Albert Einstein. Ein jüdischer Naturwissenschaftler, Philosoph und Intellektueller des 20. Jahrhunderts

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Albert Einstein. Ein jüdischer Naturwissenschaftler,
              Philosoph und Intellektueller des 20. Jahrhunderts

                    Festvortrag anläßlich der Ausstellungseröffnung
                       „Albert Einstein – Mann des Jahrhunderts“
                 in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

                                        Dr. Vittoria Borsò
                             Düsseldorf, den 22. November 2004

Die treffendste Bezeichnung für Albert Einstein ist wohl „Mann des 20. Jahrhunderts“. Gewiss
läuft man Gefahr, aus dem Mann einen Mythos zu machen, zumal Albert Einstein schon in
seinem Jahrhundert ein Mythos war. Es ist der Mythos des genialen, des freien Denkers. Doch ist
es ein moderner Mythos, ein Mythos zum Anfassen, wie auf einer Film-Leinwand. Die
hervorragenden Bilder dieser Ausstellung drücken eben dies aus: Der Einstein dieser Bilder ist
ein uns vertrauter Mensch. Seine Aura ist nicht jene einer fernen auctoritas. Gewiss: Er ist in
seiner Einmaligkeit unerreichbar, hat er doch den Sprung in ein neues Zeitalter des Denkens
herbeigeführt! Doch steht er gleichsam da zum Anfassen. Deshalb ist er ein „Modernes Genie“:
Seine Aura liegt in seiner subversiven Phantasie, in seinem Beharren auf der Freiheit des
Denkens. Dies lesen wir in diesen Bildern, und diese Sehnsucht nach Grenzüberschreitung wird
ein wenig auch unsere Sehnsucht.

Die Ausstellung versucht, wie ich finde mit Erfolg, nicht den Mythos, sondern den Mann des
Jahrhunderts vorzustellen. Sie trägt also eine andere Signatur, die Signatur einer konkreten
historischen Konstellation, die zugleich eine Aufgabe für die Zukunft sein will. Diese Signatur
möchte ich in meinem Vortrag interpretieren.

Ich beginne mit Einstein als Naturwissenschaftler

Ein halbes Jahrhundert lang stand Einsteins Theorie wie ein bewundertes, gleichwohl nicht in
vollem Umfang verstandenes Monument. Dennoch wurde Einstein unglaublich gefeiert – ganz
besonders in den USA, wo er bei seiner erstmaligen Ankunft in New York am 2. April 1921 mit
zahlreichen Ehrungen empfangen wurde, ebenso wie vom damaligen Präsidenten Harding im
Weißen Haus. Dieser Augenblick wird in der Ausstellung zu Recht besonders hervorgehoben,
und wir werden darauf zurückkommen, wenn wir versuchen, Einstein als Intellektuellen zu
charakterisieren, dessen oberstes Ziel die Freiheit geblieben ist: Freiheit des Denkens, Freiheit,
sich für den Schutz der Anderen zu kompromittieren und gegen die Politik Stellung zu nehmen.
In diesem Zeichen stand auch die erste USA-Reise Einsteins, als er Chaim Weizmann begleitete,
mit dem Ziel, Finanzmittel für die Gründung der Hebrew University einzuwerben.

Ich möchte also mit dem Naturwissenschaftler beginnen und zeigen, wie sehr Einstein, indem er
Naturwissenschaftler ist, auch zum Philosoph wird. Er ist ein in seiner Methode und seinen
Fragen „radikaler“ Physiker, so dass man ihn in die Reihe der dogmatischen Realisten eingereiht
hat – so auch vor kurzem der Historiker Otto Gerhard Oexle bei der Eröffnung des
Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellung“ – und zwar im Gegensatz zu den
Quantentheoretikern Niels Bohr und Werner Heisenberg, mit denen Einstein gewiss in Dissens
stand (Oexle, in: Borsò/Kann 2004). Ich möchte hier eine andere These als Oexle vertreten.
Meine These lautet: In der Art seiner radikalen Hinwendung zur „Natur“ wiederholt Einstein jene
ursprüngliche Geste des Philosophen, der die Natur über die Grenzen des Sichtbaren hinaus
erforscht – darin vergleichbar mit großen Philosophen und Naturforschern wie Spinoza, Newton
oder Alexander von Humboldt. Einstein ist also ein meta-physikós der Natur; er sucht die hinter
den Erscheinungen stehenden Eigenschaften der Dinge. Und dies ist weit weg von der
Metaphysik, wie sie als Disziplin der Philosophie gilt, nämlich als deduktive Lehre von den
letzten Gründen und Zusammenhängen des Seins.

