Amores Perros - Aufbruch in Mexiko Spiegel einer Gesellschaft

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Amores Perros - Aufbruch in Mexiko
                             Spiegel einer Gesellschaft

Eine Hausarbeit für das Seminar Filme und Filmtheorien (SM04) bei Prof. Carlos Bustamante

Georg Neumann
Matrikelnummer: 350678

Böckhstr. 49
10967 Berlin
(030) 616 25 990
(0160) 1666 415
georgneu@gmx.net
la opinión es lo más sútil del ser humano
                     Jorge Luis Borges

                             para Susana

       1
amores perros
2000 México Color

Eine Produktion von:          Altavista Films y Z Films
Dauer:                        140 min
Ton:                          Dolby Digital
Regie:                        Alejandro Gonzáles Iñárritu
Regieassistenz:               Carlos Hidalgo
Produktion:                   Alejandro Gonzáles Iñárritu
Ausführende Produzenten:      Francisco Gonzáles Compeán und Martha Sosa Elizondo
Drehbuch:                     Guillermo Arriaga
Kamera:                       Rodrigo Prieto
Produktionsdesign:            Brigitte Boch
Kostüme:                      Gabriela Diaque
Schnitt:                      Luis Carballar, A. Gonzáles Iñárritu und Fernando Pérez Unda
Tondesign:                    Martín Hernández
Musik:                        Gustavo Santaolalla
Musikalische Aufsicht:        Lynn Fainchtein
Vertrieb:                     Manuel Tel

Darsteller:
Emilio Echevarría (el Chivo), Gael García (Octavio), Bernal Goya Toledo (Valeria Maya), Álvaro
Guerrero (Daniel), Vanessa Bauche (Susana), Jorge Salinas (Luis Miranda Solares), Marco Pérez
(Ramiro), Rodrigo Murray (Gustavo), Humberto Busto (Jorge), Gerardo Campbell (Mauricio),
Rosa María (tía Luisa), Bianchi Dunia Saldívar (mamá de Susana), Adriana Barraza (mamá de
Octavio), José Sefami (Leonardo), Lourdes Echevarría (Maru), Laura Almela (Julietta), Ricardo
Dalmacci (Andrés Salgado), Gustavo Sánchez Parra (Jarocho), Dagoberto Gama (Álvaro),
Gustavo Muñoz (el Chispas), Carlos Bernal (Javier), Rodrigo Obstab (el Jaibo), Edgar González
(Rodrigo, bebé de Susana), Hilda González (cajera), Patricio Castillo (doctor), Roberto Medina
(conductor de televisión), Ángeles Marín (conductora de televisión), Ana María González
(enfermera), Carlos Samperio (hombre del „deshuesadero“), T. Kazuyo (señora gorda), Togawa
Adriana Varone (amante de Luis), Bruno Salgado (el Champignon), Adriana Islas (Lina), Regina
Abad (Jimena), Leoncio Torres (el Pelón), Luisa Geliz (secretaria de Daniel), Jena-Paul Bierry
(hombre en la junta), Alma Rocío González (mujer en la junta), Mauricio Martínez (judicial), Juan
Manuel Ramos (policía), Ernesto Bog (hombre 1), José Luis Barraza (hombre 2), Jorge Arellano y
Jonathan Herrera (niños cuidadores), Heriberto Castillo (extraño)

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Inhaltsverzeichnis

1     Einführung                                   3
2     Film und Thema - Ein politischer Film?       4
3     Mexiko im Jahr 2000                          6
4     Das Politische liegt im Privaten             8
4.1   Octavio und sein Traum                       9
4.2   Daniel und sein Traum                        11
4.3   El Chivo und sein Traum                      13
4.4   Die Realität                                 15
5     Die Gesellschaft                             16
5.1   Der Hund                                     17
5.2   Das Geld                                     20
5.3   Die Korruption                               21
5.4   Die Gewalt                                   22
6     Der Kontrast                                 24
7     Die Hoffnung                                 26
8     Literaturverzeichnis                         28

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1        Einführung

Der Debüt-Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Iñárritu „Amores Perros“
kommt am 15. Juni in die Kinosäle, zwei Wochen vor den mexikanischen Präsidentschaftswahlen
am 2. Juli 2000, nachdem er auf dem Filmfestival in Cannes die Lorbeeren der internationalen
Kritik empfangen konnte. Er wird zu einem der erfolgreichsten Filme in der Geschichte des
mexikanischen Films.

Was steckt hinter dem Erfolg?
„Die Filme einer Nation reflektieren ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische
Medien.“ schreibt Kracauer in der Einleitung zu seiner Geschichte des deutschen Filmes, und
weiter: „Von populären Filmen - oder genauer gesagt, von populären Motiven der Leinwand - ist
daher anzunehmen, dass sie herrschende Massenbedürfnisse befriedigen.“ (Kracauer, Siegfried
(1993): S. 11)
Der Film behandelt also Motive und Stimmungen, die in der Gesellschaft Mexikos im Jahre der
Jahrtausendwende unbewusst vorhanden sind. Es gilt sie zu untersuchen und herauszufiltern, um
einen Eindruck des Mexikos im Jahre 2000 zu bekommen. Was bewegt die Menschen? Was führt
sie zum historischen Wahlergebnis zwei Wochen später?

Nachdem ich diesen Film gesehen hatte, verließ ich beeindruckt den Kinosaal. Die Besucher des
Kinos sind, für das mexikanische Publikum eher ungewöhnlich, noch in den Kinosesseln sitzen
geblieben. Ich hatte während dem Film das Gefühl, dass Leben und Kultur Mexikos unglaublich
realistisch und gleichzeitig mit viel Gefühl dargestellt waren. Vieles, was ich während meines
zweijährigen Aufenthaltes in Tijuana erlebt habe und was mich bewegt hat, konnte ich in der
Darstellung innerhalb des Filmes wiederfinden. „Muy realista“ war auch eines der Kommentare,
das ich immer wieder hören konnte.

Um es mit den Worten des Regisseurs zu formulieren:
„No te suelto un segundo: te golpeo, te acaricio, te doy un beso, te violo, te remuevo los
intestinos, te doy un masaje, te hago reír, te escupo. (...) Reto a cualquier espectador que en medio
de la película tenga ganas de ir al baño que lo haga, si sucede, le devuelvo su entrada.“1

1
  Interview in La Jornada vom 10. Mai 2000
„Ich lasse dich keine Sekunde los: ich schlage dich, ich streichele dich, ich gebe dir einen Kuss, ich vergewaltige dich,
ich dreh dir den Magen um, ich gebe dir eine Massage, ich bringe dich zum Lachen, ich spucke dich an. (...) Ich
wette mit jedem Zuschauer, dass, wenn er mitten im Film Lust bekommt aufs Klo zu gehen, er gehen soll, wenn es
vorkommen sollte, dann gebe ich ihm sein Eintrittsgeld zurück.“

                                                           4
2        Film und Thema - Ein politischer Film?

Amores Perros behandelt drei Lebensschicksalen in Mexiko-Stadt.
Octavio möchte mit der Frau seines Bruders, Susana, ein neues Leben anfangen und verdient das
Geld für den Neuanfang, indem er seinen Hund Cofi bei Hundekämpfen antreten lässt.
Daniel verlässt Ehefrau und Kinder, um mit dem Model Valeria zusammenzuziehen. Bei einem
Autounfall, wird sie schwer verletzt, was die Beziehung zu Daniel auf eine schwere Probe stellt.
El Chivo, desillusionierter Revolutionär und Penner, verdient sich als Auftragskiller seinen Le-
bensunterhalt und trauert seiner Tochter nach, die er für ein politisches Ideal verlassen und so nie
kennen lernen konnte.
Diese drei, auf völlig verschiedenen sozialen wie auch emotionalen Ebenen spielenden Geschich-
ten, treffen bei einem Autounfall kurz aufeinander, um dann wieder auseinander zu gehen.
Das Thema des Filmes ist das Leben. Das Schicksal der drei männlichen Hauptpersonen wird in
das Leben in Mexiko-Stadt im Jahr 2000 eingebettet, es werden drei Konflikte aus drei Gesell-
schaftsschichten erzählt.

