ALLGEMEINE BEITRÄGE - KRIPOZ 5
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KriPoZ 5 | 2020 263 ALLGEMEINE BEITRÄGE Kindesmissbrauch und Kinderpornografie Kritik eines Kriminalwissenschaftlers an Plänen für erneute Strafrechtsverschärfungen von Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer* Abstract Kindesmissbrauch und Kinderpornografie sollen nach Führungszeugnissen, ohne Ausnahmen für junge und Ge- dem „Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt legenheitstäter zuzulassen. gegen Kinder“ noch härter bestraft werden als bisher. Das BMJV hat zwischenzeitlich einen entsprechenden Re- According to the „Reform package combating sexual vio- ferentenentwurf vorgelegt. Die Serie von Ausweitungen lence against children“ child abuse and child pornogra- und Verschärfungen des Sexualstrafrechts setzt sich ent- phy shall be punished more severely than before. Mean- gegen wissenschaftlicher Kritik fort. Jeweils wird reflex- while, the BMJV has presented a corresponding draft bill. haft, populistisch auf öffentliche Empörung über bekannt The series of extensions and aggravations of penalties in gewordene schwerste Verbrechen reagiert. Stärkung von the criminal law relating sexual offences is being contin- Abschreckung und Opferschutz werden suggeriert. Tat- ued despite scientific objections. Again and again when sächliche Wirkungen, negative Folgen, Systembrüche und serious crimes are reported the reaction to public outrage wissenschaftliche Erkenntnisse bleiben außer Betracht. is just a reflex and populist response. The intensification Strafrecht wird prima statt ultima ratio. Einzufordern ist of deterrence and protection of victims are suggested. jedoch ein wissensbasiertes umfassendes Konzept zum However, the actual effects, negative results, breaks in the Kinderschutz durch Prävention und strafrechtliche Inter- system and scientific findings are not being considered. vention, namentlich angesichts zunehmender Verlagerung The criminal law becomes prima instead of ultima ratio. von Kriminalität in die digitale Welt. On the contrary, we have to demand a comprehensive concept for the protection of children, based on scientific Thesenartig zusammengefasst werden folgende straf- findings, by prevention and penal intervention, specifi- rechtliche Gegenstände erörtert: Das bestehende strafge- cally in view oft he increasing shift of crime into the digi- setzliche Instrumentarium genügt durchaus Verbrechens- tal world. komplexen wie den Kindesmisshandlungen in Bergisch Gladbach und Münster; Schelte einer zu milden Justiz ist The following theses concerning penal subject matters nicht belegt; Strafschärfungen haben einseitig schwerste will be discussed: The existing instruments of penal law Fälle im Blick, lassen die weitaus häufigeren leichteren are sufficient to deal with crimes like the cases of child Fälle außer Acht; deswegen ist es fragwürdig, undifferen- abuse as in Bergisch Gladbach and Münster. Criticism of ziert § 176 und § 184b StGB zu „Verbrechen“ hochzustu- overly mild criminal justice is not proven. Aggravation of fen; zumindest bedarf es einer systemgerechten Regelung penalties is directed onesidely at the most severe cases ne- für „minder schwere Fälle“; erhöhte Mindeststrafen sind glecting the more common lighter cases. Therefore it is bedenklich, wenn sie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip highly questionable to raise § 176 and § 184b StGB to the entsprechende Verfahrensabschlüsse und Strafen für status of „Verbrechen“ (the term for severe crimes with leichteste Fälle verhindern; höchst bedenklich ist es, the obligatory minumum penalty of one year´s imprison- nochmals einen „absoluten“ Untersuchungshaftgrund ment). At least there should be a system relevant regula- ohne Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorzusehen, zu- tion for less serious cases („minder schwere Fälle“). mal verfassungsgerichtlich geklärt ist, dass es immer ei- Raising minimum penalties is precarious when they pre- ner Gefahr für das Verfahren bedarf; verfassungsrechtli- vent adequate process closings and punishments for the che und verfassungsgerichtliche Einwände sind zu erhe- lightest cases. It is quite precarious to once more establish ben gegen lebenslangen Wegfall von Verjährungsfrist und another „absolute ground“ for pre-trial detention – pre- lebenslange Eintragungen in erweiterten polizeilichen sumably – without the danger of escape or collusion, keeping in mind that it has been declared by the constitu- tional court that pre-trial detention in general demands * Der Verfasser ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor des Instituts für Kriminologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Diesem Beitrag ist ein „Offener Brief eines Kriminalwissenschaft- lers an Rechtspolitiker“ v. 22.7.2020 vorausgegangen, der wesentli- che Gedanken dieses Beitrags angedeutet hatte. Abrufbar unter: https://kripoz.de/2020/07/01/reformpaket-zur-bekaempfung-sexua- lisierter-gewalt-gegen-kinder/#comment-168 (zuletzt abgerufen am 1.9.2020).