Ich muss Sie an dieser Stelle doch kurz an die Grundsätze der Relativitätstheorie erinnern:

    1. Die spezielle Relativitätstheorie
In dieser Theorie, an der Einstein schon seit 1905 arbeitete, geht er vom Relativitätsprinzip aus,
nach dem sich Bewegungen nur relativ zu einem Bezugssystem beobachten und messen lassen.
Es ist z.B. für einen Beobachter im Inneren eines geschlossenen Behältnisses unmöglich, durch
mechanische Versuche zu entscheiden, ob der Behälter ruht oder sich gleichförmig-geradlinig
bewegt. Analog dazu zeigt Einstein, dass sich die bis dahin in der Physik übliche Vorstellung
vom absoluten Ablauf der Zeit nicht aufrecht erhalten lässt, sondern dass jede Zeitangabe an ein
Bezugssystem gebunden ist. Neben der Tatsache, dass die Lichtgeschwindigkeit eine für
Bewegungen unüberschreitbare Grenzgeschwindigkeit ist, postuliert er, dass einer Masse eine
Energie entspricht und umgekehrt. Es ist seine berühmte Formel
                    E = mc2
– die Geburtsstunde der Kernphysik.

    2. Die Allgemeine Relativitätstheorie von 1917
Hier geht es um den Gravitationsraum. Der in einem Kasten eingeschlossene Beobachter kann
durch physikalische Versuche grundsätzlich nicht entscheiden, ob sich der Kasten im
gravitationsfreien Raum geradlinig-gleichförmig bewegt oder ob er durch ein Gravitationsfeld
beschleunigt wird. Die Ausführung dieses Gedankens erforderte einen grundsätzlichen Verzicht
auf die euklidische Geometrie. Einstein nimmt die nicht-euklidische Geometrie von Gauß,
Riemann und anderen als physikalisch testbare Theorie ernst. Das Vorhandensein von
Gravitationsfeldern bedingt eine (von Ort zu Ort wechselnde) „Krümmung des Raums“. Mit der
allgemeinen Relativitätstheorie geht also die euklidisch-cartesianische Konzeption des Raums zu
Ende. Die Ebenheit einer Fläche, die Geradheit einer Strecke oder die Idee
bewegungsunabhängiger Zeiten haben keine absolute Gültigkeit mehr.

Die These der Krümmung von Raum und Zeit entsprach keiner mysteriösen, neuen Dimension
im Universum. Einstein war Physiker, kein deduzierender Philosoph. Doch waren es zunächst
nicht empirische Forschungen, sondern eine zwar auf bisherigen Ergebnissen basierende, aber
kühne Veränderung des Kausalitätsprinzips von Schwerkraft, Raum und Zeit, die Einstein auf
seine höchst originellen Ideen brachte. Ausgehend von den drei bekannten räumlichen
Dimensionen fügte er als vierte die Zeit hinzu; als deren Maßeinheit nahm er die Entfernung, die
das Licht in einem vorgegebenen Intervall zurücklegen kann. Die Verknüpfung dieser vier
Dimensionen war sein Genie-Streich. Denn er entdeckte, dass die Materie das Raum-Zeit-
Verhältnis verformt, so dass die Zeit dabei Veränderungen erfährt. Würde man beispielsweise
eine Uhr auf die sichtbare Oberfläche der Sonne stellen, so ginge sie wegen der starken
Gravitation innerhalb eines Jahres etwa eine Minute nach. Da sich kein Mensch so ohne weiteres
einen dreidimensionalen Raum vorstellen kann, der sich in eine vierte Dimension hineinkrümmt,
griff man zu dem plastischen Vergleich mit einem Gummituch. Man stelle sich den Raum als ein
ebenes Tuch vor und die Sterne darauf als Gewichte, die dieses Tuch ausbeulen. Die um die
Sonne kreisenden Planeten wirken dann wie Rennwagen auf einem kurvenreichen Rundkurs.
Wegen der Krümmung des Raums ist die Oberfläche der Sonne ein paar Millionen
Quadratkilometer kleiner, als man vom errechneten Durchmesser her annehmen müsste. Einstein
gab den Kollegen Hinweise zur Überprüfung seiner Theorie, etwa den Hinweis auf die Tatsache,
dass Uhren in der Nähe eines massigen Körpers nachgehen. Versuche in England und Amerika
zeigten diese Wirkung auch auf der Erde, dass nämlich Atom-Uhren langsamer liefen, je näher
sie dem Erdboden waren.

