Alea iacta est - Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei - DOI-Kurzanalysen

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Alea iacta est - Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei - DOI-Kurzanalysen
Alea iacta est – Punktezählen
nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

                DOI-Kurzanalysen
                 Ausgabe April 2017
Alea iacta est - Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei - DOI-Kurzanalysen
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    Zusammenfassung

    •    Das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems in der Türkei ist nicht das Ende,
         sondern nur ein Zwischenschritt der weiteren Machtkonsolidierung Präsident Erdoğans
         und der regierenden AK-Partei. Die Machtkalkulationen für das Superwahljahr 2019
         beginnen schon jetzt.

    •    Analysen zeigen mehr Dynamik im Verhalten der Wählerinnen und Wähler als gemeinhin
         angenommen. Zukünftige Erfolge Erdoğans und der AKP an den Urnen sind nicht
         absolut sicher.

    •    Ein großes, noch unausgeschöpftes und mitentscheidendes Potenzial für die türkische
         Parteipolitik liegt bei den Auslandstürken.

2                               Deutsches Orient-Institut
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Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

Ludwig Schulz
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

Alea iacta est – die Würfel sind gefallen und das          3. November 2019, wenn dann erstmals Prä-
Referendum vom 16. April 2017 über die Einfüh-             sidentschafts- und Parlamentswahlen gleich-
rung eines Präsidialsystems in der Türkei ist ent-         zeitig stattfinden und daraufhin das neue
schieden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan,            System vollständig implementiert werden soll.
die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP)         Allerdings soll schon in Kürze der nun refor-
unter Noch-Premierminister Binali Yildirim und             mierte Verfassungsartikel greifen, wonach der
Teile der Partei der Nationalistischen Bewegung            Staatspräsident wieder Mitglied einer Partei
(MHP), die ihrem Vorsitzenden Devlet Bahçeli in            sein darf. Noch in diesem April soll Präsident
die Allianz mit Erdoğan und der AKP gefolgt sind,          Erdogan somit wieder der AKP beitreten, die
konnten die Abstimmung knapp und offenbar                  er 2001 mitbegründet und fast 15 Jahre lang
unter Rückgriff auf unlautere Mittel für sich ent-         zum Erfolg geführt hatte. Dass er beim plan-
scheiden. Unter normalen rechtsstaatlichen Um-             mäßig nächsten Parteitag 2018 erneut zum
ständen stünden Erdoğan und die AKP nun in der             Vorsitzenden gewählt werden wird, gilt als
Pflicht, ihrer neuen Verantwortung gerecht zu wer-         Formsache – und führt ab 2019, wenn die
den: Die Verfassungsreformen müssten planmä-               Verfassungsreformen vollends umgesetzt
ßig umgesetzt, das Versprechen für eine echte              werden sollen, zu dem demokratietheoreti-
Demokratisierung und die Verheißungen auf eine             schen Problem, dass dann der Präsident als
politische Restabilisierung des Landes eingelöst           Chef der Exekutive faktisch zugleich der
und eine Rückkehr zum Pfad des wirtschaftlichen            Mehrheitsfraktion im Parlament vorsitzt und er
Erfolges beschritten werden.                               für Parlamentswahlen die Kandidaten seiner
                                                           Partei bestimmt – ein Bruch mit dem demo-
Und doch ist unklar, wohin die weitere Reise               kratischen Prinzip der Gewaltenteilung in prä-
Erdoğans geht. Zwar präsentieren er und die                sidentiellen Systemen und ein Einfallstor für
AKP das Referendum und das Ergebnis als his-               Nepotismus und Kooptation.
torischen Sieg des Volkes: als Erfolg über die Mi-
litärherrschaft von 1980, die damals per unfreier          Zudem sollte man sich nichts vormachen: Unter
Abstimmung das bislang geltende, zur Dominanz              den vorherrschenden politischen Bedingungen
der Kemalisten verzerrte parlamentarische Re-              der Türkei, zu denen seit Juli 2016 ein weiterhin
gierungssystem konstitutionell hatte verankern             andauernder Ausnahmezustand gehört, der die
lassen; sowie als Vervollkommnung des Sieges               Durchgriffsrechte des Staates gegen die Ge-
über die Putschisten vom Sommer 2016, als das              sellschaft und der Exekutiv gegen alle anderen
Volk aufstand, um die gewählte Regierung und               Organe exorbitant stärkt, verfestigen die Verfas-
den gewählten Präsidenten zu verteidigen. Ge-              sungsänderungen erneut autokratische Struktu-
wissermaßen als Dank dafür hätten Präsident                ren, die ursprünglich überwunden schienen.1
und Regierung nun dem Volk die Möglichkeit ge-             Der Populismus und die manipulative Demago-
geben, frei über eine Reform der bestehenden               gie Erdoğans und seiner Mitstreiter, die Repres-
Verfassung zu entscheiden, um der Ära der Mili-            sion von Kritik und Opposition, die wiederholte,
tärcoups und der instabilen Machtverhältnisse              systematische Herstellung unfairer Wahlkampf-
ein Ende zu setzen: Der Staatspräsident wird zu-           bedingungen und die unsaubere Behandlung
gleich Regierungschef sein, er wird sein Kabinett          und Auszählung der Wahlkarten am Wahltag
unabhängig vom Parlament ernennen und wich-                zeitigen das vorläufige Ende des strukturellen
tige Posten in der obersten Justiz, der Verwal-            Demokratisierungsprozesses der Türkei. Zwar
tung, im Militär und im Hochschulwesen                     wird auch der Superpräsident Erdoğan nach Be-
eigenmächtig besetzen können sowie letztin-                lieben und Kalkül auf Versöhnung schalten und
stanzlich für die Regierungspolitik verantwortlich         Reformen (etwa bei Kurden- und Minderheiten-
sein, wofür das Parlament die nötigen Gesetze              rechten) einleiten, wenn es ihm zupass kommt
erlassen kann.                                             und da er nicht vollends gegen die Hälfte der
                                                           Bevölkerung wird Politik machen können.
Umgesetzt werden die neuen Bestimmungen                    Zudem ist er von der Wirtschaftsleistung des
sukzessive bis zum – voraussichtlich –                     Landes mindestens ebenso abhängig wie die

1
    Vgl. zur demokratierechtlichen Einschätzung der Verfassungsänderungen: European Commission for Demo-
    cracy through Law (Venice Commission), “Opinion on the Amendments to the Constitution adopted by the
    Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a national referendum on 16 April 2017,”
    CDL-AD(2017)005, Strasburg, 13. März 2017, http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?
    pdffile=cdl-ad(2017)005-e.

