DGAPanalyse Frankreich - Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy Eine Wahlanalyse
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DGAPanalyse Frankreich Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Oktober 2007 N° 1 ISSN 1865-701X Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy Eine Wahlanalyse von Vincent Tiberj
Die DGAPanalysen Frankreich erscheinen mit freundlicher Unterstützung der Redaktion: Dr. Martin Koopmann und Ulla Brunkhorst Herausgeber: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. | Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin Tel.: +49 (0)30 25 42 31-0 | Fax: +49 (0)30 25 42 31-16 | info@dgap.org | www.dgap.org | www.weltpolitik.net © 2007 DGAP
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 Zusammenfassung / Summary Vincent Tiberj Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy Eine Wahlanalyse Der Wahlsieg von Nicolas Sarkozy am 6. Mai 2007 fiel mit 53,32 Prozent der Stimmen deutlich aus. Dieser Sieg ist deshalb bemerkenswert, da er nach fünf schwierigen Jahren für die bürgerliche Regierung (CPE-Krise, Ablehnung des Europäischen Verfassungs- vertrags, Unruhen in den Vorstädten) und dem schlechten Abschneiden des konserva- tiven Lagers bei den Regionalwahlen 2004 für die Linke greifbar nahe schien. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der klare Sieg von Sarkozy erklären? Nicolas Sarkozy griff im Wahlkampf bewusst die Themen auf, die ihm zunächst nicht zu liegen schienen, anstatt ihre Entwicklung dem Zufall zu überlassen. Mit dieser Stra- tegie konnte er der Debatte insbesondere im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich eine neue Wendung zu seinen Gunsten geben. Als erfahrener ehemaliger Innenminister scheute er sich nicht, auch sensible Themen wie Kriminalität, Immigration und Integra- tion auf seine Wahlkampfagenda zu setzen und sie nicht dem Front National zu über- lassen. Dabei konnte er es sich zunutze machen, dass die Debatte in der französischen Gesellschaft seit dem 11. September 2001 zunehmend um diese Themen kreiste. Zu seinem Wahlsieg verhalf ihm letztlich auch seine Fähigkeit, die Medien geschickt zu ins- trumentalisieren, indem er gezielt Tabus verletzte, um selbst den Rhythmus des Wahl- kampfs zu bestimmen. The curious victory of Nicolas Sarkozy An analysis of the election Nicolas Sarkozy won a solid victory in the French presidential elections on 6 May 2007, with 53.32 percent of the vote. The election victory is particularly noteworthy because it seemed within reach for the left – after five difficult years for the conservative gov- ernment (CPE crisis, rejection of the EU constitutional treaty, civil unrest in the sub- urbs) and the defeat of the right wing parties in regional elections in 2004. Against this background, how can Sarkozy’s clear victory be explained? During the election campaign, Nicolas Sarkozy deliberately chose topics that initially did not appear to suit him, instead of leaving their development to chance. Pursuing this strategy he was able to turn the debate, especially in the socio-economic field, to his favour. As former home secretary, he was not afraid to put sensitive topics such as criminality, immigration and integration on his political agenda and thus did not leave this field to the far-right Front National. He took advantage of the fact that the debate in French society since 11 September 2001 increasingly focused on these issues. Finally, Nicolas Sarkozy won the presidential elections because of his ability to aptly exploit the media by breaking taboos purposefully in order to determine the course of the election campaign.
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 Inhalt Eine »übermäßige Fixierung« Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Der »Konjunkturwähler« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Wahl: Themen und Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Das Rezept von Nicolas Sarkozy für den Wahlsieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy von Vincent Tiberj Der Sieg von Nicolas Sarkozy am 6. Mai 2007 fiel Und dennoch fiel das Ergebnis von 2007 deutlich deutlich aus. Mit 53,32 Prozent der abgegebenen anders aus als im Jahr 2004. Man könnte einfach Stimmen erzielte er – nach Charles de Gaulle 1965 auf die Hypothese eines in Wahlen unschlagbaren und François Mitterrand 1988 – das drittbeste Nicolas Sarkozy zurückgreifen, die durch alle Ergebnis in einem klassischen Wahlduell zwischen Umfragen vor der Wahl bestätigt zu werden schien,1 Rechts und Links zu Zeiten der Fünften Republik. und so in der persönlichen Konfrontation der bei- Kein konservativer Kandidat hatte vor 1965 je ein den Kandidaten eine Erklärung für die Niederlage solches Resultat erreicht. Betrachtet man die Zahl Ségolène Royals suchen. Wenn im Übrigen von der abgegebenen Stimmen, ist Nicolas Sarkozy einer »Postkartenstrategie« gesprochen wird, um die sogar der Präsident, dem die meisten Wähler ihre beinahe tägliche Medienpräsenz Nicolas Sarkozys Stimme gaben – mit Ausnahme von Jacques Chirac zu beschreiben, so muss hinzugefügt werden, dass im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen er dieser Strategie bereits seit seinem Amtsantritt am 5. Mai 2002. als Innenminister im Kabinett Raffarin folgte. In gewisser Weise begann daher der Wahlkampf 2007 Dieser Sieg ist deshalb besonders bemerkenswert, bereits im Mai 2002. Sarkozys Allgegenwart in den da er zuvor für die Linke greifbar nahe schien. Die Medien wurde häufig kritisiert, doch sie reicht als Situation des PS im Jahr 2007 unterschied sich Erklärung für den Wahlsieg 2007 nicht aus. deutlich von der Ausgangslage, in der sich Lio- nel Jospin im Jahr 1995 befand. Damals erholte Dennoch fielen die Ergebnisse nicht so positiv sich die Linke erst langsam von ihrer historischen aus, wie die Wahlkampfstrategen der UMP es sich Niederlage bei den Parlamentswahlen 1993, bei erhofft hatten. Den Umfragen des »Baromètre poli- denen der PS nur 31,01 Prozent und der PCF 4,8 tique français«2 zufolge, die vom Forschungsinstitut Prozent der Stimmen erhalten hatte, gegenüber CEVIPOF zwischen April 2006 und Februar 2007 28,99 Prozent für den RPR und 26,14 Prozent für durchgeführt wurden, wuchs die Glaubwürdigkeit die UDF. Angesichts dieser »blauen Welle« sorgte des UMP-Vorsitzenden mit dem Näherrücken bereits die Tatsache für eine Überraschung, dass der Wahlen: Im März 2006 fanden 55 Prozent Lionel Jospin den ersten Durchgang der Präsident- der Befragten, Sarkozy habe »das Zeug zum Prä- schaftswahlen gewann und auch in der Stichwahl sidenten«, im Februar 2007 waren es 68 Prozent. trotz der Niederlage gegen Jacques Chirac ein Damit übertraf er seine