Alea iacta est - Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei - DOI-Kurzanalysen
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Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei DOI-Kurzanalysen Ausgabe April 2017
DOI-Kurzanalysen Zusammenfassung • Das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems in der Türkei ist nicht das Ende, sondern nur ein Zwischenschritt der weiteren Machtkonsolidierung Präsident Erdoğans und der regierenden AK-Partei. Die Machtkalkulationen für das Superwahljahr 2019 beginnen schon jetzt. • Analysen zeigen mehr Dynamik im Verhalten der Wählerinnen und Wähler als gemeinhin angenommen. Zukünftige Erfolge Erdoğans und der AKP an den Urnen sind nicht absolut sicher. • Ein großes, noch unausgeschöpftes und mitentscheidendes Potenzial für die türkische Parteipolitik liegt bei den Auslandstürken. 2 Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei Ludwig Schulz Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei Alea iacta est – die Würfel sind gefallen und das 3. November 2019, wenn dann erstmals Prä- Referendum vom 16. April 2017 über die Einfüh- sidentschafts- und Parlamentswahlen gleich- rung eines Präsidialsystems in der Türkei ist ent- zeitig stattfinden und daraufhin das neue schieden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, System vollständig implementiert werden soll. die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Allerdings soll schon in Kürze der nun refor- unter Noch-Premierminister Binali Yildirim und mierte Verfassungsartikel greifen, wonach der Teile der Partei der Nationalistischen Bewegung Staatspräsident wieder Mitglied einer Partei (MHP), die ihrem Vorsitzenden Devlet Bahçeli in sein darf. Noch in diesem April soll Präsident die Allianz mit Erdoğan und der AKP gefolgt sind, Erdogan somit wieder der AKP beitreten, die konnten die Abstimmung knapp und offenbar er 2001 mitbegründet und fast 15 Jahre lang unter Rückgriff auf unlautere Mittel für sich ent- zum Erfolg geführt hatte. Dass er beim plan- scheiden. Unter normalen rechtsstaatlichen Um- mäßig nächsten Parteitag 2018 erneut zum ständen stünden Erdoğan und die AKP nun in der Vorsitzenden gewählt werden wird, gilt als Pflicht, ihrer neuen Verantwortung gerecht zu wer- Formsache – und führt ab 2019, wenn die den: Die Verfassungsreformen müssten planmä- Verfassungsreformen vollends umgesetzt ßig umgesetzt, das Versprechen für eine echte werden sollen, zu dem demokratietheoreti- Demokratisierung und die Verheißungen auf eine schen Problem, dass dann der Präsident als politische Restabilisierung des Landes eingelöst Chef der Exekutive faktisch zugleich der und eine Rückkehr zum Pfad des wirtschaftlichen Mehrheitsfraktion im Parlament vorsitzt und er Erfolges beschritten werden. für Parlamentswahlen die Kandidaten seiner Partei bestimmt – ein Bruch mit dem demo- Und doch ist unklar, wohin die weitere Reise kratischen Prinzip der Gewaltenteilung in prä- Erdoğans geht. Zwar präsentieren er und die sidentiellen Systemen und ein Einfallstor für AKP das Referendum und das Ergebnis als his- Nepotismus und Kooptation. torischen Sieg des Volkes: als Erfolg über die Mi- litärherrschaft von 1980, die damals per unfreier Zudem sollte man sich nichts vormachen: Unter Abstimmung das bislang geltende, zur Dominanz den vorherrschenden politischen Bedingungen der Kemalisten verzerrte parlamentarische Re- der Türkei, zu denen seit Juli 2016 ein weiterhin gierungssystem konstitutionell hatte verankern andauernder Ausnahmezustand gehört, der die lassen; sowie als Vervollkommnung des Sieges Durchgriffsrechte des Staates gegen die Ge- über die Putschisten vom Sommer 2016, als das sellschaft und der Exekutiv gegen alle anderen Volk aufstand, um die gewählte Regierung und Organe exorbitant stärkt, verfestigen die Verfas- den gewählten Präsidenten zu verteidigen. Ge- sungsänderungen erneut autokratische Struktu- wissermaßen als Dank dafür hätten Präsident ren, die ursprünglich überwunden schienen.1 und Regierung nun dem Volk die Möglichkeit ge- Der Populismus und die manipulative Demago- geben, frei über eine Reform der bestehenden gie Erdoğans und seiner Mitstreiter, die Repres- Verfassung zu entscheiden, um der Ära der Mili- sion von Kritik und Opposition, die wiederholte, tärcoups und der instabilen Machtverhältnisse systematische Herstellung unfairer Wahlkampf- ein Ende zu setzen: Der Staatspräsident wird zu- bedingungen und die unsaubere Behandlung gleich Regierungschef sein, er wird sein Kabinett und Auszählung der Wahlkarten am Wahltag unabhängig vom Parlament ernennen und wich- zeitigen das vorläufige Ende des strukturellen tige Posten in der obersten Justiz, der Verwal- Demokratisierungsprozesses der Türkei. Zwar tung, im Militär und im Hochschulwesen wird auch der Superpräsident Erdoğan nach Be- eigenmächtig besetzen können sowie letztin- lieben und Kalkül auf Versöhnung schalten und stanzlich für die Regierungspolitik verantwortlich Reformen (etwa bei Kurden- und Minderheiten- sein, wofür das Parlament die nötigen Gesetze rechten) einleiten, wenn es ihm zupass kommt erlassen kann. und da er nicht vollends gegen die Hälfte der Bevölkerung wird Politik machen können. Umgesetzt werden die neuen Bestimmungen Zudem ist er von der Wirtschaftsleistung des sukzessive bis zum – voraussichtlich – Landes mindestens ebenso abhängig wie die 1 Vgl. zur demokratierechtlichen Einschätzung der Verfassungsänderungen: European Commission for Demo- cracy through Law (Venice Commission), “Opinion on the Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a national referendum on 16 April 2017,” CDL-AD(2017)005, Strasburg, 13. März 2017, http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx? pdffile=cdl-ad(2017)005-e. Deutsches Orient-Institut 3