Der Film schließt sich nur bedingt den Rezepten und Regeln der zuvor kommerziell erfolg-
reichen Komödien „Sexo, pudor y lágrimas“ (1998) von Antonio Serrano (6 Millionen
Zuschauer, der best besuchte mexikanische Film bis dato) oder Fernando Serrañas „Todo el
poder“ (1999).
Diese Filme spielen ebenfalls in dem Moloch Mexiko-Stadt, die Hauptpersonen gehören aber
einer jungen, mehr oder weniger erfolgreichen Mittelklasse an. „Sexo, pudor y lágrimas“ ist eine
Telenovela im Kinoformat, drei Paare und erotisch-psychische Verwicklungen2 stehen im
Mittelpunkt. Gesellschaftliche Problematiken kommen nur am Rande vor. In „Todo el poder“
wird auf sehr humoristische Art und Weise das Problem der Korruption und der Gewalt
thematisiert. Eine Entwicklung der Charaktere, die ebenso ausschließlich der Mittelklasse ange-
hören („el largometraje es (...) un clasista abandono a toda temática de la pobreza“3), findet aller-
dings nicht statt, vielmehr werden stereotypische Figuren gezeigt.
Luis Estradas „La Ley de Herodes“ (1999) ist ein weiterer Film, der auf der Erfolgswelle dieses
neuen mexikanischen Kinos schwimmt. Angekündigt und promoviert als politisch-humor-
istischer und eher leicht verträglicher Film im Stile von „Todo el poder“ ist er jedoch nicht
gleichermaßen erfolgreich. Was schade ist, denn die massive Kritik am Staatsapparat der PRI ist

2
  Ayala Blanco kritisiert in „La fugacidad del cine mexicano“ (S.439) das Thema bissig mit: „Sexo, pudor y lágrimas
tiene como mayor objetivo promover la banalización de la potencia orgásmica.“ („Das wichtigste Ziel des Filmes
„Sexo, pudor y lágrimas“ ist, die Banalisierung der Macht des Orgasmus zu fördern.“)

                                                         5
auf außerordentliche Weise herausgestellt, so klar und deutlich, dass er zunächst sogar zensiert
wurde und wahrscheinlich so für die Masse der Kinobesucher nicht tauglich.
„En el país de no pasa nada“ (2000) von María del Carmen de Lara ist ein weiterer Film dieses
Zeitraumes, aus emanzipierter Sicht, der die Probleme Gewalt und Korruption im Föderaldistrikt
thematisiert und ins Lächerliche treibt.

In Amores Perros werden auch politische Probleme behandelt: Korrupte Polizisten, Gewalt, die
soziale Situation der Familie, die politische Ignoranz und Unwissenheit der nicht-politischen
Oberschicht4 und nicht zuletzt die Armut.
Das Politische verbirgt sich jedoch hinter den persönlichen Schicksalen der Charaktere. Nicht das
politische Thema ist Inhalt des Filmes, es wird vielmehr innerhalb der alltäglichen Szenen der
Leben der Personen dargestellt. Die Gewalt in Mexiko-Stadt personifiziert sich in dem Mörder El
Chivo, durch den „Gefallen“ für Octavio, der seinen Bruder brutal zusammenschlagen lässt.
Dadurch erlangt der Film eine höhere Authentizität und Intensität. Die Problematiken werden
greifbar und bleiben nicht abstrakt, noch werden sie ins Lächerliche verformt.

Amores Perros splittert das Panorama der Gesellschaft in Mexiko auf. Er verbindet die
Schicksale dreier sich völlig unbekannter Personen, die sich während des Filmes nie persönlich
begegnen, anhand eines Autounfalls. Gleichzeitig lässt er sich Zeit, um unterschiedliche
Geschichten zu erzählen, drei Sichtweisen einer Stadt, drei Leben in einer Gesellschaft. Drei Mal
Leben in Mexiko, Leben in Mexiko-Stadt.

Amores Perros ist so sicherlich wesentlich politischer als Filme wie „Todo el poder“ oder „En el
país de no pasa nada“, schon allein weil er die Problematiken differenzierter auffächert.
Wie aber stellt sich die politische Situation in Mexiko vor den Wahlen im Jahr 2000 dar und wie
kann politisches Kino aussehen und trotzdem erfolgreich sein? Wie beschreibt Amores Perros die
Gesellschaft Mexikos?

3
 Ayala Blanco, S. 471: „Dieser Klassenspielfilm ist von jeder Thematik der Armut verlassen.“
4
 Gustavo kommentiert gegenüber dem Polizisten die politische, kommunistische Vergangenheit el Chivo’s mit den
Indígenaaufständen in Chiapas: „así como los zapatistas, no?“ („so wie die Zapatisten, oder?“)

                                                      6
3         Mexiko im Jahr 2000

Das Jahr 2000: Ein einschneidendes Jahr in der Geschichte der mexikanischen Republik. Nach 71
Jahren „dictadura perfecta“ unter der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI - Partido
Revolucionario Institucional) kann die konservative Partei PAN (Partido de Acción Nacional) im
Juli 2000 die Wahlen gewinnen und die Regierung übernehmen. Sieger und neuer Präsident
Mexikos: Vicente Fox Quesada.

Dieser Wahlsieg kam nicht aus dem Nichts. Schon seit den Präsidentschaftswahlen 1988, als
Salinas de Gortari faktisch schon gegen den Gegenkandidaten der PRD Cuauthémoc Cárdenas
verloren hatte, bis zufällig ein Stromausfall alle aktuellen Hochrechnungen löschte, lag ein
Wechsel in der Luft.
Die nächsten 12 Jahre waren geprägt von der Abnahme des Einflusses der PRI und einer zu-
nehmenden Liberalisierung und Öffnung von Gesellschaft und Wirtschaft, letztere unter an-
derem im Rahmen des NAFTA (North American Free Tradement Agreement, 1992). Auch die
Privatisierung der Fernsehkanäle „13“ und „7“ sind Teil einer Lockerung politisch-gesell-
schaftlicher Restriktionen.
Damit gewannen die anderen großen Parteien PRD und PAN, die 1988 auch erstmals den
Gouverneur eines Bundeslandes (Baja California Norte) stellt, langsam an Gewicht und Macht
und vor allen Dingen eine öffentliche Stimme.

Die gesellschaftliche Unzufriedenheit fand Ventile. Der Konflikt in Chiapas ab 1994 war nur ein
aufbrechendes Problem. Vieles konnte nicht mehr in dem Maße verschwiegen und vertuscht
werden, wie es lange Zeit unter der Alleinherrschaft einer Partei der Fall war. Die enorme
Entwertung des Peso Mitte der neunziger Jahre („Peso-Krise“) und die Vorwürfe der Korruption
und Veruntreuung von Staatsgeldern gegenüber dem ehemaligen Präsidenten Salinas de Gortari
waren weitere Steine des Anstoßes für eine Entscheidung gegen die PRI. Das „Ya basta!“ nicht
nur der Zapatisten aus dem Süden des Landes lag in der Luft. „Si se puede!“ wurde zum
Schlachtruf.
Auch dass zum Beispiel ein Film wie „La Ley de Herodes“ trotz aller Kritik am herrschenden
Apparat in die Kinos kommen konnte, spricht für den Machtverlust und die gesellschaftliche
Aktivierung nicht nur in intellektuellen Kreisen und dass sich die PRI nicht mehr alles leisten
konnte.
Auch im Kino hat sich in den Jahren bis 2000 einiges geändert: es gibt durchaus wieder politische
Themen, die in Filmen umgesetzt werden, und hiermit sind nicht nur gesellschaftspolitische

                                                7
Themen wie AIDS und die Emanzipation angesprochen. Damit ist eine Zeit passé, in der, wie
der Produzent Jorge Sánchez 1994 kritisierte, die jungen Filmleute „teilweise überhaupt keine
politische Besorgtheit“ zeigen. „Wenn wir fünfzehn dieser Regisseure fragen würden, bin ich
sicher, dass sich keiner Gedanken um Politik gemacht hat.“ (zit. nach Bremme (2000): S. 124)