                                            Deutsches Orient-Institut                                            3
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    Wirtschaft von ihm bzw. von der Stabilität des              zen sowie den Metropolen Ankara und Istan-
    politischen Systems. Fallende Wechselkurse,                 bul; und schließlich eine Hinterfragung des
    steigende Arbeitslosigkeit und Lebenspreise,                Machtfaktors der so genannten Auslandstür-
    fehlende oder falsche Investitionen sowie Fälle             ken. Wie sich zeigen wird, sitzen Präsident
    an Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirt-              Erdoğan und die AKP sicher im Sattel – doch
    schaft werden ihm ebenso angelastet werden                  im nun im Entstehen begriffenen Präsidialsys-
    wie er sich nach notwendigen Reformen für eine              tem gelten neue Spielregeln für alle und deren
    wieder florierende Wirtschaftsleistung des Lan-             Aushandlung beginnt erst jetzt.
    des wird feiern lassen können.
                                                                I. Die Wähler lassen sich mobilisieren – aber
    Alle Trends der vergangenen Jahre sprechen                  nicht ausschließlich für Erdoğan
    aber auch dafür, dass das willkürliche, autokra-
    tische Gebaren und die Kooptation machtstra-                Als eines der guten Resultate des Wahltags
    tegisch relevanter Akteure wie des Militärs, der            aus liberaldemokratischer Sicht ist zunächst
    Geschäftswelt und der Medien fortgesetzt und                einmal mehr die hohe Wahlbeteiligung in der
    dass eine nationalistische Rhetorik und Politik,            Türkei (zusammen mit einigen Auslandstürken)
    das Verfolgen einer konservativ-religiösen                  zu werten. Trotz verbreiteter Mängel an bür-
    Agenda sowie die erneute Versicherheitlichung               gerschaftlicher Kritikfähigkeit einerseits und
    von Lebensbereichen durch die Staatsmacht                   struktureller Abstimmungswidrigkeiten, etwa für
    einer- bzw. die Repression regierungs- und                  tausende vertriebene Bewohner der kurdisch
    staatskritischer Meinungsäußerung und Hand-                 dominierten Provinzen im Südosten, anderer-
    lung andererseits anhalten werden. Umgekehrt                seits lassen sich die Wählerinnen und Wähler
    werden oppositionelle und z.T. auch extremis-               offenbar zur Wahrnehmung ihres demokrati-
    tische Gruppierungen ihren Widerstand fortset-              schen Rechts mobilisieren (vgl. Tabelle 1):
    zen – und sich somit die Spirale von                        Während an der Präsidialwahl 2014, als Erdo-
    Widerstand und Repression weiterdrehen.                     gan sich als erster Kandidat direkt mit 51,8 %
                                                                der Stimmen vom Volk in das höchste Staats-
    Und doch bleibt die Machtfrage noch mindes-                 amt wählen ließ, etwa drei von vier Wähler teil-
    tens bis 2019 ungelöst – wie, nüchtern be-                  nahmen, stabilisiert sich die Wahlbeteiligung
    trachtet, die vorläufigen Ergebnisse des                    bereits bei den beiden Parlamentswahlen 2015
    Verfassungsreferendums im folgenden Ver-                    auf etwa 85%; ein beachtlicher Wert, der nun
    gleich mit vorherigen Abstimmungen deutlich                 erneut erreicht wurde. Die Anzahl der regis-
    machen.2 Analysiert werden dabei zunächst die               trierten Wähler in der Türkei erhöhte sich u.a.
    Wahlbereitschaft und das Wahlverhalten „pro                 demografisch bedingt in der gleichen Zeit um
    Erdoğan“ seit 2014, gefolgt von einer quantita-             etwa fünfeinhalb auf fast 58,4 Mio., wobei sich
    tiven Untersuchung etwaiger Veränderungen                   die Zahl der gültig abgegebenen Stimmen
    im Wahlverhalten der Menschen in den AKP-                   gegenüber 2014 sogar um fast achteinhalb auf
    Hochburgen, den zentralanatolischen Provin-                 über 48,9 Mio. steigerte.3

    2
        Die folgenden quantitativen Daten zur Präsidentschaftswahl 2014 und den beiden Parlamentswahlen 2015
        wurden von der Online-Datenbank des Obersten Wahlrats (Yüksek Seçim Kurulu) entnommen. Die Werte
        zum aktuellen Verfassungsreferendum sind noch vorläufig und basieren auf Online-Angaben der staatlichen
        Nachrichtenagentur Anadolu, des Wahlportals der Tageszeitungen Daily Sabah und Yeni Şafak,
        https://www.dailysabah.com/election/turkey-2017-referendum bzw. http://www.yenisafak.com/secim-referan-
        dum-2017/dunya-secim-sonuclari-referandum, die sich ihrerseits wiederum auf Anadolu und den Wahlrat
        beziehen.
    3
        Nach dem Referendum legte die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) Beschwerde gegen das
        Ergebnis ein, u. a. weil der Oberste Wahlrat noch am Wahltag entschieden hatte, dass auch Wahlkarten ohne
        einen offiziellen Stempel akzeptiert würden. Handyaufnahmen aus Wahlbüros, die diese Praxis dokumen-
        tierten, kursierten in den Tagen nach der Wahl in den sozialen Medien. Während auch die Wahlbeobachter
        mission von OSZE und Europarat, die auf Einladung der Türkei die Abstimmung verfolgt hatte, diese Praxis
        der Wahlkartenannahme und -auszählung (neben weiteren Aspekten im Widerspruch zu internationalen Stan-
        dards, v.a. des unfairen Wahlkampfs zum Referendum; vgl. International Referendum Observation Mission,
        "Statement of preliminary findings and conclusions, Republic of Turkey Constitutional Referendum,“ 16. April
        2017, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true) kritisierte, verwiesen der Wahlrat
        und Vertreter des siegreichen Regierungslagers auf die Rechtmäßigkeit der Praxis u.a. mit dem Argument,
        dass der Zulassungsbescheid ja noch vor Schließung der Wahllokale und vor Beginn der Auszählung erfolgt
        war. Alle Beschwerden der Opposition wurden zunächst abgewiesen.
        Im Nachhinein erscheint eine Überprüfung der Wahlkarten und ihres möglicherweise verzerrenden Einflusses
        auf das Wahlergebnis kaum mehr möglich zu sein. Eventuell, so CHP-Vertreter, könnten bis zu zweieinhalb
        Millionen inoffizielle Karten das Ergebnis hin zur Annahme der Verfassungsänderungen verfälscht haben.
        Im Detail dazu vgl. Martens, Michael, „Eine neue Dimension,“ Faz.net, 18. April 2017, http://www.faz.net/
        aktuell/politik/tuerkei/moeglicher-wahlbetrug-durch-erdogans-regierung-14977246.html.