DOI-Kurzanalysen Wirtschaft von ihm bzw. von der Stabilität des zen sowie den Metropolen Ankara und Istan- politischen Systems. Fallende Wechselkurse, bul; und schließlich eine Hinterfragung des steigende Arbeitslosigkeit und Lebenspreise, Machtfaktors der so genannten Auslandstür- fehlende oder falsche Investitionen sowie Fälle ken. Wie sich zeigen wird, sitzen Präsident an Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirt- Erdoğan und die AKP sicher im Sattel – doch schaft werden ihm ebenso angelastet werden im nun im Entstehen begriffenen Präsidialsys- wie er sich nach notwendigen Reformen für eine tem gelten neue Spielregeln für alle und deren wieder florierende Wirtschaftsleistung des Lan- Aushandlung beginnt erst jetzt. des wird feiern lassen können. I. Die Wähler lassen sich mobilisieren – aber Alle Trends der vergangenen Jahre sprechen nicht ausschließlich für Erdoğan aber auch dafür, dass das willkürliche, autokra- tische Gebaren und die Kooptation machtstra- Als eines der guten Resultate des Wahltags tegisch relevanter Akteure wie des Militärs, der aus liberaldemokratischer Sicht ist zunächst Geschäftswelt und der Medien fortgesetzt und einmal mehr die hohe Wahlbeteiligung in der dass eine nationalistische Rhetorik und Politik, Türkei (zusammen mit einigen Auslandstürken) das Verfolgen einer konservativ-religiösen zu werten. Trotz verbreiteter Mängel an bür- Agenda sowie die erneute Versicherheitlichung gerschaftlicher Kritikfähigkeit einerseits und von Lebensbereichen durch die Staatsmacht struktureller Abstimmungswidrigkeiten, etwa für einer- bzw. die Repression regierungs- und tausende vertriebene Bewohner der kurdisch staatskritischer Meinungsäußerung und Hand- dominierten Provinzen im Südosten, anderer- lung andererseits anhalten werden. Umgekehrt seits lassen sich die Wählerinnen und Wähler werden oppositionelle und z.T. auch extremis- offenbar zur Wahrnehmung ihres demokrati- tische Gruppierungen ihren Widerstand fortset- schen Rechts mobilisieren (vgl. Tabelle 1): zen – und sich somit die Spirale von Während an der Präsidialwahl 2014, als Erdo- Widerstand und Repression weiterdrehen. gan sich als erster Kandidat direkt mit 51,8 % der Stimmen vom Volk in das höchste Staats- Und doch bleibt die Machtfrage noch mindes- amt wählen ließ, etwa drei von vier Wähler teil- tens bis 2019 ungelöst – wie, nüchtern be- nahmen, stabilisiert sich die Wahlbeteiligung trachtet, die vorläufigen Ergebnisse des bereits bei den beiden Parlamentswahlen 2015 Verfassungsreferendums im folgenden Ver- auf etwa 85%; ein beachtlicher Wert, der nun gleich mit vorherigen Abstimmungen deutlich erneut erreicht wurde. Die Anzahl der regis- machen.2 Analysiert werden dabei zunächst die trierten Wähler in der Türkei erhöhte sich u.a. Wahlbereitschaft und das Wahlverhalten „pro demografisch bedingt in der gleichen Zeit um Erdoğan“ seit 2014, gefolgt von einer quantita- etwa fünfeinhalb auf fast 58,4 Mio., wobei sich tiven Untersuchung etwaiger Veränderungen die Zahl der gültig abgegebenen Stimmen im Wahlverhalten der Menschen in den AKP- gegenüber 2014 sogar um fast achteinhalb auf Hochburgen, den zentralanatolischen Provin- über 48,9 Mio. steigerte.3 2 Die folgenden quantitativen Daten zur Präsidentschaftswahl 2014 und den beiden Parlamentswahlen 2015 wurden von der Online-Datenbank des Obersten Wahlrats (Yüksek Seçim Kurulu) entnommen. Die Werte zum aktuellen Verfassungsreferendum sind noch vorläufig und basieren auf Online-Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, des Wahlportals der Tageszeitungen Daily Sabah und Yeni Şafak, https://www.dailysabah.com/election/turkey-2017-referendum bzw. http://www.yenisafak.com/secim-referan- dum-2017/dunya-secim-sonuclari-referandum, die sich ihrerseits wiederum auf Anadolu und den Wahlrat beziehen. 