Germán Dehesa, Journalist und Professor für Sprache und Literaturwissenschaften an der
UNAM, schreibt über die Situation der Gesellschaft zwei Tage vor den Wahlen am 30. Juni 2000
in der Zeitung Tijuanas „Frontera“:
„Así están millones de mexicanos, lastimados, exasperados, condenados al inifierno o a
Excatepec (¡cóbrale a tu madre!, le gritó la fuerza mexiquense a Zedillo en su más reciente y
festejosa visita). Así están: Dispuestos a saltar como perros enfurecidos y ciegos. Están (estamos)
hartos de tanta mentira, de tanto engaño, de tanta „higiene legal y democrática“; ya no quieren
(queremos) vivir unos contra otros, ofendiéndonos, traicionándonos, aganchándonos y
violentándonos.“5

Das einzige, was dem Wechsel im Weg stehen konnte, war ein erneuter Wahlbetrug („fraude“).
Diese enorme gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der politischen Führung und der ökonomi-
schen Lage führt schließlich zu den politischen Umwälzungen.

5
  Frontera, No. 344: „So sind Millionen von Mexikanern: verletzt, erbittert, zur Hölle oder nach Excatepec
verdammt (Beute doch deine Mutter aus! schrie die mexikanische Kraft Zedillo bei seinem letzten, festlichen Besuch
zu). So sind sie: bereit sich wie wütende und blinde Hunde loszureißen. Sie haben (wir haben) so viel Lüge satt,
soviel Betrug, soviel „legale Hygiene und Demokratie“, sie wollen (wir wollen) nicht mehr einer gegen den anderen
leben, uns beleidigend, betrügend, uns verkriechend und vergewaltigend.“

                                                        8
4        Das Politische liegt im Privaten

Es gibt viele Möglichkeiten, politisch aktiv zu werden: Demonstrationen, E-Mail-Aktionen,
Mitarbeit in politischen Organisation oder Diskussionen sind nur einige Beispiele – es gilt,
bewusst Veränderungen in der Gesellschaft anzustreben, die der Durchsetzung eines ständigen
Anliegen dienen.
Ebenso gibt der Film dem Regisseur viele Möglichkeiten auf die Hand. „El cine es una realidad
enlatada.“6 und davor „Pero ocurre que todo refleja una realidad mexicana, incluso las defor-
maciones son una realidad mexicana.“

In Mexiko gab es in den sechziger Jahren kein „Cinema Novo“, dass die sozialen Realitäten der
marginalen Gesellschaftsschichten in den Mittelpunkt stellte und eigene filmische Ausdrucks-
mittel entwickelt. Glauber Rocha definiert es unter anderem mit den Worten (zit. nach Reyes
Nevares (1976): S. XIII):
         „Wherever one finds a director willing to film reality and ready to oppose the hypocrisy
         and repression of intellectual censorship, there one will find the living spirit of the
         Cinema Novo.“7

Nur während des Sexenios Echeverrías fand eine leichte Entspannung in der Politik der Zensur
statt. Der Präsident rief geradezu dazu auf: „un cine que miente es un cine que embrutece“ sagte
er und befahl dass Filme produzierte werden sollten „que reflejaran la realidad.“8 So konnte sich
Echeverría im Ausland rühmen, dass Mexiko, gerade nach dem Massaker 1968 auf dem Platz der
Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco in Mexiko-Stadt, ein Staat sei, in welchem Künstler und
Intellektuelle frei ihre Meinung äußern könnten (vgl. Agustín, José (1992): S. 66). Filme, die direkt
oder indirekt das Thema zur Sprache brachten, waren Alfredo Joscowics’ „Crates“ (1970), „El
cambio“ (1971) des Departamento de Actividades Cinematicas de la UNAM und Felipe Cazals
„Canoa“ (1975) (Mora (1982): S. 123 ff.). Auch die Literaturverfilmung „El apando“, ein
Gefängnisdrama vom selben Regisseur, stammt aus dieser Legislaturperiode.

6
  Zitat Emilio García Riera, Verfasser der Anthologie des mexikanischen Films „Historia documental del cine
mexicano“ nach einem Interview in „Generación“, Kulturmagazin Guadalajaras:
„Kino ist eine konservierte Realität.“ und „Es ist so, dass alles eine mexikanische Realität wiederspiegelt, auch die
Deformationen sind eine mexikanische Realität.“
7
  “Wo immer man einen Regisseur bereit findet, Realität zu filmen und bereit, sich der Scheinheiligkeit und
Unterdrückung intellektueller Zensur entgegenzusetzen, dort wird man den lebenden Geist des Cinema Novo
finden.“
8
  “Ein Kino, das lügt, ist ein Kino das verroht“ und „welche die Realität wiederspiegeln sollten“

                                                           9
Aber erst, wie oben schon angedeutet, das mexikanische Kino der neunziger Jahre hat keine
Angst mehr vor politischen Themen. Amores Perros nimmt dabei eine besondere Stellung ein.
Realität zu filmen heißt politisch werden. Amores Perros ist Realität, wie auch der in Hollywood
bekannte Filmautor Alfonso Arau („Como agua para chocolate“ (1992)) zu Iñárritus Film
bestätigt: „Es muy moderna, al mismo tiempo es muy mexicana y refleja muy bien nuestra
sociedad actual.“9
Wie verarbeitet aber Amores Perros die politisch brisanten Themen der Zeit? Welches Bild von
der Gesellschaft Mexikos wird initiiert?

Ich möchte mir dazu die drei Hauptpersonen des Filmes näher anschauen. Alle drei entwickeln,
stellvertretend für eine Gesellschaftsschicht, einen sich im Laufe des Filmes verändernden
Traum, eine Vision, einen Wunsch, wie ihre Zukunft aussehen sollte.
Der Film zeichnet drei Welten. Welche ist die Beste?

4.1      Octavio und sein Traum

Octavio lebt zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder Ramiro und dessen Frau Susana, sowie
deren Baby Rodrigo in einem Haus, irgendwo in Mexiko-Stadt. Die Geschichte Octavios und
seiner Familie zeigt verschiedene Probleme einer Familie in Mexiko auf: Die junge, noch lange
nicht erwachsene Mutter Susana, ihre ständig betrunkene Mutter, der sie ihr Baby nicht
anvertrauen kann, Susanas ständiger Konflikt zwischen Schule und Mutter sein. Gleichzeitig ist es
Leben ohne Vater: der Vater von Octavio und Ramiro wird nie erwähnt, sein Schicksal bleibt
ungewiss - wie in vielen Familien muss die Mutter die Kinder alleine großziehen. Es spielt dabei
keine Rolle, ob der Vater wirklich nicht mehr existent ist, oder ob er nur abends betrunken von
der Arbeit kommt, und den ganzen Lohn versoffen hat.
Eines bleibt jedenfalls sicher: das Bild des mexikanischen Machos und der „leidenden
mexikanischen Mutter“10 ist immer noch erschreckend präsent. Sei es in der ignorierenden, bis
aggressiven Art und Weise, in der die Frau behandelt wird, die nicht nur das Essen kocht, die
Windeln wäscht, kurz, wie sie selber sagt: die beiden Söhne großzieht, und die doch derer beider

9
  In Proceso Nr. 1233 / 18. Juni 2000 „Er ist sehr modern, gleichzeitig sehr mexikanisch und spiegelt unsere
mexikanische Gesellschaft sehr gut wieder.“
10
   „sufrida madre mexicana“ (S. 83), vgl. Octavio Paz’ Aufsatz über das mexikanische Volk „El laberinto de la
soledad“, in welchem er unter anderem etymologisch anhand des Wortes „chingar“ die Natur des Machos
beschreibt; bzw. derer die an anderen Gewalt ausüben und derer, die sie ertragen müssen.

