29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen

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29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen
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29       Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen
         mit Fokus auf den arabischen Frühling

         Konstantin Aal · Anne Weibert · Michael Ahmadi ·
         Markus Rohde · Volker Wulf
         Universität Siegen

Zusammenfassung
Die Umwälzungen im Nahen Osten, der sogenannte „Arabische Frühling“, wurden ver-
mehrt in der akademischen Welt diskutiert. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie die Wis-
senschaft mit dem Thema soziale Medien in Konfliktsituationen (mit Fokus auf den Nahen
Osten) umgeht. Hierzu werden die in diesem Zusammenhang wesentlichen Begrifflich-
keiten erklärt und die Besonderheiten des Untersuchungskontexts erläutert. Außerdem
werden unterschiedliche methodologische Vorgehensweisen beschrieben und ein Über-
blick über bisherige Erkenntnisse gegeben. Im Anschluss präsentieren wir exemplarisch
drei Anwendungsfälle aus „on the ground“ betriebener Forschung in Tunesien, Syrien und
Palästina. Somit werden die Lesenden nach Lektüre dieses Kapitels einen Überblick über
das Untersuchungsfeld sowie unterschiedliche Forschungsmethoden haben, illustriert
durch praxisnahe Fallstudien.

Lernziele
      Die Lesenden wissen, wie politische Aktivist*innen soziale Medien zur Erreichung
       ihrer Ziele nutzen.
      Die Lesenden erfahren, welche Folgen die Nutzung von sozialen Medien in Kon-
       fliktsituationen hat und entwickeln ein Verständnis über das spezifische und kom-
       plexe Untersuchungsfeld „Naher Osten“ am Beispiel von drei Anwendungsfällen.
      Die Lesenden können in diesem Kontext genutzte qualitative und quantitative For-
       schungsmethoden anwenden und geeignete Anwendungsszenarien, Vorteile sowie
       Grenzen der verschiedenen Methoden einschätzen.

C. Reuter (Hrsg.): Sicherheitskritische Mensch-Computer-Interaktion.
Interaktive Technologien und Soziale Medien im Krisen- und Sicherheitsmanagement. 2021
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021
C. Reuter (Hrsg.), Sicherheitskritische Mensch-Computer-Interaktion,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32795-8_29
29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen
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29.1 Einleitung
Die Medienlandschaft hat sich durch die Digitalisierung und das Internet in den vergan-
genen Jahren stark verändert. Einen großen Beitrag hat die Digitalisierung von Massen-
medieninhalten und deren Verteilung über das Internet geleistet und Computernetze wur-
den zu einem weltweiten Publikum. Parallel fand ein Umstieg auf das Web 2.0 statt, in
welchem soziale Medien ein wichtiger Aspekt sind und eine gravierende Veränderung des
Benutzer*innenverhaltens hervorriefen: Die Benutzenden werden aktive Teilnehmende
bei der Erstellung von Empfehlung und selbstgenerierten Inhalten über eine Vielzahl un-
terschiedlicher Funktionalitäten wie Kommentare, Annotationen, Wikis, Blogs, Mikro-
blogs oder Social Media Plattformen (Thurman, 2008).
Die Rolle der neuen Medien als Leitfaden für den „Bevölkerungsjournalismus“ wird
immer deutlicher (Wall, 2012). Ebenso werden die neuen Medien zunehmend als „Mobi-
lisierungsinstrumente“ (El-Nawawy & Khamis, 2013) bezeichnet und haben zu einer so-
genannten „crisis informatics“ (dt.: Kriseninformatik) geführt (siehe z. B. Palen et al.,
2009). Verbunden mit dieser Richtung ist auch die Frage, welche neuen Medien welche
Wirkungen bringen. Es wird diskutiert, dass Twitter, Facebook (FB) und politische Blogs
verschiedene Funktionen erfüllen können.
Aktuelle Entwicklungen kann man bei der BlackLivesMatter (BLM)-Bewegung sowie der
FridaysForFuture-Bewegung1 beobachten. Beide Bewegungen konnten durch die Nut-
zung von Social Media nicht nur die Reichweite erhöhen (ca. 26 Millionen Tags auf Ins-
tagram mit dem Hashtag #blacklivesmatter2; ca. 900.000 Tags auf Instagram mit dem
Hashtag #fridaysforfuture3) sondern auch die Beteiligung erhöhen, indem sie Menschen
ermutigen, sich zu informieren, zu protestieren und ihre Meinung zu äußern (Cox, 2017;
Mundt et al., 2018). Im Fall der BLM-Bewegung konnte die größte Gruppe auf Facebook
innerhalb weniger Stunden 10.000 Menschen für Proteste mobilisieren (Mundt et al.,
2018). Einen ähnlichen Prozess konnte man bei der Umbrella-Bewegung4 in Hong Kong
verfolgen. Hier wurde eine Kombination aus sozialen Medien, Massenmedien und Stra-
ßenständen in einem ganzheitlichen und integrierten Ansatz genutzt, um Informationen zu
erhalten und zu verbreiten. Dabei wurde bewusst eine neue Strategie entwickelt, um die
Medien- und Informationshoheit zu gewinnen, es fand eine Mediatisierung von sozialen
Bewegungen statt (Lee & Ting, 2015).
Besonders im Nahen Osten hatten soziale Medien einen großen Einfluss auf die Entwick-
lung des Landes. Der sogenannte „Arabische Frühling“, welcher als Oberbegriff die Se-
rie von Protesten und Aufständen in der arabischen Welt seit dem Dezember 2010 umfasst,

1 Mehr Informationen unter https://blacklivesmatter.com/about/ und https://fridaysforfuture.de/
2 #blacklivesmatter, Instagram (Zugriff am 15.01.2021): https://www.instagram.com/ex-
plore/tags/blacklivesmatter/
3 #fridaysfotfuture, Instagram (Zugriff am 15.01.2021): https://www.instagram.com/ex-

plore/tags/fridaysforfuture/
4 Mehr Informationen hier: https://www.bbc.co.uk/newsround/49862757
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führte zum Umsturz der politischen Regime in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen.
Während viele Publizierende die entscheidende Rolle der sozialen Medien für diese Auf-
stände (z. B. Ghonim, 2012) betonen, ist der tatsächliche Beitrag des Web 2.0 zu den Ent-
wicklungen in den verschiedenen Ländern des Mittleren Ostens umstritten (Anderson,
2011). Es gibt wenig Zweifel daran, dass neue Medien für die politische Mobilisierung in
der arabischen Welt genutzt wurden und hier eine wesentliche Rolle gespielt haben. Die
bestehende Forschung hat sehr überzeugend gezeigt, inwieweit (Mikro-)Blogging-An-
wendungen während des Arabischen Frühlings (Al-Ani et al., 2012; Kavanaugh et al.,
2011; Starbird & Palen, 2012) verwendet wurden.
Im Folgenden werden zuerst die methodischen Möglichkeiten zur Untersuchung von Kon-
fliktsituationen vorgestellt und in die aktuelle Forschung eingeordnet. Anschließend wird
an verschiedenen Anwendungsfällen exemplarisch aufgezeigt, welche Rolle soziale Me-
dien für Aktivist*innen in Konfliktsituationen spielen. Das methodologische Vorgehen in
den drei Studien wird dabei detailliert beschrieben und mit seinen Chancen und Limitati-
onen in Bezug gesetzt zum methodologischen Vorgehen in anderen Studien über die Rolle
sozialer Medien in Konfliktsituationen.