sozialistische Konkurrentin respektables Ergebnis erzielen konnte. Den Wahlen deutlich, deren Eignung für das Präsidentenamt 2007 gingen dagegen fünf schwierige Jahre für die nach ihrer Nominierung zur Kandidatin von den amtierende Regierung (CPE-Krise, Ablehnung des Befragten sogar geringer eingeschätzt wurde als Europäischen Verfassungsvertrags, Proteste gegen zuvor. Bis Dezember 2006 urteilte ungefähr jeder das Gesetz Fillon, Unruhen in den Vorstädten) und zweite Franzose, sie habe »das Zeug zur Präsiden- vor allem die Regionalwahlen im Jahr 2004 voraus, tin«, im Februar 2007 waren es nur noch 42 Pro- die nach der Reform des Wahlrechts erstmals nach zent. Doch trotz seiner steigenden Glaubwürdigkeit der Hälfte der fünfjährigen Amtszeit des Staatsprä- und des wachsenden Vorsprungs auf seine Haupt- sidenten abgehalten worden waren. Dabei hatte die konkurrentin konnte Sarkozy nicht das Image eines Linke zum ersten Mal seit der Wiederwahl François polarisierenden Politikers abstreifen, obwohl er Mitterrands eine Mehrheit errungen, und das bei selbst bewusst auf die Überwindung politischer einer für Regionalwahlen ungewöhnlich hohen Konfliktlinien setzte. Im März 2006 äußerten sich Wahlbeteiligung (66 Prozent im zweiten Wahlgang). 49 Prozent der Befragten beunruhigt über einen Vor diesem Hintergrund schien die politische Situ- möglichen Wahlsieg des heutigen Präsidenten. Bis ation für die Linke im Jahr 2007 deutlich günstiger zwei Wochen vor dem ersten Durchgang der Präsi- zu sein als 1995. dentschaftswahlen blieb dieser Wert konstant. Die
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 Präsidentin der Region Poitou-Charentes dagegen (davon 48 Prozent »uneingeschränkt«). Sogar der ließ sogar während ihrer Schwächephase im Januar umstrittene Vorschlag von François Hollande, die 2007 nur bei 42 Prozent der Wählerschaft Ängste Steuerabgaben ab einem Monatsverdienst von aufkommen. 4000 Euro anzuheben, fand bei den französischen Wählern eine Mehrheit: 54 Prozent unterstützten Kommunikation scheint also auch auf einer ihn, 26 Prozent gar »uneingeschränkt«. Auch zu politischen Bühne, die zunehmend von den Per- zwei Vorschlägen Sarkozys wurde die Meinung der sönlichkeiten der Politiker geprägt ist und sich in Wahlbevölkerung ermittelt, doch fiel das Ergebnis dieser Hinsicht mehr und mehr amerikanischen hier weniger eindeutig aus. 62 Prozent der befragten Verhältnissen anpasst,3 nicht alles bewirken zu kön- Franzosen stimmten dem Vorschlag zu, nur eine nen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass der Wähler von zwei durch Pensionierung frei werdenden Stel- politische Botschaften völlig unbedarft aufnimmt. len im öffentlichen Dienst neu zu besetzen. Davon Je eindringlicher ihm diese vermittelt werden sollen, unterstützen jedoch nur 30 Prozent der Befragten desto gefestigter tritt die ideologische Grundhal- den Vorschlag »uneingeschränkt«, was dem Pro- tung des Wählers zu Tage – und damit auch seine zentsatz einer festen Stammwählerschaft entspricht, Fähigkeit, politischen Botschaften mit Vorbehalt ähnlich der, die eine Steuererhöhung »uneinge- zu begegnen.4 Die Besorgnis gegenüber Nicolas schränkt« unterstützt, doch deutlich kleiner als Sarkozy lässt sich vor allem durch solche kognitiven die Gruppe derer, die sich für eine Anhebung des und ideologischen Vorbehalte von Teilen der Wäh- Mindestlohns aussprechen. Für seinen Vorschlag, lerschaft erklären. Die Persönlichkeit der beiden ein Ministerium für Immigration und nationale Kandidaten hat sehr wahrscheinlich für die Ent- Identität zu schaffen, erhielt Sarkozy im April 2007 scheidung der Bevölkerung am 6. Mai eine Rolle nur die Zustimmung einer sehr knappen Mehrheit: gespielt, doch sie reicht als einziger Erklärungsan- 51 Prozent unterstützten den Vorschlag und nur 23 satz nicht aus, immerhin haben beide Kandidaten Prozent waren »uneingeschränkt« dafür. Ein Rechts- persönliche Stärken, aber auch Schwächen gezeigt: ruck Frankreichs scheint diesen Umfragewerten Der Einen fehlte es an Glaubwürdigkeit, doch ver- zufolge weit entfernt, in wirtschaftlichen ebenso wie fügte sie über ein stärker konsensorientiertes Profil; in gesellschaftlichen Fragen. Der Sieg von Nicolas der Andere schien dem Amt des Staatspräsidenten Sarkozy war nicht von vornherein zu erwarten. eher gewachsen zu sein, doch löste er in der Bevöl- kerung Besorgnis aus. Eine »übermäßige Fixierung« Einige Wahlanalytiker führten das Ergebnis des Frankreichs 6. Mai auf einen »Rechtsruck in der Wählerschaft« zurück. Bei der Betrachtung der politischen Grund- Wenn sich der Sieg von Nicolas Sarkozy weder haltung der französischen Wähler ist diese konser- durch eine liberal-konservative Wende erklären lässt vative Wende jedoch alles andere als offensichtlich, noch einfach ein »charismatischer« Sieg war, so sowohl bezüglich gesellschafts- und wirtschafts- muss es einen anderen Faktor gegeben haben, der, politischer Themen als auch im zivilgesellschaft- unabhängig von den Stärken und Schwächen der lichen Bereich. Das CEVIPOF hat vor dem ersten beiden aussichtsreichsten Kandidaten, den Wahl- Wahlgang der Präsidentschaftswahlen französische ausgang beeinflusste. Die »Sarkozy-Wende« wird Wähler zu ihrer Meinung über einige zentrale Vor- vermutlich die Debatten der Wahlforscher während schläge der beiden Kandidaten befragt: 88 Prozent der nächsten Jahre beherrschen; hier aber geht es der Befragten unterstützten die Rückforderung darum, eine der versteckten Lesarten dieses Wahl- staatlicher Leistungen gegenüber Firmen, die ihren ergebnisses darzustellen: nämlich die einer »über- Sitz ins Ausland verlagern (davon sprachen sich mäßigen Fixierung« (»crispation identitaire«) der 63 Prozent »uneingeschränkt« für den Vorschlag französischen Gesellschaft,5 die sich insbesondere aus). 77 Prozent befürworteten eine Anhebung im Zusammenhang mit Fragen der Immigration des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns und Integration bemerkbar gemacht hat. Zudem auf 1500 Euro »zum nächstmöglichen Zeitpunkt« muss die Wechselwirkung zwischen jener Fixierung