4                                          Deutsches Orient-Institut
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    Abstimmungen „über                                                       Veränderung                                Veränderung gültige
                            Wahl-beteiligung    Registrierte Wähler                               Gültige Stimmen
         Erdoğan“                                                       registrierte Wähler                                  Stimmen

                                                                                                    40.545.911
    Präsidentenwahl 2014        74.1 %               52.692.841               +5.672.237                                    +8.388.205

     Referendum 2017            85.3 %               58.365.078                                     48.934.116

Tabelle 1: Wahlbeteiligungen bei Präsidentenwahl 2014 und Referendum 2017.

Versteht man das Referendum allerdings                                       AKP noch ohne weiteres Neu- und Wechsel-
weniger als eine Abstimmung über die ge-                                     wähler an sich binden konnten (s. Tabelle 2):
nauen Verfassungsänderungen (die für viele,                                  So erhöhte sich die Zahl ihrer Unterstützer
ob Erdoğan-Anhänger oder -Gegner, ohne-                                      von ca. 21,0 Mio. (2014)5 auf nun rund 25,2
hin kaum verständlich oder abstimmungsre-                                    Mio.; rechnerisch konnten Erdoğan und die
levant schienen), denn als eine Wahl für                                     AKP also mit Hilfe der MHP unter Devlet Ba-
oder gegen den Präsidenten und seine poli-                                   hçeli fast 4,2 Mio. Stimmen hinzugewinnen.
tischen Ambitionen,4 so zeigt sich im Ver-                                   Ins Gewicht fiel diese Wahldynamik aber
gleich zur Präsidentenwahl 2014 zwar ein                                     kaum, sonst hätte Erdoğan weitaus mehr als
stabiler Zuspruch einer knappen Mehrheit                                     nur erneut 51% erhalten. Mit anderen Wor-
der Wählerinnen und Wähler von etwa über                                     ten scheinen Neu- und Wechselwähler die-
51%; zugleich erscheint es aber bei näherer                                  ses Mal offenbar mehr dem ‚Nein‘-Lager
Betrachtung fraglich, ob Erdoğan und die                                     zurechenbar zu sein.

     Abstimmungen „über          Entscheidung „für        Gültige Stimmen „für        Veränderung Stimmen        Veränderung Stimmanteil
           Erdoğan“                  Erdoğan“                     Erdoğan“           „für Erdoğan“ relativ zu…      Referendum relativ zu…

                                                                                           Präsidentenwahl:
                                                                                                                 Präsidentenwahl: -0,4 %
                                                                                              +4.156.882

       Referendum 2017                51,4 %                  25.157.025

                                                                                           Parlamentswahl:
                                                                                                                    Parlamentswahl:-9,9 %
                                                                                              -3.404.838

     Präsidentenwahl 2014             51.8 %                  21.000.143

                                                           Rechnerische AKP-MHP-Koalition (Stimmen):
                                                         AKP: 22.959.394 + MHP: 5.602.469 = 28.561.863
        Parlamentswahl
          Nov. 2015
                                                       Rechnerische AKP-MHP-Koalition (Stimmen / Anteile):
                                                              AKP: 49.3 % + MHP: 12.0 % = 61,3 %

Tabelle 2: Abstimmungen „über die Person und Politik Erdoğans“ 2014-2017.

4
     Vgl. dazu auch die Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage nach dem Referendum, wonach
     über 80% der Wähler auf beiden Seiten sich schon lange vor dem Wahltermin für oder gegen die
     Änderungen entschieden hatten und zudem 91% der Befürworter und 78% der Gegner angaben, dass
     Erdoğans Wahlwerbung ausschlaggebend gewesen sei. Vgl. IPSOS, "Anayasa Değişikliği Referandumu
     Sandık Sonrası Araştırması,“ 20. April 2017, http://www.ipsos.com.tr/node/1174 sowie Yetkin, Murat,
     “The first survey after Turkey’s polls gives striking results,” Hurriyetdailynews.com.tr, 20. April 2017,
     http://www.hurriyetdailynews.com/the-first-survey-after-turkeys-polls-gives-striking-results.aspx?
     pageID=449&nID=112209&NewsCatID=409.
5
     Dabei hatte zudem die MHP zusammen mit der CHP einen Gegenkandidaten, der 38,4% oder ca. 15,6 Mio.
     Stimmen erhielt.

                                                      Deutsches Orient-Institut                                                               5
DOI-Kurzanalysen