Der Zusammenbruch aller klassischen Raum-Zeit-Begriffe und der Sprung in den nicht
euklidisch-cartesianischen Raum sind aus der Vorstellung einer physikalisch begründeten,
anderen Kausalitätsstruktur von Raum und Zeit entstanden. Diese andere Kausalität gibt der
Philosophie neue Denkaufgaben: Drei dieser Denkaufgaben möchte ich kurz vorstellen:

    1. These: Endlichkeit, aber nicht Begrenztheit eines Kosmos, der weder Anfang noch Ende
       hat
Der Versuch Einsteins in seiner Arbeit von 1917, die Relativitätstheorie auf den angeblich
unendlichen Raum auszudehnen, was das Gebiet der relativistischen Kosmologie überhaupt erst
ins Leben rief, hat etwas von einem ästhetischen Prozess. Anstelle der Unendlichkeit des
Kosmos, die Newton konzipiert hatte, entwarf Einstein ein neues Modell-Universum als drei-
dimensionalen Raum von endlichen Ausmaßen, der jedoch keinen Anfang und kein Ende und
auch keine Grenzen hat – etwa wie die Oberfläche einer Kugel. Es ist ein scheinbar paradoxales
Modell, das Schriftsteller in den 30er Jahren versucht haben ästhetisch zu imaginieren. Einer von
diesen ist Jorge Luis Borges, der ein solches Modell mit der Figur des Aleph verband, dem
Namen nach der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets.

    2. These: Die fundamental neue Begrenzung der Zukunftsvorhersagbarkeit. Eine These, die
         nicht nur die weiteren Entwicklungen der Physik beeinflusst hat, sondern auch die
         Theorie der Erkenntnis, der Gewinnung von Wissen im 20. Jahrhundert verändert hat:
Die Begrenzung der Vorhersagbarkeit basiert auf den andersartigen Wechselwirkungen der
Raumzeiten in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Die Wechselwirkungen entsprechen nicht der
logischen Kausalität, entsprechend der Vorhersagen durch eine Anfangsfläche, auf der Daten
vorgegeben werden, und eine Endfläche geprüft werden können. Die Vorhersagen sind vielmehr
auch durch eine verborgene Fläche begrenzt, über die der Beobachter kaum Informationen besitzt
– es ist der Horizont der Schwarzen Löcher. Ließen sich in der klassischen Mechanik Ort und
Geschwindigkeit eines Teilchens prognostizieren, in der Quantenmechanik Ort oder
Geschwindigkeit, nicht jedoch beides, so kann in der Quantengravitation weder Ort noch
Geschwindigkeit vorhergesagt werden. Dies motiviert Hawking, den heute vielleicht
berühmtesten relativistischen Physiker, Einsteins Spruch, wonach Gott nicht würfelt, wie folgt zu
ändern:
         God not only plays dice, He sometimes throws the dices where they cannot be seen.1
Für die verborgene Fläche gilt nun Hawkings Prinzip des Nichtwissens (principle of ignorance).
Hawking zeigte, dass dem Zufall eine noch wesentlich stärkere Rolle zukommt als Einstein es
ahnen konnte. Doch enthält die Konstellation der Fragen, wie sie Einstein gestaltet hat, die
Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in sich, und zwar über die Antworten hinaus, die Einstein
auf der Grundlage seiner Epistemologie geben konnte.