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 und einem Kandidaten, dessen Wahlkampfarbeit zugleich: »Niemals zuvor haben Wertvorstellungen sich als besonders wirkungsvoll erwiesen hat, unter- in den Bereichen der öffentlichen Ordnung und der sucht werden. Immigration den zweiten Wahlgang einer Präsident- schaftswahl so stark beeinflusst [wie im Jahr 2007]. Diese übermäßige Fixierung beruht auf einer Viel- Die Diskussion um den Islam ist besonders typisch zahl von Befürchtungen, die durch die Debatten für die Entwicklung, die stattgefunden hat. Auf der um die »France plurielle« nach dem 11. September einen Seite stehen immer weniger Menschen dem hervorgerufen wurden: die Furcht vor dem kultu- Islam grundsätzlich negativ gegenüber. Auf der rellen Auseinanderbrechen und einer Islamisierung anderen Seite ist die Haltung gegenüber der isla- der französischen Gesellschaft und die Angst um mischen Religion plötzlich ein entscheidendes Krite- die republikanischen Werte. Neu an diesem gesell- rium für die politische Entscheidung geworden: Der schaftlichen Phänomen ist, dass solche Befürch- Abstand [zwischen der sozialistischen Kandidatin tungen nicht mehr allein im Zusammenhang mit und dem konservativen Kandidaten, bei alleiniger der Frage nach dem Einfluss des FN artikuliert Betrachtung ihrer Haltung gegenüber dem Islam] werden, wie dies in den neunziger Jahren der Fall steigt so im zweiten Wahlgang von 16 Prozent 1995 war. Sie sind zu legitimen Diskussionsthemen auf 32 Prozent 2007.« Es ist also anzunehmen, geworden, auch dort, wo sie früher verpönt waren. dass sich hinter den Angaben der Wähler noch eine Diese Fixierung hat das Ergebnis der Präsident- »versteckte Agenda« verbirgt, welche die Wahl 2007 schaftswahlen 2007 beeinflusst und könnte so eine beeinflusst hat und in der die Fixierung der franzö- neue politische Ausgangslage schaffen, in der die sischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielt. Begriffe »rechtes« und »linkes« politisches Lager neu definiert werden müssten.6 Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, ist es wichtig, auf die strukturellen Veränderungen in der Frankreich erlebt, wie andere westliche Demokra- Wählerschaft einzugehen; vor allem auf die Entste- tien, eine »stille Revolution«7 der Wertvorstellungen, hung eines neuen Wählertyps, der sein Wahlverhal- die zum einen zu einem Wandel in der Erwartungs- ten von aktuellen Interessenlagen und der momen- haltung der Wähler führt, zum anderen zu einer tanen politischen Situation abhängig macht. Denn neuen Politik, die von gesellschaftlichen und post- dieser »Konjunkturwähler« stand im Mittelpunkt materialistischen Fragestellungen (sexuelle Toleranz, der Wahlkampfstrategie von Nicolas Sarkozy und Immigration, kulturelle Vielfalt usw.) bestimmt ermöglichte dem UMP-Vorsitzenden letztendlich wird. Diese neue Orientierung hat nach und nach den Wahlsieg. die traditionellen politischen Debatten um soziale Ungleichheit, das Wirtschaftssystem und die Vertei- lung des Wohlstands verdrängt. Die Bürger stehen Der »Konjunkturwähler« daher Immigranten oder französischen Staatsbür- gern mit Migrationshintergrund positiver gegenü- Nicht nur der PS oder die UMP diskutieren über ber, was sich auch in einem Rückgang von Ethno- Veränderungen ihrer ideologischen Grundausrich- zentrismus und Fremdenfeindlichkeit ausdrückt. tungen. Die Wähler greifen derartige Debatten auf, Von einer »Fixierung« in der Gesellschaft zu spre- wodurch sich auch ihr Entscheidungsraster bei der chen, könnte vor diesem Hintergrund also paradox Stimmabgabe verändert. Zu oft werden die Wähler erscheinen. Und tatsächlich wurde 2007 die Bedeu- als homogene Gruppe wahrgenommen, deren poli- tung der Immigration als Wahlkampfthema ähnlich tische Bande, sobald einmal geknüpft, von Dauer gering eingeschätzt wie in der Vergangenheit (zehn sind. Doch diese Annahme verkennt die aktuellen Prozent 2002, neun Prozent 2007). Bei alleiniger Entwicklungen, vor allem das Aufkommen einer Betrachtung dieses Indikators bliebe die Bedeutung »Konjunkturwählerschaft«, die zugleich durch ein dieser Fixierung der Gesellschaft letztlich begrenzt. zunehmend individualisiertes Verhältnis zur Poli- tik, eine bewusste Unterstützung einzelner ideo- Und dennoch scheint die Situation nicht so ein- logischer Aspekte sowie eine gewisse Flexibilität fach zu sein, denn Etienne Schweisguth8 bemerkt gekennzeichnet ist, die sich auf ihre Entscheidung,
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 zu wählen oder nicht zu wählen, ebenso auswirkt Arbeitern innerhalb eines Betriebs Bestand haben, wie letztlich auf die Wahlentscheidung an der Urne wenn die eigentlich für sie vorgesehenen Stellen selbst. Hierin liegt eine der bedeutendsten Verände- zunehmend ausgelagert und in den Dienstleistungs- rungen, die das Wahlverhalten während der letzten sektor integriert werden? Jahrzehnte in den europäischen Demokratien erfah- ren hat: Die Stimmabgabe wird immer weniger von Ausgehend von der vereinfachenden Gleichung der Klassenzugehörigkeit bestimmt, vor allem die »Nenne mir deinen sozialen Stand und ich sage Arbeiterschicht verliert zunehmend ihre Bindung dir, zu welchem politischen Lager du gehörst«, an das linke politische Lager;9 diese Annahme erscheint es folglich nur logisch, dass sich das Ver- grundsätzlicher Bindungen ist Teil eines überkom- halten der Arbeiterklasse mehr und mehr dem der menen Wählermodells, das in viele Analysen nach übrigen Gesellschaft anpasst. So zeigt Florent Gou- wie vor einfließt, obwohl es kaum in der Lage ist, gou, dass die Linke im Jahr 1974 von der Arbei- die gesellschaftlichen Veränderungen zu erfassen. terklasse im Schnitt 17 Prozent mehr Stimmen erhielt als vom Rest der Gesellschaft. 1995 lag diese Wenn sich die linken Parteien besorgt über ihren Differenz noch bei acht Prozent, und war im Jahr sinkenden Rückhalt in der Arbeiterschaft zeigen, so 2002 ganz verschwunden.10 Am 22. April 2007 ent- beziehen sie sich dabei auf dieses starre Wähler- schieden sich 26 Prozent der Arbeiter für Nicolas modell, das auf historischen Gesellschaftsbildern Sarkozy, 25 Prozent für Ségolène Royal, 16 Prozent beruht, die durch die lange Allianz zwischen den für Jean-Marie Le Pen und 15 Prozent für François Gewerkschaften und der Linken geprägt wurden. Bayrou.11 Insgesamt unterstützten 40 Prozent der Doch auch wenn der Begriff der »Arbeiterschicht«, Arbeiter das linke Lager, dieser Wert liegt 3,7 Pro- der die Idee einer homogenen Gruppe impliziert, zent über dem Anteil linker Wähler an der Gesamt- durch den Ausdruck »catégories populaires« abge- wählerschaft. Aber wer wollte hier von einer löst wurde – ein Begriff, der die Vielfalt der Indivi- Rückkehr zu früheren Verhältnissen sprechen? Die duen innerhalb einer solchen Gesellschaftsgruppe zunehmende Streuung der Wahlentscheidungen in besser zum Ausdruck bringt –, erwartet man von der Arbeiterklasse erscheint dabei als eine direkte ihren Mitgliedern doch auch weiterhin, dass sie Folge des Generationenwechsels, des Wandels des eine Einheit bilden. Diese nach wie vor verbreitete Arbeiterberufs und der Schwächung von Instanzen, Einteilung in Gesellschaftsklassen lässt sich jedoch die den Gruppenzusammenhalt fördern. Doch wer- soziologisch wie politisch immer weniger rechtfer- den bei dieser Analyse Entwicklungen außer Acht tigen. 