29.2 Stand der Forschung
Die Erforschung der Nutzung sozialer Medien in politischen Konfliktsituationen folgt
zwei grundsätzlich unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen, die zum einen
digitale Inhalte quantitativ erfassen und auswerten, und/oder zum anderen qualitativ die
politische Dimension der Nutzung sozialer Medien aus der Sicht der Aktivitäten der Be-
völkerung in nach-revolutionären Situationen betrachten, und – mit kleineren Fallzahlen
operierend – tiefer ins Detail gehen5.

29.2.1 Quantitative Studien und deren Methodik
Eine Reihe von Studien haben die Beziehung zwischen den neuen Medien und dem poli-
tischen Prozess untersucht (Alonso & Oiarzabal, 2010; Crivellaro et al., 2014; Jenkins &
Thorburn, 2004; Semaan & Mark, 2011). Eine weitere Reihe von Studien wurde über die
Nutzung sozialer Medien in einem politischen oder aktivistischen Kontext veröffentlicht
(Al-Ani et al., 2012; Kavanaugh et al., 2011; Lotan et al., 2011; Wulf et al., 2013a). Diese
Studien beschreiben Aspekte der Nutzung von Blogging- und Microblogging-Webseiten
wie Twitter, vor allem während der Aufstände in Ägypten und Tunesien in den Jahren
2010 und 2011. Sie haben einen sehr wertvollen Beitrag zu unserem Verständnis des po-

5Um sich näher mit der Materie der empirischen Sozialforschung zu beschäftigen, werden folgende Ver-
öffentlichungen empfohlen, einige richtigen sich auch an Lesende mit keinen oder geringen Kenntnissen:
Bohnsack (2013); Dresing et al. (2007); Flick (2018); Mayring (2016); Straus et al. (1996).
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litischen Wandels und der Rolle der neuen Medien geleistet, da online verfügbare, öffent-
lich einsehbare Daten evaluiert werden konnten. Somit erhielt man ein Bild der online
vonstattengehenden Kommunikation und der dort vorherrschenden Dynamiken. Aus gu-
tem Grund (siehe Wyche et al., 2013) konzentrierten sich die meisten dieser Studien (z. B.
Starbird & Palen, 2012) auf Personen, die aktiv sind (Tweeting) und beschränken sich
daher auf die Analyse von digitalen Spuren, die von den (Mikro-)Blogging-Sites herun-
tergeladen wurden. Daher erzählen sie uns weniger über die Beziehung zwischen dem
Einsatz sozialer Medien und den alltäglichen politischen Aktivitäten der Nutzenden „vor
Ort“, also „on the ground“.
Woolley et al. (2010) präsentieren eine quantitative Inhaltsanalyse von mehr als 1000 Fa-
cebook-Gruppenseiten, die sich mit Barack Obama und John McCain während der Präsi-
dentschaftskampagne von 2008 befassen. Wie die oben erwähnten Twitter-Studien be-
schränken sich diese Studien auf digitale Spuren und untersuchen nicht die Relevanz der
Facebook-Gruppenseiten für den praktischen politischen Entscheidungsprozess. Grevet et
al. (2014) untersuchen die Diskussionen von Facebook-Nutzenden über umstrittene poli-
tische Ereignisse. Die Studie zeigte Auswirkungen der erhöhten Polarisierung und Ver-
sammlung mit Gleichgesinnten. Im Rahmen der letzten US-Präsidentschaftskampagne
konnten Semaan et al. (2014) in einer Interview-Studie unterschiedliche Befunde aufzei-
gen: Die Befragten nutzen verschiedene Online-Sozialinstrumente, um ihre Informationen
zu sammeln, zu posten und um zu partizipieren. Mit Fokus auf Interaktionen zwischen
Social Media-Tools fanden die Verfassenden heraus, dass die Nutzenden aktiv die Vielfalt
in der Nutzung suchen. Nutzende verwendeten unterschiedliche soziale Medien (parallel),
z. B. Facebook, Twitter, Google+, YouTube sowie Blogs und Foren. Hierbei sind sie zum
einen zufällig mit politischen Inhalten in Berührung gekommen (die sie sonst nicht ent-
deckt hätten), zum anderen haben sie aber auch bewusst nach diesen gesucht.
Im Hinblick auf die arabische Welt sind andere Studienrichtungen entstanden. Dazu ge-
hören z. B. Analysen der Nutzung sozialer Medien in Ägypten auf der Grundlage von
Umfragedaten (Tufekci & Wilson, 2012) oder Online-Daten und Reportagen (Lim, 2012).
Dabei zeigte sich, dass soziale Medien eine wichtige Quelle für Informationen über den
politischen Aufstand waren, welche nicht von der Regierung kontrolliert werden konnten
und entscheidend für die Teilnahme von Einzelnen bei den Demonstrationen waren. Es
gibt eine Reihe von empirischen Studien von Personen, welche nicht politisch engagiert
sind im Kontext von politischen Krisen. Dazu gehören Semaan und Mark (2011), die
(meist telefonische) Interviews mit einer Reihe von Personen der gewöhnlichen irakischen
Bevölkerung führten. Auf diese Weise wurde nicht nur etwas über Aktivist*innen in Er-
fahrung gebracht, sondern auch darüber, wie „die normale Bevölkerung“ die Ereignisse
wahrgenommen haben. Hierdurch ergibt sich ein kompletteres Bild, indem mehr über das
alltägliche Leben erfahren wird, z. B. hinsichtlich Themen wie Internetnutzung, Vertrau-
ensaufbau und die Gestaltung der (öffentlichen) Identität in gestörten Umgebungen wäh-
rend des zweiten Golfkriegs und des Bürgerkriegs.
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29.2.2 Qualitative Methoden und „on the ground”-Approach
Qualitative Studien und solche „on the ground“ wählen im Gegensatz zu den im Vorange-
gangenen vorgestellten Studien einen anderen Weg. Wie beschrieben, hat sich ein Großteil
der Studien hinsichtlich sozialer Medien während des Arabischen Frühlings mit öffentlich
einsehbaren, online verfügbaren Daten beschäftigt. Um jedoch ein ganzheitlicheres Bild
zu erhalten, sollten auch qualitative, ethnographische Forschungsmethoden zum Einsatz
kommen. Aufgrund einer Forschung im direkten Feld, also vor Ort, spricht man auch von
einem „on the ground“-Ansatz. Da somit Erkenntnisse aufgedeckt werden, die online ver-
fügbare Daten nicht vermitteln können, lässt sich Social Media-Nutzung und politische
Partizipation in einen größeren Kontext einordnen, unter anderem der Einfluss auf das
alltägliche Leben, Organisations- und Mobilisierungsvorgänge, Motivationsgründe sowie
weitere Möglichkeiten der Kommunikation (Wulf et al., 2013b). Hier liegt der Fokus im
Detail somit auf der sozialen Einbettung; über die genaue Ergründung des Handelns ver-
schiedener Akteur*innen entsteht ein detailliertes, tiefgehendes Verständnis der Situation
– und der Art und Weise, wie Technik – in diesem Falle soziale Medien – darin verankert
und situiert sind.
Postill und Pink (2012) haben das hierfür erforderliche methodologische Vorgehen in ei-
nem Literaturüberblick hergeleitet. Erforderlich sei, so schreiben sie, ein forscherischer
Ansatz, der die „Intensitäten“ von Aktivität in sozialen Netzwerken und damit verknüpften
sozialen Verbindungen „online and offline“ erfasst und auch ihre Aus- und Nachwirkun-
gen in anderen digitalen Zusammenhängen sowie „face-to-face“-Kontexten im Blick hat
– „making connections between online and locality-based realities“ (Postill & Pink,
2012). Wo ein wachsender Diskurs sich mit internetbezogener ethnographischer For-
schungspraxis auseinandersetzt (unter anderen Ardévol, 2012), und anthropologische Stu-
dien sich mit Kanälen und Plattformen sozialer Medien sowie damit verbundenen Hand-
lungspraktiken auseinandersetzen (Postill, 2014), führen Postill und Pink die methodolo-
gischen Ansätze weiter, indem sie für ein internetbezogenes, ein soziale Medien-bezoge-
nes Vorgehen argumentieren, das explizit auch soziales (Inter-)Agieren offline im Blick
hat und einbezieht (Postill & Pink, 2012).
Die in Kapitel 29.3 geschilderten Anwendungsfälle knüpfen „on the ground“ an dieses
methodologische Vorgehen an. Narrative Interviews6 mit beteiligten Akteur*innen erge-
ben kombiniert mit teilnehmenden Beobachtungen lokaler Praktiken und thematisch rele-
vanter Artefakte und Quellen ein umfassendes soziale Medien-bezogenes Bild von der
Rolle sozialer Medien für Aktivist*innen in den jeweiligen Konfliktsituationen in Tune-
sien, Palästina und Syrien. Eine Kombination aus beiden Vorgehensweisen hilft, ein ganz-
heitlicheres Bild zu erhalten. Dabei können quantitative Methoden einen ersten Eindruck
gewähren, welcher durch qualitative Methoden vertieft wird. Oder qualitative Eindrücke