    3. These: Die Nichtseparierbarkeit der Teilchen und ihre prinzipielle Undeterminierbarkeit
Wegen der vierten Dimension, der Zeit, können Dinge nur dann scharf voneinander separiert
werden, wenn zwei Teilchen nie etwas miteinander zu tun hatten. Haben sie aber in der
Vergangenheit wechselgewirkt, so werden sie zu Komponenten eines Systems und bleiben
miteinander verschränkt. Gewiss ist die Nicht-Separiertheit der Dinge Ziel heftiger Angriffe
gewesen. Besonders die Folgerung, dass Ursache und Wirkung qualitativ ähnlich sind, stellt ein
gefährliches Problem für jeden empirischen Dogmatismus dar. Im Essay von 1921 über
Geometrie und Erfahrung lässt Einstein aber den dogmatischen Realismus hinter sich, wenn er
sagt: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher
und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit“ (zit. Nach
Kanitscheider, S. 175).

1
    Bernulf Kanitscheider, Das Weltbild Albert Einsteins, München 1988: 171.
In diesen Denkfiguren, die direkt auf Einstein zurückgehen oder die in seinen Theorien impliziert
sind, findet sich der „geniale“ Wurf, der mit der ästhetischen Innovationskraft mancher Künstler,
Literaten oder Intellektueller vergleichbar ist. Ich denke an Walter Benjamins geniale Revolution
der Ästhetik, wenn Benjamin den Wert der Kunst nicht mehr im Original, sondern in der
Reproduktion sieht. Ich denke aber auch und besonders an die Dynamisierung des Raums der
Schrift durch Stéphane Mallarmés graphisches Gedicht: Ein Würfelwurf tilgt niemals den Zufall
(Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Auch Mallarmé denkt die vierte Dimension des
Raums, die Zeit. Es sind vollends neue Konstellationen, die schon die Kunstexperimente und
ästhetischen Begriffe des 20. Jahrhunderts in sich enthalten. Mallarmé entwirft zum Beispiel eine
Schrift, deren Raum immer neu entsteht und nur relativ ist zu den zeitlichen und räumlichen
Bewegungen des Betrachters, seines Gedächtnisses, seiner Wahrnehmung. In der Kunst des 20.
Jahrhunderts ist der Raum nicht mehr euklidisch strukturiert. Die Zeit tritt in den Bildraum, etwa
wenn – wie in den kubistischen Bildern Picassos – die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitstellen
auf der Fläche dargestellt wird.

Eine solche experimentelle Kunst bedeutet aber nicht die Verabschiedung der Realität. Realität
kann freilich nur noch im Sinne eines quantenmechanischen Realismus verstanden werden. Dies
bedenkt man heute in neueren topologischen Kulturkonzepten: Im „Eigenzustand“ sind die Dinge
immer nur als Sonderfall ihrer möglichen dynamischen Variablen zu sehen. Physikalische
Eigenschaften sind zumeist unscharf und enthalten nur gelegentlich, bei einer bestimmten
Wechselwirkung mit anderen physikalischen Entitäten, z.B. Messgeräten, scharfe Werte.
Zustände sind nicht „streuungsfrei“, vielmehr sind ihre Ränder durch die Zeit „verschmiert“, weil
sie Spuren des Kontakts mit anderen Dingen enthalten, mit denen sie irgendwann einmal in
Berührung kamen. Die Wirkung dieses Kontakts setzt sich auch dann noch fort, wenn der
physische Kontakt längst gelöst worden ist. Ihre Systemeigenschaft bleibt auch dann erhalten,
wenn die Dinge räumlich getrennt sind.

Ich möchte ein kurzes Beispiel für die Gültigkeit einer solchen These im Bezug auf die heutige
Kulturanalyse andeuten:
Das Prinzip der Nicht-Lokalität der Strukturteile wird heute von der Globalisierung bewiesen.
Globale Netzwerke sind zeiträumliche Konstellationen, in denen eine Systemverschränktheit
auch über beliebige Distanzen hinweg besteht. In ähnlicher Weise haben phänomenologische
Konzepte des Körpers durch die vierte Dimension, die Zeit, gezeigt, dass die Ränder des
Körpers, die Grenzen zwischen innen und außen, „verschmieren“, dass sie osmotisch,
durchlässig sind.

Die Nicht-Separiertheit der Teile trotz räumlicher und zeitlicher Distanz erklärt einmal die Lokal-
globale Abhängigkeit der Ereignisse in der Netzwerkstruktur heutiger Informationssysteme, aber
auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Gedächtnis. Das archäologische Modell des
Gedächtnisses, nämlich das Vorhandensein der Spur der Vergangenheit in der Gegenwart der
Erinnerung darf nicht als ein spekulatives Erklärungsmodell verstanden werden. Jedenfalls würde
es sich lohnen, dieser These empirisch nachzugehen und eine stärkere Zusammenarbeit der
Neuro- und Geisteswissenschaften anzustreben.