34 Prozent der heutigen Werktätigen sind gelassen, die das gesamte Wahlvolk betreffen und nach 1971 geboren und kennen nur die andauernde zur Entwicklung einer »Konjunkturwählerschaft« Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit. beigetragen haben. Sozialisierungsprozesse, die zum Erhalt eines Klassenverständnisses beitragen könnten, haben Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich nach und dadurch zumindest an Wirkung eingebüßt. Dies nach eine neue Haltung gegenüber der Politik etab- ist unter anderem der Schwächung jener Instanzen liert, ohne dass die Bedeutung dieser Entwicklung zuzuschreiben, welche die Sozialisation prägen, wie erkannt wurde. Sie äußert sich in einer zuneh- beispielsweise Gewerkschaften. Wie soll bei jun- menden Distanzierung vom politischen Geschehen, gen Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer ausgelöst durch ein Misstrauen, das die Wähler- Berufsgruppe entstehen, wenn der Arbeitsplatz schaft gegenüber den politischen Verantwortlichen unsicher ist und der Angestellte sich gegenüber sei- empfindet: dem Umfrageinstitut SOFRES zufolge ner Firma mehr oder weniger allein gelassen fühlt? waren im Jahr 1977 42 Prozent der Befragten der Wie kann sich ein solches Gefühl entwickeln, wenn Meinung, dass die Politiker sich wenig oder fast sich unter den Arbeitnehmern immer öfter eine Art gar nicht darum kümmerten, was die Franzosen modernes Nomadentum entwickelt und sie immer dachten; 1990 wurde in dieser Frage erstmals die seltener ihr gesamtes Leben als Werktätige in ein- Schwelle von 60 Prozent überschritten, und mit und demselben Unternehmen verbringen können? Ausnahme des Jahres 1994 sank dieser Wert seit- Wie soll ein Gefühl von Solidarität zwischen den dem nicht mehr. Im März 2006 zweifelten 69 Pro-
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 zent der Franzosen daran, dass die Politiker noch in an einer Präsidentschaftswahl. Im März 2004 sank der Lage seien, ihren Wählern zuzuhören. der Prozentsatz der Stimmenthaltungen bei den Regionalwahlen um vier Prozentpunkte (von 42 Diese Vertrauenskrise ist nicht mit Politikverdros- auf 38 Prozent). Im Juni 2004 enthielten sich bei senheit gleichzusetzen, ganz im Gegenteil, denn der Europa-Wahl so viele Wähler wie nie zuvor (57 das Interesse an Politik ist seit dem Jahr 1978 mehr Prozent, was einem Anstieg um 5 Prozentpunkte oder weniger konstant geblieben (den Umfrage- gegenüber 1999 entsprach). Im Jahr 2005 wurde der werten zufolge zwischen 42 und 54 Prozent). Im Europäische Verfassungsvertrag bei einer Abstim- Spätsommer 2006 zeigten sich 66 Prozent der mungsbeteiligung von nahezu 70 Prozent abgelehnt, Franzosen sehr oder ziemlich interessiert an den was ungefähr dem Wert von 1992 entspricht. Im Präsidentschaftswahlen, ein Wert, der in den Wahl- April 2007 näherte sich die Wahlbeteiligung dem kämpfen der Jahre 1981 und 1988 erst im letzten Rekordwert von 1965,13 im Juni 2007 stieg der Monat vor der Wahl erreicht wurde und der bereits Prozentsatz der Enthaltungen bei den Parlaments- zehn Prozentpunkte über dem Wert lag, den die wahlen auf 40,2 Prozent, einen Wert, der nie zuvor Umfrageinstitute am Wahlmorgen des 21. April erreicht wurde. Die neunziger Jahre sind von einer 2002 ermittelt hatten. In der letzten Woche vor stetig sinkenden Wahlbeteiligung, die zweite Amts- dem 22. April 2007 registrierte das Umfrageinstitut zeit Jacques Chiracs von gegensätzlichen Prozessen SOFRES mit 87 Prozent einen historischen Rekord der Mobilisierung und Demobilisierung geprägt. in dieser Frage. Misstrauen ist also nicht gleichzu- Nie zuvor hatte sich die allgemeine politische Lage setzen mit Entpolitisierung. Während die Politiker so stark auf das Wahlverhalten ausgewirkt, was die in Frage gestellt werden, entwickelt sich hinter die- Theorie von Anne Muxel und Jérôme Jaffré14 bestä- sem Zweifel ein neues Verhältnis zur Politik. Wir tigt, die zwischen Nichtwählern »innerhalb« und erleben die Herausbildung eines »kritischen Bür- »außerhalb« des politischen Systems unterscheidet: gers«,12 eines Bürgers, der sich nichts vormachen also zwischen jenen Nichtwählern, die sich für die lässt und der eine Entscheidung nur dann fällt, Politik interessieren, sich jedoch bewusst entschei- wenn ein Kandidat ihn wirklich überzeugt hat. den, der Wahl fernzubleiben, und solchen, die zu den traditionellen Nichtwählern zählen und denen Angesichts dieses neuen Wählertypus tritt der vornehmlich aus soziologischen Gründen das poli- »automatische Wähler«, der den Anweisungen sei- tische System fremd bleibt. ner Partei folgt und sich ihrer Führung anvertraut, in den Hintergrund. Eine Wählerschaft, die festen Ein letzter Aspekt ergänzt die Liste der Eigen- Strukturen folgt, wird also von einer »Konjunk- schaften des »Konjunkturwählers«: Er verhält sich turwählerschaft« abgelöst. Es ist kein Zufall, dass gegenüber der Politik nicht wie ein Konsument, der immer mehr Menschen zögern, zur Wahl zu gehen zunächst alle politischen Marken miteinander ver- oder sich für eine bestimmte Partei zu entscheiden. gleicht, ohne eine davon bereits im Voraus auszu- 1988 erklärten 8,5 Prozent der Befragten, sich im schließen. Er ist jedoch auch nicht mehr der treue Laufe des Wahlkampfs für einen Kandidaten ent- Anhänger von früher. 1988 stimmten 75 Prozent schieden zu haben, 11 Prozent gaben an, erst »im der Wähler für den Kandidaten jener Partei, der sie letzten Moment« ihre Wahl getroffen zu haben. sich nahe fühlten; 2002 taten dies nur noch 57 Pro- Sieben Jahre später hatte sich die Zahl derer, die bis zent. Diese zunehmende Lockerung der Bindung zum letzten Moment zögerten, mehr als verdoppelt, an eine Partei führt jedoch nicht zum Verschwin- um 2002 noch einmal um das Doppelte zuzulegen. den des ideologischen Wählers oder der Abnahme seiner Verbundenheit mit einem bestimmten poli- Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Wahl- tischen Lager. Denn wenn ein Wähler schon nicht beteiligung zwischen 2002 und 2007, die belegt, wie für seine bevorzugte Partei stimmt, so wird er sich stark die Entscheidung, zur Wahl zu gehen, heute zumindest für einen Kandidaten entscheiden, der von der aktuellen politischen Konjunktur beeinflusst dieser Partei nahe steht. Nur 16 Prozent der Wäh- wird: Im Jahr 2002 ermitteln die Umfrageinstitute ler wechselten 2007 das politische Lager, indem einen historischen Tiefstand bei der Wahlbeteiligung sie beispielsweise für einen konservativen Kandi-