                                                        10
Mutter ist, oder in dem Verlassen von Ehefrau und Kindern, wegen einer anderen oder der
großen politischen Aufgabe spielt hierbei keine Rolle.

Das Haus wird in der ersten Szene in einer Totalen von außen von der anderen Straßenseite aus
gezeigt: ein einfaches, grün gestrichenes Haus, grün, wie die Hoffnung, die in Octavio keimt. Es
ist ein Haus, wie es die untere Mittelschicht bewohnen mag, aus Beton immerhin und
zweistöckig. Die Einrichtung ist sehr natürlich gehalten, es könnte in der Tat irgendein Haus in
Mexiko sein. An der Wand hängt ein „México siempre fiel“ - Kalender des Papstes, Einrich-
tungsgegenstand Nummer eins in vielen mexikanischen Haushalten.
Der Raum ist eng, Wände begrenzen häufig die Einstellung, die Räume sind vollgestellt. Es bleibt
nicht viel Platz für den einzelnen, die Wände sind zusätzlich so dünn, dass jedes Geräusch zu
hören ist.
Die Authentizität wird auch durch die Aufnahmen des alltäglichen Lebens hergestellt: Die
nächste Szene beginnt mit einer Großaufnahme des Essens, um dann mit einer Halbtotalen auf
die Küche mit Esstisch zu gehen.

Die Brüder müssen sich darum kümmern, dass genug Geld für Lebensmittel da ist. Sie verdienen
das Geld auf ihre Weise, von Octavio wird nichts gesagt, wahrscheinlich ist er arbeitslos. Das
Geld, das der Bruder mit seinem Job als Kassierer im Supermarkt und bei gelegentlichen
Überfällen auf Apotheken verdient, reicht natürlich kaum für das Notwendige und die beson-
deren Bedürfnisse des Kindes.
Ein weiteres Problem von Mexiko-Stadt, das angesprochen wird: Ramiro ist ein, genauer
betrachtet, ein Straftäter, er begeht Raubüberfälle, dazu aber weiter unten mehr.

Octavio war seiner Aussage zufolge zuerst in Susana verliebt, aber sein Bruder hat sie bekom-
men. Trotzdem lässt er nicht von ihr ab und will sie davon überzeugen, besser mit ihm zusam-
men zu sein. Es ist die Geschichte wie „ein Junge von 20 Jahren die Liebe und die Leidenschaft
lebt“.11
Seine Chance sieht er in dem Hund des Bruders, Cofi, welcher sich aber nicht um ihn kümmert.
Octavio richtet ihn zum Kampfhund ab. Er hat gehört, dass man mit Hundekämpfen viel Geld
verdienen kann. Damit glaubt er, Susana davon überzeugen zu können, mit ihm ein neues Leben
anzufangen: in Ciudad Júarez, an der Grenze zu Texas.
Sein Traum führt ihn nicht in die USA, er möchte in Mexiko bleiben. Dort kenne er einen Onkel,
der ihm schon zugesagt habe, dass sie bei ihm bleiben könnten, sagt er zu Susana.

                                                11
„Ponemos un changarro de lo que sea, tenemos lana, nos va a ir a toda madre,“12 lautet die naive
Idee Octavios von dem zukünftigen Leben.
Aber das ist sein Traum, weg von Zuhause, mit Frau und Kind, und seine Liebe zu Susana ist so
groß, dass ihn auch die beiden Kinder seines Bruders nicht stören. Es ist ein kleiner Traum, von
Frau und Kindern und selbständiger, aber ehrlicher Arbeit.

Nicht wie die Raubüberfälle seines Bruders.
Durch diesen Kontrast entsteht Kritik. Mit normaler Arbeit kann kein Geld verdient werden - ein
Bruder macht Raubüberfälle und der andere verdient sein Geld mit Wetteinsätzen auf Hunden.
Ironischerweise sagt der Organisator der Hundewettkämpfe, Jarocho, das Geld, was dabei
verdient werde, sei „puro billelle limpio“, nur saubere Kohle.

Es ist der Traum der Unterschicht: ausreichend Geld zu haben und das zu machen, was man
gerade möchte. Wie es weitergeht, danach und später, hat in den Überlegungen keinen Platz. Die
Zukunft bleibt unsicher. Die Angst vor dem Staat und der Inflation ist immer vorhanden und
macht eine langfristige Planung unmöglich.

Der Traum ist auch das Leben der Stars, der Models und der Reichen, das mit der Geschichte
Octavios einhergeht, nämlich im Fernseher des Freundes, eine Art Fenster, der eine Talkshow
anschaut und Valeria, das schöne Beinmodel, bewundert. Das ihr Leben aber nicht glücklicher
und auf eine andere Art und Weise abhängig von außen ist, zeigt der nächste Traum.

4.2        Daniel und sein Traum

Daniel ist verheiratet und leitender Redakteur eines Magazins. Er hat zwei Kinder, ein Haus und
ein schönes Auto. Bourgeoisie, wie el Chivo wohl sagen würde. Trotzdem ist er nicht mehr
zufrieden mit seinem Leben, die Ehe hat an Leidenschaft verloren. Es ist die Geschichte des
„Desamor“ eines 50-jährigen. In der Liebe und dem neuen Leben in der Beziehung mit der
schönen und jungen Frau Valeria findet er einen neuen Traum.
Er verlässt seine Familie und kauft ein Appartement, in welchem er mit dem Model ein neues
Leben anfangen möchte. Leichter, unbeschwerter, freier, frei von den Zwängen einer Ehe.

11
     Zitat von Alejandro Gonzáles Iñárritu in Proceso, Nr. 1233
12
     „Wir machen einen Laden auf und verkaufen irgendwas, wir haben Kohle, es wird uns richtig gut gehen.“

                                                         12
Der Autounfall Valerias macht diesen Traum zunichte, ihre Schönheit ist zerstört und das junge
Glück wird auf die Probe gestellt. Valeria wird mit ihrer neuen Situation, gebunden an den
Rollstuhl und nicht mehr fähig ihre Arbeit auszuüben, ihrer Einsamkeit und Nutzlosigkeit, nicht
fertig. Die Stimmung wird immer gereizter, bis sie schließlich in dem Selbstmordversuch endet,
der die Amputation des ganzen Beines nach sich zieht.
Der Wunsch nach einem Zusammensein, nach der Liebe, ist auch in dieser Geschichte
vorhanden. Und im Anfang der Geschichte blitzen die Leidenschaft und Freude des 20-jährigen
auf. Aber das Leben macht es nicht einfach.

Das Leben der sogenannten Stars des Fernsehens und der Gesellschaft ist erstens anders als es
dargestellt wird, wie aus der gestellten Szene der Talkshow „Gente de hoy“ deutlich wird, wo
Valeria mit dem Schauspieler Andrés Salgado verkuppelt wird, der in Wahrheit nicht einmal ein
besonderer Freund ist, wie sich anhand des Ausschlagens einer Einladung zum Essen feststellen
lässt, und zweitens genauso abhängig von Schicksalsschlägen und dem Zufall, wie das „normaler“
Menschen. Der Autounfall gibt dem Leben eine tragische Richtung.
Das Leben der Reichen und Schönen ist nicht so, wie in den Medien dargestellt, die es sowieso
manipuliert (nicht umsonst gibt Daniel Salgado im Gegengeschäft die Titelseite seines Magazins).
Es ist genauso menschlich und natürlich. Daniel wurde durch das Schicksal getäuscht. In man-
chen Momenten sehnt er sich nach seiner Frau zurück, wenn er sie anruft, sich aber nicht traut,
ihr auf ihre Koseworte zu antworten. Er ist aus dem siebten Himmel gefallen. Aber trotzdem
geht er den Weg weiter. Er gibt die Hoffnung nicht auf.