Gerade dies ist u.a. die Aufgabe nach Einstein, nämlich einen Universalismus der
Wissenschaften und die Überwindung einer dogmatischen Grenze zwischen empirischen
Naturwissenschaften und deutenden Geisteswissenschaften. Seit der Denkrevolution der 20er
Jahre verläuft die Grenze eher zwischen einer Empirie, die noch einen geometrisch gedachten
raumzeitlich vorstrukturierten Raum annimmt (in den Geistes- wie auch Naturwissenschaften)
und einer Topologie, die den anderen Raum in Betracht zieht, in den man mit der
Quantenmechanik eingetreten ist. Vor der experimentellen Überprüfung eines solchen Raums
bedarf es zunächst einer Vorstellung, die durchaus Momente einer ästhetischen Imagination hat.
In Natur- und Kulturwissenschaften sind Modellentwürfe notwendig, die das Bekannte
übersteigen, das Unvorsehbare denken und Konstellationen gestalten, um empirische
Eigenschaften dort zu suchen, wo man sie – ausgehend von dem state of the art – nicht vermuten
würde.

Das Prinzip, dass die Dinge vor den anthropozentrischen Erklärungen stehen müssen – ein
Primat des Physikers –, haben die Phänomenologie und die Kunst des 20. Jahrhunderts ebenfalls
gefordert. Jene Postmoderne, die den Absolutismus der Fiktion und der Simulation behauptet hat,
ist eine Verkürzung auch postmoderner Versuche von Künstlern, das Undeterminierbare – das
Göttliche – der Welt zu respektieren und auf die „Natur“ der Welt zu antworten, ohne diese zu
beherrschen.
Es ist nicht verwunderlich, dass im 20. Jahrhundert dieses Paradigma des Denkens von jüdischen
Philosophen gezeichnet worden ist (Benjamin, Levinas, Derrida), oder von solchen, die gerade
nach der Shoah das Judentum als Denktradition gesucht haben, wie z.B. Jean François Lyotard.

Einstein als jüdischer Intellektueller

Als Intellektueller hilft uns Einstein, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sehen, wie sie hätte
sein können. Die Signatur dieser Geschichte ist jene der Freundschaft und des Lebens und nicht
jene des Schrecklichen und des Todes. Einsteins Worte sind noch heute Worte des Widerstands
gegen die politische Geschichte der Zerstörung und des Verschwindens.

Ein Intellektueller ist mehr als nur ein Mensch, der verstandesmäßig die Welt interpretiert. Seit
dem Ausruf Emile Zolas „J’accuse“ und seinem Engagement in der Dreyfuss-Affäre werden
Künstler erst dann zu Intellektuellen, wenn Sie ihren Verstand zur Korrektur der Schrecken
politischer und gesellschaftlicher Systeme einsetzen. Als jüdischer Intellektueller hat Einstein
nicht nur der Geschichte des Geistes, sondern auch der politischen Geschichte eine andere
Signatur gegeben. Die Geschichte mit der Signatur seines Engagements zu lesen, bedeutet, das
Schreckliche der Historie um so deutlicher zu analysieren, weil die Analyse von der Perspektive
einer anderen Erinnerung ausgeht, der Erinnerung an den Ethos der Liebe zu den Menschen, der
Überschreitung der Differenzen in der Universalität des menschlichen Geistes und in der Demut
angesichts der Schönheit der Natur. Diese Aufgabe des Intellektuellen ist die Aufgabe der
Universität, wie sie Einstein in der – hier ausgestellten – Erklärung zur „Mission of the
University“ vertrat: truth and universality of knowledge.

Einstein war kein Politiker. Am liebsten vermied er die Öffentlichkeit, sogar den Ruhm, zu
Gunsten der Abgeschiedenheit, etwa seines Hauses in Caputh, an der Havel bei Potsdam. Er zog
sich gerne in seine theoretischen Studien oder in die Musik zurück. Wie wir wissen, war er ein
begnadeter Geiger – eine Qualität, die ihm unter anderem die tiefe Freundschaft des belgischen
Königspaares einbrachte. Erst die sich in den 30er Jahren anbahnenden schrecklichen Ereignisse
waren für Albert Einstein Anlass, seine Zurückgezogenheit aufzugeben, seine Scheu zu
überwinden und sich auch politisch zu engagieren.