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 daten stimmten, obwohl sie sich selbst dem linken sche Kandidatin hat nur 18 Prozent der Anhänger Parteispektrum zuordneten. So waren beim ersten des späteren Präsidenten in ihrer Wahl beeinflusst. Wahlgang 2007 acht Prozent der Sarkozy-Wähler dem linken Lager zuzurechnen, ebenso viele Wäh- Als eine dritte Entwicklung zeichnet sich ab, dass ler Ségolène Royals sahen sich selbst im rechten eine immer größere Offenheit das Wahlverhalten politischen Lager. kennzeichnet: Die Wähler verstehen das Politikan- gebot als eine Palette von Möglichkeiten, zwischen Die »Parteien innerhalb der Wählerschaft« haben denen sie ihre Wahl treffen. Im Jahr 2004 nannten sich in Frankreich in drei Punkten weiterentwi- 32 Prozent der Wähler im Vorfeld der Wahl zwei ckelt.15 Erstens beruhen Neigungen zu bestimmten Parteien, zwischen denen sie sich entscheiden woll- Parteien heute zunehmend auf einem unbestimm- ten; 16 Prozent schwankten zwischen drei Parteien. ten Gefühl; der Wähler tendiert zu der Partei, Bei der Wahl 2007 nannten die Umfrageteilnehmer die von seinen politischen Überzeugungen am auf die Frage »Für welche der folgenden Parteien wenigsten weit entfernt zu sein scheint. Diese Ent- erwägen sie, ihre Stimme abzugeben?«16 im Schnitt wicklung betraf in den Jahren 2002 bis 2007 einen 2,24 Parteien. Anteil von 40 bis 44,5 Prozent der Wählerschaft, und sie geht einher mit der Entstehung eines Wäh- Dass das Wechseln zwischen Parteien immer lertyps, der sich in seinen politischen Ansichten üblicher wird, erklärt und verstärkt die wach- zunehmend unabhängig zeigt. sende Unschlüssigkeit der Wähler ebenso wie die Schwankungen in den Ergebnissen der Parteien Parallel zur Schwächung der Parteibindung erleben bei unterschiedlichen Wahlen. Wenn also Gérard wir, zweitens, eine zunehmend kritische Haltung Grunberg und Florence Haegel17 eine Tendenz der Wähler gegenüber dem politischen Angebot. zum Zweiparteiensystem in der französischen Poli- Zwischen 1988 und 2004 stieg beispielsweise der tik beobachten, so ist damit eher eine zunehmende Anteil derer an der Gesamtwählerschaft, die »auf Strukturierung und Professionalisierung der beiden keinen Fall« für den PS stimmen wollten, von 12 dominierenden Parteien gemeint als eine dauerhafte auf 21 Prozent. Der Anteil der Wähler mit grund- Zuordnung der Wählerschaft zu PS oder UMP. sätzlich ablehnender Haltung gegenüber dem RPR Der Ablauf der Wahl 2007 und die 57 Prozent der und später der UMP stieg in diesem Zeitraum auf Stimmen, welche die beiden Kandidaten der großen 33 Prozent, gegenüber einem Wert von 21 Pro- Parteien auf sich vereinigen konnten, sind vielmehr zent 16 Jahre zuvor. Das Wahlverhalten verändert der politischen Konjunktur als einem grundsätz- sich. Der Wähler folgt bei seiner Entscheidung lichen Wiedererstarken des Systems der großen für einen Kandidaten, den er persönlich für am Parteien geschuldet. besten befunden hat, immer stärker dem Prinzip des schrittweisen Ausschließens politischer Alter- nativen; immer seltener spielt die uneingeschränkte Die Wahl: Themen und Debatten Unterstützung für einen einzelnen Kandidaten eine Rolle. Für diese Entwicklung sind die Wahlen 2007 Damit es jedoch zu diesem Wahlergebnis kommen von besonderer Bedeutung: Nicolas Sarkozy hat konnte, mussten mehrere »konjunkturelle« Ele- das Wahlverhalten der Linken ganz augenschein- mente zusammenwirken. Häufig wird in diesem lich mehr geprägt als Ségolène Royal: Dem Institut Zusammenhang auf die Persönlichkeit der beiden IPSOS zufolge gaben 42 Prozent der Royal-Wähler Spitzenkandidaten hingewiesen, insbesondere ihren an, die PS-Kandidatin am 6. Mai vor allem deshalb Willen, sich von den etablierten Führungsfiguren gewählt zu haben, um Nicolas Sarkozy »den Weg und Strukturen ihres politischen Lagers abzugren- in den Elysée-Palast zu versperren«, gegenüber 55 zen. Andere führen die jüngste Entwicklung im Prozent ihrer Wähler, die sich Royal tatsächlich als Land an, insbesondere die Erinnerung im linken Präsidentin gewünscht hatten. Unter den Wählern Lager an den 21. April 2002, als der Rechtsextreme Nicolas Sarkozys fällt die direkte Zustimmung stär- Jean-Marie Le Pen den Kandidaten der Sozialisten, ker aus, eine bewusste Stimme gegen die sozialisti- Lionel Jospin, im ersten Wahlgang aus dem Rennen 10
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 warf. Doch ein Wahlergebnis hängt vor allem sehr wissen wollen. Hier spielen Medien ebenso wie stark davon ab, welche Themen den Wahlkampf politische Akteure eine Rolle, aber auch zivilge- beherrschen. Und hier liegt einer der Gründe, wenn sellschaftliche Organisationen, die neben ihrer nicht sogar der wichtigste Grund für die Niederlage traditionellen Funktion als Interessenvertreter der Linken in den Jahren 2002 und 2007. Ein Wahl- in diesem Zusammenhang als »Agenda-Setter« kampf beschränkt sich nicht auf die Gegenüber- auftreten. Im Allgemeinen gelingt es bei solchen stellung politischer Programme: Wie groß mag der Prozessen jedoch nicht, die Anliegen der breiten Anteil derjenigen Wähler sein, die sich tatsächlich Öffentlichkeit einzubeziehen. Zwar können mit die Zeit genommen haben, die Wahlprogramme der den auf diese Weise entwickelten Themen spezielle verschiedenen Parteien und Kandidaten im Detail Wählerschichten angesprochen werden, doch sind zu studieren? Wie viele der Adressaten lesen wohl Erfolg oder Misserfolg solcher Initiativen auch für die knappen Glaubensbekundungen, die ebenfalls die Kandidaten selbst häufig kaum abzuschätzen. eine, wenn auch aufs Wesentliche konzentrierte Im Jahr 2007 gelang es Nicolas Hulot, die Frage Form dieser Programme darstellen? Ein Wahl- der nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda der kampf ist jedoch ebenso wenig ausschließlich eine Wahlkampfthemen zu platzieren; andere jedoch, Gegenüberstellung von Persönlichkeiten: Zwar wir- wie die Schwulen- und Lesbenvereinigungen oder ken sich die Charaktere der Kandidaten durchaus gar die Vereinigung der Motorradfahrer waren mit auf deren Wahlkampftaktik aus, auf ihre Selbst- ihren Anliegen weniger erfolgreich. darstellung und die Positionen, die sie gegenüber anderen beziehen – wahlentscheidend ist all dies Dieses Konkurrieren der verschiedenen Akteure jedoch nicht. in dem Bestreben, die Agenda des Wahlkampfs zu dominieren, schränkt sicherlich ihren Handlungs- In erster Linie ist ein Wahlkampf das Zusam- spielraum ein, doch geht dieser dabei nicht völlig mentreffen zwischen einem bestehenden Kontext verloren, weit gefehlt! In gewisser Weise ist es und einem Politikangebot, zwischen einer Agenda ebenso wichtig, ein »gutes« Programm zu haben, und verschiedenen Programmen. Ein Wahl- wie diesem Programm im Vorfeld des Wahlkampfs kampf besteht aus einer Reihe von Debatten über den Boden zu bereiten. Ansonsten wäre die Gefahr bestimmte Themen und über Probleme, welche groß, unabhängig von der Qualität der