3 Nach dem Referendum legte die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) Beschwerde gegen das Ergebnis ein, u. a. weil der Oberste Wahlrat noch am Wahltag entschieden hatte, dass auch Wahlkarten ohne einen offiziellen Stempel akzeptiert würden. Handyaufnahmen aus Wahlbüros, die diese Praxis dokumen- tierten, kursierten in den Tagen nach der Wahl in den sozialen Medien. Während auch die Wahlbeobachter mission von OSZE und Europarat, die auf Einladung der Türkei die Abstimmung verfolgt hatte, diese Praxis der Wahlkartenannahme und -auszählung (neben weiteren Aspekten im Widerspruch zu internationalen Stan- dards, v.a. des unfairen Wahlkampfs zum Referendum; vgl. International Referendum Observation Mission, "Statement of preliminary findings and conclusions, Republic of Turkey Constitutional Referendum,“ 16. April 2017, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true) kritisierte, verwiesen der Wahlrat und Vertreter des siegreichen Regierungslagers auf die Rechtmäßigkeit der Praxis u.a. mit dem Argument, dass der Zulassungsbescheid ja noch vor Schließung der Wahllokale und vor Beginn der Auszählung erfolgt war. Alle Beschwerden der Opposition wurden zunächst abgewiesen. Im Nachhinein erscheint eine Überprüfung der Wahlkarten und ihres möglicherweise verzerrenden Einflusses auf das Wahlergebnis kaum mehr möglich zu sein. Eventuell, so CHP-Vertreter, könnten bis zu zweieinhalb Millionen inoffizielle Karten das Ergebnis hin zur Annahme der Verfassungsänderungen verfälscht haben. Im Detail dazu vgl. Martens, Michael, „Eine neue Dimension,“ Faz.net, 18. April 2017, http://www.faz.net/ aktuell/politik/tuerkei/moeglicher-wahlbetrug-durch-erdogans-regierung-14977246.html. 4 Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei Abstimmungen „über Veränderung Veränderung gültige Wahl-beteiligung Registrierte Wähler Gültige Stimmen Erdoğan“ registrierte Wähler Stimmen 40.545.911 Präsidentenwahl 2014 74.1 % 52.692.841 +5.672.237 +8.388.205 Referendum 2017 85.3 % 58.365.078 48.934.116 Tabelle 1: Wahlbeteiligungen bei Präsidentenwahl 2014 und Referendum 2017. Versteht man das Referendum allerdings AKP noch ohne weiteres Neu- und Wechsel- weniger als eine Abstimmung über die ge- wähler an sich binden konnten (s. Tabelle 2): nauen Verfassungsänderungen (die für viele, So erhöhte sich die Zahl ihrer Unterstützer ob Erdoğan-Anhänger oder -Gegner, ohne- von ca. 21,0 Mio. (2014)5 auf nun rund 25,2 hin kaum verständlich oder abstimmungsre- Mio.; rechnerisch konnten Erdoğan und die levant schienen), denn als eine Wahl für AKP also mit Hilfe der MHP unter Devlet Ba- oder gegen den Präsidenten und seine poli- hçeli fast 4,2 Mio. Stimmen hinzugewinnen. tischen Ambitionen,4 so zeigt sich im Ver- Ins Gewicht fiel diese Wahldynamik aber gleich zur Präsidentenwahl 2014 zwar ein kaum, sonst hätte Erdoğan weitaus mehr als stabiler Zuspruch einer knappen Mehrheit nur erneut 51% erhalten. Mit anderen Wor- der Wählerinnen und Wähler von etwa über ten scheinen Neu- und Wechselwähler die- 51%; zugleich erscheint es aber bei näherer ses Mal offenbar mehr dem ‚Nein‘-Lager Betrachtung fraglich, ob Erdoğan und die zurechenbar zu sein. Abstimmungen „über Entscheidung „für Gültige Stimmen „für Veränderung Stimmen Veränderung Stimmanteil Erdoğan“ Erdoğan“ Erdoğan“ „für Erdoğan“ relativ zu… Referendum relativ zu… Präsidentenwahl: Präsidentenwahl: -0,4 % +4.156.882 Referendum 2017 51,4 % 25.157.025 Parlamentswahl: Parlamentswahl:-9,9 % -3.404.838 Präsidentenwahl 2014 51.8 % 21.000.143 Rechnerische AKP-MHP-Koalition (Stimmen): AKP: 22.959.394 + MHP: 5.602.469 = 28.561.863 Parlamentswahl Nov. 2015 Rechnerische AKP-MHP-Koalition (Stimmen / Anteile): AKP: 49.3 % + MHP: 12.0 % = 61,3 % Tabelle 2: Abstimmungen „über die Person und Politik Erdoğans“ 2014-2017. 4 Vgl. dazu auch die Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage nach dem Referendum, wonach über 80% der Wähler auf beiden Seiten sich schon lange vor dem Wahltermin für oder gegen die Änderungen entschieden hatten und zudem 91% der Befürworter und 78% der Gegner angaben, dass Erdoğans Wahlwerbung ausschlaggebend gewesen sei. Vgl. IPSOS, "Anayasa Değişikliği Referandumu Sandık Sonrası Araştırması,“ 20. April 2017, http://www.ipsos.com.tr/node/1174 sowie Yetkin, Murat, “The first survey after Turkey’s polls gives striking results,” Hurriyetdailynews.com.tr, 20. April 2017, http://www.hurriyetdailynews.com/the-first-survey-after-turkeys-polls-gives-striking-results.aspx? pageID=449&nID=112209&NewsCatID=409. 5 Dabei hatte zudem die MHP zusammen mit der CHP einen Gegenkandidaten, der 38,4% oder ca. 15,6 Mio. Stimmen erhielt. Deutsches Orient-Institut 5
DOI-Kurzanalysen Noch deutlicher wird dieser abnehmende Auf der anderen Seite hätte es ein überzeu- Grad an Mobilisierungskraft, wenn die jüng- gender, unabhängiger, gemeinsamer Kandi- sten Leistungen von AKP und MHP zusam- dat der Opposition da womöglich leichter, da men mit den Parlamentswahlen 2015 die Oppositionsparteien mit ihm sowie im verglichen werden, bei denen Präsident Wettbewerb gegen die AKP-MHP-Allianz Erdoğan für die AKP das Zugpferd gab (s. theoretisch geeint auftreten könnten – ein erneut Tabelle 2): Hatten im November allerdings heute noch unwahrscheinliches 2015 AKP und MHP rechnerisch über 28,5 Szenario, da die Parteien zerstritten und Mio. Wählerinnen und Wähler bzw. 61,3 % zudem von Erdoğan und der AKP anhaltend des Wahlvolks hinter sich vereinen können, kriminalisiert und desavouiert wurden. so verloren Erdoğan und die AKP bei der aktuellen Abstimmung trotz (oder gerade II. Die Machtbasis der AKP in den zentral- wegen) der Allianz mit Bahçelis MHP die anatolischen Provinzen – erste Erosions- Unterstützung