ALLGEMEINE BEITRÄGE - KRIPOZ 5

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KriPoZ 5 | 2020                  263

ALLGEMEINE BEITRÄGE

                               Kindesmissbrauch und Kinderpornografie
                        Kritik eines Kriminalwissenschaftlers an Plänen für erneute
                                         Strafrechtsverschärfungen

         von Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer*

Abstract
Kindesmissbrauch und Kinderpornografie sollen nach                         Führungszeugnissen, ohne Ausnahmen für junge und Ge-
dem „Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt                      legenheitstäter zuzulassen.
gegen Kinder“ noch härter bestraft werden als bisher.
Das BMJV hat zwischenzeitlich einen entsprechenden Re-                     According to the „Reform package combating sexual vio-
ferentenentwurf vorgelegt. Die Serie von Ausweitungen                      lence against children“ child abuse and child pornogra-
und Verschärfungen des Sexualstrafrechts setzt sich ent-                   phy shall be punished more severely than before. Mean-
gegen wissenschaftlicher Kritik fort. Jeweils wird reflex-                 while, the BMJV has presented a corresponding draft bill.
haft, populistisch auf öffentliche Empörung über bekannt                   The series of extensions and aggravations of penalties in
gewordene schwerste Verbrechen reagiert. Stärkung von                      the criminal law relating sexual offences is being contin-
Abschreckung und Opferschutz werden suggeriert. Tat-                       ued despite scientific objections. Again and again when
sächliche Wirkungen, negative Folgen, Systembrüche und                     serious crimes are reported the reaction to public outrage
wissenschaftliche Erkenntnisse bleiben außer Betracht.                     is just a reflex and populist response. The intensification
Strafrecht wird prima statt ultima ratio. Einzufordern ist                 of deterrence and protection of victims are suggested.
jedoch ein wissensbasiertes umfassendes Konzept zum                        However, the actual effects, negative results, breaks in the
Kinderschutz durch Prävention und strafrechtliche Inter-                   system and scientific findings are not being considered.
vention, namentlich angesichts zunehmender Verlagerung                     The criminal law becomes prima instead of ultima ratio.
von Kriminalität in die digitale Welt.                                     On the contrary, we have to demand a comprehensive
                                                                           concept for the protection of children, based on scientific
Thesenartig zusammengefasst werden folgende straf-                         findings, by prevention and penal intervention, specifi-
rechtliche Gegenstände erörtert: Das bestehende strafge-                   cally in view oft he increasing shift of crime into the digi-
setzliche Instrumentarium genügt durchaus Verbrechens-                     tal world.
komplexen wie den Kindesmisshandlungen in Bergisch
Gladbach und Münster; Schelte einer zu milden Justiz ist                   The following theses concerning penal subject matters
nicht belegt; Strafschärfungen haben einseitig schwerste                   will be discussed: The existing instruments of penal law
Fälle im Blick, lassen die weitaus häufigeren leichteren                   are sufficient to deal with crimes like the cases of child
Fälle außer Acht; deswegen ist es fragwürdig, undifferen-                  abuse as in Bergisch Gladbach and Münster. Criticism of
ziert § 176 und § 184b StGB zu „Verbrechen“ hochzustu-                     overly mild criminal justice is not proven. Aggravation of
fen; zumindest bedarf es einer systemgerechten Regelung                    penalties is directed onesidely at the most severe cases ne-
für „minder schwere Fälle“; erhöhte Mindeststrafen sind                    glecting the more common lighter cases. Therefore it is
bedenklich, wenn sie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip                       highly questionable to raise § 176 and § 184b StGB to the
entsprechende Verfahrensabschlüsse und Strafen für                         status of „Verbrechen“ (the term for severe crimes with
leichteste Fälle verhindern; höchst bedenklich ist es,                     the obligatory minumum penalty of one year´s imprison-
nochmals einen „absoluten“ Untersuchungshaftgrund                          ment). At least there should be a system relevant regula-
ohne Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorzusehen, zu-                      tion for less serious cases („minder schwere Fälle“).
mal verfassungsgerichtlich geklärt ist, dass es immer ei-                  Raising minimum penalties is precarious when they pre-
ner Gefahr für das Verfahren bedarf; verfassungsrechtli-                   vent adequate process closings and punishments for the
che und verfassungsgerichtliche Einwände sind zu erhe-                     lightest cases. It is quite precarious to once more establish
ben gegen lebenslangen Wegfall von Verjährungsfrist und                    another „absolute ground“ for pre-trial detention – pre-
lebenslange Eintragungen in erweiterten polizeilichen                      sumably – without the danger of escape or collusion,
                                                                           keeping in mind that it has been declared by the constitu-
                                                                           tional court that pre-trial detention in general demands