    Noch deutlicher wird dieser abnehmende                    Auf der anderen Seite hätte es ein überzeu-
    Grad an Mobilisierungskraft, wenn die jüng-               gender, unabhängiger, gemeinsamer Kandi-
    sten Leistungen von AKP und MHP zusam-                    dat der Opposition da womöglich leichter, da
    men mit den Parlamentswahlen 2015                         die Oppositionsparteien mit ihm sowie im
    verglichen werden, bei denen Präsident                    Wettbewerb gegen die AKP-MHP-Allianz
    Erdoğan für die AKP das Zugpferd gab (s.                  theoretisch geeint auftreten könnten – ein
    erneut Tabelle 2): Hatten im November                     allerdings heute noch unwahrscheinliches
    2015 AKP und MHP rechnerisch über 28,5                    Szenario, da die Parteien zerstritten und
    Mio. Wählerinnen und Wähler bzw. 61,3 %                   zudem von Erdoğan und der AKP anhaltend
    des Wahlvolks hinter sich vereinen können,                kriminalisiert und desavouiert wurden.
    so verloren Erdoğan und die AKP bei der
    aktuellen Abstimmung trotz (oder gerade                   II. Die Machtbasis der AKP in den zentral-
    wegen) der Allianz mit Bahçelis MHP die                   anatolischen Provinzen – erste Erosions-
    Unterstützung von 3,4 Mio. Wähler bzw. von                erscheinungen?
    fast 10 % ihrer früheren Anhängerschaft.6
                                                              Zu den überraschenden Resultaten des
    Aus dem Vergleich mit sowohl den Präsi-                   Referendums zählen für manche Beob-
    dentschaftswahlen 2014 als auch mit der                   achter die Verluste, die Erdoğan und die
    Parlamentswahl 2015 geht demnach hervor,                  AKP in den Millionenstädten – allen voran
    dass Erdoğan – wenn er direkt oder indirekt               Istanbul und Ankara, den wichtigen und
    zur Wahl steht – seine Gewinnanteile nicht                prestigeträchtigen Hochburgen, die seit
    automatisch steigern kann und sogar mit,                  über 23 bzw. 13 Jahren von der AKP re-
    wegen oder trotz Unterstützung der natio-                 giert werden – hinnehmen mussten: 7 So
    nalistischen MHP Wählerstimmen verlieren                  stimmen in Ankara mit 51,2 % bzw. in Ist-
    kann. Dies lässt den plausiblen Schluss zu,               anbul mit 51,4 % jeweils die Mehrheit der
    dass es sowohl bei künftigen Präsident-                   Wähler gegen die Verfassungsänderun-
    schafts- als auch bei Parlamentswahlen für                gen; ebenso wie in Antalya (59,08% Ab-
    Erdoğan und seine AKP knapp werden und                    lehnung) und Adana (58,19%) sowie wenig
    für ihren Machterhalt die Unterstützung                   überraschend im kemalistisch dominierten
    eines „Juniorpartners“ wie bspw. der MHP                  Izmir (68,80%) und in der „Kurdenmetro-
    notwendig sein kann – nicht zuletzt weil das              pole“ Diyarbakir (67,59%). Von den sechs
    Referendum gezeigt hat, dass die verblei-                 großen Metropolen gewann die Regierung
    benden großen Oppositionsparteien CHP                     allein das westtürkische Bursa mit 53,21%.
    und HDP zusammen mit Abtrünnigen AKP-
    und MHP-Anhängern sowie den unzähligen                    Nun sind die Stimmverluste gerade in Ist-
    kleineren Parteien und Bewegungen rech-                   anbul und Ankara zwar bittere Pillen für
    nerisch eine potenzielle Gefahr für den                   Erdoğan und seine langjährigen Mitstreiter
    Machterhalt Erdoğans und der AKP darstel-                 und Weggefährten, den beiden Oberbür-
    len können, sofern sie ein Ziel (sowie ggf.               germeistern Melih Gökçek in Ankara und
    ein überzeugender gemeinsamer Präsi-                      Kadir Topbaş in Istanbul. Gleichwohl zähl-
    dentschaftskandidat 2019) eint.                           ten bei der Volksabstimmung aber natür-
                                                              lich nur die Gesamtzahlen des Landes, so
    Allerdings stellt der Umgang mit der MHP                  dass die Niederlagen dort, wie von man-
    Erdoğan und die AKP zugleich vor ein gro-                 chen Beobachtern vermutet, wohl kaum
    ßes Dilemma: Denn während er 2019 für                     als erste Signale des Niedergangs der
    seine Wiederwahl im Präsidentenamt die                    Herrschaft Erdoğans herhalten können.
    Stimmen der nationalistischen Kreise, also                Vielmehr werden er und die AKP-Führung
    die Unterstützung der MHP, benötigen wird,                sich nun verstärkt auf die Suche nach Er-
    werden er als AKP-Chef und seine Partei im                satz für die offenbar zusehend kraftlos wir-
    Kampf um möglichst viele Parlamentssitze                  kenden Lokalherrscher machen, um in den
    die MHP zugleich als Konkurrentin betrach-                beiden Städten aus den Parlaments-
    ten und entsprechend behandeln müssen.                    sowie den ebenso 2019 anstehenden

    6
        Den Trend belegt auch die IPSOS-Umfrage nach dem Referendum, wonach 10 % der befragten AKP-Wähler
        und sogar 73 % der befragten MHP-Wähler von 2015 angegeben hatten, gegen die Verfassungsänderungen
        gestimmt zu haben.
    7
        Vgl. bspw. Böhmer, Daniel-Dylan, "Das ist der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan,“ Interview mit Can Dündar,
        Welt.de, 17. April 2017, https://www.welt.de/politik/ausland/article163749335/Das-ist-der-Anfang-vom-
        Ende-der-Aera-Erdogan.html.

6                                         Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

Kommunalwahlen wieder siegreich hervor-                 trauen schenkten – in der Hoffnung, dass
gehen zu können.                                        sich die Versprechungen für einen wirt-
                                                        schaftlichen Wiederaufschwung auch bei
Ebenso schlossen Analysten aus diesen                   ihnen erfüllen würden. 9 Zudem ging si-
Ergebnissen, dass die großen Städte bzw.                cherlich auch das Kalkül des Präsidenten
bevölkerungsreichen Provinzen (über 1                   auf, an das patriotisch-konservative Gemüt
Mio. Einwohner) tendenziell und mehrheit-               (oder niedere nationalistisch-chauvinisti-
lich ihre neue Unzufriedenheit mit Erdoğan              sche Instinkte) mittels seiner Tiraden v.a.
und seinen Ambitionen zum Ausdruck ge-                  gegen die Feinde und ‚dunklen Mächte‘ im
bracht hatten und dass Erdoğans Erfolg vor              (westlichen/ europäischen) Ausland, die
allem auf den Provinzstädten fuße8 – etwa               angeblich der stolzen, aufstrebenden Tür-
der Heimatregion seiner Familie in Rize                 kei und dem Islam schaden wollten, zu ap-
(75,55% Zustimmung), dem religiös-kon-                  pellieren und so die Menge hinter sich und
servativen Zentrum Konya (72,88%), den                  seiner Anführerschaft zu scharen.
südostanatolischen Großstädten Sanliurfa
(70,82%) und Gaziantep (62,45%) oder                    Gleichwohl jedoch zeigt sich erneut im
auch der Schwarzmeerküstenstadt Sam-                    zeitlichen Verlauf, dass Erdoğan und die
sun (63,55%). Diese Annahmen sind frei-                 AKP in einigen Provinzen seit 2014 an Zu-
lich nicht falsch, müssen aber differenziert            spruch verlieren können – noch nicht sub-
betrachtet werden. Denn zum einen han-                  stanziell und machtgefährdend; aber erste
delt es sich bei diesen Städten und Provin-             Trends können vereinzelt festgestellt wer-
zen nicht um scheinbar verschlafene                     den und von Fall zu Fall die Frage aufwer-
Nester mit ausschließlich religiös-konser-              fen, ob Erdoğan und einige Provinzfürsten
vativen Bewohnern, sondern oftmals um                   der AK-Partei auf Gedeih und Verderb
die so genannten „Anatolischen Tiger“.                  voneinander abhängen. Kooptation und
Diese Städte hatten zwar unter Erdoğans                 Nepotismus in strategisch relevanten Pro-
politischer Führung seit 2002 ihren Aufstieg            vinzen dürfte somit zunehmend wichtige,
zu regionalen Wirtschafts- und Handel-                  gleichwohl auch ambivalente Faktoren des
szentren fortsetzen können. Derzeit aber                Machterhalts darstellen.
leiden gerade die dortigen Unternehmen
unter den innen-, wirtschafts- und außen-               III. Die Auslandstürken – ein verlässlicher
politischen Problemen, in denen die Türkei              Faktor?
seit einigen Jahren steckt und für deren
Missmanagement Erdoğan und die Regie-                   Kaum eine Gruppe innerhalb der türki-
rung in Ankara eine Mitverantwortung tra-               schen Wählerschaft hat dieses Mal –
gen. Stimmverluste für Erdoğan gegenüber                gewollt oder ungewollt – mehr Aufmerk-
der Präsidentenwahl 2014 in einigen Städ-               samkeit erhalten als die der so genannten
ten können sich demnach als kleine „Denk-               „Auslandtürken“ bzw. der weltweit im Aus-
zettel“ lesen lassen: so etwa in Rize (-5,0%            land lebenden Staatsbürger der Türkei
gegenüber 2014), Eskisehir (-3,0%) oder                 (was „Auslandskurden“ sowie andere eth-
Samsun (-2,3%), während Erdoğan in den                  nische Minderheiten einschließt). Dabei
großen siegreichen Provinzen allein in Ga-              waren es weniger die Wählerinnen und
ziantep (+2,1%) und Sanliurfa (+2,2%) zu-               Wähler selbst als vielmehr Präsident
legen konnte.                                           Erdoğan und AKP-Regierungsmitglieder,
                                                        die durch ihre nach türkischem Wahlrecht
Neben der Möglichkeit lokaler Spezifikatio-             illegalen, gleichwohl medienwirksam in-
nen könnten es somit weniger die wirt-                  szenierten Versuche, aktiv Kampagnen im
schaftliche und politische Elite und mehr               Ausland zu betreiben, sowie durch eine
die Masse der einfachen bürgerlichen,                   Provokations- und Polarisierungsrhetorik
gleichwohl aber tatsächlich nationalistisch-            die Aufmerksamkeit auf diese Arena des
konservativen Schichten in den Städten                  Wahlkampfs leiteten. Mit erstem Blick auf
und auf dem Land gewesen sein, die im                   die vorläufigen Ergebnissen des Referen-
Referendum Erdoğan mehrheitlich ihr Ver-                dums scheint das Kalkül aufgegangen zu