6Ein narratives Interview regt zum Erzählen der eigenen Biographie der interviewten Person an. Somit
wird sich für dessen eigene Perspektive sowie die von ihm konstruierten subjektiven Sinnzusammen-
hänge interessiert (Rosenthal & Fischer-Rosenthal, 2004).
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können durch den quantitativen Einsatz vervollständigt werden. Beide Ansätze schließen
sich nicht aus, sondern können sich ergänzen.
Mehrere Einschränkungen sollten jedoch in Betracht gezogen werden:
       So kann es beim „on the ground“-Ansatz zu Gefahren für die forschende Person
        kommen, wenn sie sich in einem gewalttätigen Konflikt aufhält und dort Interviews
        und Beobachtungen durchführt.
       Auch wird der Zugang zu diversen Interviewpartner*innen erschwert, da der Zu-
        gang zum Feld oft durch Kontaktpersonen eingeschränkt wird, wodurch auch eine
        Kontrastierung von Sichtweisen fehlen kann.
       Eine weitere Gefahr ist die mögliche Instrumentalisierung durch die Kontaktperso-
        nen oder Kontaktgruppen. Diese Einschränkungen müssen auch in den Veröffent-
        lichungen als Limitation reflektiert und diskutiert werden.
Im Folgenden soll zunächst beschrieben werden, welche allgemeinen Erkenntnisse über
Partizipation via (sozialer) Medien bisher vorliegen. Darüber hinaus soll der folgende Ab-
schnitt helfen, die später beschriebenen Studien in den Untersuchungskontext einzuord-
nen.

29.2.3 Literatureinordnung
Medien können vor, während und nach Konfliktsituationen einen entscheidenden Ein-
fluss auf Politik und Öffentlichkeit nehmen (für eine umfangreiche Diskussion siehe
Becker, 2016; Bucher & Duckwitz, 2005). Insbesondere digitale Medien haben allen am
politischen Prozess beteiligten Akteur*innen neue Formen der Kommunikation ermög-
licht. Eine Vielzahl an zum Teil uneinheitlich genutzt Begriffen mit dem Präfix „e-“ (wie
e-governance, e-participation, e-democracy, e-activism etc.) versucht, dieses neue Phäno-
men zu kategorisieren (für eine Zusammenfassung siehe z. B. Kneuer, 2016; Stier, 2016).
Vor allem soziale Medien bieten allen Akteur*innen mithilfe verschiedener Plattformen
vielfältige Partizipationsmöglichkeiten (Emmer, 2017). Seit dem Arabischen Frühling im
Jahr 2011 ist hierbei auch das Interesse für den Einsatz von sozialen Medien hinsichtlich
politischer Konfliktsituationen gestiegen. So hat sich sowohl die Öffentlichkeit als auch
die Wissenschaft mit der Frage beschäftigt, ob soziale Medien ein Mobilisierungspotenzial
hinsichtlich partizipatorischer7 Faktoren besitzen und wie Services wie Facebook und
Twitter für diese Zwecke genutzt werden.
Die Diskussion hinsichtlich der Bedeutung sozialer Medien im Kontext der oben genann-
ten Themen hat bereits ganze Sammelbände hervorgebracht (Dencik & Leistert, 2015):