264 KriPoZ 5 | 2020 an endangerment of the process. Objections related to the Strafrechts; sie hatte zuvor die bestehenden strafrechtli- constitutional law and the constitutional court jurisdiction chen Mittel als ausreichend erachtet.3 must be raised against regulations which allow to prose- cute such sexual offenders for life without limitations to Weitgehend dürften Wissenschaft und Politik allerdings certain periods of time after the act, or which allow life- darin übereinstimmen, dass der sexuellen Gewalt gegen long entries in extended police clearence certificates, Kinder entschieden mit allen geeigneten, legalen Mitteln without at least exceptions for young or occasional of- begegnet werden muss. Für alle Verantwortlichen sind die fenders. Grauen der zur Zeit untersuchten Verbrechensserien gera- dezu unvorstellbar. Nur beispielhaft für Dimensionen sol- I. Zur anstehenden Gesetzgebung allgemein cher Taten gegen Kinder sei andeutungsweise der Fall ei- nes Hauptverdächtigen von Bergisch Gladbach skizziert:4 Seit geraumer Zeit deutet sich mit einer kriminalpoliti- Der Vater des noch nicht halbjährigen Kindes missbraucht schen Fehlentwicklung eine Kluft zwischen Politik und es auf dem Wickeltisch sexuell zur eigenen Befriedigung, Wissenschaft an. Man neigt dazu, hektisch, oft nur sym- wiederholt mit Chatpartnern solche auch mit Oral- und bolisch, zu wenig von Wissen und der Berücksichtigung Analverkehr verbundenen Handlungen in den folgenden absehbarer Folgen geleitet, nahezu reflexartig auf spekta- zwei Jahren am eigenen Kind und Kindern der anderen, kuläre Verbrechen zu reagieren.1 Manche Verantwor- hält das oft auf Fotos und Videos fest und macht die Bilder tungsträger in der Politik sehen sich getrieben von öffent- im Internet zugängig. Er selbst war wohl als Kind miss- licher Empörung und Rufen nach härterem Strafen in braucht worden und seinerseits im Jugendalter sexuell ge- Boulevardmedien. Sie bedienen sich vorschnell beliebter walttätig gegenüber anderen. Nach außen erscheint er als Parolen und Vorurteile; so ist allenthalben von zunehmen- treusorgender Ehemann und Vater. Nun steht er aber we- der Gewaltkriminalität und Kuscheljustiz die Rede, ob- gen 67 teils schwerer Kindesmisshandlungen unter An- wohl sich tatsächlich eher das Gegenteil abzeichnet. klage. In dem Gesamtverfahren ermitteln 300 Polizeibe- amte und neun Staatsanwälte gegen bislang 116 Verdäch- Aktuell ist wieder ein wichtiger Anlass zu einem mahnen- tige; ungefähr 21 Millionen Bilder sind sichergestellt und den Zwischenruf seitens eines seit über fünf Jahrzehnten werden nach und nach ausgewertet; 30.000 „Online-Iden- in Forschung, Praxis- und Politikberatung sowie Publizis- titäten“ – schon bereinigt um Mehrfach-Einträge im Inter- tik um wissensbasierte Kriminalpolitik bemühten Krimi- net, aber Nutzer verbergen sich meist hinter schwer ent- nalwissenschaftlers gegeben. Nach den Bekundungen vie- schlüsselbaren Pseudonymen in Gruppenchats – wurden ler Politiker – namentlich in der Großen Koalition – ist zu bereits ausgemacht; 48 Kinder wurden befreit; mehrere erwarten, dass bald über einen Gesetzentwurf parlamenta- Ermittler mussten behandelt werden, weil sie durch die risch zu beraten sein wird, der das Strafrecht verschärfen schier unerträgliche Ermittlungstätigkeit erkrankt waren. soll, um sexueller Gewalt gegen Kinder besser entgegen- Dimensionen werden zudem verdeutlicht, wenn über wirken zu können. Damit möchte man auf viele neue, er- „Live-Streaming“ von Misshandlungen berichtet wird schütternde Vorfälle – zuletzt die mit den Städtenamen und die EU-Innenkommissarin Schätzungen bekannt gibt, Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach und Münster verbun- nach denen europaweit jedes fünfte Kind von sexueller denen – reagieren. Abgesehen von anderen, teils noch Misshandlung betroffen sei.5 weitergehenden Forderungen sind die meisten Vorhaben bereits berücksichtigt in dem „Reformpaket zur Bekämp- Auch als Kriminalwissenschaftler kann man nicht weitere fung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ des Bundesmi- strafrechtliche Mittel ausschließen. Sie könnten zumal an- nisteriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 1. gesichts so erheblicher Gewalt in der realen Welt und in Juli 2020.2 In ihm und seiner öffentlichen Präsentation ihrer immensen digitalen Vermarktung nötig sein. Immer- vollzieht die Bundesjustizministerin unter erheblichem hin ist damit zu rechnen, dass die zunehmende Digitalisie- politischem Druck eine Kehrtwende gegenüber ihrer vo- rung mit zahlreichen Messengerdiensten und sich auswei- rangegangenen skeptischen und fachlich begründeten tenden Online-Tauschplattformen Hemmschwellen für Haltung gegenüber Bestrebungen zur Verschärfung des Täter herabsetzen, Gewalt gegen eigene und Kinder ande- rer auszuüben und sie zugleich mithilfe solcher Techniken 1 3 Übersicht dazu u.a. bei Kreuzer, in: Sinn et al. (Hrsg.), Populismus Dazu z. B. Eisele, LTO v. 6.7.2020, abrufbar unter: und alternative Fakten, Abschiedskolloquium für Walter Gropp, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lambrecht-bekaempfung- 2020, S. 151 ff; ders., NK 30, 2018, 141 ff; ders., Kriminalistik kindesmissbrauch-kinderpornografie-strafen-gewalt-bmjv-muens- 2017, 744 ff; ders., ZEIT ONLINE v. 26.12.2017, abrufbar unter: ter-verbrechen/ (zuletzt abgerufen am 1.9.2020). 4 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/kriminalpolitik- Hierzu und zu weiteren Fällen und Aspekten: Biermann et al., DIE grosse-koalition-strafrecht-kriminologie (zuletzt abgerufen am ZEIT v. 23.7.2020, Dossier, S. 13-15. 5 1.9.2020); ders., in: Gropp et al. (Hrsg.), GS Heine, 2016, S. 237 ff. Johansson, ZEIT ONLINE v. 24.7.2020, abrufbar unter: 2 Abrufbar unter: https://kripoz.de/2020/07/01/reformpaket-zur-be- https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/eu-kom- kaempfung-sexualisierter-gewalt-gegen-kinder/ (zuletzt abgerufen mission-ylva-johansson-sexueller-kindesmissbrauch-corona-krise am 1.9.2020). Nach Fertigstellung dieses Beitrags ist inzwischen (zuletzt abgerufen am 1.9.2020). das „Reformpaket“ umgesetzt worden in einen Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz: Ent- wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 17.8.2020, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/Shared- Docs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Bekaempfung_sex_Gewalt_ Kinder.html (zuletzt abgerufen am 1.9.2020). Der Verf. hat dazu im Sinne dieses Beitrags kritisch Stellung genommen gegenüber dem BMJV.