von 3,4 Mio. Wähler bzw. von erscheinungen? fast 10 % ihrer früheren Anhängerschaft.6 Zu den überraschenden Resultaten des Aus dem Vergleich mit sowohl den Präsi- Referendums zählen für manche Beob- dentschaftswahlen 2014 als auch mit der achter die Verluste, die Erdoğan und die Parlamentswahl 2015 geht demnach hervor, AKP in den Millionenstädten – allen voran dass Erdoğan – wenn er direkt oder indirekt Istanbul und Ankara, den wichtigen und zur Wahl steht – seine Gewinnanteile nicht prestigeträchtigen Hochburgen, die seit automatisch steigern kann und sogar mit, über 23 bzw. 13 Jahren von der AKP re- wegen oder trotz Unterstützung der natio- giert werden – hinnehmen mussten: 7 So nalistischen MHP Wählerstimmen verlieren stimmen in Ankara mit 51,2 % bzw. in Ist- kann. Dies lässt den plausiblen Schluss zu, anbul mit 51,4 % jeweils die Mehrheit der dass es sowohl bei künftigen Präsident- Wähler gegen die Verfassungsänderun- schafts- als auch bei Parlamentswahlen für gen; ebenso wie in Antalya (59,08% Ab- Erdoğan und seine AKP knapp werden und lehnung) und Adana (58,19%) sowie wenig für ihren Machterhalt die Unterstützung überraschend im kemalistisch dominierten eines „Juniorpartners“ wie bspw. der MHP Izmir (68,80%) und in der „Kurdenmetro- notwendig sein kann – nicht zuletzt weil das pole“ Diyarbakir (67,59%). Von den sechs Referendum gezeigt hat, dass die verblei- großen Metropolen gewann die Regierung benden großen Oppositionsparteien CHP allein das westtürkische Bursa mit 53,21%. und HDP zusammen mit Abtrünnigen AKP- und MHP-Anhängern sowie den unzähligen Nun sind die Stimmverluste gerade in Ist- kleineren Parteien und Bewegungen rech- anbul und Ankara zwar bittere Pillen für nerisch eine potenzielle Gefahr für den Erdoğan und seine langjährigen Mitstreiter Machterhalt Erdoğans und der AKP darstel- und Weggefährten, den beiden Oberbür- len können, sofern sie ein Ziel (sowie ggf. germeistern Melih Gökçek in Ankara und ein überzeugender gemeinsamer Präsi- Kadir Topbaş in Istanbul. Gleichwohl zähl- dentschaftskandidat 2019) eint. ten bei der Volksabstimmung aber natür- lich nur die Gesamtzahlen des Landes, so Allerdings stellt der Umgang mit der MHP dass die Niederlagen dort, wie von man- Erdoğan und die AKP zugleich vor ein gro- chen Beobachtern vermutet, wohl kaum ßes Dilemma: Denn während er 2019 für als erste Signale des Niedergangs der seine Wiederwahl im Präsidentenamt die Herrschaft Erdoğans herhalten können. Stimmen der nationalistischen Kreise, also Vielmehr werden er und die AKP-Führung die Unterstützung der MHP, benötigen wird, sich nun verstärkt auf die Suche nach Er- werden er als AKP-Chef und seine Partei im satz für die offenbar zusehend kraftlos wir- Kampf um möglichst viele Parlamentssitze kenden Lokalherrscher machen, um in den die MHP zugleich als Konkurrentin betrach- beiden Städten aus den Parlaments- ten und entsprechend behandeln müssen. sowie den ebenso 2019 anstehenden 6 Den Trend belegt auch die IPSOS-Umfrage nach dem Referendum, wonach 10 % der befragten AKP-Wähler und sogar 73 % der befragten MHP-Wähler von 2015 angegeben hatten, gegen die Verfassungsänderungen gestimmt zu haben. 7 Vgl. bspw. Böhmer, Daniel-Dylan, "Das ist der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan,“ Interview mit Can Dündar, Welt.de, 17. April 2017, https://www.welt.de/politik/ausland/article163749335/Das-ist-der-Anfang-vom- Ende-der-Aera-Erdogan.html. 6 Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei Kommunalwahlen wieder siegreich hervor- trauen schenkten – in der Hoffnung, dass gehen zu können. sich die Versprechungen für einen wirt- schaftlichen Wiederaufschwung auch bei Ebenso schlossen Analysten aus diesen ihnen erfüllen würden. 9 Zudem ging si- Ergebnissen, dass die großen Städte bzw. cherlich auch das Kalkül des Präsidenten bevölkerungsreichen Provinzen (über 1 auf, an das patriotisch-konservative Gemüt Mio. Einwohner) tendenziell und mehrheit- (oder niedere nationalistisch-chauvinisti- lich ihre neue Unzufriedenheit mit Erdoğan sche Instinkte) mittels seiner Tiraden v.a. und seinen Ambitionen zum Ausdruck ge- gegen die Feinde und ‚dunklen Mächte‘ im bracht hatten und dass Erdoğans Erfolg vor (westlichen/ europäischen) Ausland, die allem auf den Provinzstädten fuße8 – etwa angeblich der stolzen, aufstrebenden Tür- der Heimatregion seiner Familie in Rize kei und dem Islam schaden wollten, zu ap- (75,55% Zustimmung), dem religiös-kon- pellieren und so die Menge hinter sich und servativen Zentrum Konya (72,88%), den seiner Anführerschaft zu scharen. südostanatolischen Großstädten Sanliurfa (70,82%) und Gaziantep (62,45%) oder Gleichwohl jedoch zeigt sich erneut im auch der Schwarzmeerküstenstadt Sam- zeitlichen Verlauf, dass Erdoğan und die sun (63,55%). Diese Annahmen sind frei- AKP in einigen Provinzen seit 2014 an Zu- lich nicht falsch, müssen aber differenziert spruch verlieren können – noch nicht sub- betrachtet werden. Denn zum einen han- stanziell und machtgefährdend; aber erste delt es sich bei diesen Städten und Provin- Trends können vereinzelt festgestellt wer- zen nicht