8
    Vgl. bspw. Gottschlich, Jürgen, "Der selbsterklärte Sieg,“ TAZ.de, 16. April 2017, http://www.taz.de/
    !5401248/.
9
    Auch diese Annahmen würden durch die IPSOS-Umfrage gestützt: Demnach gaben jeweils relativ mehr
    Wähler aus ländlichen als aus städtischen Gebieten sowie mehr Wähler aus bildungsfernen Schichten als
    solche z.B. mit Universitätsabschluss an, für die Verfassungsänderungen gestimmt zu haben.

                                          Deutsches Orient-Institut                                         7
DOI-Kurzanalysen

    sein:10 So haben 59,1 % der fast drei Milli-                    mentswahlen im November 2015 eine Zu-
    onen Auslandstürken, die sich für die Stim-                     stimmung von jeweils weit über 60%. Selbst
    mabgabe registriert haben lassen, für die                       wenn diese Differenzen zum Referendums-
    Verfassungsänderungen votiert – anteils-                        wert nicht übermäßig ausfallen, so ist zwar
    mäßig also deutlich mehr als die 51,4 %                         eine solide, gleichwohl aber keine absolut
    der Wähler in der Türkei.                                       stabile und möglicherweise sogar eine leicht

                                                                                                    Veränderung gültige
                                 Registrierte Aus-                          Zustimmung Anteil an
     Wahl der Auslandstürken                           Gültige Stimmen                                 Stimmen bzw.
                                   landswähler                               Gesamt; Stimmen
                                                                                                   Zustimmung 2015/2017

                                                                                   59,1%
            Referendum              2.957.870            1.406.573
                                                                                  831.208

                                                                                                     Gültige Stimmen
                                                                                AKP: 56,4 %
                                                                                                         +258.881
                                                                               + MHP: 7,1 %
                                                                                 = 63,5 %
           Präsidentenwahl                                                                             Zustimmung

           November 2015
                                   22.899.069            1.147.692
                                                                                                         +103.104
                                                                               AKP: 647.028
                                                                               + MHP: 81.076
                                                                                 = 728.104

           Präsidentenwahl                                                        62,3 %
                                    2.798.726             230.938
                2014                                                              143.873

    Tabelle 3a: Wahlen der Auslandstürken gesamt 2014-17.

    Allerdings kann der Erfolg im Ausland rela-                     abnehmende Zustimmung für Erdoğan unter
    tiv zur „Heimatfront“ rechnerisch verwässert                    den tendenziell nationalistisch-konserva-
    werden, wenn das Ergebnis mit den Zustim-                       tiven Auslandstürken festzustellen.
    mungsraten unter den Auslandstürken für
    Erdoğan und seiner Politik bei vergangenen                      Zudem lassen die Werte sogar eine weitere
    Wahlen verglichen wird (s. Tabelle 3a): So                      differenzierende Vermutung über das Lager
    erhielt er sowohl bei der Präsidentschafts-                     der Ja-Stimmen zum Referendum zu: Denn
    wahl 2014 – bei gleichwohl sicherlich sehr                      in der Annahme, dass Erdoğan und die AKP
    viel geringer Wahlbeteiligung der Auslands-                     mit der Taktik nationalistischer Provokatio-
    türken11 – als auch im Fall einer errechneten                   nen im Ausland zusätzlich zu den eigenen
    „Allianz“ von AKP und MHP bei den Parla-                        Anhängern vor allem auch die nicht uner-