*   Der Verfasser ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor des
    Instituts für Kriminologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
    Diesem Beitrag ist ein „Offener Brief eines Kriminalwissenschaft-
    lers an Rechtspolitiker“ v. 22.7.2020 vorausgegangen, der wesentli-
    che Gedanken dieses Beitrags angedeutet hatte. Abrufbar unter:
    https://kripoz.de/2020/07/01/reformpaket-zur-bekaempfung-sexua-
    lisierter-gewalt-gegen-kinder/#comment-168 (zuletzt abgerufen am
    1.9.2020).
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         an endangerment of the process. Objections related to the                    Strafrechts; sie hatte zuvor die bestehenden strafrechtli-
         constitutional law and the constitutional court jurisdiction                 chen Mittel als ausreichend erachtet.3
         must be raised against regulations which allow to prose-
         cute such sexual offenders for life without limitations to                   Weitgehend dürften Wissenschaft und Politik allerdings
         certain periods of time after the act, or which allow life-                  darin übereinstimmen, dass der sexuellen Gewalt gegen
         long entries in extended police clearence certificates,                      Kinder entschieden mit allen geeigneten, legalen Mitteln
         without at least exceptions for young or occasional of-                      begegnet werden muss. Für alle Verantwortlichen sind die
         fenders.                                                                     Grauen der zur Zeit untersuchten Verbrechensserien gera-
                                                                                      dezu unvorstellbar. Nur beispielhaft für Dimensionen sol-
         I. Zur anstehenden Gesetzgebung allgemein                                    cher Taten gegen Kinder sei andeutungsweise der Fall ei-
                                                                                      nes Hauptverdächtigen von Bergisch Gladbach skizziert:4
         Seit geraumer Zeit deutet sich mit einer kriminalpoliti-                     Der Vater des noch nicht halbjährigen Kindes missbraucht
         schen Fehlentwicklung eine Kluft zwischen Politik und                        es auf dem Wickeltisch sexuell zur eigenen Befriedigung,
         Wissenschaft an. Man neigt dazu, hektisch, oft nur sym-                      wiederholt mit Chatpartnern solche auch mit Oral- und
         bolisch, zu wenig von Wissen und der Berücksichtigung                        Analverkehr verbundenen Handlungen in den folgenden
         absehbarer Folgen geleitet, nahezu reflexartig auf spekta-                   zwei Jahren am eigenen Kind und Kindern der anderen,
         kuläre Verbrechen zu reagieren.1 Manche Verantwor-                           hält das oft auf Fotos und Videos fest und macht die Bilder
         tungsträger in der Politik sehen sich getrieben von öffent-                  im Internet zugängig. Er selbst war wohl als Kind miss-
         licher Empörung und Rufen nach härterem Strafen in                           braucht worden und seinerseits im Jugendalter sexuell ge-
         Boulevardmedien. Sie bedienen sich vorschnell beliebter                      walttätig gegenüber anderen. Nach außen erscheint er als
         Parolen und Vorurteile; so ist allenthalben von zunehmen-                    treusorgender Ehemann und Vater. Nun steht er aber we-
         der Gewaltkriminalität und Kuscheljustiz die Rede, ob-                       gen 67 teils schwerer Kindesmisshandlungen unter An-
         wohl sich tatsächlich eher das Gegenteil abzeichnet.                         klage. In dem Gesamtverfahren ermitteln 300 Polizeibe-
                                                                                      amte und neun Staatsanwälte gegen bislang 116 Verdäch-
         Aktuell ist wieder ein wichtiger Anlass zu einem mahnen-                     tige; ungefähr 21 Millionen Bilder sind sichergestellt und
         den Zwischenruf seitens eines seit über fünf Jahrzehnten                     werden nach und nach ausgewertet; 30.000 „Online-Iden-
         in Forschung, Praxis- und Politikberatung sowie Publizis-                    titäten“ – schon bereinigt um Mehrfach-Einträge im Inter-
         tik um wissensbasierte Kriminalpolitik bemühten Krimi-                       net, aber Nutzer verbergen sich meist hinter schwer ent-
         nalwissenschaftlers gegeben. Nach den Bekundungen vie-                       schlüsselbaren Pseudonymen in Gruppenchats – wurden
         ler Politiker – namentlich in der Großen Koalition – ist zu                  bereits ausgemacht; 48 Kinder wurden befreit; mehrere
         erwarten, dass bald über einen Gesetzentwurf parlamenta-                     Ermittler mussten behandelt werden, weil sie durch die
         risch zu beraten sein wird, der das Strafrecht verschärfen                   schier unerträgliche Ermittlungstätigkeit erkrankt waren.
         soll, um sexueller Gewalt gegen Kinder besser entgegen-                      Dimensionen werden zudem verdeutlicht, wenn über
         wirken zu können. Damit möchte man auf viele neue, er-                       „Live-Streaming“ von Misshandlungen berichtet wird
         schütternde Vorfälle – zuletzt die mit den Städtenamen                       und die EU-Innenkommissarin Schätzungen bekannt gibt,
         Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach und Münster verbun-                        nach denen europaweit jedes fünfte Kind von sexueller
         denen – reagieren. Abgesehen von anderen, teils noch                         Misshandlung betroffen sei.5
         weitergehenden Forderungen sind die meisten Vorhaben
         bereits berücksichtigt in dem „Reformpaket zur Bekämp-                       Auch als Kriminalwissenschaftler kann man nicht weitere
         fung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ des Bundesmi-                       strafrechtliche Mittel ausschließen. Sie könnten zumal an-
         nisteriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 1.                       gesichts so erheblicher Gewalt in der realen Welt und in
         Juli 2020.2 In ihm und seiner öffentlichen Präsentation                      ihrer immensen digitalen Vermarktung nötig sein. Immer-
         vollzieht die Bundesjustizministerin unter erheblichem                       hin ist damit zu rechnen, dass die zunehmende Digitalisie-
         politischem Druck eine Kehrtwende gegenüber ihrer vo-                        rung mit zahlreichen Messengerdiensten und sich auswei-
         rangegangenen skeptischen und fachlich begründeten                           tenden Online-Tauschplattformen Hemmschwellen für
         Haltung gegenüber Bestrebungen zur Verschärfung des                          Täter herabsetzen, Gewalt gegen eigene und Kinder ande-
                                                                                      rer auszuüben und sie zugleich mithilfe solcher Techniken