um scheinbar verschlafene den und von Fall zu Fall die Frage aufwer- Nester mit ausschließlich religiös-konser- fen, ob Erdoğan und einige Provinzfürsten vativen Bewohnern, sondern oftmals um der AK-Partei auf Gedeih und Verderb die so genannten „Anatolischen Tiger“. voneinander abhängen. Kooptation und Diese Städte hatten zwar unter Erdoğans Nepotismus in strategisch relevanten Pro- politischer Führung seit 2002 ihren Aufstieg vinzen dürfte somit zunehmend wichtige, zu regionalen Wirtschafts- und Handel- gleichwohl auch ambivalente Faktoren des szentren fortsetzen können. Derzeit aber Machterhalts darstellen. leiden gerade die dortigen Unternehmen unter den innen-, wirtschafts- und außen- III. Die Auslandstürken – ein verlässlicher politischen Problemen, in denen die Türkei Faktor? seit einigen Jahren steckt und für deren Missmanagement Erdoğan und die Regie- Kaum eine Gruppe innerhalb der türki- rung in Ankara eine Mitverantwortung tra- schen Wählerschaft hat dieses Mal – gen. Stimmverluste für Erdoğan gegenüber gewollt oder ungewollt – mehr Aufmerk- der Präsidentenwahl 2014 in einigen Städ- samkeit erhalten als die der so genannten ten können sich demnach als kleine „Denk- „Auslandtürken“ bzw. der weltweit im Aus- zettel“ lesen lassen: so etwa in Rize (-5,0% land lebenden Staatsbürger der Türkei gegenüber 2014), Eskisehir (-3,0%) oder (was „Auslandskurden“ sowie andere eth- Samsun (-2,3%), während Erdoğan in den nische Minderheiten einschließt). Dabei großen siegreichen Provinzen allein in Ga- waren es weniger die Wählerinnen und ziantep (+2,1%) und Sanliurfa (+2,2%) zu- Wähler selbst als vielmehr Präsident legen konnte. Erdoğan und AKP-Regierungsmitglieder, die durch ihre nach türkischem Wahlrecht Neben der Möglichkeit lokaler Spezifikatio- illegalen, gleichwohl medienwirksam in- nen könnten es somit weniger die wirt- szenierten Versuche, aktiv Kampagnen im schaftliche und politische Elite und mehr Ausland zu betreiben, sowie durch eine die Masse der einfachen bürgerlichen, Provokations- und Polarisierungsrhetorik gleichwohl aber tatsächlich nationalistisch- die Aufmerksamkeit auf diese Arena des konservativen Schichten in den Städten Wahlkampfs leiteten. Mit erstem Blick auf und auf dem Land gewesen sein, die im die vorläufigen Ergebnissen des Referen- Referendum Erdoğan mehrheitlich ihr Ver- dums scheint das Kalkül aufgegangen zu 8 Vgl. bspw. Gottschlich, Jürgen, "Der selbsterklärte Sieg,“ TAZ.de, 16. April 2017, http://www.taz.de/ !5401248/. 9 Auch diese Annahmen würden durch die IPSOS-Umfrage gestützt: Demnach gaben jeweils relativ mehr Wähler aus ländlichen als aus städtischen Gebieten sowie mehr Wähler aus bildungsfernen Schichten als solche z.B. mit Universitätsabschluss an, für die Verfassungsänderungen gestimmt zu haben. Deutsches Orient-Institut 7
DOI-Kurzanalysen sein:10 So haben 59,1 % der fast drei Milli- mentswahlen im November 2015 eine Zu- onen Auslandstürken, die sich für die Stim- stimmung von jeweils weit über 60%. Selbst mabgabe registriert haben lassen, für die wenn diese Differenzen zum Referendums- Verfassungsänderungen votiert – anteils- wert nicht übermäßig ausfallen, so ist zwar mäßig also deutlich mehr als die 51,4 % eine solide, gleichwohl aber keine absolut der Wähler in der Türkei. stabile und möglicherweise sogar eine leicht Veränderung gültige Registrierte Aus- Zustimmung Anteil an Wahl der Auslandstürken Gültige Stimmen Stimmen bzw. landswähler Gesamt; Stimmen Zustimmung 2015/2017 59,1% Referendum 2.957.870 1.406.573 831.208 Gültige Stimmen AKP: 56,4 % +258.881 + MHP: 7,1 % = 63,5 % Präsidentenwahl Zustimmung November 2015 22.899.069 1.147.692 +103.104 AKP: 647.028 + MHP: 81.076 = 728.104 Präsidentenwahl 62,3 % 2.798.726 230.938 2014 143.873 Tabelle 3a: Wahlen der Auslandstürken gesamt 2014-17. Allerdings kann der Erfolg im Ausland rela- abnehmende Zustimmung für Erdoğan unter tiv zur „Heimatfront“ rechnerisch verwässert den tendenziell nationalistisch-konserva- werden, wenn das Ergebnis mit den Zustim- tiven Auslandstürken festzustellen. mungsraten unter den Auslandstürken für Erdoğan und seiner Politik bei vergangenen Zudem lassen die Werte sogar eine weitere Wahlen verglichen wird (s. Tabelle 3a): So differenzierende Vermutung über das Lager erhielt er sowohl bei der Präsidentschafts- der Ja-Stimmen zum Referendum zu: Denn wahl 2014 – bei gleichwohl sicherlich sehr in der Annahme, dass Erdoğan und die AKP viel geringer Wahlbeteiligung der Auslands- mit der Taktik nationalistischer Provokatio- türken11 – als auch im Fall einer errechneten nen im Ausland zusätzlich zu den eigenen „Allianz“ von AKP und MHP bei den Parla- Anhängern vor allem auch die nicht uner- 10 In dem sie die behördlichen Verbote von nach türkischem Wahlrecht widerrechtlichen Wahlkampfauftritten ihrer Politiker skandalisierten und den Streit mit den Regierungen der „Gastländer“ nicht zuletzt mittels „Nazivergleichen“ eskalieren ließen, konnten Erdoğan und die Regierung das Narrativ der Türkei- und Islam-feindlichen Europäer konstruieren. Das Kalkül war, dass möglichst antitürkische Bilder, Statements