Kreuzer – Kindesmissbrauch und Kinderpornografie KriPoZ 5 | 2020 265 für sich und ihre digitale Kommunikation zu nutzen. gegen Kinder, die bereits jetzt großenteils als „Verbre- Strafrecht ist gerade hier also unverzichtbar für den Kin- chen“ unter hohen Strafdrohungen steht, und Verbreiten derschutz. Strafrecht darf aber nach aufgeklärtem, rechts- von Kinderpornografie ist jedoch von noch höheren Straf- staatlichem, verfassungsrechtlich verankertem Verständ- rahmen und Strafen keine abschreckende Wirkung auf po- nis nur letztes Mittel – ultima ratio – sein. Andere Ansätze tenzielle Täter zu erwarten. Abschreckend indes kann be- von sozialer Kontrolle, Prävention, Intervention müssen kanntlich wirken, wenn Täter ein merklich größeres Ri- ausgeschöpft sein oder sich als unzureichend erweisen. siko erwartet, erkannt, verfolgt und bestraft zu werden. Vorrang kommt deswegen anderen Maßnahmen zu, die Kriminalwissenschaftler tragen jedoch ganz überwiegend wirksamer mögliche Täter beeinflussen können und Op- erhebliche Bedenken gegenüber einzelnen in der Diskus- fern tatsächlich helfen. sion vorgesehenen Maßnahmen.6 Diese erscheinen weder zweckdienlich noch auf Stimmigkeit mit den Grundlagen Nur Beispiele Erfolg versprechender Maßnahmen seien geltenden Strafrechts und auf ungünstige Folgen hin be- genannt: dacht. Zudem setzen einige im Vordergrund der Diskus- sion stehende Forderungen und Argumentationen von Po- Jugendämter müssen besser ausgestattet werden, um auf- litikern in Bund und Ländern Verschärfungen des Straf- suchende Sozialarbeit bei Gefahren für Kinder leisten und rechts an erste Stelle: Strafrecht als „prima ratio“. Das ist wirksam Kontrolle ausüben zu können. Jugend- und Fa- sogar noch in dem detailliert gefassten und durch andere milienrichter/innen müssen für ihre Aufgabe aus- und begleitende Maßnahmen erweiterten „Reformpaket“ der fortgebildet werden, wie es das „Reformpaket“ vorsieht; Fall. es ist den üblichen unhaltbaren Einwänden zu begegnen, dies greife in richterliche Unabhängigkeit ein, und Richter Damit wird ein seit Längerem beschrittener Weg fortge- sollten regelmäßig nach dem Rotationsgrundsatz ihre setzt, der vielen Kriminalwissenschaftler*innen Sorge be- Aufgabenfelder wechseln, ohne über beispielsweise in der reitet: Namentlich das Sexualstrafrecht wird seit Jahren Familien- und Jugendgerichtsbarkeit nötige, oftmals erst stetig ausgeweitet und verschärft; Gesetzesänderungen durch längere berufliche Erfahrung und Fortbildung er- enthalten teilweise Systembrüche; sie reagieren nur worbene Kompetenzen in Vernehmungspsychologie oder scheinbar wirksam auf aktuelle aufsehenerregende Fälle; Fragen von Erziehung, Behandlung oder Pflege zu verfü- sie suggerieren Verbesserung des Opferschutzes durch ri- gen. Angebote für Pädophile nach dem Modell des an die gideres Strafen; sie lassen nachteilige Folgen außer acht, Charité in Berlin angebundenen Netzwerks „Kein Täter wie etwa weitere Ausgrenzungen schutzbedürftiger Min- werden“ von Beier9 sind flächendeckend auszuweiten derheiten, neue Denunziationspotenziale, Enttäuschung statt mancherorts sogar abgeschafft zu werden, ebenso bei Betroffenen über die Wirkungslosigkeit, Überlastung Behandlungsangebote statt, während oder nach Strafver- von Verfolgungsinstitutionen und entsprechende Gegen- büßung. Verfolgungskapazitäten bei Polizei und Strafjus- strategien; sie widersprechen dem Gebot wissensbasierter tiz sind personell – u.a. durch IT-Spezialisten – sowie in Kriminalpolitik. Eine gründliche Analyse der Ausweitun- technischer Ausstattung drastisch zu stärken, um Krimi- gen des Sexualstrafrechts hatte bereits 2016 resumiert, ein nalität wie Herstellung und Vermarktung kinderpornogra- Großteil der Sonderregelungen für Sexualdelinquenten sei fischen Materials besonders im Internet und Darknet bes- aus kriminologischer Sicht nicht berechtigt; vielmehr ser aufspüren und verfolgen zu können; rechtlich ist hier- habe sich für diese Tätergruppe ein weitgehend symboli- bei u.a. die „Vorratsdatenspeicherung“ zu klären; allge- sches Sonderrecht etabliert.7 mein muss die Polizeiorganisation auf die