Valeria nimmt eine starke Rolle in diesem Teil der Geschichte ein. Es ist der Leidensweg einer
Frau von der Glückseligkeit des Momentes, sich auf dem Werbeplakat zu sehen, bis zu dem
Moment, in dem die Fläche wieder grau, leer und anmietbar ist. Sie hat ihre Schönheit verkaufen
können und ihre Beine waren Kapital. Ihr Aussehen war ihr Leben, war sie. Ob das eine ober-
flächige Sichtweise der Welt ist, spielt in dem Fall nicht die entscheidende Rolle. Es geht um den
Menschen. Nach dem Unfall und dem langsamen Verlust ihrer bisherigen Persönlichkeit, bzw.
ihrem bisherigen Leben, muss sie sich neu orientieren.
Ohne Daniel wäre sie am Boden und verloren gewesen. Keiner hätte sich mehr um sie
gekümmert. „Wenn deine Beine wieder O.K. sind, dann ruf mich an!“ wird ihr am Telefon von
ihrem Manager gesagt.

                                               13
Rhythmus und Stimmung sind anders in diesem Mittelstück des Filmes. Die Szenen sind länger
geschnitten und viel statischer. Die Räume ohne Leben, weiß und steril. Ganz im Gegensatz zu
den überfüllten und detailreichen Räumen des Hauses Octavios.
Der Geschichte verlagert sich auf zwei Räume, auf Krankenhaus und Flur. Allein das ein
Großteil der Geschichte im Flur spielt, weist darauf hin, dass Daniel und Valeria nie Zuhause
ankommen konnten. Sie konnten sich nie im Sofa oder in der Küche aufhalten, die Realität hat
sie vorher erwischt.
Das Krankenhaus liegt unter einem blau-grünen, kalten Licht. Enttäuschung, Distanzierung und
Schmerz drücken sich in diesen klinischen Räumen aus. Der Schmerz Daniels und Valerias wird
deutlich, wenn die metallene Beinapparatur zu sehen ist oder die Narbe bei zu heftiger Bewe-
gung schmerzt.
Es ist der Krankenraum der Gesellschaft, die glaubt, alles sei durch Geld möglich. Und es wird
doch nur schlimmer.

4.3      El Chivo und sein Traum

El Chivo13 hat Geld im Überfluss. Er verdient sich als bezahlter Killer und ist ein Penner aus
dem Bilderbuch, mit einer Gruppe von Hunden durch die Stadt streunend. In den ersten Szenen
geht die Kamera nicht wirklich nahe an ihn heran, er bleibt Teil des Hintergrundes, wie in der
Szene, als er vor dem Hintergrund einer Colonia seinen Wagen schiebt. Er bleibt entfernt und
doch lernt der Zuschauer in näher kennen, als die anderen Hauptpersonen, denn er geht eine
Entwicklung durch.
Auch er hat Frau und ein Kind, ein Mädchen mit dem Namen Maru14, gehabt. Gehabt deswegen,
weil er dachte, etwas Anderes sei wichtiger: „Entonces creía que había cosas más importantes.
Quería componer el mundo para compartirlo contigo“. Er schafft es nicht und kommt ins
Gefängnis: „Te habrás dado cuenta que fracasé.“15. Für seine Tochter ist er tot, so hatte er es mit
seiner Frau vereinbart, die wieder geheiratet hatte.
Es ist die Geschichte einer Liebe zur Tochter. Er stellt sich vor ihr Haus und beobachtet sie, wie
sie zur Schule fährt. So versucht er an ihrem Leben teil zu haben.

13
   „Chivo“ bedeutet wörtlich übersetzt: Ziegenbock. Der Ziegenbock ist Sinnbild des Teufels.
14
   Die Tochter El Chivos Maru ist zufällig auch im wirklichen Leben die Tochter des Schauspielers Emilio
Echevarría.
15
   „Damals dachte ich, dass es wichtigere Sachen gäbe. Ich wollte die Welt verbessern, um sie mit dir zu teilen.“ „
Du wirst bemerkt haben, dass ich gescheitert bin.“

                                                         14
Als seine Ex-Frau stirbt und er es in der Zeitung liest, geht die Kamera an ihn heran. Die Distanz
ist abgebaut, wenn es um seine Familie geht, der Penner ist plötzlich wieder Mensch. Auch hier
steht eine kaputte Familie im Mittelpunkt, aber gleichzeitig auch schon ein gestorbener Traum.

Jetzt, zu Beginn des Filmes, hat el Chivo keinen Traum mehr.
Der ehemalige Revolutionär ist zu einem Werkzeug geworden. Ohne nach dem Grund zu fragen
und gegen Bezahlung, tötet er kaltblütig unliebsam gewordene Menschen. Die Gewalt und
Gefahren Mexiko-Stadts werden durch ihn personifiziert. Geld spielt bei ihm keine Rolle. Er ist
zufrieden mit seiner Hütte und seinen Hunden. Der Autounfall ändert auch sein Leben, er
kommt zufällig an ihm vorbei, als er passiert. Er nimmt den Hund Octavios auf, den die Sanitäter
auf die Seite gelegt hatten, und pflegt ihn gesund.
Gleichzeitig soll er einen weiteren Mord ausführen. Obwohl er sich zunächst gegen das Angebot
Gustavos weigert dessen Stiefbruder umzubringen, scheint es nicht überzeugend. Erst als der
Hund, den er später „el negro“, der Schwarze, taufen wird, von dem Pistolenschuss auskuriert all
seine anderen Hunde tötet, ändert sich etwas in seinem Leben.

Er beschließt, die Augen nicht mehr vor der Realität zu verschließen. Er zieht seine Brille wieder
auf. Zuvor hatte er noch gesagt: „Si Dios quiere que vea borroso, pues veo borroso.“16 Die
Handlung ist symbolisch für seinen Neuanfang.
El Chivo hatte seinen Traum verloren. Jetzt beginnt er wieder. Welchen Traum er hat, ist nicht
klar. Die Distanz und die moralische Überlegenheit, die er seinen Opfern gegenüber zeigt,
werden filmisch deutlich in dem Gespräch mit dem gefangenen Opfer. Er spricht mit ihm durch
die Glasscheibe zur Küche. Er spielt mit ihm. Er erniedrigt ihn. Er geht sarkastisch mit ihm um
und gewinnt dadurch erstaunlicherweise den Zuschauer, der darin die Bestrafung des moralisch
verächtlichen Tuns von Luis, dem Ehebruch und dem Betrug gegenüber seinem Teilhaber, dem
Auftraggeber, sieht.
Dann lässt er die beiden Brüder, die er Kain und Abel nennt, ihren Zwist untereinander
ausmachen, indem er Gustavo, den Auftraggeber, ebenso gefangen nimmt und eine Pistole
zwischen sie legt, um sie damit alleine zu lassen. El Chivo macht noch einmal alles, was möglich
ist, zu Geld und hinterlässt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seiner Tochter, bevor er
geht. Eine Liebeserklärung und der Bruch seines Schweigens. Auferstanden von den Toten.
Wie er sein Leben weiterleben wird, zeigt der Film nicht, el Chivo läuft über den schwarzen,
verbrannten und trockenen Boden.

                                                 15
Diese eigentlich hoffnungsstiftende Einstellung, ein Mensch läuft Richtung Horizont, wird
relativiert. Wie so vieles in dem Film. Es ist kein klischeebeladener Abgang à la Hollywood mit
Sonnenuntergang. Der Himmel ist im Gegenteil grau, der Boden ist schwarz und brüchig - Es
wird nicht leicht für el Chivo.