und Handlungen eine Welle der patriotischen Solidarisierung aller Türken untereinander hervorrufen sollte; Erdogan und die AKP konnten sich so als Opfer europäischer Diskriminierung darstellen, auf Solidarität selbst ihrer Kritiker hoffen und sich als Anführer einer Widerstandsbewegung gegen die Anfeindungen stilisieren. Vgl. bspw. Mumay, Bülent, "Deutschland will Erdogan zum Sultan machen,“ Faz.net, 23. März 2017, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/wie-europa-erdogan-auf-dem-weg-zum-sultan- unterstuetzt-14937535.html. 11 Aufgrund der erstmals zur Präsidentschaftswahl 2014 umgesetzten Möglichkeit zur Stimmabgabe in türkischen Konsulaten oder anderen Orten im Ausland sowie wegen verfahrenstechnischer Probleme bei der Wahl blieb die tatsächliche Zahl der abgegebenen Stimmen mit fast 231.000 relativ noch sehr niedrig. Bereits an den Parlamentswahlen im Juni 2015 nahmen dann schon weitaus mehr Auslandstürken teil. Zudem sei erwähnt, dass auch noch eine kleine Gruppe von der alten Möglichkeit Gebrauch macht, die Stimme an den internationalen Flughäfen der Türkei abzugeben. Diese werden wahlrechtlich getrennt von den in- und ausländisch gesammelten Stimmen behandelt. 8 Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei hebliche Zahl der dort lebenden MHP-An- „Deutschtürken“ stetig an auf mittlerweile hängern (im November 2015 immerhin zirka mehr als 650.000 Wählerinnen und Wähler 81.000 Stimmen bzw. 7% der gültigen Stim- (mit gültiger Stimmabgabe; s. Tabelle 3b. men) für sich mobilisieren wollte, so kann Gleichsam konnten Erdoğan und die AKP – zum einen davon ausgegangen werden, einhergehend mit einer Verbesserung der dass diese ihm tatsächlich einen wichtigen Verfahren für die Auslandswahlen – ihre Beitrag zum Sieg lieferten.12 Zugleich konn- Stimmenzahl und -anteile ebenso erhöhen, ten aber Erdoğan, die AKP und Bahçelis nämlich von 340.249 (2015) auf aktuell MHP – ähnlich wie an der „Heimatfront“ – of- 412.149 Unterstützer. Zwar blieben erneut fenbar weitaus weniger Neuwähler für sich die Befürworter des Referendums rechne- mobilisieren als etwa das Nein-Lager: Mit risch unter den Erwartungen, da ihr Anteil etwa 100.000 Zustimmungen mehr ent- an der Gesamtzahl gültiger Stimmen mit - schieden sich nur zwei von fünf Neuwähler 4,1% etwas geringer ausfiel als das addi- im Ausland für Erdoğans Kurs gegenüber terte Potenzial von AKP und MHP bei der einer deutlichen Mehrheit von 60%, die Parlamentswahl im November 2015– der dagegen votierte. klaren Dominanz der Erdoğan- und AKP- Befürworter tat dies jedoch keinen Abbruch. Trotz feststellbarer Dynamiken gilt aller- dings, dass Erdoğan und die AKP bislang Dass allerdings aktuell sowie auch 2015 auf die Unterstützung einer absoluten ‚nur‘ eine Minderheit von etwa 46 % der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im hierzulande ca. 1,4 Mio. wahlberechtigten Ausland stets bauen konnten. Dabei „Auslandstürken“ zur Abstimmung gingen13 kommt gerade dem demografisch viert- und die Befürworter des Referendums größten „Wahlkreis Deutschland“ eine ent- demnach eigentlich nur einen Anteil von scheidende Rolle zu – nicht nur, aber auch 29 % an der Gruppe der registrierten und gerade für Erdoğan und die AKP: Wahlberechtigten ausmachen, zeigt zual- Wahl der türkischen Zustimmungen; Gültige Stimmen; Staatsbürger Registrierte Auslands-wähler Anteil an den gültigen Wahlbeteiligung in Deutschland Stimmen insgesamt 653.502; 412.149; Referendum 1.429.492 45,7 % 63,1 % AKP: 340.249 + MHP: 42.571 569,886; = 382.820 Parlamentswahl 1.411.198 40,8 % November 2015 AKP: 59,7 % + MHP: 7,5 % = 67,3 % 111.933; 76.817; Präsidentenwahl 2014 1.383.040 8,1 % 68.6 % Tabelle 3b: Wahlen der Auslandstürken in Deutschland 2014-17. So stieg hierzulande im Verlauf der ver- lererst, dass noch ein großes, bislang von gangenen Wahlen die Zahl der an Abstim- der türkischen Parteipolitik weitgehend un- mungen in der Türkei sich beteiligenden ausgeschöpftes Mobilisierungs- und Wäh- 12 Dies zeigt sich vor allem auch in all jenen Ländern, die hauptsächlich von dem Streit betroffen waren bzw. deren Regierungen sich prominent positionierten: In den Niederlanden fiel die Unterstützung einer rechnerischen AKP-MHP-Koalition von 79,0% der Stimmen im November 2015 auf 70,9% nun beim Referendum; in Belgien fielen die Werte von 76,8% (2015) auf ca.75,0% und in Österreich von 75,3% (2015) auf ca. 73,2%. 13 Dabei können Medienberichte über an den Konsulaten eingezogener Pässe im Zuge des vereitelten Putschversuchs sowie der Spitzelaffäre um DITIB und andere Organisationen gerade regierungskritische Gruppen davon abgehalten haben, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Deutsches Orient-Institut 9