veränderte Ver- brechenswirklichkeit mit einer sich zunehmend von der Wegen dieser Fehlentwicklung ist an verantwortliche Po- realen in die digitale Welt verlagernden, grenzüberschrei- litiker und Politikerinnen zu appellieren, die Kritik zu prü- tenden Tatbegehung umgestellt werden; konkret sind vor fen und das Vorhaben einer Strafrechtsverschärfung zur allem die Bemühungen der EU-Kommission zu unterstüt- Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder im Sinne zen, Internetdienstleister zu verpflichten, das Einstellen eines umfassenden Programms nachhaltigen Kinder- oder „Teilen“ entsprechender kinderpornografischer In- schutzes und längerfristig eventuell einer sinnvollen und halte aufzuspüren, diese Inhalte zu löschen und zu melden stimmigen Gesamtreform des Sexualstrafrechts zu über- denken. In einem solchen Programm kann Strafrecht bedeutsam sein mit angemessenen Maßnahmen materiell- oder ver- fahrensrechtlicher Art, gegebenenfalls auch mit Straf- rechtsausweitungen, aber eben nur ergänzend und system- gerecht. So war es beispielsweise durchaus angebracht, das sog. „Upskirtung“ strafrechtlich nunmehr ausdrück- lich in § 184k StGB zu erfassen.8 Bei sexueller Gewalt 6 9 Aus jüngster Zeit beispielhaft nur: Eisele, o. Fn. 3; Hoernle, FAZ Vgl. Beier, Sexuellem Kindesmissbrauch vorbeugen – Das Präven- v. 2.7.2020, S. 7; Kreuzer, offener Brief an Rechtspolitiker v. tionsnetzwerk „Kein Täter werden“, Vortrag auf dem 19. Deutschen 22.7.2020, o. Fn.*. Präventionstag, Karlsruhe, 12.5.2014, abrufbar unter: 7 Steiger, Gleiches Recht für alle – auch für Sexualstraftäter?, 2016. https://www.praeventionstag.de/nano.cms/vortraege/id/2767 (zu- 8 BT-Drs. 19/20668; beschlossen am 6.7.2020. letzt abgerufen am 1.9.2020).
266 KriPoZ 5 | 2020 und ein europäisches Zentrum für die Bekämpfung von Hier wie sonst ist der empirisch-kriminologische Befund Kindesmissbrauch (NCMEC) zu schaffen. 10 zu bedenken, dass bei allen Deliktsarten das Gros der tat- sächlich von dem Tatbestand erfassten Sachlagen am un- II. Wichtigste Punkte der Kritik im Einzelnen: teren Ende der Schuldschwere und Strafwürdigkeit liegt, mitunter an der Grenze dessen, was sich allenfalls noch 1. Etliche von Politikern vorgebrachte Begründungen für vom Straftatbestand erfassen lässt. Aus diesem Grund die Notwendigkeit von Strafrechtsverschärfungen sind muss in unserem System der Strafandrohungen die jewei- populistisch und sachfremd. Das gilt besonders für Kon- lige Untergrenze der Strafe möglichst flexibel bleiben. sequenzen bei Tätern, die wie jene in Münster und Ber- Schwere und schwerste Taten sind vergleichsweise selten; gisch Gladbach schweren Kindesmissbrauch begehen. gerade deswegen weisen Verurteilungsstatistiken nur ge- Bereits das geltende Recht sieht für sie Freiheitsstrafen ringe Anteile von Strafen im obersten Bereich aus; das von zwei bis zu 15 Jahren vor. Die Strafrahmen sind aus- wird geflissentlich verkannt in mancher Justizschelte. reichend. Hinzu kommen möglicherweise langjährige Man denkt in der öffentlichen und politischen Diskussion oder sogar lebenslang währende Unterbringungen in um Strafrechtsverschärfungen jeweils an die schweren, psychiatrischen Kliniken oder in Einrichtungen der Siche- massenmedial vermittelten, Empörung auslösenden Ta- rungsverwahrung; dies gilt namentlich für tatsächlich pä- ten; die dann mit erfassten relativ leichten Taten verliert dophil ausgerichtete Täter; sie dürften jedoch eine Min- man aus dem Blick. derheit ausmachen, weil sich unter entsprechend übergrif- figen Personen in erster Linie sexuell an sich normal Ver- Allgemein wird in diesem Zusammenhang unangemes- anlagte und Gelegenheitstäter sowie sehr junge Täter be- sene richterliche Milde gerügt; üblich ist es, auf häufige finden. Insbesondere der Vergleich mit Diebstahlsdelikten Strafaussetzungen zur Bewährung und die erwähnten sel- geht völlig fehl. teneren Strafen im oberen Bereich der Strafrahmen hinzu- weisen. Für insgesamt zu nachsichtiges Strafen gibt es in- Auch erscheinen sprachlich-kosmetische Änderungen we- des keine wissenschaftlichen Belege. Allerdings gilt auch nig hilfreich. So ist