7 Zum Partizipationsbegriff im Allgemeinem und im Kontext sozialer Medien im Besonderen siehe
(Thimm & Bürger, 2015) sowie (Thimm, 2017).
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      Im Sinne einer Befreiungs- beziehungsweise Demokratisierungstechnologie wird
       die Relevanz sozialer Medien hierbei stellenweise kritisch betrachtet und auch als
       überhöht angesehen (z. B. Becker, 2016; Fuchs, 2012; Hafez, 2014; Kneuer, 2016;
       Kneuer & Demmelhuber, 2012; Richter, 2013; Wolfsfeld et al., 2013).
      Zudem können auch Autokratien von den Möglichkeiten digitaler Medien ebenso
       profitieren wie Protestbewegungen (Becker, 2016; Fuchs, 2012; Kneuer, 2016;
       Kneuer & Demmelhuber, 2012).
Natürlich reicht der Diskurs auch weiter, so kann beispielsweise die Rolle sozialer Medien
in der heutigen Zeit mit der Rolle von Medien in zurückliegenden Konfliktsituationen ver-
glichen werden. Sturm und Amer (2013) betrachten beispielsweise die Rolle von Medien
während vergangener Revolutionen (z. B. der Französischen Revolution von 1789), und
kommen zu dem Schluss, dass Medien schon immer eine wichtige, unterstützende Rolle
in politischen Konfliktsituationen innehatten. Mit einer zunehmenden Technologisierung
hat sich jedoch die Verbreitungsgeschwindigkeit von Informationen deutlich erhöht. So
interessant solche Diskussionen sind, wollen wir uns im Rahmen dieses Kapitels jedoch
vorrangig auf die Nutzung sozialer Medien während des Arabischen Frühlings beziehen.
Andere Untersuchungen haben allerdings auch gezeigt, dass im Arabischen Frühling
durch die Nutzung sozialer Medien durchaus Mobilisierungspotenzial gegeben war und
dass diese zur Meinungsfreiheit sowie Formierung und Koordination von Protestbewe-
gungen beitragen können (z. B. Hafez, 2014; Kneuer, 2016). Auch wenn partizipative
Medienstrukturen alleine nicht ausreichen, um gesellschaftliche Veränderungen herbei-
zuführen (Emmer, 2017; Kneuer & Demmelhuber, 2012), gilt es weitestgehend als erwie-
sen, dass soziale Medien eine zentrale Rolle bei der Organisation politischer Proteste im
Arabischen Frühling gespielt haben (z. B. Wilson & Dunn, 2011). Somit bestehen „durch-
aus stabile Befunde, die zumindest ein Potenzial für eine Veränderung und Demokratisie-
rung deutlich machen“ (Emmer, 2017).
Bei einer Analyse der Bedeutung sozialer Medien in Konfliktsituationen muss auch be-
rücksichtigt werden, wie stark der alleinige und auch wechselseitige Einfluss von Mas-
sen- und digitalen Medien ist.
      So argumentiert Becker (2016), dass der TV-Sender Al Jazeera während des Ara-
       bischen Frühlings in Ägypten eine wesentlich wichtigere Rolle bei der Politisierung
       der Bevölkerung gespielt hat als die sozialen Medien.
      Daten des „Tahrir Data Project“ weisen zudem aus, dass soziale Medien im Ver-
       gleich zum Telefon oder TV keine übergeordnete Rolle spielten: Fernsehen (92 %)
       und Telefon (82 %) beispielsweise wurden von ägyptischen Aktivist*innen wesent-
       lich häufiger genutzt als Facebook (42 %) und Twitter (13 %) (Wilson & Dunn,
       2011).
      Auf dem Tahrir-Platz befragte Aktivist*innen haben zudem die außerordentliche
       Bedeutung des Telefons sowie der Face-to-Face-Kommunikation hervorgehoben
       (Baringhorst, 2014; Wilson & Dunn, 2011).
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Hierbei muss jedoch ebenso beachtet werden, dass Al Jazeera sowie weitere überregionale
Fernsehsender Inhalte von lokalen Akteuren (eng.: „user-generated content“, kurz: UGC
aus sozialen Medien aufgriffen und somit für Wahrnehmbarkeit bei der (regionalen und
globalen) Öffentlichkeit sorgten (Kneuer & Demmelhuber, 2012). Hafez (2014) hingegen
sieht zudem bei digitalen Medien eine höhere Mobilisierungskraft im Vergleich: „[…]
was Massenmedien wie Al Jazeera noch gefehlt hatte – die direkte Bindung zur Basis –
ermöglichte das Internet.“ Baringhorst (2014) drückt es wie folgt aus: „Die Aufwertung
individueller Teilhabechancen und Zunahme vielfältiger, oft kollaborativer Praktiken des
Produsage legen es nahe, webbasierten Protest aus einer protestkulturellen Perspektive
zu erforschen, in der Protestkulturen stärker als bisher als komplexe Medienkulturen zu
verstehen sind.“ So müssen auch Aspekte wie Internetanbindung/Verfügbarkeit beachtet
werden. Während des Arabischen Frühlings in Ägypten war die Internetverbreitung bei-
spielsweise eher gering, wodurch von vornherein keine großen Reichweiten erzielt wurden
(Becker, 2016).
Darüber hinaus ist die Nutzungsintensität sozialer Medien in verschiedenen Ländern un-
terschiedlich. Somit besitzt nicht jedes soziale Medium in jedem Land die gleiche Rele-
vanz bezüglich politischer Partizipation (Emmer, 2017). In Deutschland ist Twitter bei-
spielsweise eher als Nischenmedium zu betrachten, während der Service in Ländern mit
geringer Informations- und Pressefreiheit eher eine Alternative für Informations- und Mei-
nungsbildung darstellen kann. Für Deutschland sehen mehrere Untersuchungen den Infor-
mations- und Diskussionsgehalt sowie das Demokratisierungspotenzial über soziale Me-
dien in der Bevölkerung hinsichtlich beispielsweise der Themen Stuttgart 21 (z. B.
Bernhard et al., 2015; Stark et al., 2015) oder der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
im Mai 2012 (z. B. Bernhard et al., 2015) als eher gering an.
Somit ist es als problematisch anzusehen, Rollenbilder (engl.: role models) politischer On-
line-Kommunikation bestimmter Länder automatisch auf andere Nationen und Kulturen
zu übertragen, wie dies Vaccari (2013) in seiner komparativen Studie aufzeigt: So haben
sowohl institutionelle, als auch politisch-kulturelle Faktoren einen erheblichen Einfluss
auf die Art und Weise, wie politisch im Internet kommuniziert wird. Die wenigen, bisher
existierenden vergleichenden Studien (sowohl hinsichtlich der sozialen Plattformen selbst,
als auch hinsichtlich internationaler Diffusionseffekte) zeugen daher von einer geringen
Erklärungskraft enger Fokussierungen (Kneuer, 2016). Auch der Arabische Frühling muss
hinsichtlich seiner „regionalen wie länderspezifischen Dimension“ (Kneuer &
Demmelhuber, 2012) betrachtet werden. „Ob Protestbewegungen am Ende erfolgreich
sind, hängt, wie der landesspezifisch unterschiedliche Verlauf der Proteste des Arabischen
Frühlings zeigt und die soziale Bewegungsforschung umfassend empirisch belegt hat, von
einer Vielzahl politischer, ökonomischer und sozialer Rahmenbedingungen ab“
(Baringhorst, 2014).
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Die meisten der oben genannten Untersuchungen nutzen zumeist öffentlich verfügbare
Daten aus den sozialen Netzwerken, um (meist quantitative) Analysen durchzuführen. In-
wiefern Aktivist*innen in autokratischen Systemen in Tunesien, Syrien und Palästina so-
ziale Medien in politischen Konfliktsituationen nutzen und einsetzen, um ihre Ziele zu
verfolgen, welche positiven Auswirkungen der Einsatz sozialer Medien zur Erreichung
ihrer Ziele hat und mit welchen Problemen sie konfrontiert werden, kann mithilfe solcher
Forschungsmethoden aber nur beschränkt beantwortet werden. Vernachlässigt wurde bis-
her der Ansatz, im Sinne einer ethnografischen Erhebung nachzuvollziehen und mithilfe
eines „on-the ground“-Ansatzes zu verstehen, wie die Menschen vor Ort solche Plattfor-
men verwenden, um sich zu mobilisieren. Dies gewährleistet ebenso die Berücksichtigung
der erwähnten landesspezifischen Rahmenbedingungen.