einge- die Gesellschaft bewegen; die Wähler entscheiden brachten Vorschläge, thematisch »völlig daneben zu schließlich zwischen unterschiedlichen Antworten, liegen«, oder weit von dem abzuweichen, was »die die ihnen die Politik auf diese Herausforderungen Franzosen wollen«, selbst wenn dieser Wille eigent- anbietet. Doch ist es ein Irrtum zu glauben, die lich stärker durch die Kandidaten selbst als durch Themen stünden von vornherein fest. Häufig lässt die Wähler geprägt wird. Dieses Abstecken des sich feststellen, dass zwischen der Agenda der Poli- Terrains, typisch für die Phase des Vorwahlkampfs, tiker und der der Wähler deutliche Abweichungen ist umso wichtiger, als ein Kandidat, der seinem auftreten,18 und selbst wenn diese Abweichungen Gegner hier das Feld überlässt, diesem im späteren aufgrund intensiver Meinungsumfragen seltener Wahlkampf ein »Heimspiel« ermöglicht, mit allen geworden sind, so spielen sie nach wie vor eine damit verbundenen Vorteilen. So lässt sich auch wichtige Rolle. Im Jahr 2007 führten nur vier Pro- die Niederlage der Befürworter des Europäischen zent der Befragten die Finanzierung der Sozialver- Verfassungsvertrags erklären, die zusehen mussten, sicherung als wichtiges Kriterium für ihre Wahl- wie ihre Gegner Boden gut machten, indem sie die entscheidung an, nur sechs Prozent nannten hier ihnen fehlenden Stimmen im Bereich der Sozialpo- die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit litik hinzugewannen.19 – dennoch machte François Bayrou beide Themen zu zentralen Punkten seines Wahlprogramms. Nicht nur das Politikangebot hängt von den zuvor festgelegten Themengebieten ab; sie bestimmen Das Klima eines Wahlkampfs wird von einer Viel- auch, welche Fragen dem Wähler überhaupt gestellt zahl von Akteuren bestimmt, die alle ihre eigenen werden. Und gerade im Fall des Konjunkturwählers Themen auf der politischen Agenda platziert beeinflusst die Themenfestlegung auch in erheb- 11
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 lichem Maße die Antwort, die dieser am Tag der Gründe der Unzufriedenheit (die weit über 60 Abstimmung gibt – und damit den Ausgang der Prozent der Bevölkerung empfanden) ähneln sich Wahl. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf alle in den beiden Fällen: die Reform der Sonderrege- Wähler auswirken; einige werden beispielsweise lungen im Rentensystem (»régimes spéciaux«) der einer Partei oder einem bestimmten politischen Regierung Juppé im Herbst 1995 und die Renten- Thema verhaftet bleiben, und letztlich, völlig unab- reform des Arbeitsministers Fillon aus dem Jahr hängig von der politischen Konjunktur im Land, 2004. Die Rechte agierte dabei in schwierigem, ihre Wahlentscheidung treffen. Doch die zentralen von sozioökonomischen Interessen beherrschten Themen eines Wahlkampfs werden von der allge- Gelände, auf dem die damalige Regierung eindeutig meinen Konjunktur beeinflusst, was bestimmten Elemente einer »Klassenpolitik« wiederbelebt hat. Kandidaten und ihren Wahlprogrammen eher zu In beiden Fällen hatte letztlich die Bilanz der Regie- Gute kommt als anderen, die Persönlichkeit einiger rung größeren Einfluss als die Vorschläge der lin- Wähler eher anspricht als die von anderen. Ein ken Opposition, dominierte die Angst vor sozialen Wahlkampf, der sozioökonomische Fragen in den Einschnitten: Zunächst äußerte sich dies in Stimm- Mittelpunkt rückt, kann zu einem Wiederaufleben enthaltungen konservativer Wähler und schließ- des Klassenbewusstseins führen, das zunehmend lich in einer verstärkten Mobilisierung der linken verschwindet; eine Kampagne, die an sicherheitspo- Wählerschaft, die dann zu ihrem Wahlsieg führte.20 litischen Themen ausgerichtet ist, hätte eine völlig Zugleich lässt sich so das Wahlverhalten der Arbei- andere Wirkung. terschicht erklären: Angesichts eines Wahlkampfs, in dessen Mittelpunkt die Abrechnung mit der zuvor Wird auf die CEVIPOF-Analysen des Wahlver- verfolgten liberalen Politik stand, konnte die Linke haltens der politischen Linken zwischen 1978 und einen massiven Stimmenzuwachs verzeichnen. 2007 dasselbe auf gesellschaftlichen Indikatoren wie Beruf, religiöser Einstellung und Bildungsab- Auch die Wahl 2007 hätte eine Rückkehr der schluss beruhende soziologische Modell angewen- Arbeiterschicht ins linke Lager auslösen können. det, so zeigt sich, dass sich ein solcher Erklärungs- Gleichwohl verlor die Klassenzugehörigkeit gegen- ansatz mit starren Variablen immer weniger eignet: über dem Jahr 2002 sogar noch an Bedeutung für Kann das Modell im Jahr 1978 noch die Wahlent- die Wahlentscheidung. André Malraux würde den scheidung von 28 Prozent der Wähler erklären, Sieg des Präsidenten wohl so kommentieren: »Die folgen am 22. April 2007 nur noch neun Prozent Anhängerschaft Sarkozys erinnert an die Métro zu der Stimmentscheidungen diesem Erklärungsmus- Beginn des Feierabends«,21 man findet dort Ver- ter. Es ist dabei kein Zufall, dass das Modell bei der treter aller gesellschaftlichen Schichten. Doch um Erklärung des Wahlsiegs von Nicolas Sarkozy kaum diese Anhängerschaft zu mobilisieren, musste sich noch zu greifen scheint. Dennoch gibt es mindes- der neue Präsident zunächst eine günstige Aus- tens zwei Ausnahmen, bei denen eine sinnvolle gangslage für seinen Wahlkampf schaffen – und er Anwendung dieses Modells möglich erscheint: die wusste auch, wie. Seine Strategie beruhte auf einem Parlamentswahlen 1997 und die Europawahl 2004 einfachen Prinzip: Wenn der Wahlkampf nicht gut (hier ermöglicht das Modell die Erklärung von 24 läuft, muss eher das Thema als der eigene Stand- Prozent der Wahlentscheidungen). punkt geändert werden. Von einzelnen Unterschieden abgesehen weisen die beiden erwähnten Wahlen ausreichend Gemein- Das Rezept von Nicolas Sarkozy samkeiten auf, die einen Vergleich zwischen ihnen für den Wahlsieg rechtfertigen. Eine der Gemeinsamkeiten liegt darin, dass zum Zeitpunkt der Wahl die Macht in Nicolas Sarkozy konzentrierte seine Medienkam- den Händen einer konservativen Regierung lag: der pagne nicht auf ein einzelnes Thema, wie es sein Regierung Juppé im einen, der Regierung Raffarin Vorgänger 2002 mit dem Thema Sicherheit getan im anderen Fall. Beide Regierungen waren zudem hatte. Stattdessen versuchte er, den Debatten eine bei der Bevölkerung äußerst unbeliebt. Auch die neue Wendung zu geben und so die Rahmenbedin- 12