die Änderung der Überschrift des die Annahme sich verstärkender „Punitivität“ in der Straf- § 176 StGB „Sexueller Missbrauch von Kindern“ in „Se- justiz nicht als gesichert. Die Strafmentalität der Justiz er- xualisierte Gewalt gegen Kinder“ sprachlich ein Missgriff scheint nach kriminalstatistischen Untersuchungen als (wenn schon eine Änderung sein soll, warum dann nicht ziemlich konstant. Mitunter sind aber Anzeichen partiell einfach „sexuelle Gewalt“?); sie weicht überdies unnötig zunehmender justizieller Strafhärte zu erkennen, etwa im ab von den international geläufigen Termini „child abuse“ Bereich der Gewalt- und Sexualkriminalität.11 Öffentliche und „sexual violence“; sie ist vor allem inhaltlich irrefüh- Kritik an zu milder Justiz wirkt sich gelegentlich auf Ver- rend: Der jetzige und der neu konzipierte Straftatbestand urteilungen aus. Ein Beispiel dafür ist die zunehmend rest- umfassen weit mehr als nur gewaltsame Handlungen; mit riktive Praxis, Langzeitgefangene aus Haft und Unterbrin- der neuen Überschrift wird also fälschlich „Gewalt“ auch gung zu entlassen. Ein weiteres Beispiel sind neueste „Ra- auf nicht gewaltsame Handlungen bezogen und dadurch ser“-Urteile; in ihnen wird das „Lebenslang“ verhängt; ein unnötiger Interpretationsstreit heraufbeschworen. Au- nicht einmal der BGH prüft dabei, ob sich die für Mord ßerdem findet sich der Begriff des Missbrauchs gleichfalls zwingend angedrohte höchste Strafe hier mit dem verfas- in anderen Straftatbeständen der §§ 174 ff. StGB. „Miss- sungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinba- brauch“ steht nicht dem „Gebrauch“ einer Person gegen- ren lässt, obwohl kein direkter, allenfalls ein „bedingter“ über, vielmehr ist eine übergriffige Ausnutzung von Er- – der Fahrlässigkeit naher – Tötungsvorsatz nachweisbar ziehungs-, Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungs- ist. Abgesehen davon geht das Argument, man müsse der verhältnissen gemeint. Das lassen bereits die amtlichen in häufigen Strafaussetzungen zur Bewährung bei Kindes- Überschriften erkennen. misshandlung sichtbar werdenden strafgerichtlichen Hal- tung durch eine Einstufung als „Verbrechen“ begegnen, 2. Zu erwägen ist zwar, den Grundtatbestand sexuellen fehl, denn auch sie ließe bei einjähriger Mindeststrafe und Missbrauchs von Kindern in § 176 StGB teilweise zu ei- Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren noch Bewährungsstra- nem Verbrechen hochzustufen. Das setzt aber dreierlei fen zu. voraus: Zum Zweiten setzt jede Anhebung eines Vergehens zum Zum Ersten muss der Verbrechens-Tatbestand dann auf Verbrechen voraus, dass man für die vom Wortlaut des gewaltsames sexuelles Verhalten und auf bislang als be- Tatbestands mit erfassten viel häufigeren leichteren Taten sonders schwere Fälle gekennzeichnete Sachlagen be- "minder schwere Fälle" mit geringeren Mindeststrafen schränkt werden; ansonsten würden vergleichsweise ba- vorsieht. Wiederum populistisch, sachlich unzutreffend nale Fälle mit erfasst und der individuellen Schuld ange- ist das Gegenargument, bei „Kindesmissbrauch“ könne es messene Verfahrensabschlüsse und Strafen verhindert. keinen „minder schweren Fall“ geben; jeder Fall sei gra- Man denke nur an sexuelle Verhaltensweisen wie heftige vierend; Opfern sei es nicht zuzumuten, wenn man als Küsse schon 18-Jähriger gegenüber unter 14-Jährigen. „minder schwer“ einordne, was ihnen zugestoßen sei. 10 11 Vgl. zu Letzterem: Gutschker, FAZ v. 25.7.2020, abrufbar unter: Vgl. z.B. Übersicht bei Drenkhahn et al., KriPoZ 2020, 104 ff; https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-will-kampf-gegen- Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionie- kindesmissbrauch-aufnehmen-16875142.html (zuletzt abgerufen rungspraxis in Deutschland 1882-2012, abrufbar unter: am 1.9.2020); Johansson, ZEIT ONLINE v. 24.7.2020, o. Fn. 5; http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in- Stock/Goger, Cybercriminalität – eine Parallel-Pandemie? FAZ Deutschland-Stand-2012.pdf (zuletzt abgerufen am 1.9.2020); ders. v. 30.7.2020, S. 6. zur Punitivitäts-These nach älteren Daten: NK 2011, 14 ff.