4.4        Die Realität

Der Film variiert das Motiv „Liebe“ und beantwortet zu Anfang gestellte Frage nicht. Es gibt
keine beste Welt, dafür ist die Liebe zu verschieden. Die Frage wird differenziert.
Was ist noch gut? Es gibt keine Ideale mehr in der heutigen Gesellschaft, weder gesellschaftliche,
noch politische, und das lässt sich nicht nur von Mexiko sagen: Das Ideal des Lebens in der Ehe,
von dem Octavio träumt, zerbricht bei Daniel und für el Chivo ist es schon lange den letzt-
endlich nutzlosen, ideologischen Idealen geopfert worden.
Bremme schreibt dazu: „In den Zeiten des Neoliberalismus versprüht kaum noch ein Film
revolutionäres Pathos oder beschwört den Glauben an eine bessere Zukunft. Die Helden und
Heldinnen sind ambivalenter, gebrochener. Manchmal sogar verloren. „Die äußeren Gesten
schrumpfen im gleichen Maße wie die Utopien in ihrem Herzen.“ (Bremme: S. 117)

In Amores Perros gibt es keinen Helden. Es spielen Menschen, vielschichtige, denkende und
Fehler machende Gestalten.
Octavio lässt seinen Bruder aus Wut und aus Egoismus zusammenschlagen. Daniel begeht
Ehebruch, verlässt Frau und Kinder. El Chivo ist ein Mörder, ein Berufskiller.
Aber: Octavio liebt Susana und will ihr etwas Besseres bieten als sein Bruder, ein Leben, in dem
ihr Kind und sie (ihre Kinder) genug zu Essen haben und geliebt werden. Daniel steht Valeria
auch in ihren schweren Zeiten bei und beweist damit, dass er sie nicht nur wegen ihres Aussehens
liebt.
El Chivo liebt seine Hunde, als wären sie seine Kinder, und seine Tochter geht ihm über alles. An
der Unfähigkeit ein guter Vater zu sein, ist er zerbrochen. Die Art und Weise seiner Behandlung
gegenüber „Kain und Abel“, wie er die beiden rivalisierenden Brüder nennt, beweist jedoch
Humor, wenn auch sarkastischen und in gewisser Form einen Sinn für Gerechtigkeit. Er ist nicht
mehr der Ausführende, das Werkzeug, er stellt sich aber auch nicht als Richter dar; er lässt sie
selbst eine Lösung finden.
Und der Zuschauer muss sich überlegen, zu welchem eigenen Urteil er käme. Der Zuschauer
muss entscheiden, woran er noch glaubt.

16
     „Wenn Gott will, dass ich verschwommen sehe, dann sehe ich eben verschwommen.“
                                                      16
5       Die Gesellschaft

Einige Werte, die in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert einnehmen, werden auch in
Amores Perros behandelt und variiert. Es ist die Stadt und das Leben. Der Film ist gespickt mit
kleinen Details und Andeutungen, offensichtliche wie versteckte, in bezug auf Situationen und
Realität in Mexiko. Ein paar, die sich nicht direkt unter die vier folgenden Gruppen einordnen
lassen, aber dennoch einen wichtigen Beitrag für den Eindruck, den der Film von Mexiko heute
bietet, möchte ich kurz erwähnen und hier anfügen.

Viele Motive finden sich schon in der Ausstattung. So ist zum Beispiel das Metalltor zu el Chivos
Zuhause mit Wahlwerbung ausgestattet, ein PAN-Aufkleber in blau-weiß (Diego 94) und einen
Zedillo-Schriftzug. In Octavios Wohnung findet sich ein Kalender, der zum Papst-Besuch
herausgegeben wurde: „México siempre fiel“, Mexiko immer treu.
In el Chivo findet sich auch der Kritiker des Modernen wieder: seinen Reichtum, wie seine
Citizen-Uhr und der Ring, den er trägt, findet er auf dem Müll (ob man ihm glauben mag, sei
dahingestellt). Der Polizist wirft das Handy Gustavos einfach aus dem Fenster.
Jarocho, der Ausrichter der Hundekämpfe, sagt über seine Firma: „Esto es mi empresa. No pago
impuestos, no hay huelgas, ni sindicatos, puro billele limpo.”17

Die Erwähnung der Vergangenheit El Chivos als Guerillero, „cuando fue guerrillero, hace 20
años, sí era un verdadero hijo de la chingada, nada que ver con el actual EZLN“18, sollte nicht
unerwähnt bleiben. Damit zieht der Film nicht nur Parallelen, er ruft auch in Erinnerung, dass
der Konflikt um Selbstbestimmung und Akzeptanz der Indígenas und die Auflehnung gegen den
Staat in Mexiko schon wesentlich älter sind.

Der Film wirkt wie durch Smog und einer Wolke von Abgasen und Schmutz von Mexiko-
Stadt gedreht. Ein Effekt, „silver retain“, bei dem das Silber auf dem Negativ gelassen wird,
der wie für Amores Perros und Mexiko-Stadt gemacht zu sein scheint. Handkamera und
Weitwinkelobjektive von Rodrigo Prieto versetzen den Zuschauer auch körperlich in die
Straßen dieser riesigen Stadt.

17
  „Das ist meine Firma. Ich zahle keine Steuern, es gibt keine Streiks, keine Gewerkschaften, nur saubere Kohle.“
18
  „Als er vor 20 Jahren Guerillero war, war er ein richtiger „Sohn der Chingada“, kein Vergleich mit der EZLN von
heute.“

                                                       17
5.1     Der Hund

Amores Perros. Die Bedeutung des Hundes wird schon im Titel deutlich und durchzieht den
ganzen Film. „Perro“ kann, im mexikanischen Sprachgebrauch, in vielerlei Hinsicht gedeutet
werden und ist nicht einfach nur mit „Hund“ zu übersetzen.
Ich möchte einige Beispiele anführen, um das Bedeutungsspektrum des Wortes deutlich zu
machen. Das Wort wird natürlich besonders im umgangssprachlichen Gebrauch angewendet.
Wenn etwas sehr beeindruckend und gut war, etwas Tolles, im positiven Sinne, eine Party, oder
auch ein Film, kann man sagen „está bien perro/ perrón/ perrísimo“. Genauso, wenn etwas für
einen bestimmten Zweck gut geeignet ist, sagt man „está bien perro para...“. „Tener un humor de
perros“ heißt soviel wie sehr aggressiv und schlecht gelaunt sein, also ein negativer Charakter des
Wortes.
Natürlich werden dem Hund auch Charaktereigenschaften zugewiesen und in Redewendungen
verwendet. Dabei besitzt der Hund nicht überwiegend positive Eigenschaften wie im Deutschen.
„Ser un perro“ heißt soviel wie „ser un desgraciado“, ein armer Tropf zu sein. Das Leben ist hart,
man muss ganz schön kämpfen, um durch zu kommen: „perrearla“, „vida de perros“, „estar bien
perreado“. Wenn jemand gedemütigt zurückkehrt, kommt er mit dem Schwanz zwischen den
Beinen zurück, „regresar con la cola entre las patas“, dann hat man ihn wohl wie einen Hund
schlecht behandelt: „tratar como perro“. Aber jemand kann auch treu wie ein Hund sein, „fiel
como un perro“, oder den Hund in sich haben, „tener el perro adentro“.
„La gente es como perro“, die Menschen sind wie Hunde, wie Tiere; einer macht den anderen
fertig, „uno chinga el otro en un nivel animal“. In dem Sinne kann sich die Bedeutungsebene des
Wortes „perro“ mit dem von „chingar“ überschneiden.
Es ist eine „dog-eat-dog-world“.

Die Vielschichtigkeit wird auf die Hunde in dem Film übertragen, die ebenfalls jeder eine eigene
Funktion für das jeweilige Herrchen einnehmen. El Chivo sagt zu seinem Gefangenen: „todo
dueño parece su perro“19. Die Beziehung der Menschen zu ihren Hunden und viceverca sagt viel
über ihren Charakter aus.