Das Engagement Einsteins als Pazifist, als Antimilitarist und im Sinne des Eintretens für die
Freiheit in jeder Lebenslage ist für viele pazifistische Bewegungen des 20. Jahrhunderts zum
Emblem geworden. Am Ende des ersten Weltkriegs sieht Einstein im Sturz des preußischen
Militarismus eine Zukunftschance für Deutschland, trotz der u.a. durch die Blockade der
Alliierten erlittenen Not. Um sein Engagement für die deutsche Republik zu markieren, nimmt er
neben der schweizerischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Was aber heißt Engagement für Einstein? Es heißt Eintreten gegen jede Form von Ideologie.
Dies betrifft sowohl die stalinistische Wendung der russischen Revolution, die er recht bald
erkannte und von der er sich abwandte, wie auch seine Stellungnahme, als studentische Rebellen
der Universität Berlin am 9. November 1919 den Rektor gefangen hielten und Einstein um
Unterstützung baten. Einstein wehrte sich nach jeder Seite gegen die Einschränkung der
Akademischen Freiheit. Ähnliches betrifft den konfessionellen Glauben. Die jüdische Gemeinde
musste z.B. bis 1924 warten, ehe Einstein seine konfessionelle Unabhängigkeit aufgab und der
Gemeinde beitrat, nämlich als er verstand, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinde über das
Konfessionelle hinweg eine Gemeinschaft von kulturellen Traditionen bedeutete. Patriotismus
und die Verbindung von Nationalismus und Territorium waren ihm zuwider. So spottet er über
die aus dem ersten Weltkrieg resultierenden Nationalismen in einem Artikel über die
Relativitätstheorie in der Londoner Times vom 28. November 1919, den er mit den Worten
beendete: „Heute werde ich in Deutschland als deutscher Gelehrter, in England als Schweizer
Jude bezeichnet. Sollte ich aber einst in die Lage kommen, als bête noire präsentiert zu werden,
dann wäre ich umgekehrt für die Deutschen ein Schweizer Jude und für die Engländer ein
deutscher Gelehrter“.
Erst angesichts der Gefährdung der jüdischen Bevölkerung in Europa gab Einstein auch seine
Reserven gegen jede Form von Nationalismus auf und entschied sich, die zionistische Bewegung
zu unterstützen. Theodor Herzels scheinbar unerreichbarer Traum von einer jüdischen Heimat
war durch den ersten Weltkrieg paradoxerweise in greifbare Nähe gerückt. In Folge der
Nachkriegsentwicklung und in Vorahnung der kommenden Bedrohung setzte sich Einstein seit
seiner Amerika-Reise für eine jüdische Heimat als psychologisches, kulturelles und politisches
Bedürfnis der Juden in aller Welt ein. Chaim Weizmann, Zionistenführer und später erster
Präsident Israels, plante die Gründung einer Hebräischen Universität auf dem Berg Scopus und
wollte Einstein für einen gemeinsamen Besuch der Vereinigten Staaten gewinnen, bei dem
Finanzmittel für dieses Projekt gesammelt werden sollten. Nach anfänglichen Ablehnungen sagte
er zu. Nicht zuletzt Einsteins Berühmtheit half – neben der Opferwilligkeit der jüdischen Ärzte in
Amerika –, Mittel für die Gründung einer medizinischen Fakultät an der zukünftigen Hebrew
University zusammenzubringen. Er bekam die Ehrenmedaille der Columbia University und den
Ehrendoktor der Princeton University, seiner späteren alma mater. Auch hier war Einstein
Botschafter einer deutschen Nation, die während des Krieges zu den Feinden der Amerikaner
gehört hatte.