Kreuzer – Kindesmissbrauch und Kinderpornografie KriPoZ 5 | 2020 267 Ähnlich wurde früher bezüglich der Vergewaltigung ge- bei uns und international kritisch erörterte „Besitzbestra- gen Frauen argumentiert. Um sprachlich Missverständ- fung“ (z.B. bei Drogen und Pornografie) sei nur am Rande nisse zu beheben, wurde von uns wiederholt vorgeschla- hingewiesen; solche Fragwürdigkeit hat immerhin seiner- gen, in der Gesetzesterminologie statt der Grundtatbe- zeit unser BVerfG veranlasst, die Verhängung von Strafen stände und „minder“ oder „besonders schwerer Fälle“ Ta- für Besitz und Erwerb geringer Mengen von Cannabis ten ersten, zweiten oder dritten Grades vorzusehen. Jetzt zum eigenen Gebrauch nach dem Verhältnismäßigkeits- aber bei einer Verbrechensart den „minder schweren Fall“ prinzip für verfassungswidrig zu bezeichnen.14 Ähnliches auszuschließen, wie es das „Reformpaket“ für den bishe- wäre zu erwarten für entsprechende Strafen bei bloßem rigen § 176a Abs. 4 StGB vorsieht, bedeutet einen Sys- Anklicken oder Ansehen kinderpornografischen Materi- tembruch. Die Bundesjustizministerin gibt dafür kein als im Internet, zumal, wenn es zum „Verbrechen“ hoch- nachvollziehbares Argument. Sie setzt sich sogar in völli- gestuft werden soll. Dieses Verhalten überhaupt zu krimi- gen Widerspruch zu der von ihrem Vorgänger beauftrag- nalisieren, wird von Betroffenen gelegentlich kritisiert, ten Reformkommission für das Sexualstrafrecht; die hatte weil man damit eine Minderheit pädo- oder hebephil ori- 2017 umgekehrt empfohlen, bei §§ 176 Abs. 1 Nr. 2, 176a entierter Menschen kriminalisiert und diskriminiert, die Abs. 3 StGB zusätzlich „minder schwere Fälle“ vorzuse- darin einen Ausweg sieht, sich ersatzweise zu befriedigen, hen sowie die Strafschärfung für Wiederholungstäter in ohne übergriffig zu werden. Nach der wissenschaftlichen § 176a Abs. 1 StGB zu beseitigen.12 „Minder schwere Befundlage kann aus bloßem Besitz keineswegs auf eine Fälle“ zu streichen hätte zur Folge, dass sich Strafverfol- dadurch stimulierte Bereitschaft, entsprechende Neigun- gungsbehörden oder Gerichte gedrängt sehen könnten, gen in aktives Tun umzusetzen, geschlossen werden. Umgehungsstrategien zu (er)finden, um in diesen Fällen Wenn man das digitale „Konsumverhalten“ dennoch gut ungerechte Übermaßstrafen zu vermeiden.13 In der Wirk- vertretbar strafrechtlich erfasst, gestützt darauf, dass es lichkeit weitaus häufigere Fälle verhältnismäßig geringer eine Art „Hehlerei“ an strafbar durch Kindesmisshand- Schwere gelangen allerdings selten in die Strafverfol- lung zustande gekommenem Material darstellt, müssen gung; wenn sie dort dennoch landen, stehen Entschei- Verfahrenseinstellungen oder Geldstrafen im Strafbe- dungsträger in diesem Dilemma zwischen Gesetzesumge- fehlsverfahren möglich bleiben. Vor allem in der schuli- hung oder Übermaßstrafe. Sollte es zu entsprechenden schen Medienerziehung ist digitaler Pornomaterial-Kon- Übermaßstrafen kommen, sind schon jetzt Korrekturen sum angemessen aufzugreifen, gerade weil er wohl täglich durch das BVerfG im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprin- zig-tausendfach vorkommt, und zwar ganz überwiegend zips absehbar. Verantwortungsvolle Politik sollte das er- bei jungen Menschen, die weder sexuell entsprechend dis- kennen und vermeiden. Sonst sind für derartige Rechts- poniert sind noch übergriffig werden. Grenzen strafrecht- Umgehungen oder für im Einzelfall ungerechte Verurtei- lichen Vorgehens im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprin- lungen nicht allein die Gerichte verantwortlich; vor allem zips müssen jedoch gewahrt bleiben. Ganz allgemein ist ist es der Gesetzgeber, der solche Folgen ignoriert. daran zu erinnern, dass eine frühere Vorschrift über zwin- gend höhere Strafen bei Wiederholungstätern zurückge- Zum Dritten verlangt eine Anhebung zum „Verbrechen“, nommen werden musste; wissenschaftlich war nämlich das Gesamtsystem der Strafandrohungen in allen ver- nachgewiesen, dass diese Strafschärfung häufig die Fal- gleichbaren Straftatbeständen des StGB zu überprüfen. So schen traf und Haftanstalten unnötig belastete. Ebenso sind Menschenhandel zur sexuellen oder Ausbeutung als sollte die Erfahrung in den USA mahnen; dort hatten in Arbeitskraft (§§ 232, 233 StGB), Entziehung Minderjäh- einigen Staaten gesetzlich festgelegte drastische Mindest- riger (§ 235 StGB), Kinderhandel (§ 236 