         1                                                                            3
             Übersicht dazu u.a. bei Kreuzer, in: Sinn et al. (Hrsg.), Populismus         Dazu z. B. Eisele, LTO v. 6.7.2020, abrufbar unter:
             und alternative Fakten, Abschiedskolloquium für Walter Gropp,                https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lambrecht-bekaempfung-
             2020, S. 151 ff; ders., NK 30, 2018, 141 ff; ders., Kriminalistik            kindesmissbrauch-kinderpornografie-strafen-gewalt-bmjv-muens-
             2017, 744 ff; ders., ZEIT ONLINE v. 26.12.2017, abrufbar unter:              ter-verbrechen/ (zuletzt abgerufen am 1.9.2020).
                                                                                      4
             https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/kriminalpolitik-             Hierzu und zu weiteren Fällen und Aspekten: Biermann et al., DIE
             grosse-koalition-strafrecht-kriminologie (zuletzt abgerufen am               ZEIT v. 23.7.2020, Dossier, S. 13-15.
                                                                                      5
             1.9.2020); ders., in: Gropp et al. (Hrsg.), GS Heine, 2016, S. 237 ff.       Johansson, ZEIT ONLINE v. 24.7.2020, abrufbar unter:
         2
             Abrufbar unter: https://kripoz.de/2020/07/01/reformpaket-zur-be-             https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/eu-kom-
             kaempfung-sexualisierter-gewalt-gegen-kinder/ (zuletzt abgerufen             mission-ylva-johansson-sexueller-kindesmissbrauch-corona-krise
             am 1.9.2020). Nach Fertigstellung dieses Beitrags ist inzwischen             (zuletzt abgerufen am 1.9.2020).
             das „Reformpaket“ umgesetzt worden in einen Referentenentwurf
             des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz: Ent-
             wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen
             Kinder v. 17.8.2020, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/Shared-
             Docs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Bekaempfung_sex_Gewalt_
             Kinder.html (zuletzt abgerufen am 1.9.2020). Der Verf. hat dazu im
             Sinne dieses Beitrags kritisch Stellung genommen gegenüber dem
             BMJV.
Kreuzer – Kindesmissbrauch und Kinderpornografie                                                              KriPoZ 5 | 2020                      265

für sich und ihre digitale Kommunikation zu nutzen.                        gegen Kinder, die bereits jetzt großenteils als „Verbre-
Strafrecht ist gerade hier also unverzichtbar für den Kin-                 chen“ unter hohen Strafdrohungen steht, und Verbreiten
derschutz. Strafrecht darf aber nach aufgeklärtem, rechts-                 von Kinderpornografie ist jedoch von noch höheren Straf-
staatlichem, verfassungsrechtlich verankertem Verständ-                    rahmen und Strafen keine abschreckende Wirkung auf po-
nis nur letztes Mittel – ultima ratio – sein. Andere Ansätze               tenzielle Täter zu erwarten. Abschreckend indes kann be-
von sozialer Kontrolle, Prävention, Intervention müssen                    kanntlich wirken, wenn Täter ein merklich größeres Ri-
ausgeschöpft sein oder sich als unzureichend erweisen.                     siko erwartet, erkannt, verfolgt und bestraft zu werden.
                                                                           Vorrang kommt deswegen anderen Maßnahmen zu, die
Kriminalwissenschaftler tragen jedoch ganz überwiegend                     wirksamer mögliche Täter beeinflussen können und Op-
erhebliche Bedenken gegenüber einzelnen in der Diskus-                     fern tatsächlich helfen.
sion vorgesehenen Maßnahmen.6 Diese erscheinen weder
zweckdienlich noch auf Stimmigkeit mit den Grundlagen                      Nur Beispiele Erfolg versprechender Maßnahmen seien
geltenden Strafrechts und auf ungünstige Folgen hin be-                    genannt:
dacht. Zudem setzen einige im Vordergrund der Diskus-
sion stehende Forderungen und Argumentationen von Po-                      Jugendämter müssen besser ausgestattet werden, um auf-
litikern in Bund und Ländern Verschärfungen des Straf-                     suchende Sozialarbeit bei Gefahren für Kinder leisten und
rechts an erste Stelle: Strafrecht als „prima ratio“. Das ist              wirksam Kontrolle ausüben zu können. Jugend- und Fa-
sogar noch in dem detailliert gefassten und durch andere                   milienrichter/innen müssen für ihre Aufgabe aus- und
begleitende Maßnahmen erweiterten „Reformpaket“ der                        fortgebildet werden, wie es das „Reformpaket“ vorsieht;
Fall.                                                                      es ist den üblichen unhaltbaren Einwänden zu begegnen,
                                                                           dies greife in richterliche Unabhängigkeit ein, und Richter
Damit wird ein seit Längerem beschrittener Weg fortge-                     sollten regelmäßig nach dem Rotationsgrundsatz ihre
setzt, der vielen Kriminalwissenschaftler*innen Sorge be-                  Aufgabenfelder wechseln, ohne über beispielsweise in der
reitet: Namentlich das Sexualstrafrecht wird seit Jahren                   Familien- und Jugendgerichtsbarkeit nötige, oftmals erst
stetig ausgeweitet und verschärft; Gesetzesänderungen                      durch längere berufliche Erfahrung und Fortbildung er-
enthalten teilweise Systembrüche; sie reagieren nur                        worbene Kompetenzen in Vernehmungspsychologie oder
scheinbar wirksam auf aktuelle aufsehenerregende Fälle;                    Fragen von Erziehung, Behandlung oder Pflege zu verfü-
sie suggerieren Verbesserung des Opferschutzes durch ri-                   gen. Angebote für Pädophile nach dem Modell des an die
gideres Strafen; sie lassen nachteilige Folgen außer acht,                 Charité in Berlin angebundenen Netzwerks „Kein Täter
wie etwa weitere Ausgrenzungen schutzbedürftiger Min-                      werden“ von Beier9 sind flächendeckend auszuweiten
derheiten, neue Denunziationspotenziale, Enttäuschung                      statt mancherorts sogar abgeschafft zu werden, ebenso
bei Betroffenen über die Wirkungslosigkeit, Überlastung                    Behandlungsangebote statt, während oder nach Strafver-
von Verfolgungsinstitutionen und entsprechende Gegen-                      büßung. Verfolgungskapazitäten bei Polizei und Strafjus-
strategien; sie widersprechen dem Gebot wissensbasierter                   tiz sind personell – u.a. durch IT-Spezialisten – sowie in
Kriminalpolitik. Eine gründliche Analyse der Ausweitun-                    technischer Ausstattung drastisch zu stärken, um Krimi-
gen des Sexualstrafrechts hatte bereits 2016 resumiert, ein                nalität wie Herstellung und Vermarktung kinderpornogra-
Großteil der Sonderregelungen für Sexualdelinquenten sei                   fischen Materials besonders im Internet und Darknet bes-
aus kriminologischer Sicht nicht berechtigt; vielmehr                      ser aufspüren und verfolgen zu können; rechtlich ist hier-
habe sich für diese Tätergruppe ein weitgehend symboli-                    bei u.a. die „Vorratsdatenspeicherung“ zu klären; allge-
sches Sonderrecht etabliert.7                                              mein muss die Polizeiorganisation auf die veränderte Ver-
                                                                           brechenswirklichkeit mit einer sich zunehmend von der
Wegen dieser Fehlentwicklung ist an verantwortliche Po-                    realen in die digitale Welt verlagernden, grenzüberschrei-
litiker und Politikerinnen zu appellieren, die Kritik zu prü-              tenden Tatbegehung umgestellt werden; konkret sind vor
fen und das Vorhaben einer Strafrechtsverschärfung zur                     allem die Bemühungen der EU-Kommission zu unterstüt-
Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder im Sinne                      zen, Internetdienstleister zu verpflichten, das Einstellen
eines umfassenden Programms nachhaltigen Kinder-                           oder „Teilen“ entsprechender kinderpornografischer In-
schutzes und längerfristig eventuell einer sinnvollen und                  halte aufzuspüren, diese Inhalte zu löschen und zu melden
stimmigen Gesamtreform des Sexualstrafrechts zu über-
denken.