29.3 Anwendungsfälle
Damit die Rolle von IT beziehungsweise sozialer Medien zur Zeit des Arabischen Früh-
lings besser verstanden werden kann, muss zunächst der Kontext beziehungsweise das
Untersuchungsfeld genauer beschrieben werden. Allgemein gelten die Widerstände gegen
die tunesische Regierung von Staatsoberhaupt Zine el-Abidine Ben Ali am 17. Dezember
2010 als Startpunkt des Arabischen Frühlings. Tatsächlich entstanden in Ägypten aber
bereits seit dem Jahr 2008 Protestbewegungen in den sozialen Medien, wie z. B. die Fa-
cebook-Gruppen „Jugend des 6. April“ und „Wir sind alle Khaled Saeed“ (ein ägyptischer
Blogger, der von der Polizei auf offener Straße totgeschlagen wurde). Auch die Bewegung
„Kifaya“ organisierte sich mithilfe sozialer Medien. Die ägyptische Revolution endete
schließlich im Sturz des Staatsoberhaupts Husni Mubarak am 11. Februar 2011. Somit
gehört die Gemeinschaft genannter Facebook-Gruppen auch mit zu den Initiatoren der
Revolution in Ägypten (Allagui & Kuebler, 2011). Aber um ein Gesamtbild der Situation
zu bekommen und diese zu verstehen, muss auch die soziale und politische Komponente
in die Analyse einbezogen werden. Besonders in Ägypten war durch das unterdrückende
Regime ein Aufstand absehbar, aber durch soziale Medien wurde die Kommunikation,
Informationsverteilung und Abstimmung deutlich vereinfacht und beschleunigt. Sturm &
Ammer (2013) schlussfolgern, dass es weniger eine „Social Media Revolution“ war, son-
dern eine Bewegung, die durch soziale Medien unterstützt wurde.
Tatsächlich existieren einige Überschneidungen zwischen den Geschehnissen in Ägypten
und denen in anderen arabischen Ländern. Wir möchten uns im Folgenden auf die Unter-
suchungsfelder Tunesien, Palästina und Syrien beziehen. In diesem Kapitel werden daher
diese Anwendungsfälle einzeln historisch kurz vorgestellt, um ein besseres Verständnis
über die Lage und Situation in den einzelnen Ländern zu erhalten und zu verstehen, wie
und auch warum die Akteur*innen in den Ländern jeweils angefangen haben, soziale Me-
dien für ihre Konfliktsituationen zu nutzen.
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29.3.1 Tunesien
Tunesien wurde für etwa 24 Jahre von Zine el-Abidine Ben Ali (1987 - 2011) regiert; das
Ben Ali-Regime war im Grunde eine Diktatur. Die politische Teilhabe der Menschen im
Sinne der westlichen Demokratie wurde nicht gefördert (CIA, 2014). Nationale Radio-
und Fernsehsender sowie Zeitungen wurden zensiert und standen unter strenger staatlicher
Kontrolle. Vor 1990 wurden die meisten arabischen Medien, nicht nur das tunesische Ra-
dio und Fernsehen, von Regierungen kontrolliert (El-Nawawy & Khamis, 2013). Aller-
dings hatten arabische Satelliten-TV-Sender, wie Al Jazeera, begonnen, die Medienland-
schaft zu verändern. Da die meisten tunesischen Haushalte Satelliten-TV empfangen
konnten, spielte Al Jazeera eine wichtige Rolle bei der tunesischen Revolution (Wulf et
al., 2013b). Mit dem Satellitenfernsehen und dem Internet brach eine „Medienrevolution
in der arabischen Welt aus“ (El-Nawawy & Khamis, 2013).
Das Ben Ali-Regime praktizierte verschiedene Formen der Internetüberwachung; auf
der einen Seite hielten sie Internetcafé-Betreibende verantwortlich für ihre Kund*innen,
so dass diese die IDs der Internetcafé-Besuchenden kontrollieren und notieren mussten,
und auf der anderen Seite mussten E-Mails durch einen zentralen Server geleitet werden,
um die Anlagen und auch den Inhalt zu überprüfen (ONI, 2014). Auch ganze Internet-
dienste wie YouTube, Skype und Google Maps wurden blockiert (Howard, 2010).
Es gibt auch ein großes Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Regionen Tunesi-
ens: Die meisten Menschen leben in Städten an der Küste (Verdier-Chouchane et al., 2011)
und die Mehrheit der Regierungsorganisationen, Bildungseinrichtungen usw. ist auch dort
ansässig. Diese Rahmenbedingungen verursachten soziale Spannungen mit der in den
meisten Fällen weniger gebildeten, ländlichen Bevölkerung und ihren Chancen für die
Teilnahme an demokratischen Prozessen. Vor allem um Tunis wurden in den 1970er- und
1980er-Jahren von ärmeren Teilen der Bevölkerung viele illegale Siedlungen gebaut, die
inzwischen legal wurden, aber nach wie vor benachteiligte Gebiete bleiben (GIZ, 2017).
Tunesien wurde als ein Land mit einem stabilen Wirtschaftswachstum im Rahmen des
Ben Ali-Regimes angesehen. Allerdings hat nur ein kleiner Teil der Bevölkerung davon
profitiert. Diese Themen waren ein weiterer wichtiger Grund – neben den politischen Re-
pressionen – für den Arabischen Frühlingsaufstand (bpb, 2015; CIA, 2014).
Nach dem anschließenden Aufstand wurde das Ben Ali-Regime durch eine vorüberge-
hende Regierung ersetzt. Nach einer ersten Wahl im Oktober 2011 übernahm eine Koali-
tionsregierung unter der Führung der mäßig islamistischen Ennahda-Partei. Nach einer
längeren politischen Unruhe wurde sie im Januar 2014 durch eine Regierung der Techno-
kraten ersetzt.
Während die Regierung und die politischen Institutionen noch instabil sind, ist die Zensur
innerhalb des Massenmediensystems weitgehend aufgegeben worden. So bieten Zeitun-
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gen, terrestrische Fernsehsender und Satelliten-TV eine breite Palette politischer Perspek-
tiven an. Gleichzeitig zeigen statistische Daten die Zunahme der Zahl der Internetnutzen-
den in Tunesien ab 2008: von 27,5 % auf 39,1 % im Jahr 2011 (Internetworldstats, 2017).
Ende 2010 hatte Tunesien eine der höchsten Raten der Facebook-Nutzung in den arabi-
schen Staaten (17,6 %), ein Trend, der sich im Folgenden fortsetzte (22,5 % im April
2011). Jugendliche machten 75 % der Facebook-Nutzenden aus (Kavanaugh et al., 2011).
Auch im Jahr 2009 hatte Tunesien die „am weitesten entwickelten Telekommunikationsinf-
rastrukturen in Nordafrika mit hoher mobiler Penetrationsrate und einer der niedrigsten
Breitbandpreise in Afrika“ (ONI, 2014). Seit 2011 sind die Mobilfunk-Telefon-Abonne-
ments pro 100 Einwohner*innen in Tunesien immer noch angestiegen, jetzt gibt es 116
Abonnements pro 100 Einwohner*innen (International Telecommunications Union,
2014).

29.3.2 Palästina
Die Westbank ist ein Teil des palästinensischen Territoriums, das der Staat Israel während
des Sechstägigen Krieges 1967 besetzte. Seitdem ist er unter israelischer Militärkontrolle
geblieben. Nach dem Oslo-Abkommen von 1993 sind Teile der Westbank nun unter der
Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Seit 1967 wurden im West-
jordanland israelische Siedlungen eingerichtet und aktuell leben mehr als 500.000 Sied-
ler*innen im Westjordanland, darunter Ost-Jerusalem (unter 2,4 Millionen Palästinen-
sern); die internationale Gemeinschaft betrachtet diese Siedlungen als illegal (Resolution
446 des UN-Sicherheitsrates). Ab 2003, während der Zweiten Intifada8, begann die israe-
lische Regierung mit der Errichtung einer Mauer (auch als „Separation Wall“ bezeichnet)
um und innerhalb des Westjordanlandes, die sie als eine Handlung der Selbstverteidigung
gegen Terroranschläge betrachtete. Die Mauer steht hauptsächlich auf palästinensischem
Land, trennt die palästinensische Bevölkerung und trägt aus deren Sicht zur Enteignung
ihres Landes bei (Barak-Erez, 2006).
Als Reaktion auf den Bau der Mauer begannen palästinensische Dörfer mit regelmäßigen
Demonstrationen; als eines der ersten Dörfer hat Bi’lin damit begonnen, jeden Freitag zu
demonstrieren. Mehrere andere Dörfer folgten diesem Beispiel in den folgenden Jahren.
Eines dieser Dörfer ist Al‘Ma'sara, welches auf den südlichen Hügeln von Bethlehem ge-
legen ist. Es hat weniger als 1000 Einwohner*innen und ist Teil einer Kette von Dörfern,
in denen etwa 14.000 Personen leben. Bisher haben diese Dörfer – nach eigener Einschät-
zung – etwa 3.500 Dunum (etwa 865 Hektar) Land an israelische Siedlungen verloren.
Innerhalb dieser Kette von Dörfern ist Al‘Ma'sara ein wichtiger Standort solcher Demonst-
rationen. Seit 2006 gibt es wöchentliche Demonstrationen zur Verteidigung der Land-