    10
         In dem sie die behördlichen Verbote von nach türkischem Wahlrecht widerrechtlichen Wahlkampfauftritten
         ihrer Politiker skandalisierten und den Streit mit den Regierungen der „Gastländer“ nicht zuletzt mittels
         „Nazivergleichen“ eskalieren ließen, konnten Erdoğan und die Regierung das Narrativ der Türkei- und
         Islam-feindlichen Europäer konstruieren. Das Kalkül war, dass möglichst antitürkische Bilder, Statements
         und Handlungen eine Welle der patriotischen Solidarisierung aller Türken untereinander hervorrufen sollte;
         Erdogan und die AKP konnten sich so als Opfer europäischer Diskriminierung darstellen, auf Solidarität
         selbst ihrer Kritiker hoffen und sich als Anführer einer Widerstandsbewegung gegen die Anfeindungen
         stilisieren. Vgl. bspw. Mumay, Bülent, "Deutschland will Erdogan zum Sultan machen,“ Faz.net, 23. März 2017,
         http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/wie-europa-erdogan-auf-dem-weg-zum-sultan-
         unterstuetzt-14937535.html.
    11
         Aufgrund der erstmals zur Präsidentschaftswahl 2014 umgesetzten Möglichkeit zur Stimmabgabe in
         türkischen Konsulaten oder anderen Orten im Ausland sowie wegen verfahrenstechnischer Probleme bei
         der Wahl blieb die tatsächliche Zahl der abgegebenen Stimmen mit fast 231.000 relativ noch sehr niedrig.
         Bereits an den Parlamentswahlen im Juni 2015 nahmen dann schon weitaus mehr Auslandstürken teil.
         Zudem sei erwähnt, dass auch noch eine kleine Gruppe von der alten Möglichkeit Gebrauch macht,
         die Stimme an den internationalen Flughäfen der Türkei abzugeben. Diese werden wahlrechtlich getrennt
         von den in- und ausländisch gesammelten Stimmen behandelt.

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Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

hebliche Zahl der dort lebenden MHP-An-                        „Deutschtürken“ stetig an auf mittlerweile
hängern (im November 2015 immerhin zirka                       mehr als 650.000 Wählerinnen und Wähler
81.000 Stimmen bzw. 7% der gültigen Stim-                      (mit gültiger Stimmabgabe; s. Tabelle 3b.
men) für sich mobilisieren wollte, so kann                     Gleichsam konnten Erdoğan und die AKP –
zum einen davon ausgegangen werden,                            einhergehend mit einer Verbesserung der
dass diese ihm tatsächlich einen wichtigen                     Verfahren für die Auslandswahlen – ihre
Beitrag zum Sieg lieferten.12 Zugleich konn-                   Stimmenzahl und -anteile ebenso erhöhen,
ten aber Erdoğan, die AKP und Bahçelis                         nämlich von 340.249 (2015) auf aktuell
MHP – ähnlich wie an der „Heimatfront“ – of-                   412.149 Unterstützer. Zwar blieben erneut
fenbar weitaus weniger Neuwähler für sich                      die Befürworter des Referendums rechne-
mobilisieren als etwa das Nein-Lager: Mit                      risch unter den Erwartungen, da ihr Anteil
etwa 100.000 Zustimmungen mehr ent-                            an der Gesamtzahl gültiger Stimmen mit -
schieden sich nur zwei von fünf Neuwähler                      4,1% etwas geringer ausfiel als das addi-
im Ausland für Erdoğans Kurs gegenüber                         terte Potenzial von AKP und MHP bei der
einer deutlichen Mehrheit von 60%, die                         Parlamentswahl im November 2015– der
dagegen votierte.                                              klaren Dominanz der Erdoğan- und AKP-
                                                               Befürworter tat dies jedoch keinen Abbruch.
Trotz feststellbarer Dynamiken gilt aller-
dings, dass Erdoğan und die AKP bislang                        Dass allerdings aktuell sowie auch 2015
auf die Unterstützung einer absoluten                          ‚nur‘ eine Minderheit von etwa 46 % der
Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im                         hierzulande ca. 1,4 Mio. wahlberechtigten
Ausland stets bauen konnten. Dabei                             „Auslandstürken“ zur Abstimmung gingen13
kommt gerade dem demografisch viert-                           und die Befürworter des Referendums
größten „Wahlkreis Deutschland“ eine ent-                      demnach eigentlich nur einen Anteil von
scheidende Rolle zu – nicht nur, aber auch                     29 % an der Gruppe der registrierten
und gerade für Erdoğan und die AKP:                            Wahlberechtigten ausmachen, zeigt zual-

       Wahl der türkischen                                                                    Zustimmungen;
                                                                  Gültige Stimmen;
           Staatsbürger         Registrierte Auslands-wähler                               Anteil an den gültigen
                                                                  Wahlbeteiligung
          in Deutschland                                                                    Stimmen insgesamt

                                                                     653.502;                    412.149;
           Referendum                    1.429.492
                                                                      45,7 %                      63,1 %

                                                                                        AKP: 340.249 + MHP: 42.571

                                                                     569,886;                   = 382.820
         Parlamentswahl
                                         1.411.198                    40,8 %
         November 2015
                                                                                         AKP: 59,7 % + MHP: 7,5 %
                                                                                                 = 67,3 %

                                                                      111.933;                    76.817;
       Präsidentenwahl 2014              1.383.040
                                                                       8,1 %                      68.6 %

Tabelle 3b: Wahlen der Auslandstürken in Deutschland 2014-17.

So stieg hierzulande im Verlauf der ver-                       lererst, dass noch ein großes, bislang von
gangenen Wahlen die Zahl der an Abstim-                        der türkischen Parteipolitik weitgehend un-
mungen in der Türkei sich beteiligenden                        ausgeschöpftes Mobilisierungs- und Wäh-

12
   Dies zeigt sich vor allem auch in all jenen Ländern, die hauptsächlich von dem Streit betroffen waren bzw. deren
   Regierungen sich prominent positionierten: In den Niederlanden fiel die Unterstützung einer rechnerischen
   AKP-MHP-Koalition von 79,0% der Stimmen im November 2015 auf 70,9% nun beim Referendum; in Belgien
   fielen die Werte von 76,8% (2015) auf ca.75,0% und in Österreich von 75,3% (2015) auf ca. 73,2%.
13
   Dabei können Medienberichte über an den Konsulaten eingezogener Pässe im Zuge des vereitelten
   Putschversuchs sowie der Spitzelaffäre um DITIB und andere Organisationen gerade regierungskritische
   Gruppen davon abgehalten haben, sich an der Abstimmung zu beteiligen.