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 gungen des Wahlkampfs zu verändern. Anstatt der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftssystems Linken in der Sozialpolitik das Feld zu überlassen, gegenüber dem Wohl der Arbeitnehmer. Nicolas nahm er sich einiger ihrer Themen an und berief Sarkozy erkannte früh die Möglichkeiten, die sich sich in seiner Wahlkampagne auf einige traditio- aus dieser Entwicklung für seinen Wahlkampf nelle Vertreter des linken Lagers. So erhoffte er ergaben, und nutzte sie seit Januar 2007. Seine sich, die Debatte mitzugestalten und auch im antili- politische Botschaft hatte dabei nicht mehr viel beralistischen Lager zu punkten. Er spielte mit den mit den Beschlüssen des UMP-Parteitags vom ideologischen Grenzen politischer Lager und zeigte 16. und 17. März 2005 gemein, in deren Mittel- dabei deutlich seine Absicht, sie gegebenenfalls punkt eine Reform des Arbeitsrechts gestanden auch zu überschreiten. So gelang es ihm, auch in hatte. Vielmehr konzentriert sie sich auf die Idee der Sozialpolitik die Debatte nach seinen Vorstel- der individuellen Verantwortlichkeit: persönliches lungen zu gestalten. Verdienst statt solidarischer Gesellschaft; der indi- vidualistische Leitsatz »Wer mehr arbeitet, verdient Häufig haben Kommentatoren von einem Anstieg auch mehr« statt des Ziels, die Gesellschaft als sozialer Ungleichheit und der Unsicherheit der Ganzes voranzubringen. Diese Individualisierung Arbeitsplätze in Frankreich gesprochen, und in Wirtschaftsfragen war eine Reaktion auf die dieses Thema fand einen gewissen Widerhall in wachsende Besorgnis ums eigene Wohl bei einem der Wählerschaft: Im Jahr 2007 sahen die Fran- Teil der Wählerschaft und veränderte entscheidend zosen im Bereich der Arbeitslosigkeit den größ- die Ausgangslage des Wahlkampfs. Vor dem Hin- ten Handlungsbedarf für die Politik. Doch diese tergrund von Ségolène Royals Phase des Abwartens Spitzenposition auf der politischen Agenda, die und Zuhörens im Namen der »Partizipation« fiel den Sozialthemen bereits im Jahr 2002 von den diese Entwicklung umso stärker ins Auge. Zuzu- Themen Gewalt und Unsicherheit streitig gemacht hören statt selbst die politische Bühne zu beherr- worden war, schien auch 2007 nicht unangefoch- schen hieß zugleich, seinem Gegner das Feld in den ten zu sein, insbesondere dann, wenn die Situation Medien zu überlassen und ihm die Möglichkeit zu mit den Jahren 1988 und 1995 verglichen wird (43 geben, die Wahlkampfthemen zu bestimmen. Die Prozent im Jahr 2007 gegenüber 80 und 73 Prozent Logik der Individualisierung setzte sich so gegen- in den beiden Vergleichsjahren). Zudem rückten über einer Gemeinschaftslogik durch und brachte neue Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik die beiden Kandidaten im Bereich der Wirtschafts- im Jahr 2007 in den Vordergrund und führten politik auf Augenhöhe – genau dort, wo sich die zu neuen Ängste: Nie zuvor war den Fragen der traditionelle Skepsis der Wähler gegenüber einer Kaufkraft und der Preissteigerungen am Vorabend liberalen Wirtschaftspolitik zu Lasten des UMP- einer Präsidentschaftswahl eine so große Bedeutung Vorsitzenden hätte auswirken können. beigemessen worden (13 und 18 Prozent im Jahr 2007 gegenüber jeweils drei Prozent im Jahr 1995). Dass es ihm gelang, diese Nachteile in der Wirt- Die wirtschafts- und sozialpolitischen Anliegen der schaftspolitik auszugleichen, ist einer der Gründe Bürger scheinen dabei in besonderer Weise von der für den Sieg Sarkozys. Hinzu kommt, dass er wei- jeweiligen persönlichen Interessenlage beeinflusst tere Themen auf der Wahlkampfagenda platzieren zu sein; die Wähler handelten 2007 eher als ein- konnte, mit denen er später punkten sollte: Immig- zelne Wirtschaftsakteure denn als Mitglieder einer ration, Integration, Sicherheit. In diesem Zusam- Gemeinschaft. Die Angst vor persönlichen Nach- menhang spielte die bereits erörterte übermäßige teilen stand im Vordergrund. Fixierung der französischen Gesellschaft eine ent- scheidende Rolle. Hierin lag ein wichtiges Potenzial für eine Neuge- staltung des wirtschafts- und gesellschafspolitischen Schematisch betrachtet existieren innerhalb der Diskurses, der die traditionelle Gegenüberstellung Wählerschaft zwei Gegensatzpaare: In wirtschafts- wirtschaftspolitischer Positionen und Instrumente politischen Fragen stehen sich Liberalismus und überwinden sollte, welche die Debatte zwischen Antiliberalismus gegenüber, auf gesellschaftlicher Links und Rechts lange Zeit bestimmt hatte: die Ebene autoritäre und libertäre Gesellschaftsbilder.22 13
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 Diese beiden Achsen mit ihren je zwei Grundhal- auf soziale und wirtschaftliche Themen konzent- tungen scheinen unabhängig voneinander und in rieren können. Doch Nicolas Sarkozy steckte den der Regel nicht deckungsgleich zu sein. So kennen thematischen Rahmen seines Wahlkampfs anders große Teile der Wählerschaft die Erfahrung, bei ab: Verbrechensbekämpfung, Migrationspolitik und ihrer Wahlentscheidung in zwei gegensätzliche Integrationsfragen stellten die ideologischen Eck- Richtungen zu tendieren. In den siebziger und punkte seines Programms dar. Und dies wirkte sich achtziger Jahren folgten die Arbeiter beispielsweise in zweifacher Hinsicht auf die Wählerschaft aus. mehrheitlich ihren sozial- und wirtschaftspolitischen Überzeugungen und unterstützten mit ihrer Stimme Zum einen drängte sich diese Agenda dem Kan- die linken Parteien. Doch zugleich hätte der Wert- didaten Nicolas Sarkozy geradezu auf – und zwar konservatismus der Arbeiterklasse23 dieser Ent- nicht zuletzt durch die Positionen der sozialisti- scheidung im Wege stehen können, denn kaum eine schen Kandidatin: die Vorschläge zur Erhöhung Partei vertritt zugleich einen wirtschaftlichen Antili- von Mindeststrafen aus dem rechten Lager überbot beralismus und ein autoritäres Gesellschaftsbild. sie durch den Begriff einer »gerechten Ordnung« und der Forderung von Militärcamps für jugend- In gewisser Weise formt in der Politik das Ange- liche Straftäter. Das Thema Unsicherheit machte bot der Parteien die Nachfrage der Wähler, indem die Linke zu dem Feld, auf dem sie ihre Glaub- es sie für bestimmte Themen sensibilisiert und so würdigkeit und ihre Führungskompetenz beweisen Trennlinien innerhalb der Wählerschaft aufbaut. wollte. Die wichtige Funktion dieser Positionen in Dem Front national und Jean-Marie Le Pen bei- der sozialistischen Kampagne rückte das Thema spielsweise gelang der Aufstieg nicht deshalb, weil Unsicherheit erst in den Mittelpunkt und trug dazu sie eine Nachfrage nach immigrationsfeindlicher bei, einen repressiven Grundton in den Wahlkampf Politik weckten, sondern auf Grund ihrer Fähigkeit, einzuführen und nicht zuletzt dadurch den Positi- die latent in der Wählerschaft vorhandene autori- onen des erfahrenen ehemaligen Innenministers in täre Haltung in politische Forderungen zu fassen. der Sicherheitspolitik Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dass der zweite Wahlerfolg Le Pens durch seinen