8Arabisches Wort für „Aufstand“; besondere weltweite Bedeutung durch zwei palästinesische Aufstände
gegen Israel.
642      29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling

rechte und gegen die israelische Besatzung. Darüber hinaus wurden legale Mittel zur Ver-
teidigung dieser Rechte verwendet, die in einem Sieg vor dem höchsten israelischen Ge-
richt gipfelten und einen Teil des Mauerbaus komplett stoppten.
In zwei voneinander abgeschnittenen Gebieten wurde Telekommunikation zum Haupt-
kommunikationsmittel für das im Westjordanland und im Gaza-Streifen lebende palästi-
nensische Volk. Wie in anderen Ländern des Mittleren Ostens ist der Anteil der Internet-
nutzenden in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen (63,2 % der Bevölkerung in
Palästina Mitte 2016 und über 1.7 Millionen Facebook-User (Internetworldstats, 2017)).
Im Westjordanland gibt es eine große Lücke zwischen den städtischen und ländlichen Ge-
bieten. Mit dem zunehmenden Einsatz digitaler Medien ist der israelisch-palästinensische
Konflikt offensichtlich nicht mehr nur ein politischer, teilweise bewaffneter Konflikt; es
wird zudem auch ein Medienkrieg (weitere Informationen in z. B. Aouragh, 2011).
Seit Anfang der 90er-Jahre, als das palästinensische Volk anfing, „der Welt ihre Ge-
schichte zu erzählen“, führten einige ihrer Arbeiten zu einem anspruchsvollen „All-New-
Media-Aktivismus“ (Khoury-Machool, 2007). Webseiten wie Google, YouTube, Twitter
oder Facebook wurden sehr beliebt. Die Zahl der Facebook-User stieg seit März 2012 bis
Juni 2016 um über 800.000 User auf insgesamt 1.7 Millionen User (Internetworldstats,
2017). Aber palästinensische Aktivist*innen und ihre Unterstützenden sind mit einer
neuen Generation von Zensur in diesem Bereich konfrontiert: So wurde beispielsweise
eine Facebook-Seite namens „Third Palestinian Intifada“ auf Anfrage von der israelischen
Regierung entfernt und aufgrund einer ähnlichen Anfrage entfernte Apple die App „Third
Palestinian Intifada“ aus deren AppStore.
Wie die meisten Infrastrukturen und Ressourcen im Westjordanland werden die Luftwel-
lenbandbreiten von den israelischen Behörden kontrolliert und zugeteilt. Dazu gehört die
Frequenzsteuerung für TV- und Radiosender und Mobilfunkbetreibende. Darüber hinaus
muss der Zugang zum globalen Netzwerk durch israelische Unternehmen erfolgen. Die
beiden palästinensischen Mobilfunkanbietenden dürfen bis heute keine 3G-Dienste betrei-
ben. Auch die Installation von Punkt-zu-Punkt-Funksystemen benötigt eine israelische Zu-
lassung, die nicht leicht zu erreichen ist.

29.3.3 Syrien
Nach dem Ende des Osmanischen Reiches wurde Syrien Teil der französischen Mandats-
zone und erreichte seine Unabhängigkeit 1946. Die ersten 25 Jahre der syrischen Unab-
hängigkeit waren charakterisiert durch politische Instabilität; Republikanische Perioden
waren unterbrochen von verschiedenen militärischen Staatsstreichen.
Im Jahr 1971 kam Hafiz al-Assad, der Vater des jetzigen Präsidenten, an die Macht und
blieb der Machthaber bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Er wird als versierter Politiker
bezeichnet, welcher politische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung in das Land
brachte. Während seiner 30-jährigen Regentschaft wurde die politische Opposition durch
29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling   643

Festnahme und Folter unterdrückt. Während einer versuchten Rebellion der Muslim
Brotherhood in der Provinzstadt Hama im Jahr 1982 griff Hafiz al-Assad streng durch,
indem er (geschätzt) 10.000 - 25.000 Menschen tötete.
Das Assad-Regime ist gekennzeichnet durch die Tatsache, dass die oberen Ränge der mi-
litärischen Hierarchie, die politische Elite und die Geheimdienstorganisationen stark mit-
einander verflochten sind und zu einem Netzwerk von loyalen Alevit*innen gehört, einer
religiösen Minderheit, zu der die Assad-Familie gehört (siehe z. B. Perthes, 1997). Nach
dem Tod seines Vaters, im Jahr 2000, kam Bashar al-Assad an die Macht. Seine Politik
verfolgte zunächst eine Politik der Reformation in politischer und wirtschaftlicher Sicht,
obwohl diese bereits nach kurzer Zeit endete. Wie andere arabische Ländern in den ver-
gangenen Jahrzehnten hat Syrien eine der international höchsten Geburtenraten, sodass
mehr als ein Drittel der Bevölkerung unter 14 Jahren ist und die Arbeitslosenquote bei
Personen unter 25 Jahren bei fast 20 % (CIA, 2017) liegt, die sozioökonomische Ungleich-
heit stieg in dieser Zeit stark an. Dies war der Fall besonders in den Städten mit einer
hohen Armutsquote, wie Daraa und Homs; ländliche Gebiete wurden besonders hart ge-
troffen durch eine Dürre Anfang 2011.
Die politischen Proteste begannen am 15. März 2011 in der südlichen Stadt Daraa – in
Tunesien und Ägypten wurden die Regime nach einigen politischen Aufständen bereits
vom Volk gestürzt. In den nächsten Tagen eskalierten die Demonstrationen und Konfron-
tationen in Daraa und es gab weitere Aufstände in anderen syrischen Städten. Demonst-
ranten verlangten die Freilassung von Personen in politischer Gefangenschaft, die Ab-
schaffung des syrischen 48 Jahre alten Notstandsgesetzes, mehr Freiheiten und ein Ende
der Korruption in der Regierung.
Im April 2011 wurde die syrische Armee eingesetzt, um die Aufstände unter Kontrolle zu
bringen, und den Soldaten wurde befohlen, das Feuer auf die Demonstrierenden zu eröff-
nen. Nach monatelangen militärischen Belagerungen entwickelten sich die Proteste in eine
bewaffnete Rebellion. Oppositionskräfte, hauptsächlich ehemalige Soldat*innen und zi-
vile Freiwillige, wurden zunehmend bewaffnet und organisiert. Einige der Gruppen erhiel-
ten militärische Hilfe aus dem Ausland (Amnesty International, 2016).
Das Internet spielte eine bedeutende Rolle bei den Entwicklungen unter Bashar al-Assad.
Während seiner Regentschaft wurde das Internet im Jahr 2001 in Syrien eingeführt. Social
Media-Anwendungen wie Facebook und YouTube wurden offiziell verboten. Trotzdem
lies die Regierung den Zugang zum Internet während der ersten 21 Monate der Kämpfe
mit den Rebell*innen meist intakt – mit Ausnahme von kürzeren Abschaltungen am Ende
von November 2012 (Chozick, 2012). Während des Bürgerkrieges wurde das Internet
selbst umkämpfter Raum (Howard et al., 2011). Oppositionsakteur*innen behaupteten, die
Posteingänge von Assad und seiner Frau in Echtzeit über mehrere Monate überwacht zu
haben. In einigen Fällen sagten diese, die Informationen wurden verwendet, um andere
Aktivist*innen in Damaskus zu warnen, dass das Regime sich auf sie zubewegt (Booth et
al., 2012).
644       29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling

Die elektronische Armee der syrischen Regierung (Chozick, 2012) wurde auch wegen
DDoS-Angriffen angeklagt, Phishing-Betrügereien und andere Tricks, um Oppositionsak-
tivist*innen online zu bekämpfen (Fisher & Keller, 2011). An den Kontrollpunkten unter-
suchten Assad-Kräfte Laptops auf Software, die es Benutzenden erlauben würde, die Re-
gierung zu umgehen. Spyware von Regierungsbeamten in Internetcafés überprüften Be-
nutzer*innenidentifikationen (Chozick, 2012). Die Regierung schien auch Facebook- und
Google-Zugriffe zu übermitteln und zu manipulieren durch sogenannte „Man in the mi-
ddle“-Angriffe (Urbach, 2012).
Die Situation entwickelt sich stetig weiter. Die erste Phase des syrischen Bürgerkrieges
wurde vor allem von drei Armeen geprägt: der offiziellen syrischen Armee (OSA), der
oppositionellen Free Syrian Army (FSA) und den bewaffneten kurdischen Kräften (vor-
wiegend im Südosten Syriens). In der Zwischenzeit gewannen neu aufkommende Streit-
kräfte auf beiden Seiten zunehmend Einfluss (wie bei den Verbündeten von Assad, z. B.
der iranischen Revolutionswache und der Hisbollah, und für die Opposition, z. B. ver-
schiedene islamistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front, die syrische islamische Front,
ISIL), dazu kommen die komplexen Rollen der internationalen Koalition und Russland.

29.4 Nutzung von sozialen Medien in den Anwendungsfällen
Im Folgenden werden die einzelnen Anwendungsfälle in Bezug zu deren Nutzung von
sozialen Medien vorgestellt. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Aneignungspro-
zesse in den einzelnen Fällen gelegt, das heißt, wie haben sich die Beteiligten die sozialen
Medien angeeignet und genutzt. Insbesondere spielt Facebook hier eine wichtige Rolle, da
sich die Nutzung in den einzelnen Anwendungsfällen stark unterscheidet.

29.4.1 Tunesien

29.4.1.1 Zugriff auf Facebook
Die Forschung zeigt, dass die tunesische Gesellschaft tief in ihren Zugang zum Internet
im Allgemeinen und zu Facebook im Besonderen geteilt ist (Bettaieb, 2011). Für viele
Menschen ist der Zugang zum Internet zu teuer: Es bedarf einer Telefonleitung und einer
zusätzlichen Anmeldegebühr von 120 Dinar (ca. 73 US-Dollar). Das führt dazu, dass viele
kein Facebook nutzen und nur ein sehr vages Verständnis davon haben. In ländlichen Ge-
genden sind Internetcafés oft der einzige Zugang zum Internet.
Im Gegensatz dazu hatten alle Studierenden und Hochschulabsolvent*innen und Akade-
miker*innen Zugang zum Internet im Studierendenwohnheim. Sie waren alle begeisterte
Facebook-Benutzende, auch vor der Revolution. Viele von ihnen hatten auch Zugang über
ihr Smartphone. So können auch Leute, die nur eine vorab bezahlte Telefonkarte haben,
kostenlos auf Facebook zugreifen, Daten hochladen und anzeigen. Darüber hinaus bietet
29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling   645

der Telekom-Betreibende kostenlose SMS an, um die Benutzenden über Updates auf Fa-
cebook zu informieren. Diese Beispiele unterstreichen eindeutig den Unterschied zwi-
schen dem Zugang zum Internet sowohl auf geografischer als auch auf wirtschaftlicher
Basis.

29.4.1.2 Politische Facebook-Seiten und -Gruppen
Die tunesischen Facebook-Nutzenden haben eine Vielzahl von Seiten und Gruppen ge-
schaffen, die mehr oder weniger ausschließlich den politischen Inhalt abdecken. Es gibt
eine Facebook-Seite namens „Tunisia“, durch welche viele politische Videos geteilt wer-
den. Diese Videos stammen aus TV-Kanälen wie Al Jazeera, Al Arabia oder CNN. Aller-
dings bietet diese Seite auch eine Plattform, um Amateurvideos mit politischen Inhalten
auszutauschen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung folgten mehr als eine Million Nutzende
dieser Seite. Tunesische Fernsehsender scheinen auch Amateurvideos von dieser Seite zu
nehmen und auszustrahlen.
Es gibt auch Facebook-Seiten und -Gruppen, die eine klare politische Haltung artikulieren,
die manchmal ironisch umrahmt wird. Wie die meisten tunesischen Politiker*innen hat
der Chef der Ennahda-Bewegung, Rached Ghannouchi, eine offizielle Facebook-Seite, die
von etwa 250.000 Menschen gelikt wird. Allerdings gibt es auch Seiten, die einen klaren
Ennahda-kritischen Ton in ihrem Titel haben. Eine dieser Seiten heißt „Get Ghannouchi
back to London“, die mehr als 200.000 Anhänger*innen hat und ironische Kommentare
bezüglich der Ennahda-Herrschaft enthält. Der Name der Seite bezieht sich auf sein 20-
jähriges Londoner Exil vor seiner Rückkehr nach Tunesien nach der Revolution.
Über die großen politischen Akteur*innen hinaus sind alle politischen Parteien in Tune-
sien auf Facebook vertreten. Sie scheinen sogar Facebook zu verwenden, um sich zu den
Pressemitteilungen der anderen Parteien zu äußern. Auch die tunesische Regierung hat
weitgehend angefangen, Facebook zu nutzen. Alle Ministerien in Tunesien waren zum
Zeitpunkt der Forschung in Facebook vertreten.

29.4.1.3 Facebook-Nutzung während des Aufstands
Die Bedeutung von Facebook heute kann nicht diskutiert werden, ohne auf ihre Rolle wäh-
rend der tunesischen Revolution in 2010/2011 zurückzugreifen (Wulf et al., 2013b). Für
viele Aktivist*innen war Facebook zusammen mit Al Jazeera die einzige Quelle für zu-
verlässige Informationen während des Aufstands. Durch die Betrachtung von Facebook
und Al Jazeera konnten sie sich vor allem über den sich entwickelnden politischen Auf-
stand informieren.
Die Facebook-Nutzung war während der Revolution sehr weit verbreitet und spielte eine
wichtige Rolle. Politische Diskussionen zu dieser Zeit sind zum Teil noch im Gange, aber
oft erscheinen sie nicht auf der Pinnwand, sondern werden über private Nachrichten auf
646       29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling

Facebook geführt. Aus der Sicht von einigen Aktivist*innen gibt es nicht mehr viele poli-
tische Diskussionen, da die Menschen enttäuscht sind, frustriert mit der langen Übergangs-
zeit und der tatsächlichen politischen Situation. Trotzdem werden immer noch Artikel und
Videos, die die aktuelle politische Situation und Hintergrundinformationen beschreiben,
geteilt. Der wichtigste Punkt hierbei ist, dass Facebook damals in klarem Gegensatz zu
den Mainstream-Medien, mit Ausnahme von Al Jazeera, offensichtlich als vertrauenswür-
diges Medium galt.