In einem solchen Programm kann Strafrecht bedeutsam
sein mit angemessenen Maßnahmen materiell- oder ver-
fahrensrechtlicher Art, gegebenenfalls auch mit Straf-
rechtsausweitungen, aber eben nur ergänzend und system-
gerecht. So war es beispielsweise durchaus angebracht,
das sog. „Upskirtung“ strafrechtlich nunmehr ausdrück-
lich in § 184k StGB zu erfassen.8 Bei sexueller Gewalt

6                                                                          9
    Aus jüngster Zeit beispielhaft nur: Eisele, o. Fn. 3; Hoernle, FAZ         Vgl. Beier, Sexuellem Kindesmissbrauch vorbeugen – Das Präven-
    v. 2.7.2020, S. 7; Kreuzer, offener Brief an Rechtspolitiker v.            tionsnetzwerk „Kein Täter werden“, Vortrag auf dem 19. Deutschen
    22.7.2020, o. Fn.*.                                                        Präventionstag,    Karlsruhe,   12.5.2014,     abrufbar    unter:
7
    Steiger, Gleiches Recht für alle – auch für Sexualstraftäter?, 2016.       https://www.praeventionstag.de/nano.cms/vortraege/id/2767 (zu-
8
    BT-Drs. 19/20668; beschlossen am 6.7.2020.                                 letzt abgerufen am 1.9.2020).
266   KriPoZ 5 | 2020