Octavio pflegt den Hund seines Bruders, wohlwissend, dass er mit ihm Geld verdienen kann: er
ist seine „Investition in die Zukunft“. Nach außen hin scheinen beide, Octavio und Cofi, eher
ruhig, aber wenn sie in den Kampf geschickt worden sind, beißen sie zu. Octavio ist ein

19
  „Jeder Besitzer gleicht seinem Hund.“ Im Original lautet das Sprichwort umgekehrt: „ Jeder Hund gleicht seinem
Besitzer“ (todo perro parece su dueño“)

                                                       18
Kämpfer, wie auch Cofi, ihm ist jedes Mittel Recht, seinen Bruder im wahrsten Sinne des Wortes
auszuschalten.
Der Hund ist aber auch zu seinem Freund geworden, denn als ihn Susana darauf anspricht, wie
lange der arme Hund denn noch kämpfen solle, meint er: „Am Samstag geht es um das große
Geld. Das wird der letzte sein, mein Junge.“

Richie, der Hund Valerias, ist wie ihr Kind. Diese Funktion wird schon in der Talkshow deutlich,
in der sie auftritt: „Wir haben auch schon ein Kind. Und ich habe es mitgebracht.“ Ihr Wunsch
nach einer Familie, muss der Verantwortung und der Arbeit zurückstehen. Als sie ans Zimmer
gefesselt, in ihrem Gefängnis, auch noch ihr „Kind“ verliert, verliert sie gleichzeitig fast den
Verstand. Absurd scheinen die Szenen, schon paranoid, wenn sie nachts aufwacht und den Hund
zu hören scheint, mit überschäumender Freude zum Loch im Boden stürzt und nach ihm sucht.
Der Hund wird gefunden und sie überlebt ihren Selbstmordversuch.

El Chivo ist einsam. Er hat alles verloren, Ideologie, Frau, Kinder, 20 Jahre seines Lebens. Die
einzigen Freunde, die er hat, sind seine Hunde und jeder Hund hat einen Namen, „Flor“,
„Frijol“, „Fortuna“, „Gringuita“. Einen Namen zu geben, bedeutet Persönlichkeit zu verleihen.
Jeder Hund ist eigen und ihm ein menschlicher Freund. Bei dem Autounfall kümmert er sich
nicht um den Verletzten Octavio, er klaut ihm sogar das Geld. Aber er pflegt den Hund wieder
gesund, was zu dem tierischen Mord an den anderen Hunden führt. Der Hund hatte es nicht
anders gelernt. Er wurde so erzogen - Octavio hat ihn so erzogen.
„Das tut man nicht“, brüllt er den Hund an und dabei geht ihm auf, dass er genau das gleiche
macht, wenn er Auftragsmorde durchführt.
Genauso wie der Besitzer seinen Hund, erzieht die Gesellschaft den Menschen. In gewisser
Weise ist der Mensch, der tötet, auch Opfer, klingt hier an. Ziel des Staates ist es, das Volk dumm
zu halten.

El Chivo versucht seine Hunde wie Menschen wiederzubeleben, scheitert aber, denn es ist schon
zu spät. Er verbrennt sie. Ob Octavios Hund ihm ein Freund werden kann, oder ob er seinen
Glauben verloren hat, ist lange nicht klar. Er weiß keinen Namen für ihn. Aber der Hund tritt
entscheidend in das Leben el Chivos. Das Hundemassaker wird ein Wendepunkt in seinem
Leben. „Du hast es ihm zu verdanken, dass du noch am Leben bist.“ sagt er zu Luis. Anhand des
Todes seiner Hunde, versteht er, das Mord und Gewalt keine Lösung ist. Er besinnt sich und
kann aus seinem Gefängnis ausbrechen.

                                                19
Zum Ende des Filmes nennt er den Hund „el negro“. Der Schwarze. Die Beschreibung seiner
Physis. Aber „schwarz“ ist auch die Trauer eines Mannes, der noch nicht weiß, wohin ihn der
Weg führt.

Der Hund ist Wendepunkt und Schicksalsträger. Schlussendlich ist es aber nur einer, der das
Schicksal dreier Personen beeinflusst: „el negro“. Octavio gewinnt und verliert alles. Valeria büßt
ihre Schönheit ein und el Chivo wird um seine Freunde gebracht, was ihn zum Umdenken
zwingt. Aber el Chivo gewinnt. Zusammen mit dem Schwarzen.

Der Kolumnist Germán Dehesa beschreibt eine andere Dimension. Er zieht den Vergleich mit
den Hunden, um die Gesellschaft zu beschreiben:
„(...); no hay civilización, ni decencia posibles; sólo están los perros, los dueños de los perros, los
subperros, los subdueños y los encervezados apostadores cuya única y pervertida ilusión radica en
la absurda certeza de saber el nombre del perro que va a ganar.“
Der Mensch ist Tier. Und eine Hackordnung bestimmt die Gesellschaft, in der wir leben. Und in
dieser Gesellschaft kann niemand gewinnen, die Geschichten in Amores Perros können keine
Guten und keine Sieger haben, weil sie alle Tiere sind: die „dog-eat-dog-world“.
„Nadie gana. En una pelea de perros nadie gana. Hermano contra hermano; marido contra mujer;
bando contra banda; realidad contra sueño; presente contra futuro; hijos contra padres-fantasmas;
policías corruptos contra pésimos delincuentes; muertos en vida con muertos vivientes; caos
contra cosmos; mujeres contra el arrinconamiento; todos contra un destino que no pasa por ahí;
perros contra perros.“ (Frontera: 30. Juni 2000)20

„Estar perro“ ist ähnlich wie „estar chingón“ und schon Octavio Paz hat diesen Aspekt der
mexikanischen Realität folgendermaßen beschrieben: „Para el mexicano, la realidad es una
posibilidad de chingar o de ser chingado.“(Paz: S. 87)21

20
   „Es gibt keine Zivilisation, keine möglichen Sitten; es gibt nur die Hunde, die Besitzer der Hunde, die
Unterhunde, die Unterbesitzer und die biertrunkenen Wetter, deren einzige und perverse Illusion in der absurden
Gewissheit wurzelt, den Namen des Hundes zu wissen, der gewinnen wird.“ und „Niemand gewinnt. In einem
Hundekampf gewinnt niemand. Bruder gegen Bruder; Ehemann gegen Frau; Partei gegen Partei; Wirklichkeit gegen
Traum; Gegenwart gegen Zukunft; Söhne gegen Geisterväter; korrupte Polizisten gegen sehr schlechte Kriminelle;
Tote im Leben gegen lebende Tote; Chaos gegen Kosmos; Frauen gegen die Verdrängung; alle gegen ein Schicksal,
dass nicht existiert; Hunde gegen Hunde.“
21
   „Für den Mexikanern ist das Leben eine Möglichkeit, über andere zu herrschen oder beherrscht zu werden.“
(Anm. des Übers.: damit ist die Bedeutung des Wortes „chingar“ natürlich nur gering erfasst, vgl. dazu Anm. 10)

                                                      20
Man könnte sagen, was Octavio wirklich will, ist gegen seinen Bruder zu gewinnen: „chingarlo“.
Er lässt ihn verschlagen, aber er wird verschlagen, er nimmt Susana und wird bestohlen, so geht
der Zweikampf zwischen den Brüdern hin und her, bis Octavio ihn am Ende verliert.
Ebenso funktioniert es zwischen den Halbbrüder Gustavo und Luis und, wie Dehasa es beschrie-
ben hat, zwischen den verschiedensten Gruppen des Filmes.

Der Filmkritiker Jorge Ayala Blanco formuliert es in der Phrase: „el bestialismo es un
humanismo.” (Ayala Blanco: S. 486)22

5.2        Das Geld

Das Geld spielt selbstverständlich eine bedeutende Rolle. Nicht nur in den Machenschaften des
Staates und Egoismen der Einzelpersonen. Nicht nur in Bezug auf Korruption und Gewalt.

Octavio braucht das Geld zur Verwirklichung seines Traumes. Es besitzt die Eigenschaften der
Verführung, denn nur so kann er Susana von seinem Vorhaben und dessen Ernsthaftigkeit über-
zeugen. Er muss dem Mädchen eine Zukunft aufzeigen, die besser scheint, als ihr momentanes
Schicksal. Geld ist notwendiges Mittel zum Zweck.