Wenn es einen Bereich gab, in dem Sarkozy sicht- Rückhalt in der Arbeiterschicht ermöglicht wurde, bare Ergebnisse vorweisen konnte, die zudem die ist daher kein Zufall. Angesichts der zunehmenden Zustimmung der Bevölkerung fanden, so war es Annäherung zwischen Rechts und Links blieben der der Sicherheitspolitik. sicherheitspolitische und ethnozentristische The- men im politischen Diskurs unbesetzt, und der FN Zudem traf die Haltung Sarkozys im Bereich der verstand es, sich dieser Themen anzunehmen. Bei »Abschottung nach außen« einen verborgenen Nerv einer alleinigen Wahlentscheidung zwischen RPR bei Teilen der Wählerschaft. Immigration und Inte- und PS wäre die Arbeiterschicht jedoch vor allem gration waren bis vor einigen Jahren für jeden kon- durch ihren Wertkonservatismus von einer Rück- servativen Kandidaten riskante Themen; die Fixie- kehr ins linke Lager abgehalten worden. Und nicht rung der französischen Gesellschaft jedoch machte zufällig beeinflusste die Klassenzugehörigkeit die sie zu legitimen Wahlkampfthemen. Die Betonung Entscheidung des zweiten Wahlgangs bei den Präsi- republikanischer Werte in der Immigrationsdebatte dentschaftswahlen 1988 und 1995 mehr als die des diente nicht nur rhetorischen Zwecken, um die ersten: War das Politikangebot im ersten Wahlgang Bevölkerung durch eine Diskussion dieser Themen noch von den beiden genannten Gegensatzpaaren nicht vor den Kopf zu stoßen. Das Thema Immig- und ihren Wertvorstellungen geprägt, welche die tra- ration wurde zu einem zentralen Punkt der poli- ditionelle Zuordnung zu politischen Lagern durch- tischen Debatte und fand Anerkennung als Wahl- kreuzten, so bot sich im zweiten Wahlgang nur kampfthema, insbesondere in Folge der Unruhen mehr das klassische Schema von zwei Alternativen.24 in den Vorstädten im Jahr 2005, der Debatte über Kopftücher an den Schulen oder des wachsenden Der UMP-Kandidat hätte die Politik einer Abschot- Drucks, den einige muslimische Organisationen tung der französischen Gesellschaft nach außen auszuüben versuchten. All dies wiederum kam dem FN überlassen und sich in seinem Wahlkampf jenen Kandidaten zu Gute, die sich einer »Islami- 14
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01 sierung der französischen Gesellschaft« widersetzen Dennoch berührte sie damit implizit das Thema möchten. Auch Sarkozy näherte sich diesen Positi- der nationalen Identität und sorgte dafür, dass es im onen an und sprach sich vor allem gegen Polygamie Wahlkampf präsent blieb, anstatt eine neue Debatte und die Beschneidung von Mädchen und Frauen zu eröffnen und das Themenfeld zu wechseln. aus, obwohl diese Themen nur einen überaus gerin- gen Teil der pluralistischen französischen Gesell- Letztendlich bestand das Rezept von Nicolas Sar- schaft betrafen. Auch sein Vorschlag zur Schaffung kozy also aus folgenden Elementen: eines Ministeriums für Immigration und nationale Identität verursachte großen Wirbel. • Ein bewusstes Aufgreifen der Themen, die ihm zunächst nicht zu liegen schienen, verbunden Wie im Bereich der Sicherheitspolitik bereiteten mit dem Versuch, sie neu auszurichten, anstatt seine Gegner Sarkozy auch hier ein leichtes Spiel. ihre Entwicklung dem Zufall zu überlassen. Als Schon der Vorschlag eines Ministerium für Immig- bestes Beispiel hierfür dient der wirtschafts- und ration und nationale Identität vom 10. März 2007 sozialpolitische Bereich, in dem es ihm gelang, nahm der sozialistischen Kandidatin den Wind die traditionelle Opposition zwischen Rechts und aus den Segeln, als sie gerade im Anschluss an Links aufzubrechen und stattdessen der Solidar- ihre Rede in Villepinte (11. Februar) und ihren viel gesellschaft eine Gesellschaft des Verdienstes beachteten Auftritt in der Wahlsendung »J’ai une gegenüberzustellen. question à vous poser« (19. Februar) ihr Programm • Seine Entscheidung, auch schwierige politische vorstellen wollte. In den Medien steuerte sie zu Themen wie Kriminalität, Immigration und Inte- impulsiv und direkt auf ihr Ziel zu. Dem künftigen gration auf seine politische Agenda zu setzten, Präsidenten gelang es dagegen, wie im Fall seiner statt hier dem FN das Feld zu überlassen. Insbe- Aussagen über »positive Diskriminierung« und über sondere in diesen Fragen machte er sich die über- den Dampfreiniger (»Kärcher«) – mit letzterem mäßige Fixierung der französischen Gesellschaft meinte er die Anwendung rigoroser Maßnahmen in zunutze. Problembezirken – eine wahre Kaskade von Reak- • Ein gekonnter Umgang mit den Medien, indem tionen, Analysen und Kritiken seiner Konkurrenten er mit dem Überschreiten von Grenzlinien auszulösen. Diese bescherten dem UMP-Kandi- spielte, um selbst den Rhythmus des Wahlkampfs daten mediale Aufmerksamkeit, sicherten damit vorzugeben und das für ihn günstigste Terrain seine ständige, auch indirekte Präsenz in der Öffent- festzulegen, auf dem dann der politische Macht- lichkeit und überließen ihm den Platz im Zentrum kampf stattfinden soll. der politischen Debatten. Anstatt sich anderen Fragen zu widmen, nahmen die übrigen Kandi- Das Rezept funktionierte, Nicolas Sarkozy errang daten die Themen Immigration und Integration als einen sicheren Wahlsieg. Ohne einen neuen Grund- wichtige Punkte in ihr Wahlprogramm auf. Und ton im Wahlkampf, der die Debatte über Integra- indem sie zur Haltung Sarkozys Position bezogen, tion und Immigration maßgeblich beeinflusst hat, seinen Themen damit einen Platz auf ihrer Agenda wären diese Themenbereiche höchstwahrscheinlich einräumten und Alternativen zu seinen Vorschlägen ein Tabu geblieben und von der Rechten gemieden einbrachten, verliehen sie diesen Fragen selbst eine worden. Dann wäre Jean-Marie Le Pen vielleicht besondere Bedeutung. Wenn Ségolène Royal von nicht in doppelter Hinsicht von seinen Wählern im der Marseillaise und der Nationalflagge sprach, so Stich gelassen worden – indem sie zunächst schon erinnerte dies an die Idee von Ernest Renan, nach im ersten Wahlgang für den UMP-Kandidaten der die französische Staatsbürgerschaft auf dem stimmten und dann im zweiten Wahlgang nicht den Bekenntnis der Bürger zu gemeinsamen Werten und Wahlempfehlungen ihres »Chefs« folgten. Hätte Überzeugungen beruht (»tägliches Plebiszit«). Denn in der Wählerschaft nicht eine latente Fixierung in ihr ging es eher darum, eine nationale Identität im Bezug auf die oben genannten Themen bestanden, Sinne eines Willens zum Zusammenleben wieder- dann wären die Vorschläge Sarkozys nicht von zubeleben, statt eine »ethnische« Staatsbürgerschaft solcher Sprengkraft gewesen und andere politische zu propagieren, die auf Blutsverwandtschaft beruht. Überlegungen hätten die Wahlentscheidung der 15
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