                                               Deutsches Orient-Institut                                              9
DOI-Kurzanalysen

     lerpotenzial in der Community der Aus-                      Stimme betrogen fühlten, gingen auf die
     landstürken im Allgemeinen – und hier im                    Straßen. Viele Beobachter und Analysten
     Speziellen am Beispiel des Wahlkreises                      aus dem westlichen Ausland, inklusive eu-
     „Deutschland“ – verborgen liegt. Es gilt                    ropäische Regierungen und Vertreter der
     daher als äußerst plausibel, dass die tür-                  verschiedenen europäischen Organisatio-
     kische Politik sich auch in Zukunft um die-                 nen äußerten ihre Besorgnis, dass die
     ses ungenutzte Potenzial bemühen wird.                      Türkei sich weiter in eine Autokratie mit
     Plakativ ausgedrückt hat der Kampf um                       unbeschränkter Machtfülle für den Präsi-
     die Stimmen und Herzen der Auslandstür-                     denten verwandeln könne, und forderten
     ken gerade erst begonnen und er dürfte                      vor allem eine transparente Aufklärung
     2019, wenn Erdoğan an der Heimatfront                       der Vorwürfe der Wahlmanipulation.
     wie auch im Ausland als Präsident- und als
     Parteichef agieren muss, noch erbitterter                   Obgleich er Kritik am Wahlverfahren und
     geführt werden als bisher.                                  am Ergebnis rigoros zurückgewiesen
                                                                 hatte und er ohne Unterlass zum Umbau
     IV. Fazit und Ausblick                                      des Staates entsprechend der beschlos-
                                                                 senen Verfassungsänderungen schreiten
     Der Volksentscheid vom 16. April 2017 zur                   wird, 14 dürften sich Präsident Erdoğan und
     Einführung des Präsidialsystems in der                      die AKP-Regierung bewusst sein, dass sie
     Türkei wird in mehrfacher Hinsicht in die                   weder gegen die Hälfte der Bevölkerung,
     Geschichte der Republik eingehen. Dem                       noch in vollkommener Ignoranz gegen eu-
     siegreichen Staatspräsidenten Erdoğan                       ropäische Bedenken werden Politik ma-
     und der regierenden AKP ist es geglückt,                    chen können. Gleichwohl dürften sich
     ihren Anhängern und einer Großzahl der                      schnell Formen des Widerstands gegen
     Wähler den Systemwechsel als notwendi-                      die Machtpolitik des Präsidenten ausprä-
     gen Schritt zur Beendigung eines nach                       gen, die wiederum Reaktionen der Re-
     demokratietheoretischen Maßstäben tat-                      pression durch den Staat hervorrufen.
     sächlich mangelhaften Regierungssys-                        Anzunehmen ist daher, dass die Über-
     tems und als historische Befreiung vom                      gangsphase bis zum ersten Superwahl-
     konstitutionellen Joch, das die Putsch-                     jahr 2019, wenn dann gleichzeitig
     generäle von 1980 der Türkei auferlegt                      Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
     hatten, zu verkaufen. Geschickt nutzten                     stattfinden sollen, weder ruhig und kon-
     Erdoğan, die Regierung und die AKP die                      fliktfrei ablaufen wird, noch diese Wahlen
     repressiven Durchgriffsrechte durch den                     zum Aufblühen einer liberalen Demokratie
     proklamierten Ausnahmezustand seit dem                      bis zum 100. Gründungsjahr der türki-
     abgewendeten Coup vom Juli 2016, ihre                       schen Republik 2023 führen werden.
     exklusive und dominante Herrschaft über                     Zudem muss die Frage hier unbeantwor-
     den öffentlichen Diskursraum, ihr dema-                     tet bleiben, wie es Erdoğan und der AKP
     gogisches und populistisches Talent                         bei anhaltender nationalistischer Groß-
     sowie manipulative Mittel bei der Abstim-                   mannssucht, die sie unter ihren Anhän-
     mung, um den Sieg herbeizuführen. Prä-                      gern geweckt haben, gelingen soll, zu
     sident Erdoğan und die AKP leiteten                         einem       konstruktiv-partnerschaftlichen
     anschließend schnell erste Schritte zum                     Umgang mit den essenziellen Partnern
     Wechsel ein, verlängerten vorsorglich, um                   und Verbündeten der Türkei in Europa zu-
     mögliche Proteste schnell und effektiv                      rückzukehren, um Sicherheit und Stabilität
     unterbinden zu können, den Ausnahme-                        sowie sozioökonomischen Fortschritt im
     zustand bis Juli 2017 und ließen ihre An-                   Land gewährleisten zu können; zumal
     hänger und Sympathisanten den Erfolg                        letztere sich ihrerseits über die Präsident-
     weiterhin als historischen Wendepunkt                       schaftswahlen in Frankreich und die
     und als Sieg der Demokratie feiern. Da-                     Bundestagswahlen in Deutschland hinaus
     gegen erklärte die Opposition ihren                         bis zu den Europawahlen 2019 im Dauer-
     Widerstand gegen das Ergebnis und Bür-                      wahlkampf befinden werden, in dem ein
     gerinnen und Bürger, die sich um ihre                       zu enger Kontakt mit einer nationalistisch

     14
          In seinem ersten Interview mit der Auslandspresse nach dem Referendum verglich Erdoğan die Abstimmung
          über die Verfassungsänderungen mit einem Fußballspiel, nach dem es „egal ist, ob man das Spiel eins zu null
          oder fünf zu null gewinnt. Das Ziel ist zu gewinnen.“ Vgl. Anderson, Becky; Masters, James, “CNN Exclusive:
          Erdogan insists Turkey reforms don't make him a dictator,” CNN.com, 19. April 2017, http://edition.cnn.com/
          2017/04/18/europe/erdogan-turkey-interview/.

10                                          Deutsches Orient-Institut
Alea iacta est – Punktezählen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei

und zunehmend autokratisch gerierenden         tenzial auch für Erdoğan und die AKP
Türkei vom Wähler kaum goutiert werden         selbst. Wie die Trends der vergangenen
dürfte.                                        Wahlen zeigen, werden sie womöglich
                                               dauerhaft auf die Unterstützung einer klei-
Trotz oder gerade wegen solcher per-           neren Partei wie etwa der MHP angewie-
spektivischer Plausibilitäten dürfte der       sen sein – etwa um Erdoğan die nötige
Blick Erdoğans auch schon jetzt auf das        Mehrheit für die Wiederwahl 2019 zu si-
Superwahljahr 2019 gerichtet sein. Wie         chern. Zugleich wird die AKP aber gegen
die vorliegende Analyse von Wahltrends         die MHP um die Stimmen der nationalis-
der letzten Jahre gezeigt hat, sitzen          tisch-konservativen Bevölkerungsgruppen
Erdoğan und die AKP weiterhin fest im          werben müssen, um bei ihrer Stamm-
Sattel, gerade weil sie etwa auf die Zu-       klientel nicht ins Hintertreffen zu gelan-
stimmung von Millionen in den Provinzen        gen. Zwar wird unter den neuen
Zentralanatoliens wie auch noch in den         Bedingungen auch der Wahlkampf für die
Metropolen Ankara und Istanbul sowie im        Oppositionsparteien nicht einfacher – ge-
Süden bauen können. Zudem schlummert           rade wiederum für die MHP, die einerseits
unter den Auslandstürken weiteres Wäh-         das Zünglein an der Waage für den Präsi-
lerpotenzial, das mobilisiert werden kann      denten, andererseits aber auch eine ent-
– und gerade dann gewonnen werden              scheidende Rolle für den relativen
muss, wenn sich Wahlentscheidungen ab-         Machtverlust der AKP im Parlament spie-
zeichnen, die knapp für oder gegen den         len kann.
Präsidenten und seine Politik ausgehen
könnten.                                       Von heute aus betrachtet, könnte sich
                                               somit am Verhältnis von AKP und MHP,
Gleichwohl ändern sich mit der nun erfol-      von Erdoğan und dem unumstößlichen
genden Einführung des Präsidialsystems         MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli die
die Spielregeln zukünftiger Wahlgänge.         Machtfrage 2019 entscheiden. Es ist
Gerade die Bestimmung, dass Präsident-         Erdoğan sogar zuzutrauen, diese Macht-
schafts- und Parlaments wahlen zeitgleich      frage nicht mit Bahçeli und der MHP, son-
stattfinden sollen, birgt großes Konfliktpo-   dern gegen diese lösen zu wollen.