29.4.1.4 Vertrauen in Facebook
Im Allgemeinen wird die Menge an Informationen, die auf Facebook verfügbar ist, als
eine bessere Grundlage für die Gewinnung von Informationen und die Filterung der meis-
ten nicht vertrauenswürdigen Quellen als andere Medien wahrgenommen. In einer Zeit
der politischen Konkurrenz spielt die Filterung von Informationen offensichtlich eine grö-
ßere Rolle bei den Aktivitäten der Menschen. Während der Revolution wurde Facebook
verwendet und als das zuverlässigste Medium beschrieben, aber dieses Bild hat sich geän-
dert. Nach der Revolution sind die Nutzenden in Tunesien misstrauischer gegenüber Ge-
schichten geworden, welche auf Facebook geteilt werden. Die Facebook-Nutzenden schät-
zen die Vielfalt der Information, bleiben aber skeptisch in Bezug auf ihre Zuverlässigkeit.
Aus diesem Grund werden Neuigkeiten konsumiert und anschließend in „vertrauenswür-
dig“ oder „nicht vertrauenswürdig“ unterschieden.
Viele vertrauen Informationen, die zusätzliche Anmerkungen zu zuverlässigen Quellen
haben oder Hinweise auf die Unsicherheit über die Zuverlässigkeit dieser Quelle enthalten.
Durch die aktive Überprüfung der Quellen mit anderen, die Verbreitung von Informatio-
nen oder Links über die eigenen Pinnwände oder in Gesprächen über Postings mit Be-
kannten wird versucht, Sinn und Vertrauen zu schaffen.

29.4.2 Palästina

29.4.2.1 Die Rolle von Internet und sozialen Medien
In der untersuchten Fallstudie wurde das Internet genutzt, um hauptsächlich E-Mails an
das breite Netz von Gleichgesinnten und Pressevertreter*innen zu verschicken und über
die politischen Bedingungen und Aktivitäten in den Dörfern zu informieren und die An-
hänger*innen zu den bevorstehenden Demonstrationen einzuladen. Obwohl soziale Me-
dien und besonders Facebook bereits verfügbar waren und in anderen Ländern genutzt
wurden, fingen viele Aktivist*innen in Palästina erst spät an, diesen Kanal für ihre politi-
schen Zwecke zu nutzen.
Auf den Pinnwänden wurden Fotos von den Demonstrationen mit Erklärungen gepostet.
Zudem wurden Nachrichten an israelische Unterstützter*innen und europäische Akti-
vist*innen verschickt, in denen für die Teilnahme an den Demonstrationen gedankt und
29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling   647

auch zu zukünftigen Events eingeladen wurde. Besonders die Vermischung von privaten
und politischen Nachrichten auf den Facebook-Seiten der Aktivist*innen ist besonders zu
erwähnen; so wurden Fotos von bewaffneten Soldat*innen und gewalttätigen Szenen ge-
postet, in Kontrast dazu standen die Bilder von den Töchtern und Söhnen, die friedlich
miteinander spielten.

 Abbildung 29-1: Posts an der Pinnwand von palästinensischen Aktivist*innen (eigene Dar-
                                       stellung).

Über den Zeitraum von mehreren Jahren wurden die Aktivist*innen immer sicherer im
Umgang mit Facebook. So waren anfangs noch alle Bekannte öffentlich, während später
diese Funktion ausgeschaltet wurde und es nicht mehr möglich war zu wissen, wen und
wie viele Freunde sie haben. Auch wurden mehrere Sprachen (darunter waren Arabisch,
Englisch, Französisch, aber auch Spanisch) verwendet, um ein möglichst breites Publikum
an ausländischen Aktivist*innen zu erreichen.
Ein weiteres Werkzeug für die palästinensischen Aktivist*innen waren Facebook-Grup-
pen. Oft waren es die Kinder der Aktivist*innen, die auf den Demonstrationen zugegen
waren und Foto- und Videoaufnahmen produzierten und anschließend in den verschiede-
nen Gruppen mit den Mitgliedern teilten; sie waren für die Pflege der Gruppen zuständig.

29.4.3 Syrien

29.4.3.1 Internet: Zugang und Überwachung
Vor dem Aufstand in Syrien musste man Zeit und Mühe investieren, um Internetzugang
im privaten Sektor zu erhalten. Deshalb spielten Internetcafés eine wichtige Rolle beim
Zugang, aber dieser Zugang wurde auch stark kontrolliert, nicht selten arbeiteten die Be-
sitzenden auch direkt mit dem Geheimdienst zusammen. Die Identität der Benutzenden
648      29 Soziale Medien in politischen Konfliktsituationen mit Fokus auf den arabischen Frühling

wurde von den Angestellten der Cafés registriert (per Personalausweis). Zudem wurden
die Internetcafés auch von der Geheimpolizei regelmäßig kontrolliert: Computerfachleute
wurden von Polizist*innen begleitet und zwangen die Besuchenden, ihren Facebook-Ac-
count zu öffnen (Rohde et al., 2016).

29.4.3.2 Facebook-Nutzung
Facebook spielte eine wichtige Rolle während der Aufstände – speziell für diejenigen, die
gut genug ausgebildet sind und in städtischen Zentren leben. Beeinflusst von den Ereig-
nissen in Tunesien und Ägypten versuchten Aktivist*innen bereits vor dem syrischen Auf-
stand, politisches Handeln zu organisieren.
Zu Beginn der Aufstände spielten Poster, Moscheen und Fernsehsender eine wichtige
Rolle bei der Organisation, doch das änderte sich und Aktivist*innen nutzen Facebook-
Gruppen, um bewaffnete Streiks und Demonstrationen zu planen und anschließend dar-
über zu berichten. Aber auch auf Seiten des Assad-Regimes wurden soziale Medien ge-
nutzt, allen voran Facebook. So wurde dann eine weitere Sicht auf die Situation der Öf-
fentlichkeit präsentiert. Nutzende mussten anspruchsvolle Praktiken entwickeln, um die
Glaubwürdigkeit von Nachrichten zu überprüfen.
Angesichts der Überwachung des Internets im Allgemeinen und der Gefahr, dass man in
Internetcafés seinen Facebook-Account öffnen muss, entwickelten Aktivist*innen ver-
schiedenen Strategien zur Nutzung. Viele nutzten Facebook nur passiv, um sich über die
aktuelle politische Situation zu informieren. Andere erstellten mehrere Accounts, um aktiv
auf Facebook zu sein, aber sich auch gleichzeitig zu schützen: ein Konto mit persönlichen
Informationen, ein weiteres, welches Positives über das Assad-Regime postete und ein
weiteres Konto, welches gegen das Assad-Regime war, wobei im privaten Haushalt nur
das Pro-Assad-Konto genutzt wurde, während das Anti-Assad-Konto im Internetcafé ver-
wendet wurde, in dem der Besitzende bekannt war und somit die Registrierung nicht nötig.
Es fand auch Account-Sharing statt, Aktivist*innen teilten sich einen Account, um Be-
richte, Videos und Bilder zu posten.

29.5 Fazit
Politische Aktivismus- und Protestaktivitäten werden durch politische Chancenstrukturen
bestimmt (Kitschelt, 1986), welche durch technologische Strukturen unterstützt werden
können (Saeed et al., 2011), was besonders im Arabischen Frühling aufgezeigt wurde
(Al-Ani et al., 2012; Sturm & Amer, 2013). Die drei beschriebenen Fallstudien zeigen,
wie unterschiedlich die verschiedenen sozialen Medien und insbesondere Facebook in
Konfliktsituationen genutzt wurden. Die zentralen Lernpunkte sind:
     Es besteht Einvernehmen, dass soziale Medien partizipative Prozesse positiv be-
      einflussen können.
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