         und ein europäisches Zentrum für die Bekämpfung von                     Hier wie sonst ist der empirisch-kriminologische Befund
         Kindesmissbrauch (NCMEC) zu schaffen. 10                                zu bedenken, dass bei allen Deliktsarten das Gros der tat-
                                                                                 sächlich von dem Tatbestand erfassten Sachlagen am un-
         II. Wichtigste Punkte der Kritik im Einzelnen:                          teren Ende der Schuldschwere und Strafwürdigkeit liegt,
                                                                                 mitunter an der Grenze dessen, was sich allenfalls noch
         1. Etliche von Politikern vorgebrachte Begründungen für                 vom Straftatbestand erfassen lässt. Aus diesem Grund
         die Notwendigkeit von Strafrechtsverschärfungen sind                    muss in unserem System der Strafandrohungen die jewei-
         populistisch und sachfremd. Das gilt besonders für Kon-                 lige Untergrenze der Strafe möglichst flexibel bleiben.
         sequenzen bei Tätern, die wie jene in Münster und Ber-                  Schwere und schwerste Taten sind vergleichsweise selten;
         gisch Gladbach schweren Kindesmissbrauch begehen.                       gerade deswegen weisen Verurteilungsstatistiken nur ge-
         Bereits das geltende Recht sieht für sie Freiheitsstrafen               ringe Anteile von Strafen im obersten Bereich aus; das
         von zwei bis zu 15 Jahren vor. Die Strafrahmen sind aus-                wird geflissentlich verkannt in mancher Justizschelte.
         reichend. Hinzu kommen möglicherweise langjährige                       Man denkt in der öffentlichen und politischen Diskussion
         oder sogar lebenslang währende Unterbringungen in                       um Strafrechtsverschärfungen jeweils an die schweren,
         psychiatrischen Kliniken oder in Einrichtungen der Siche-               massenmedial vermittelten, Empörung auslösenden Ta-
         rungsverwahrung; dies gilt namentlich für tatsächlich pä-               ten; die dann mit erfassten relativ leichten Taten verliert
         dophil ausgerichtete Täter; sie dürften jedoch eine Min-                man aus dem Blick.
         derheit ausmachen, weil sich unter entsprechend übergrif-
         figen Personen in erster Linie sexuell an sich normal Ver-              Allgemein wird in diesem Zusammenhang unangemes-
         anlagte und Gelegenheitstäter sowie sehr junge Täter be-                sene richterliche Milde gerügt; üblich ist es, auf häufige
         finden. Insbesondere der Vergleich mit Diebstahlsdelikten               Strafaussetzungen zur Bewährung und die erwähnten sel-
         geht völlig fehl.                                                       teneren Strafen im oberen Bereich der Strafrahmen hinzu-
                                                                                 weisen. Für insgesamt zu nachsichtiges Strafen gibt es in-
         Auch erscheinen sprachlich-kosmetische Änderungen we-                   des keine wissenschaftlichen Belege. Allerdings gilt auch
         nig hilfreich. So ist die Änderung der Überschrift des                  die Annahme sich verstärkender „Punitivität“ in der Straf-
         § 176 StGB „Sexueller Missbrauch von Kindern“ in „Se-                   justiz nicht als gesichert. Die Strafmentalität der Justiz er-
         xualisierte Gewalt gegen Kinder“ sprachlich ein Missgriff               scheint nach kriminalstatistischen Untersuchungen als
         (wenn schon eine Änderung sein soll, warum dann nicht                   ziemlich konstant. Mitunter sind aber Anzeichen partiell
         einfach „sexuelle Gewalt“?); sie weicht überdies unnötig                zunehmender justizieller Strafhärte zu erkennen, etwa im
         ab von den international geläufigen Termini „child abuse“               Bereich der Gewalt- und Sexualkriminalität.11 Öffentliche
         und „sexual violence“; sie ist vor allem inhaltlich irrefüh-            Kritik an zu milder Justiz wirkt sich gelegentlich auf Ver-
         rend: Der jetzige und der neu konzipierte Straftatbestand               urteilungen aus. Ein Beispiel dafür ist die zunehmend rest-
         umfassen weit mehr als nur gewaltsame Handlungen; mit                   riktive Praxis, Langzeitgefangene aus Haft und Unterbrin-
         der neuen Überschrift wird also fälschlich „Gewalt“ auch                gung zu entlassen. Ein weiteres Beispiel sind neueste „Ra-
         auf nicht gewaltsame Handlungen bezogen und dadurch                     ser“-Urteile; in ihnen wird das „Lebenslang“ verhängt;
         ein unnötiger Interpretationsstreit heraufbeschworen. Au-               nicht einmal der BGH prüft dabei, ob sich die für Mord
         ßerdem findet sich der Begriff des Missbrauchs gleichfalls              zwingend angedrohte höchste Strafe hier mit dem verfas-
         in anderen Straftatbeständen der §§ 174 ff. StGB. „Miss-                sungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinba-
         brauch“ steht nicht dem „Gebrauch“ einer Person gegen-                  ren lässt, obwohl kein direkter, allenfalls ein „bedingter“
         über, vielmehr ist eine übergriffige Ausnutzung von Er-                 – der Fahrlässigkeit naher – Tötungsvorsatz nachweisbar
         ziehungs-, Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungs-                    ist. Abgesehen davon geht das Argument, man müsse der
         verhältnissen gemeint. Das lassen bereits die amtlichen                 in häufigen Strafaussetzungen zur Bewährung bei Kindes-
         Überschriften erkennen.                                                 misshandlung sichtbar werdenden strafgerichtlichen Hal-
                                                                                 tung durch eine Einstufung als „Verbrechen“ begegnen,
         2. Zu erwägen ist zwar, den Grundtatbestand sexuellen                   fehl, denn auch sie ließe bei einjähriger Mindeststrafe und
         Missbrauchs von Kindern in § 176 StGB teilweise zu ei-                  Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren noch Bewährungsstra-
         nem Verbrechen hochzustufen. Das setzt aber dreierlei                   fen zu.
         voraus:
                                                                                 Zum Zweiten setzt jede Anhebung eines Vergehens zum
         Zum Ersten muss der Verbrechens-Tatbestand dann auf                     Verbrechen voraus, dass man für die vom Wortlaut des
         gewaltsames sexuelles Verhalten und auf bislang als be-                 Tatbestands mit erfassten viel häufigeren leichteren Taten
         sonders schwere Fälle gekennzeichnete Sachlagen be-                     "minder schwere Fälle" mit geringeren Mindeststrafen
         schränkt werden; ansonsten würden vergleichsweise ba-                   vorsieht. Wiederum populistisch, sachlich unzutreffend
         nale Fälle mit erfasst und der individuellen Schuld ange-               ist das Gegenargument, bei „Kindesmissbrauch“ könne es
         messene Verfahrensabschlüsse und Strafen verhindert.                    keinen „minder schweren Fall“ geben; jeder Fall sei gra-
         Man denke nur an sexuelle Verhaltensweisen wie heftige                  vierend; Opfern sei es nicht zuzumuten, wenn man als
         Küsse schon 18-Jähriger gegenüber unter 14-Jährigen.                    „minder schwer“ einordne, was ihnen zugestoßen sei.