StGB), aber auch strafen für Wiederholungstäter zu unerträglicher Überfül- Freiheitsberaubung und Erpressung (§§ 239, 253 StGB) lung von Haftanstalten beigetragen. bislang „Vergehen“. Ohnehin scheint man sich bei dem „Reformpaket“ offen- 3. Damit ist bereits Wesentliches ausgeführt zu vorgese- bar kaum Gedanken gemacht zu haben um Folgen für Res- henen Anhebungen von Mindeststrafen. Ohne in Details sourcen bei Polizei, Justiz und Haftvollzug. Sollten die be- zu gehen, über die man streiten kann, gilt generell: Min- stehenden und vorgesehenen weiteren Meldepflichten für deststrafen verbauen den Weg, eher bagatellhaften Fällen Messengerdienste tatsächlich greifen, würden zu den der- individuell gerecht zu werden im Verfahren und in der zeit 170 täglichen Meldungen pornografischer Internet- Strafzumessung. Das gilt ganz besonders für Alltags-Mas- Inhalte an das BKA15 Hunderte zusätzlicher Meldungen sendelikte wie den Erwerb und (sogar bloß versuchten: kommen. Das liefe, wenn die Kapazitäten für ordnungs- § 184b Abs. 4 StGB) Besitz kinderpornografischen Mate- gemäße Auswertung geschaffen und entsprechend viele rials, etwa das bloße Anklicken eines kinderpornografi- Tatverdächtige ermittelt würden, auf jährlich viele Tau- schen Links im Internet; das soll nach dem „Reformpaket“ sende zusätzlicher Strafverfahren hinaus. Würden außer- als Besitz/Besitzverschaffung mit Freiheitsstrafe von ei- dem die neuen Strafrahmen angewandt und seltener Ver- nem bis zu fünf Jahren bestraft werden. Auf die ohnehin 12 13 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, Derartige Umgehungsstrategien wurden seinerzeit nachgewiesen dem Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas für Tötungsdelikte, als noch die lebenslange Freiheitsstrafe obliga- vorgelegt am 19.7.2017, abrufbar unter: torisch ausnahmslos galt nach § 211 StGB und das BVerfG noch https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Studien- nicht nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Ausnahmen ange- UntersuchungenFachbuecher/Abschlussbericht_Reformkommis- mahnt hatte: Kreuzer, ZRP 1977, 49 ff; BVerfGE 45, 187 ff. 14 sion_Sexualstrafrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (zuletzt BVerfG, Beschl. v. 9.3.1994, BVerfGE 90, 145 ff; dazu Kreuzer, abgerufen am 1.9.2020). NJW 1994, 2400 ff. 15 Biermann et al., DIE ZEIT vom 23.7.2020, o. Fn. 4.
268 KriPoZ 5 | 2020 fahren eingestellt werden oder mit Bewährungstrafen en- gehen, ohne dass NS-Unrecht argumentativ bemüht wer- den, gelangten jährlich mehrere Tausend Verurteilte zu- den könnte. Zwar wünschte man sich, jeder, der Gewalt – sätzlich in die Haftanstalten. Diese würden überfüllt. Will sexuell oder anders motiviert – gegen Kinder verübe, man das? Oder vertraut man auf das Gesetz der „Homö- müsse lebenslang mit Verfolgung rechnen. Doch ist zu be- stase“, wonach Verfolgungsbehörden, Justiz und Voll- denken, dass strafrechtliche Verfolgung irgendwann ver- zugseinrichtungen selbst dafür sorgen, dass sich im Ge- wirkt ist aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen: Je samtsystem quantitativ ein Gleichgewicht erhält, welches länger die Tat zurückliegt, umso schwieriger wird die Be- sich vorhandenen Kapazitäten anpasst und die Norman- weisführung; dies gilt erst recht, wenn es sich um Taten wendung entsprechend modifiziert? Das wäre zugleich handelt, die überwiegend im sozialen Nahraum geschehen rechtsstaatlich unverantwortliche Politik. und die meist nur von Tätern und Opfern durch eindeutige Zeugenaussagen aufgeklärt werden können. Erinnerungs- 4. Kritisch zu beurteilen ist weiterhin das Vorhaben des schwächen und Veränderungen, denen sich Erinnerungen „Reformpakets“, die Untersuchungshaftgründe erneut mit der Zeit ausgesetzt sehen, sind hinlänglich wissen- auszuweiten, dieses Mal bei schwerer sexueller (oder an- schaftlich belegt. Die Folge ist, dass bei späten Verfahren derer) Gewalt gegen Kinder – angeblich – ohne Vorhan- zweierlei Gefahren bestehen: Entweder werden – dies in densein eines Haftgrundes der Flucht- oder Verdunke- aller Regel – die Verfahren eingestellt bzw. die Täter frei- lungsgefahr (§ 112 Abs. 3 StPO). Die Einfügung eines gesprochen mangels Beweises; dann erweist sich die Auf- „absoluten“ Haftgrundes bloßer Tatschwere (Mord und schiebung der Verjährung als Bumerang: Opfer sehen sich Totschlag) ohne Nachweis von Flucht- oder Verdunke- erneut gedemütigt. Oder es