DOI-Kurzanalysen lerpotenzial in der Community der Aus- Stimme betrogen fühlten, gingen auf die landstürken im Allgemeinen – und hier im Straßen. Viele Beobachter und Analysten Speziellen am Beispiel des Wahlkreises aus dem westlichen Ausland, inklusive eu- „Deutschland“ – verborgen liegt. Es gilt ropäische Regierungen und Vertreter der daher als äußerst plausibel, dass die tür- verschiedenen europäischen Organisatio- kische Politik sich auch in Zukunft um die- nen äußerten ihre Besorgnis, dass die ses ungenutzte Potenzial bemühen wird. Türkei sich weiter in eine Autokratie mit Plakativ ausgedrückt hat der Kampf um unbeschränkter Machtfülle für den Präsi- die Stimmen und Herzen der Auslandstür- denten verwandeln könne, und forderten ken gerade erst begonnen und er dürfte vor allem eine transparente Aufklärung 2019, wenn Erdoğan an der Heimatfront der Vorwürfe der Wahlmanipulation. wie auch im Ausland als Präsident- und als Parteichef agieren muss, noch erbitterter Obgleich er Kritik am Wahlverfahren und geführt werden als bisher. am Ergebnis rigoros zurückgewiesen hatte und er ohne Unterlass zum Umbau IV. Fazit und Ausblick des Staates entsprechend der beschlos- senen Verfassungsänderungen schreiten Der Volksentscheid vom 16. April 2017 zur wird, 14 dürften sich Präsident Erdoğan und Einführung des Präsidialsystems in der die AKP-Regierung bewusst sein, dass sie Türkei wird in mehrfacher Hinsicht in die weder gegen die Hälfte der Bevölkerung, Geschichte der Republik eingehen. Dem noch in vollkommener Ignoranz gegen eu- siegreichen Staatspräsidenten Erdoğan ropäische Bedenken werden Politik ma- und der regierenden AKP ist es geglückt, chen können. Gleichwohl dürften sich ihren Anhängern und einer Großzahl der schnell Formen des Widerstands gegen Wähler den Systemwechsel als notwendi- die Machtpolitik des Präsidenten ausprä- gen Schritt zur Beendigung eines nach gen, die wiederum Reaktionen der Re- demokratietheoretischen Maßstäben tat- pression durch den Staat hervorrufen. sächlich mangelhaften Regierungssys- Anzunehmen ist daher, dass die Über- tems und als historische Befreiung vom gangsphase bis zum ersten Superwahl- konstitutionellen Joch, das die Putsch- jahr 2019, wenn dann gleichzeitig generäle von 1980 der Türkei auferlegt Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hatten, zu verkaufen. Geschickt nutzten stattfinden sollen, weder ruhig und kon- Erdoğan, die Regierung und die AKP die fliktfrei ablaufen wird, noch diese Wahlen repressiven Durchgriffsrechte durch den zum Aufblühen einer liberalen Demokratie proklamierten Ausnahmezustand seit dem bis zum 100. Gründungsjahr der türki- abgewendeten Coup vom Juli 2016, ihre schen Republik 2023 führen werden. exklusive und dominante Herrschaft über Zudem muss die Frage hier unbeantwor- den öffentlichen Diskursraum, ihr dema- tet bleiben, wie es Erdoğan und der AKP gogisches und populistisches Talent bei anhaltender nationalistischer Groß- sowie manipulative Mittel bei der Abstim- mannssucht, die sie unter ihren Anhän- mung, um den Sieg herbeizuführen. Prä- gern geweckt haben, gelingen soll, zu sident Erdoğan und die AKP leiteten einem konstruktiv-partnerschaftlichen anschließend schnell erste Schritte zum Umgang mit den essenziellen Partnern Wechsel ein, verlängerten vorsorglich, um und Verbündeten der Türkei in Europa zu- mögliche Proteste schnell und effektiv rückzukehren, um Sicherheit und Stabilität unterbinden zu können, den Ausnahme- sowie sozioökonomischen Fortschritt im zustand bis Juli 2017 und ließen ihre An- Land gewährleisten zu können; zumal hänger und Sympathisanten den Erfolg letztere sich ihrerseits über die Präsident- weiterhin als historischen Wendepunkt schaftswahlen in Frankreich und die und als Sieg der Demokratie feiern. Da- Bundestagswahlen in Deutschland hinaus gegen erklärte die Opposition ihren bis zu den Europawahlen 2019 im Dauer- Widerstand gegen das Ergebnis und Bür- wahlkampf befinden werden, in dem ein gerinnen und Bürger, die sich um ihre zu enger Kontakt mit einer nationalistisch 14 In seinem ersten Interview mit der Auslandspresse nach dem Referendum verglich Erdoğan die Abstimmung über die Verfassungsänderungen mit einem Fußballspiel, nach dem es „egal ist, ob man das Spiel eins zu null oder fünf zu null gewinnt. Das Ziel ist zu gewinnen.“ Vgl. Anderson, Becky; Masters, James, “CNN Exclusive: Erdogan insists Turkey reforms don't make him a dictator,” CNN.com, 19. April 2017, http://edition.cnn.com/ 2017/04/18/europe/erdogan-turkey-interview/. 10 Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei und zunehmend autokratisch gerierenden tenzial auch für Erdoğan und die AKP Türkei vom Wähler kaum goutiert werden selbst. Wie die Trends der vergangenen dürfte. Wahlen zeigen, werden sie womöglich dauerhaft auf die Unterstützung einer klei- Trotz oder gerade wegen solcher per- neren Partei wie etwa der MHP angewie- spektivischer Plausibilitäten dürfte der sen sein – etwa um Erdoğan die nötige Blick Erdoğans auch schon jetzt auf das Mehrheit für die Wiederwahl 2019 zu si- Superwahljahr 2019 gerichtet sein. Wie chern. Zugleich wird die AKP aber gegen die vorliegende Analyse von Wahltrends die MHP um die Stimmen der nationalis- der letzten Jahre gezeigt hat, sitzen tisch-konservativen Bevölkerungsgruppen Erdoğan und die AKP weiterhin fest im werben müssen, um bei ihrer Stamm- Sattel, gerade weil sie etwa auf die Zu- klientel nicht ins Hintertreffen zu gelan- stimmung von Millionen in den Provinzen