         10                                                                      11
              Vgl. zu Letzterem: Gutschker, FAZ v. 25.7.2020, abrufbar unter:         Vgl. z.B. Übersicht bei Drenkhahn et al., KriPoZ 2020, 104 ff;
              https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-will-kampf-gegen-        Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionie-
              kindesmissbrauch-aufnehmen-16875142.html (zuletzt abgerufen             rungspraxis in Deutschland 1882-2012, abrufbar unter:
              am 1.9.2020); Johansson, ZEIT ONLINE v. 24.7.2020, o. Fn. 5;            http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in-
              Stock/Goger, Cybercriminalität – eine Parallel-Pandemie? FAZ            Deutschland-Stand-2012.pdf (zuletzt abgerufen am 1.9.2020); ders.
              v. 30.7.2020, S. 6.                                                     zur Punitivitäts-These nach älteren Daten: NK 2011, 14 ff.
Kreuzer – Kindesmissbrauch und Kinderpornografie                                                              KriPoZ 5 | 2020                       267

Ähnlich wurde früher bezüglich der Vergewaltigung ge-                   bei uns und international kritisch erörterte „Besitzbestra-
gen Frauen argumentiert. Um sprachlich Missverständ-                    fung“ (z.B. bei Drogen und Pornografie) sei nur am Rande
nisse zu beheben, wurde von uns wiederholt vorgeschla-                  hingewiesen; solche Fragwürdigkeit hat immerhin seiner-
gen, in der Gesetzesterminologie statt der Grundtatbe-                  zeit unser BVerfG veranlasst, die Verhängung von Strafen
stände und „minder“ oder „besonders schwerer Fälle“ Ta-                 für Besitz und Erwerb geringer Mengen von Cannabis
ten ersten, zweiten oder dritten Grades vorzusehen. Jetzt               zum eigenen Gebrauch nach dem Verhältnismäßigkeits-
aber bei einer Verbrechensart den „minder schweren Fall“                prinzip für verfassungswidrig zu bezeichnen.14 Ähnliches
auszuschließen, wie es das „Reformpaket“ für den bishe-                 wäre zu erwarten für entsprechende Strafen bei bloßem
rigen § 176a Abs. 4 StGB vorsieht, bedeutet einen Sys-                  Anklicken oder Ansehen kinderpornografischen Materi-
tembruch. Die Bundesjustizministerin gibt dafür kein                    als im Internet, zumal, wenn es zum „Verbrechen“ hoch-
nachvollziehbares Argument. Sie setzt sich sogar in völli-              gestuft werden soll. Dieses Verhalten überhaupt zu krimi-
gen Widerspruch zu der von ihrem Vorgänger beauftrag-                   nalisieren, wird von Betroffenen gelegentlich kritisiert,
ten Reformkommission für das Sexualstrafrecht; die hatte                weil man damit eine Minderheit pädo- oder hebephil ori-
2017 umgekehrt empfohlen, bei §§ 176 Abs. 1 Nr. 2, 176a                 entierter Menschen kriminalisiert und diskriminiert, die
Abs. 3 StGB zusätzlich „minder schwere Fälle“ vorzuse-                  darin einen Ausweg sieht, sich ersatzweise zu befriedigen,
hen sowie die Strafschärfung für Wiederholungstäter in                  ohne übergriffig zu werden. Nach der wissenschaftlichen
§ 176a Abs. 1 StGB zu beseitigen.12 „Minder schwere                     Befundlage kann aus bloßem Besitz keineswegs auf eine
Fälle“ zu streichen hätte zur Folge, dass sich Strafverfol-             dadurch stimulierte Bereitschaft, entsprechende Neigun-
gungsbehörden oder Gerichte gedrängt sehen könnten,                     gen in aktives Tun umzusetzen, geschlossen werden.
Umgehungsstrategien zu (er)finden, um in diesen Fällen                  Wenn man das digitale „Konsumverhalten“ dennoch gut
ungerechte Übermaßstrafen zu vermeiden.13 In der Wirk-                  vertretbar strafrechtlich erfasst, gestützt darauf, dass es
lichkeit weitaus häufigere Fälle verhältnismäßig geringer               eine Art „Hehlerei“ an strafbar durch Kindesmisshand-
Schwere gelangen allerdings selten in die Strafverfol-                  lung zustande gekommenem Material darstellt, müssen
gung; wenn sie dort dennoch landen, stehen Entschei-                    Verfahrenseinstellungen oder Geldstrafen im Strafbe-
dungsträger in diesem Dilemma zwischen Gesetzesumge-                    fehlsverfahren möglich bleiben. Vor allem in der schuli-
hung oder Übermaßstrafe. Sollte es zu entsprechenden                    schen Medienerziehung ist digitaler Pornomaterial-Kon-
Übermaßstrafen kommen, sind schon jetzt Korrekturen                     sum angemessen aufzugreifen, gerade weil er wohl täglich
durch das BVerfG im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprin-                 zig-tausendfach vorkommt, und zwar ganz überwiegend
zips absehbar. Verantwortungsvolle Politik sollte das er-               bei jungen Menschen, die weder sexuell entsprechend dis-
kennen und vermeiden. Sonst sind für derartige Rechts-                  poniert sind noch übergriffig werden. Grenzen strafrecht-
Umgehungen oder für im Einzelfall ungerechte Verurtei-                  lichen Vorgehens im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprin-
lungen nicht allein die Gerichte verantwortlich; vor allem              zips müssen jedoch gewahrt bleiben. Ganz allgemein ist
ist es der Gesetzgeber, der solche Folgen ignoriert.                    daran zu erinnern, dass eine frühere Vorschrift über zwin-
                                                                        gend höhere Strafen bei Wiederholungstätern zurückge-
Zum Dritten verlangt eine Anhebung zum „Verbrechen“,                    nommen werden musste; wissenschaftlich war nämlich
das Gesamtsystem der Strafandrohungen in allen ver-                     nachgewiesen, dass diese Strafschärfung häufig die Fal-
gleichbaren Straftatbeständen des StGB zu überprüfen. So                schen traf und Haftanstalten unnötig belastete. Ebenso
sind Menschenhandel zur sexuellen oder Ausbeutung als                   sollte die Erfahrung in den USA mahnen; dort hatten in
Arbeitskraft (§§ 232, 233 StGB), Entziehung Minderjäh-                  einigen Staaten gesetzlich festgelegte drastische Mindest-
riger (§ 235 StGB), Kinderhandel (§ 236 StGB), aber auch                strafen für Wiederholungstäter zu unerträglicher Überfül-
Freiheitsberaubung und Erpressung (§§ 239, 253 StGB)                    lung von Haftanstalten beigetragen.
bislang „Vergehen“.
                                                                        Ohnehin scheint man sich bei dem „Reformpaket“ offen-
3. Damit ist bereits Wesentliches ausgeführt zu vorgese-                bar kaum Gedanken gemacht zu haben um Folgen für Res-
henen Anhebungen von Mindeststrafen. Ohne in Details                    sourcen bei Polizei, Justiz und Haftvollzug. Sollten die be-
zu gehen, über die man streiten kann, gilt generell: Min-               stehenden und vorgesehenen weiteren Meldepflichten für
deststrafen verbauen den Weg, eher bagatellhaften Fällen                Messengerdienste tatsächlich greifen, würden zu den der-
individuell gerecht zu werden im Verfahren und in der                   zeit 170 täglichen Meldungen pornografischer Internet-
Strafzumessung. Das gilt ganz besonders für Alltags-Mas-                Inhalte an das BKA15 Hunderte zusätzlicher Meldungen
sendelikte wie den Erwerb und (sogar bloß versuchten:                   kommen. Das liefe, wenn die Kapazitäten für ordnungs-
§ 184b Abs. 4 StGB) Besitz kinderpornografischen Mate-                  gemäße Auswertung geschaffen und entsprechend viele
rials, etwa das bloße Anklicken eines kinderpornografi-                 Tatverdächtige ermittelt würden, auf jährlich viele Tau-
schen Links im Internet; das soll nach dem „Reformpaket“                sende zusätzlicher Strafverfahren hinaus. Würden außer-
als Besitz/Besitzverschaffung mit Freiheitsstrafe von ei-               dem die neuen Strafrahmen angewandt und seltener Ver-
nem bis zu fünf Jahren bestraft werden. Auf die ohnehin