                                         Impressum

  Herausgeber
  Deutsches Orient-Institut                    Es wurden keine Abbildungen, Kopien
                                               oder Übertragungen gemacht ohne Er-
                                               laubnis des Autors. Die DOI-Kurzanalysen
  Kronenstraße 1                               geben ausschließlich die persönliche Mei-
  10117 Berlin                                 nung der Autoren wieder.
  Tel.: +49 (0)30-20 64 10 21
  Fax: +49 (0)30-30 64 10 29                   Autor
  doi@deutsches-orient-institut.de             Ludwig Schulz
  www.deutsches-orient-institut.de
                                               Chefredaktion
                                               Benedikt van den Woldenberg

  Copyright: Deutsches Orient-Institut         Layout
  Alle Rechte vorbehalten.                     Brice Athimond

                                     Deutsches Orient-Institut                               11
Vorstand / Kuratorium

     Vorstand der Deutschen Orient-Stiftung                       Dr. Wolf-Ruthart Born
                                                                  Staatssekretär a.D.
     Vorsitzender
                                                                  Dr. Ralf Brauksiepe
                                                                  Parlamentarischer Staatssekretär
     Philipp Lührs
                                                                  Mitglied des Deutschen Bundestages
     Senior Vice President Global Head of Projects
     Kuehne + Nagel (AG & Co.) KG                                 Peter Brinkmann
                                                                  Journalist
     Stellvertretende Vorsitzende
                                                                  Henner Bunde
     Professor Dr. O. Faruk Akyol                                 Staatssekretär der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie
     Direktor                                                     und Forschung Berlins
     Yunus Emre Enstitüsü
                                                                  Jürgen Chrobog
                                                                  Staatssekretär a.D.
     Henry Hasselbarth
                                                                  Mitglied des Vorstandes des NUMOV
     Vizepräsident für Nord- und Zentraleuropa der                Inhaber, The Foxhall-Group
     Fluggesellschaft Emirates Airlines a.D.
                                                                  Thomas Ellerbeck
     Helene Rang                                                  Mitglied des Beirats des NUMOV
     Stellvertretende Vorsitzende und Geschäftsführender          Mitglied des Vorstandes
     Vorstand von NUMOV                                           TUI AG
     Inhaberin Helene Rang & Partner
                                                                  Prof. Dr. Yousef Abdul Ghaffar
                                                                  Präsident der Kingdom University in Bahrain
     Mitglieder des Vorstandes
                                                                  Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann
     H.E. Ali Bin Harmal Al Dhaheri                               Steinbeis University Berlin
     Chairman of the Executive Board of Governors                 Institut “Global Consulting and Government”
     Abu Dhabi University
                                                                  Günter Gloser, MdB
     Burkhard Dahmen                                              Mitglied des Deutschen Bundestages 1994-2013
     Vorsitzender des NUMOV                                       Staatsminister des Auswärtigen Amtes a.D.
     Geschäftsführender Vorstand der SMS group GmbH
                                                                  Stephan Hallmann
                                                                  ZDF Zweites Deutsches Fernsehen, German Television
     Dr. Gunter Mulack                                            Foreign Affairs
     Direktor des Deutschen Orient-Instituts / Botschafter a.D.
                                                                  Prof. Dr. Michael Köhler
     Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger                   EU-Kommission
     Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz /
     Prussian Cultural Heritage Foundation                        Dr. Heinrich Kreft
                                                                  Botschafter
     Christian Ludwig Prinz von Preußen
                                                                  Dr. Hubert Lang
                                                                  Botschafter a.D.
     Prof. Dr. Susanne Schröter
     Professorin für "Ethnologie kolonialer und postkolonialer    Nizar Maarouf
     Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt               Vizedirektor Vivantes International Medicine

     Johannes Selle                                               Prof. Detlef Prinz
     Mitglied des Deutschen Bundestages                           Inhaber
                                                                  PrinzMedien
     Özgür ŞimŞek
                                                                  Dr. Nicolas Christian Raabe
     Eren Holding A.S.
                                                                  Mitglied des NUMOV Juniorenkreises

     Alf Sörensen                                                 Dr. Gerhard Sabathil
     General Manager                                              Direktor East Asia, Australia, Pacific
     ABC International Bank plc, Frankfurt Branch                 European External Service

     Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung                     Adem Sari
                                                                  Managing Director
     Präsidentin                                                  SARIAS Investment GmbH

                                                                  Prof. Dr. jur. Dr. phil. Peter Scholz
     Michelle Müntefering
                                                                  Vizepräsident Amtsgericht Tiergarten
     Mitglied des Deutschen Bundestages                           Freie Universität Berlin

     Vizepräsident                                                Oltmann Siemens
                                                                  Vertreter der Weltbank a.D.
     Prof. Dr. Mathias Rohe
     Rechtswissenschaftliche Fakultät                             Joachim Steffens
     Friedrich Alexander Universität, Erlangen-Nürnberg           Referatsleiter Entwicklungspolitik, Vereinte Nationen, UNCTAD
                                                                  Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
     Mitglieder des Kuratoriums
                                                                  Dr. Willi Steul
                                                                  Intendant des Deutschlandradios
     Klaus Uwe Benneter
     Rechtsanwalt und Notar                                       Serkan Tören
     HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH                        Mitglied des Deutschen Bundestages a.D.

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