gen. Zwar wird unter den neuen Zentralanatoliens wie auch noch in den Bedingungen auch der Wahlkampf für die Metropolen Ankara und Istanbul sowie im Oppositionsparteien nicht einfacher – ge- Süden bauen können. Zudem schlummert rade wiederum für die MHP, die einerseits unter den Auslandstürken weiteres Wäh- das Zünglein an der Waage für den Präsi- lerpotenzial, das mobilisiert werden kann denten, andererseits aber auch eine ent- – und gerade dann gewonnen werden scheidende Rolle für den relativen muss, wenn sich Wahlentscheidungen ab- Machtverlust der AKP im Parlament spie- zeichnen, die knapp für oder gegen den len kann. Präsidenten und seine Politik ausgehen könnten. Von heute aus betrachtet, könnte sich somit am Verhältnis von AKP und MHP, Gleichwohl ändern sich mit der nun erfol- von Erdoğan und dem unumstößlichen genden Einführung des Präsidialsystems MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli die die Spielregeln zukünftiger Wahlgänge. Machtfrage 2019 entscheiden. Es ist Gerade die Bestimmung, dass Präsident- Erdoğan sogar zuzutrauen, diese Macht- schafts- und Parlaments wahlen zeitgleich frage nicht mit Bahçeli und der MHP, son- stattfinden sollen, birgt großes Konfliktpo- dern gegen diese lösen zu wollen. Impressum Herausgeber Deutsches Orient-Institut Es wurden keine Abbildungen, Kopien oder Übertragungen gemacht ohne Er- laubnis des Autors. Die DOI-Kurzanalysen Kronenstraße 1 geben ausschließlich die persönliche Mei- 10117 Berlin nung der Autoren wieder. Tel.: +49 (0)30-20 64 10 21 Fax: +49 (0)30-30 64 10 29 Autor doi@deutsches-orient-institut.de Ludwig Schulz www.deutsches-orient-institut.de Chefredaktion Benedikt van den Woldenberg Copyright: Deutsches Orient-Institut Layout Alle Rechte vorbehalten. Brice Athimond Deutsches Orient-Institut 11
Vorstand / Kuratorium Vorstand der Deutschen Orient-Stiftung Dr. Wolf-Ruthart Born Staatssekretär a.D. Vorsitzender Dr. Ralf Brauksiepe Parlamentarischer Staatssekretär Philipp Lührs Mitglied des Deutschen Bundestages Senior Vice President Global Head of Projects Kuehne + Nagel (AG & Co.) KG Peter Brinkmann Journalist Stellvertretende Vorsitzende Henner Bunde Professor Dr. O. Faruk Akyol Staatssekretär der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie Direktor und Forschung Berlins Yunus Emre Enstitüsü Jürgen Chrobog Staatssekretär a.D. Henry Hasselbarth Mitglied des Vorstandes des NUMOV Vizepräsident für Nord- und Zentraleuropa der Inhaber, The Foxhall-Group Fluggesellschaft Emirates Airlines a.D. Thomas Ellerbeck Helene Rang Mitglied des Beirats des NUMOV Stellvertretende Vorsitzende und Geschäftsführender Mitglied des Vorstandes Vorstand von NUMOV TUI AG Inhaberin Helene Rang & Partner Prof. Dr. Yousef Abdul Ghaffar Präsident der Kingdom University in Bahrain Mitglieder des Vorstandes Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann H.E. Ali Bin Harmal Al Dhaheri Steinbeis University Berlin Chairman of the Executive Board of Governors Institut “Global Consulting and Government” Abu Dhabi University Günter Gloser, MdB Burkhard Dahmen Mitglied des Deutschen Bundestages 1994-2013 Vorsitzender des NUMOV Staatsminister des Auswärtigen Amtes a.D. Geschäftsführender Vorstand der SMS group GmbH Stephan Hallmann ZDF Zweites Deutsches Fernsehen, German Television Dr. Gunter Mulack Foreign Affairs Direktor des Deutschen Orient-Instituts / Botschafter a.D. Prof. Dr. Michael Köhler Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger EU-Kommission Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz / Prussian Cultural Heritage Foundation Dr. Heinrich Kreft Botschafter Christian Ludwig Prinz von Preußen Dr. Hubert Lang Botschafter a.D. Prof. Dr. Susanne Schröter Professorin für "Ethnologie kolonialer und postkolonialer Nizar Maarouf Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt Vizedirektor Vivantes International Medicine Johannes Selle Prof. Detlef Prinz Mitglied des Deutschen Bundestages Inhaber PrinzMedien Özgür ŞimŞek Dr. Nicolas Christian Raabe Eren Holding A.S. Mitglied des NUMOV Juniorenkreises Alf Sörensen Dr. Gerhard Sabathil General Manager Direktor East Asia, Australia, Pacific ABC International Bank plc, Frankfurt Branch European External Service Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung Adem Sari Managing Director Präsidentin SARIAS Investment GmbH Prof. Dr. jur. Dr. phil. Peter Scholz Michelle Müntefering Vizepräsident Amtsgericht Tiergarten Mitglied des Deutschen Bundestages Freie Universität Berlin Vizepräsident Oltmann Siemens Vertreter der Weltbank a.D. Prof. Dr. Mathias Rohe Rechtswissenschaftliche Fakultät Joachim Steffens Friedrich Alexander Universität, Erlangen-Nürnberg Referatsleiter Entwicklungspolitik, Vereinte Nationen, UNCTAD Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Mitglieder des Kuratoriums Dr. Willi Steul Intendant des Deutschlandradios Klaus Uwe Benneter Rechtsanwalt und Notar Serkan Tören HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH Mitglied des Deutschen Bundestages a.D. 12 Deutsches Orient-Institut
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