Für Daniel und Valeria scheint es zunächst keine Probleme zu geben, das Klischee belegt sie mit
dem Stempel „reich und schön“. Ein erstes Kommentar zur finanziellen Situation Daniels scheint
noch eher scherzhaft gemeint: „Me alcanzó para pagarlo, pero no para arreglarlo todo.“23
Mit dem Unfall und gleichzeitig der Berufsunfähigkeit Valerias ändert sich dies rasch. Die
medizinische Behandlung ist teuer in Mexiko, zumal sie privat bezahlt werden muss. Valeria will,
um ihren Hund zu retten, die Dielen aufreißen. In ihrer Verzweiflung ist sie blind, meint, das
Geld sei doch unwichtig: „¿Qué demonios importa el dinero, coño?“ Daniel kann nur antworten:
„Im Moment wesentlich mehr, als du dir vorstellen kannst.“
Eine schmerzhafte Erkenntnis: Geld ist nicht immer genug da. Es geht aus.

El Chivo verdient mit den Auftragsmorden Unmengen an Geld. Gleichzeitig hat er keine hohen
Lebensunterhaltungskosten, so dass er mit dem ganzen Geld nichts anzufangen weiß. Er hat
genug. Sein Gefangener Luis versucht ihm verzweifelt Geld anzubieten: „Si matas a mi hermano,

22
     „Das Tiersein ist ein Humanismus.”
23
     „Um es (das Appartement) zu bezahlen, hat das Geld gereicht, nicht mehr um alles zu reparieren.“

                                                          21
te doy lo que quieras.“24 El Chivo öffnet seine Jackentasche, lässt die Bündel Geld aufblitzen und
meint: „Glaubst du, dass ich es brauche?“ Geld ist irgendwann wertlos. Als er schließlich
ausbricht aus seinem Gefängnis, steckt er beiläufig viele Notenbündel unter das Kopfkissen
seiner Tochter. Aus dem Verkauf der beiden Autos der Brüder bleibt ihm genug für einen
Neuanfang. Aber für ihn ist es unwichtig, denn die Liebe seiner Tochter kann er nicht erkaufen.
Auch das viele Geld bringt sie ihm nicht mehr zurück.

Geld ist schlussendlich trotzdem nicht das Wichtigste.

Die Entwicklung des Motivs des Geldes ist deutlich. Die erste Geschichte mystifiziert das Geld,
mit dem alles möglich zu sein scheint, in der zweiten wird es demystifiziert und in der dritten
wird seine Nutzlosigkeit offensichtlich.

5.3        Die Korruption

Die Korruption tritt in allen drei Geschichten auf. Jeweils aus anderem Grund und in anderer
Form. Sie ist überall in der Gesellschaft vorhanden und der Film zeigt, dass es ohne nicht zu
gehen scheint. Lösungen gegen die Korruption bietet „Amores Perros“ nicht. Es bleibt bei einer
Beschreibung des status quo.

Octavio schmiert den Hundekampforganisator, damit dieser seinen Bruder verschlagen lässt. Der
Schauspieler Andrés Salgado erfüllt Daniel einen Gefallen, damit dieser ihn auf das Titelblatt
seines Magazins setzt. Der Polizist führt Gustavo zu einem Auftragskiller. Dass Täter von
Morden und Gesetzesbrüchen nie gefasst werden, überrascht angesichts dieser Strukturen und
Machenschaften nicht.

Geld regelt alle Probleme. Schattenwirtschaft, Eigeninteressen, Verständnis von Gerechtigkeit:
Der Staat hat versagt. Der Staat ist nur da, um zu legitimieren. Die Normalität mit der korrum-
piert wird, ist erschreckend. Korrupte Polizisten, kleine Gefälligkeiten sind so normal, gerade für
Mexikaner, dass sie in diesem Film fast unterzugehen scheinen.

5.4        Die Gewalt

24
     „Wenn du meinen Bruder tötest, gebe ich dir was du willst.”
                                                          22
Der Film wurde kritisiert, weil er zu viel Gewalt zeige.
Der Regisseur verteidigt seinen Film. Er sei nicht brutal, sondern „intensa, emocionante,
compleja, y aquí la violencia tiene una consecuencia: el dolor. Y te hace reflexionar.“25

Auch der Vergleich mit Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“, der vor allen Dingen aufgrund der
Montagetechnik aufgeworfen wurde, hinkt, denn dadurch wurde auch eine Ähnlichkeit in der
Darstellung der Gewalt nahegelegt. Die Montage war aber nichts, was „Pulp Fiction“ erfunden
hatte, denn sie ist vielmehr schon von den Russen Eisenstein und Pudowkin in den 20er Jahren
untersucht worden. Eisenstein selber hat in Mexiko angefangen einen Film zu drehen26 und so
sicherlich schon damals das mexikanische Kino, wenn nicht revolutioniert, so doch beeinflusst.
Gonzáles Iñárritu distanziert sich deutlich von einer Gewaltdarstellung wie in Pulp Fiction:
„Estoy harto de las cintas que hablan de la violencia con superficialidad, frivolidad y cinismo, con
los que la gente se tiene que reír. Las personas que vivimos en esta ciudad estamos expuestas a
todo, familiares o amigos han sido secuestrados, asesinados, no le veo la gracia.“27

Man kann den Vergleich zu Pulp Fiction begrüßen, denn so wird die reale Problematik der
Gewalt deutlicher.
Sie hat mehrere Funktionen für den Film:
1.) Sie zeigt, wie gefährlich das Leben in Mexiko-Stadt wirklich ist.
Gewalt in Form von Überfällen, Morden und Schlägereien ist erschreckend normal und die
Menschen müssen damit leben und damit umgehen lernen.

2.) Der Film zeigt die Konsequenzen der Gewalt.
Er zeigt den Tod und den Schmerz von Hinterbliebenen und den der Opfer. Er zeigt kein
blutiges Spektakel, er zeigt traurige Gesichter, schmerzendes Leiden an den körperlichen Folgen.
Gewalt ist keine Lösung, sondern wirkt zerstörerisch.
Sie beeinflusst die Charaktere in ihren Handlungen, denn leider erzeugt Gewalt häufig Gegen-
gewalt. Der Angriff auf den Hund hat einen Angriff auf das Leben des Rivalen zur Folge, was
sich wiederum in einer Verfolgungsjagd mit tödlichem Ende entlädt. Die Konsequenzen dieser
Spirale sind traurig.

25
   Proceso Nr. 1233: „intensiv, aufregend, komplex und hier hat die Gewalt eine Konsequenz: den Schmerz. Und sie
bringt dich zum Nachdenken”
26
   „¡Que viva México!“ (1930 - 1932): Der Film wurde nicht fertig gestellt.

                                                      23
Manchmal führt die Gewalt dazu, sein Leben umzukrempeln und noch einmal anzufangen, wie el
Chivo, der seinen Auftrag nicht ausführt, sondern die beiden Geiseln am Leben lässt und sie die
Sache unter sich regeln müssen, nachdem Cofi brutal seine Hunde ermordet hat. Erst als sich el
Chivo der Gewalt entzieht, zeigt sich ein Silberstreif am Horizont.

3.) Die Gewalt regt zum Nachdenken an.
„Mira nomás como te ves!“28 sagt Susana zu Octavio, den seine Liebe zu ihr fast getötet hätte.
Dieser Ausspruch ist auch an den Zuschauer gerichtet: „Seht her, was damit angerichtet wird!“
Die folgende Geschichte um das Model Valeria, das Opfer einer Verfolgungsjagd wurde, zeigt
mit bedrückender Deutlichkeit, was durch Gewalt angerichtet werden kann, unbewusst oder
bewusst spielt dabei keine Rolle. Das Krankenhaus als Drehort steht im Mittelpunkt des Leidens.

Ironisch ist der Kontrast zwischen dem Bild von malträtierten Ramiro und Susana, die an einer
Disco vorbeilaufen, aus der das Lied „La vida es un carnaval“, „Das Leben ist ein Karneval“, zu
hören ist. Kontraste beherrschen „Amores Perros“.

27
   Proceso Nr. 1233: „Ich habe die Streifen satt, die oberflächlich, leichtfertig und zynisch von der Gewalt reden, so
dass die Leute lachen müssen. Wir, die wir in dieser Stadt leben, sind allem ausgesetzt, Familienmitglieder oder
Freunde sind entführt oder ermordet worden, ich finde darin nichts Lustiges.“
28
   „Schau dich doch an!“

                                                          24
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