12                                                                      13
     Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht,             Derartige Umgehungsstrategien wurden seinerzeit nachgewiesen
     dem Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas          für Tötungsdelikte, als noch die lebenslange Freiheitsstrafe obliga-
     vorgelegt       am         19.7.2017,      abrufbar       unter:        torisch ausnahmslos galt nach § 211 StGB und das BVerfG noch
     https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Studien-            nicht nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Ausnahmen ange-
     UntersuchungenFachbuecher/Abschlussbericht_Reformkommis-                mahnt hatte: Kreuzer, ZRP 1977, 49 ff; BVerfGE 45, 187 ff.
                                                                        14
     sion_Sexualstrafrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1    (zuletzt        BVerfG, Beschl. v. 9.3.1994, BVerfGE 90, 145 ff; dazu Kreuzer,
     abgerufen am 1.9.2020).                                                 NJW 1994, 2400 ff.
                                                                        15
                                                                             Biermann et al., DIE ZEIT vom 23.7.2020, o. Fn. 4.
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         fahren eingestellt werden oder mit Bewährungstrafen en-                 gehen, ohne dass NS-Unrecht argumentativ bemüht wer-
         den, gelangten jährlich mehrere Tausend Verurteilte zu-                 den könnte. Zwar wünschte man sich, jeder, der Gewalt –
         sätzlich in die Haftanstalten. Diese würden überfüllt. Will             sexuell oder anders motiviert – gegen Kinder verübe,
         man das? Oder vertraut man auf das Gesetz der „Homö-                    müsse lebenslang mit Verfolgung rechnen. Doch ist zu be-
         stase“, wonach Verfolgungsbehörden, Justiz und Voll-                    denken, dass strafrechtliche Verfolgung irgendwann ver-
         zugseinrichtungen selbst dafür sorgen, dass sich im Ge-                 wirkt ist aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen: Je
         samtsystem quantitativ ein Gleichgewicht erhält, welches                länger die Tat zurückliegt, umso schwieriger wird die Be-
         sich vorhandenen Kapazitäten anpasst und die Norman-                    weisführung; dies gilt erst recht, wenn es sich um Taten
         wendung entsprechend modifiziert? Das wäre zugleich                     handelt, die überwiegend im sozialen Nahraum geschehen
         rechtsstaatlich unverantwortliche Politik.                              und die meist nur von Tätern und Opfern durch eindeutige
                                                                                 Zeugenaussagen aufgeklärt werden können. Erinnerungs-
         4. Kritisch zu beurteilen ist weiterhin das Vorhaben des                schwächen und Veränderungen, denen sich Erinnerungen
         „Reformpakets“, die Untersuchungshaftgründe erneut                      mit der Zeit ausgesetzt sehen, sind hinlänglich wissen-
         auszuweiten, dieses Mal bei schwerer sexueller (oder an-                schaftlich belegt. Die Folge ist, dass bei späten Verfahren
         derer) Gewalt gegen Kinder – angeblich – ohne Vorhan-                   zweierlei Gefahren bestehen: Entweder werden – dies in
         densein eines Haftgrundes der Flucht- oder Verdunke-                    aller Regel – die Verfahren eingestellt bzw. die Täter frei-
         lungsgefahr (§ 112 Abs. 3 StPO). Die Einfügung eines                    gesprochen mangels Beweises; dann erweist sich die Auf-
         „absoluten“ Haftgrundes bloßer Tatschwere (Mord und                     schiebung der Verjährung als Bumerang: Opfer sehen sich
         Totschlag) ohne Nachweis von Flucht- oder Verdunke-                     erneut gedemütigt. Oder es werden Fehlverurteilungen in
         lungsgefahr war 1965 bereits ein Sündenfall, allein ver-                Kauf genommen. Das allein ist Grund genug, an Verjäh-
         ständlich durch die Anlasstat, ein NS-Verbrechen. Seiner-               rungsfristen zwingend festzuhalten. Nicht zuletzt Opfer-
         zeit wurde ein solcher „Haftgrund der Empörung“ heftig                  schutz gebietet dies.
         von Wissenschaftlern kritisiert; es werde dadurch zugelas-
         sen, entgegen der Unschuldsvermutung und ohne erkenn-                   6. Schließlich werden neuestens Forderungen erhoben, le-
         bare Gefahr für die Verfahrensdurchführung eine noch                    benslang in polizeilichen Führungszeugnissen Verurtei-
         nicht verhängte Strafe vorweg zu vollziehen, weil man an-               lungen wegen Kindesmissbrauchs anzugeben. Jegliche