werden Fehlverurteilungen in lungsgefahr war 1965 bereits ein Sündenfall, allein ver- Kauf genommen. Das allein ist Grund genug, an Verjäh- ständlich durch die Anlasstat, ein NS-Verbrechen. Seiner- rungsfristen zwingend festzuhalten. Nicht zuletzt Opfer- zeit wurde ein solcher „Haftgrund der Empörung“ heftig schutz gebietet dies. von Wissenschaftlern kritisiert; es werde dadurch zugelas- sen, entgegen der Unschuldsvermutung und ohne erkenn- 6. Schließlich werden neuestens Forderungen erhoben, le- bare Gefahr für die Verfahrensdurchführung eine noch benslang in polizeilichen Führungszeugnissen Verurtei- nicht verhängte Strafe vorweg zu vollziehen, weil man an- lungen wegen Kindesmissbrauchs anzugeben. Jegliche sonsten im Falle tatsächlicher späterer Flucht öffentliche Befristung soll nach einem Beschluss des Bundesrats auf- Empörung auslöse; außerdem sei zu befürchten, dass der gehoben werden.17 Moderater sind die bloßen Fristverlän- Gesetzgeber bei nächsten schweren Verbrechen anderer gerungen, die das „Reformpaket“ vorsieht. Bislang galt Art diesen Haftgrund als Modell betrachte und ausweite. nach dem BZRG etwa für das einfache polizeiliche Füh- So ist es in der Tat 1984 geschehen. Nun soll es sich wie- rungszeugnis, das auf Anforderung jedem Arbeitgeber derholen. Erneut würde der Gesetzeswortlaut zudem irre- vorzulegen ist, im Falle einer Verurteilung zu Jugend- führend suggerieren, es bedürfe keiner Gefahr für die oder Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr eine Befris- Durchführung des Verfahrens wegen möglicher Flucht tung von 10 Jahren. In dem erweiterten Führungszeugnis, oder Verdunkelung. Dagegen ist verfassungsgerichtlich dessen es bedarf, wenn es um beruflichen oder ehrenamt- entschieden, dass für Untersuchungshaft immer eine Ge- lichen Umgang mit Kindern geht, beträgt die Frist 20 fährdung des Verfahrens nötig ist; bei solchen schwersten Jahre. Um des nötigen Schutzes vor Missbrauchstätern Taten werden lediglich geringere Anforderungen an den willen sind diese Regelungen zu überdenken. Das erwei- Nachweis gestellt.16 Ohnehin dürfte dieser neue Haft- terte Führungszeugnis tatsächlich vorzulegen, sollte aller- grund überflüssig sein bei vermutlich pädophilen Tätern dings Pflicht werden. Nur ist vor Übermaß zu warnen. schwerer sexueller Gewalt gegen Kinder wie denen in Nicht umsonst hat das BVerfG sogar bei der Verurteilung Münster, weil bereits der Haftgrund einer Wiederholungs- zur lebenslangen Freiheitsstrafe Lockerungen nach dem gefahr (§ 112a StPO) anzunehmen ist. verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip ein- gefordert: Keine Strafe darf von vornherein ausnahmslos 5. Verschiedentlich deuten sich darüber hinaus Bestrebun- bis zum Tod reichen. Für jeden ist grundsätzlich eine gen an, die Verjährungsfristen bei Sexualdelikten gegen zweite Chance zu wahren.18 Selbstverständlich gelten das Kinder nochmals auszuweiten. Vorangegangene mode- so bekräftigte Verhältnismäßigkeitsprinzip und Resoziali- rate Ausweitungen bei Kindesmisshandlung waren noch sierungsgebot auch für strafverwandte Maßnahmen. Und nachvollziehbar, weil man Anzeigen ermöglichen wollte, wohl begründet setzen Berufsverbote (§ 70 StGB), die äu- zu denen sich Betroffene erst im Erwachsenenalter durch- ßerstenfalls lebenslang bestehen, eine strafgerichtliche ringen. Aber es sind verfassungsrechtlich und strafpro- Prüfung der individuellen Gefahrenprognose voraus. Le- zessual Grenzen zu beachten. Verjährungsfristen sind diglich in erweiterten Führungszeugnissen sollte daher ein rechtsstaatlich begründet. Zu einer markanten Ausnahme lebenslanger Eintrag zulässig sein und dieser gleichfalls hatte man sich ehemals entschieden, als die Verjährungs- nur nach möglichst richterlicher Einzelfallprüfung; insbe- frist 1965 und 1969 ausgeweitet und 1979 für Mord ganz sondere müssen Ausnahmen möglich bleiben bei sehr jun- aufgehoben wurde – erneut anlässlich von Taten, die mit gen und bei Gelegenheitstätern ohne pädo- oder hebephile dem Holocaust zusammenhingen. Es war historisch be- Neigungen sowie bei weniger schweren Taten. gründet und nur insofern hinnehmbar. Nun soll es weiter- 16 17 BVerfGE 19, 342 ff.; auf diesen Beschluss wird im „Reformpaket“ BR-Drs. 645/19. 18 (o. Fn. 2) zwar als Begrenzung hingewiesen, der irreführende Ge- BVerfGE 45, 187 ff. setzeswortlaut wird aber beibehalten.
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