Aber die politischen Zeichen trübten sich in Europa weiter. Einstein wurde wirklich zum bête
noire aller Nationalisten in Europa. Während der Vorlesungen, die er 1922 am Collège de
France in Paris hielt, drohten patriotisch motivierte Gegner mit Aggression. Im Herbst 1923
wurden deutsche Wissenschaftler zum renommierten Solvay Kongress in Belgien nicht
eingeladen. Einstein verhielt sich solidarisch und lehnte die ihm zugegangene Einladung ab.
Doch schwand seine Hoffnung, die Wissenschaft könnte dem Völkerbund zu einer
internationalen Einigung helfen, immer mehr; sein Pazifismus wurde zunehmend zum
Gegenmodell einer Welt, die sich auf die nächsten Konflikte vorbereitete. So werden, besonders
in der Retrospektive, seine Stellungnahmen gegen den Krieg zum Mahnmal für uns, die
Nachfolger. Ich möchte einen Satz aus dem Jahre 1928 und 1929 zitieren:

       Kein Mensch hat das moralische Recht, sich Christ oder Jude zu nennen, wenn er bereit
       ist, auf Befehl der Obrigkeit planmäßig zu morden [...] oder sich irgendwie missbrauchen
       zu lassen (1928).

       Ich würde direkten oder unmittelbaren Kriegsdienst unbedingt verweigern und versuchen,
       meine Freunde zu derselben Haltung zu veranlassen, und zwar unabhängig von der
       Beurteilung der Kriegsursachen (1929, das Jahr seines 50. Geburtstages).

Nach Hitlers Machtergreifung trat Einstein 1933 aus der Preußischen Akademie der
Wissenschaften aus und legte seine deutsche Staatsbürgerschaft ab. Princeton nahm ihn
begeistert auf. Von dort aus half er zahlreichen Wissenschaftlern bei ihrem Exodus aus
Deutschland. Aus den deutschen Universitäten wurde der Geist der Wahrheit und der
Internationalität durch das Naziregime vertrieben.

Doch steht die wissenschaftliche und intellektuelle Vita Einsteins im Gegensatz zur
schrecklichen Geschichte des 20. Jahrhunderts; sie prägt dieser einen anderen Stempel auf: Die
„gekrümmten Strahlen“ des Sternenlichts seiner Studien haben eine umschattete Welt erhellt und
eine Einmütigkeit der Menschen offenbart, die über allen Krieg hinweg ging2. Das Licht, das aus
Einsteins Wissenschaft ausstrahlt, könnte die Finsternis der politischen Geschichte verdrängen:
Denn Einsteins Theorie der Allgemeinen Relativität traf mitten in einen alles verdüsternden
Krieg und war – mitten im Krieg – ein grenzüberschreitender Augenblick der europäischen
Geschichte. Ich möchte einige Daten dieser „anderen“, widerständigen Geschichte nennen:

1916 und 1917, zu Zeiten der russischen Revolution und der späteren Machtübernahme durch die
Kommunisten, war Einsteins Theorie – trotz der Beeinträchtigung des internationalen Charakters
der Wissenschaft durch den Krieg – eine Botschafterin über die Grenzen hinweg: Der
holländische Astronom Willem de Sitter sandte 1916 seinem englischen Kollegen Eddington in
Cambridge eine Kopie der Arbeit Einsteins über die Relativitätstheorie. Mitten im Krieg
bereiteten Eddington und der königlich-britische Astronom Frank Dyson zwei Expeditionen vor,
die bei einer besonders günstigen totalen Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 durchgeführt
wurden. Sie, die englischen Wissenschaftler wollten die Theorie Einsteins überprüfen, die im
feindlichen Berlin herangereift war. Dabei wurde Einsteins Theorie gegen jene von Newton
bestätigt, was in England erhebliches Aufsehen erregte. Am 6. November 1919 fand in London
ein historisches gemeinsames Treffen der Royal Society und der Royal Astronomical Society
statt, und zwar symbolischerweise dort, wo mehr als zwei Jahrhunderte zuvor, im Jahre 1703,
Isaak Newton zum Präsidenten der Royal Society gewählt worden war. Der königlich-britische
Astronom gab vor aller Welt bekannt, dass die Resultate der beiden Expeditionen zur
Beobachtung der Sonnenfinsternis die Theorie Einsteins gegenüber der von Newton klar
begünstigten und Eddington zu der Bemerkung über Einsteins Theorie veranlasste: „Sie ist das
Allerbeste, was für die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen England und Deutschland hätte
geschehen können“.