         sonsten im Falle tatsächlicher späterer Flucht öffentliche              Befristung soll nach einem Beschluss des Bundesrats auf-
         Empörung auslöse; außerdem sei zu befürchten, dass der                  gehoben werden.17 Moderater sind die bloßen Fristverlän-
         Gesetzgeber bei nächsten schweren Verbrechen anderer                    gerungen, die das „Reformpaket“ vorsieht. Bislang galt
         Art diesen Haftgrund als Modell betrachte und ausweite.                 nach dem BZRG etwa für das einfache polizeiliche Füh-
         So ist es in der Tat 1984 geschehen. Nun soll es sich wie-              rungszeugnis, das auf Anforderung jedem Arbeitgeber
         derholen. Erneut würde der Gesetzeswortlaut zudem irre-                 vorzulegen ist, im Falle einer Verurteilung zu Jugend-
         führend suggerieren, es bedürfe keiner Gefahr für die                   oder Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr eine Befris-
         Durchführung des Verfahrens wegen möglicher Flucht                      tung von 10 Jahren. In dem erweiterten Führungszeugnis,
         oder Verdunkelung. Dagegen ist verfassungsgerichtlich                   dessen es bedarf, wenn es um beruflichen oder ehrenamt-
         entschieden, dass für Untersuchungshaft immer eine Ge-                  lichen Umgang mit Kindern geht, beträgt die Frist 20
         fährdung des Verfahrens nötig ist; bei solchen schwersten               Jahre. Um des nötigen Schutzes vor Missbrauchstätern
         Taten werden lediglich geringere Anforderungen an den                   willen sind diese Regelungen zu überdenken. Das erwei-
         Nachweis gestellt.16 Ohnehin dürfte dieser neue Haft-                   terte Führungszeugnis tatsächlich vorzulegen, sollte aller-
         grund überflüssig sein bei vermutlich pädophilen Tätern                 dings Pflicht werden. Nur ist vor Übermaß zu warnen.
         schwerer sexueller Gewalt gegen Kinder wie denen in                     Nicht umsonst hat das BVerfG sogar bei der Verurteilung
         Münster, weil bereits der Haftgrund einer Wiederholungs-                zur lebenslangen Freiheitsstrafe Lockerungen nach dem
         gefahr (§ 112a StPO) anzunehmen ist.                                    verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip ein-
                                                                                 gefordert: Keine Strafe darf von vornherein ausnahmslos
         5. Verschiedentlich deuten sich darüber hinaus Bestrebun-               bis zum Tod reichen. Für jeden ist grundsätzlich eine
         gen an, die Verjährungsfristen bei Sexualdelikten gegen                 zweite Chance zu wahren.18 Selbstverständlich gelten das
         Kinder nochmals auszuweiten. Vorangegangene mode-                       so bekräftigte Verhältnismäßigkeitsprinzip und Resoziali-
         rate Ausweitungen bei Kindesmisshandlung waren noch                     sierungsgebot auch für strafverwandte Maßnahmen. Und
         nachvollziehbar, weil man Anzeigen ermöglichen wollte,                  wohl begründet setzen Berufsverbote (§ 70 StGB), die äu-
         zu denen sich Betroffene erst im Erwachsenenalter durch-                ßerstenfalls lebenslang bestehen, eine strafgerichtliche
         ringen. Aber es sind verfassungsrechtlich und strafpro-                 Prüfung der individuellen Gefahrenprognose voraus. Le-
         zessual Grenzen zu beachten. Verjährungsfristen sind                    diglich in erweiterten Führungszeugnissen sollte daher ein
         rechtsstaatlich begründet. Zu einer markanten Ausnahme                  lebenslanger Eintrag zulässig sein und dieser gleichfalls
         hatte man sich ehemals entschieden, als die Verjährungs-                nur nach möglichst richterlicher Einzelfallprüfung; insbe-
         frist 1965 und 1969 ausgeweitet und 1979 für Mord ganz                  sondere müssen Ausnahmen möglich bleiben bei sehr jun-
         aufgehoben wurde – erneut anlässlich von Taten, die mit                 gen und bei Gelegenheitstätern ohne pädo- oder hebephile
         dem Holocaust zusammenhingen. Es war historisch be-                     Neigungen sowie bei weniger schweren Taten.
         gründet und nur insofern hinnehmbar. Nun soll es weiter-

         16                                                                      17
              BVerfGE 19, 342 ff.; auf diesen Beschluss wird im „Reformpaket“         BR-Drs. 645/19.
                                                                                 18
              (o. Fn. 2) zwar als Begrenzung hingewiesen, der irreführende Ge-        BVerfGE 45, 187 ff.
              setzeswortlaut wird aber beibehalten.
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