarke kannte und ein rosiger, als man es kannte. Das führte, war es der Postbote, der verlieh den Bildern, die nun kos vom Empfänger die Portokos tengünstig als Ansichtskarten ten in bar einziehen musste. Die aus aller Welt erhältlich waren, neuen Briefmarken, welche im einen ganz besonderen, poeti Kanton Zürich ab 1843 als welt schen Zauber. Die Hälfte dieser weit zweiter Region, zum Einsatz Ansichtskarten sahen gar nie kamen, waren auch betriebswirt eine Poststelle von innen, sie schaftliches Kalkül, sie befreiten Die Postkarte als Gratis-Lebenszeichen zu Kriegszeiten.
Nr. 114, Februar 2020 Rütner Dürntner 45 fängeradresse in der Schweiz oder im Fürstentum Liechtenstein und unbegrenzt viele Postkarten ab zwei Franken pro Stück welt weit im Format A6 versenden. Die neue App der Schweizer Post er möglicht es, persönlich fotogra fierte Motive auf der Rückseite mit einem Text zu versehen und an einen beliebigen Empfänger zu versenden. Dies aber nicht etwa digital, die Grüsse kommen tatsächlich als physische Karte beim Empfänger an. Auch auf diese freuen wir uns, vielleicht gibt es in Rüti Ecken und Orte, welche in der Chronik verewigt werden sollten? Schicken Sie uns diese zu! Auch Rütner Ansichtskarten 1920 bot sich dem jungen Otto Kiosk (Verkaufsbude) 1920–1940. Müller-Senn die Gelegenheit, den noch munzigen Kiosk am Bahnhof zu übernehmen. Mit Fleiss und grossem Geschick brachte er die «Verkaufsbude», wie es im damaligen Arbeits vertrag hiess, zur Blüte und er wirtschaftete ein regelmässiges, gutes Einkommen. Als Anfang der 1920er Jahre die Bahn den kleinen Kioskinhabern die Pacht kündigten, weil grös sere Firmen mehr Miete zahlen wollten, trotzte Otto Müller der drohenden Übernahme zusam men mit gleichgesinnten Kleinki oskbesitzern durch die Gründung des «Schweizerischen Kiosk-In haber-Verbandes». Rund 37 Jahre stand er diesem, heute als «kio Swiss» bekannten Verband als Präsident vor. Gleichzeitig besass er seinen eigenen Ansichtskar tenverlag, welcher vor allem Rüt ner Motive hervorbrachte. Den Kiosk auf der Westseite 1940–1981. Kiosk betrieb der weitherum als «Kioskmüller» bekannte Rütner von 1920 bis 1962 und übergab man traue ihm das Finanzieren schen Umfrage zufolge sank die schen wir uns viele Zusendun ihn dann seinem Sohn Otto Mül eines Briefes nicht zu. Erst 1862 Anzahl der versandten Postkar gen von Ansichtskarten. Rütne ler-Felix. 1940 hat die damals öst führte die eidgenössische Post ten von 1997 bis 2007 um 75%. risches, Zürcherisches, Witziges, lich am Bahnhof angebaute Ver eine Zuschlagstaxe für unfran Ursachen hierfür sind das Auswei Eigenes und so weiter. Die Karten kaufsbude die Seite gewechselt kierte Briefe (im Volksmund chen für Grüsse und Urlaubsbil werden neben vielem anderen na und stand ab da als eigenes klei «Strafporto») ein. der auf schnellere Übertragungs türlich auch ausgestellt! Adresse: nes Gebäude auf der Westseite. Im heutigen, digitalisierten Zeit wege, hauptsächlich E-Mail, SMS Gemeindechronik Rüti, Amthof Wer erinnert sich an die seitliche alter hat die Postkarte ihre eins und Soziale Netzwerke im Inter strasse 4, 8630 Rüti. Verkaufslade, wo man die Glacen tige Bedeutung als Bild- und Kom net. Wenn Postkarten heute noch kaufen konnte? 1981 stellte der munikationsmedium verloren. benutzt werden, dann geschieht Einfacher geht’s modern Müllersche Kiosk am Bahnhof sei Sie hat den Höhepunkt ihres Le dies wegen der besonderen indi Mit der neuen Möglichkeit des nen Betrieb nach 60 Jahren ein benszyklus bereits überschritten viduellen Note. Und hier möchte PostCard Creators kann man be um einem neuen Verkaufslokal und wird zunehmend von moder die Gemeindechronik anknüp liebig viele Fotos als sogenannte zu weichen, welches bis zum Ge neren Produkten verdrängt. Der fen: Zur Eröffnung unserer neuen Hybrid-Postkarten versenden. Pro samtumbau des Bahnhofs 1999 Versand ist seit Beginn der 2000er Ausstellung «Die Post- und An Tag kann man mit dem Handy bestand. Jahre stark rückläufig. Einer briti sichtskarten» im April 2020, wün gratis eine Postkarte an eine Emp Susanna Frick
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