Einstein befand sich auf seiner Rückkehr aus Japan, als er erfuhr, dass er den Nobelpreis für das
Jahr 1921 erhalten hatte. Diese Zeit und die Zeit seines internationalen Triumphzugs fällt
zusammen mit dem Entflammen des Hasses in Europa. Rathenau war 1921 in Berlin ermordet
worden, die Feindschaft gegen Juden in Deutschland und gegen Deutsche im Ausland wuchs.
Noch erlebte Berlin ein goldenes Zeitalter in Kunst und Wissenschaft. Leider, wie wir wissen,
nicht mehr lange.

2
    Vgl. Banesh Hoffmann, Albert Einstein: Creator and Rebel, New York 1972.
Einstein, der nach dem Krieg Zeit seines Lebens nie mehr wieder nach Deutschland zurückkehrte
oder mit den Deutschen zu tun haben wollte, wurde am 1. Oktober 1940, einen Tag nach der
Kapitulation Frankreichs, amerikanischer Staatsbürger.

Wie sehr Einstein auch Künstler inspiriert hat, zeigt ein Exponat, das diese Ausstellung begleitet.
Es ist der Einstein Chair von Robert Wilson – eine Hommage an den Raum. Dieser Stuhl spielte
eine zentrale Rolle im Stück Einstein on the Beach von Robert Wilson und Philip Glas aus dem
Jahre 1976. Er fügt sich in Wilsons künstlerisches Projekt der Gliederung des Raums ein. Auch
die Materialien – Gerüstteile aus verschiedenen Metallen – sind eine Anspielung an die
Zufälligkeit der Bedeutungen im Raum und spielen überdies auf die ironische Aussage Einsteins
aus dem Jahre 1955, dem Jahr seines Todes an: „Wenn ich noch einmal jung wäre und
entscheiden könnte, wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen will, würde ich nicht
Wissenschaftler, Gelehrter oder Lehrer werden. Ich würde vielmehr Klempner oder Hausierer
werden in der Hoffnung, das bißchen Unabhängigkeit zu erlangen, das unter den gegenwärtigen
Umständen überhaupt noch erreichbar ist“. Dieses Exponat verdanken wir übrigens der Stiftung
Eisenhandel Dr. König, Zöllikon (CH) und dessen Direktor, Bernd Stieghorst. Herr Stieghorst,
der zugleich Vorstandsmitglied der Internationalen Benjamin-Gesellschaft ist, macht uns heute
die Freude seiner Anwesenheit.

Die Wissenschaft der Dinge und des Menschen sowie ihre Künste sind international. Der Mensch
und die Institutionen, insbesondere die Universität, müssen sich – auch heute im 21. Jahrhundert
– die Freiheit des Denkens zur Aufgabe machen. Es gilt deshalb, sich insbesondere an die
glücklichen Zeichen der Vita Einsteins zu erinnern. Denn trotz der politischen Enttäuschungen ist
doch einer von Einsteins Träumen in Erfüllung gegangen: Die Gründung des Staates Israels.
Nach dem Tod des ersten israelischen Präsidenten Chaim Weizmann wurde Einstein von der
Knesset die Nachfolge des Präsidenten angetragen. Einstein lehnte – drei Jahre vor seinem
eigenen Tod – dieses Amt ab mit den Worten: „I know a little about nature, and hardly anything
about man“. Und Einsteins Traum ist auch hinsichtlich der Hebrew University in Erfüllung
gegangen. Die Hebrew University, der wir zusammen mit den Freunden der Hebrew Universität
diese Ausstellung verdanken, gelangte nach ihrer Gründung unter Einsteins Mithilfe zu hohem
internationalem Rang. Und wir können ein Weiteres zelebrieren, nämlich die Möglichkeit, im
Rahmen des 2003 zwischen dem Land NRW und Israel getroffenen Abkommens unsere
wissenschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern noch weiter zu intensivieren. Es ist
ein wichtiges Abkommen, das durch die gemeinsame Wissenschaft auch und vor allem die
Beziehung zwischen den Menschen und ihren existentiellen Kontexten stärken wird. Und es gilt
im Sinne der Signatur der Vita Einsteins, die guten Zeichen stark zu machen, die er nicht mehr
erleben konnte: Das friedliche Zusammenleben und die Freundschaft von Deutschen und Juden
in Düsseldorf und in vielen anderen Städten in Deutschland.
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