DGAPanalyse Frankreich - Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy Eine Wahlanalyse

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DGAPanalyse
                                                Frankreich
Forschungsinstitut der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

Oktober 2007 N° 1
ISSN 1865-701X

                    Der merkwürdige Sieg des
                             Nicolas Sarkozy
                                                Eine Wahlanalyse

                                                     von Vincent Tiberj
Die DGAPanalysen Frankreich erscheinen
mit freundlicher Unterstützung der

Redaktion:
Dr. Martin Koopmann und Ulla Brunkhorst

Herausgeber:
Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. | Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin
Tel.: +49 (0)30 25 42 31-0 | Fax: +49 (0)30 25 42 31-16 | info@dgap.org | www.dgap.org | www.weltpolitik.net
© 2007 DGAP
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01

               Zusammenfassung / Summary

               Vincent Tiberj

               Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy
               Eine Wahlanalyse

              Der Wahlsieg von Nicolas Sarkozy am 6. Mai 2007 fiel mit 53,32 Prozent der Stimmen
              deutlich aus. Dieser Sieg ist deshalb bemerkenswert, da er nach fünf schwierigen Jahren
              für die bürgerliche Regierung (CPE-Krise, Ablehnung des Europäischen Verfassungs-
              vertrags, Unruhen in den Vorstädten) und dem schlechten Abschneiden des konserva-
              tiven Lagers bei den Regionalwahlen 2004 für die Linke greifbar nahe schien. Wie lässt
              sich vor diesem Hintergrund der klare Sieg von Sarkozy erklären?

              Nicolas Sarkozy griff im Wahlkampf bewusst die Themen auf, die ihm zunächst nicht
              zu liegen schienen, anstatt ihre Entwicklung dem Zufall zu überlassen. Mit dieser Stra-
              tegie konnte er der Debatte insbesondere im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich
              eine neue Wendung zu seinen Gunsten geben. Als erfahrener ehemaliger Innenminister
              scheute er sich nicht, auch sensible Themen wie Kriminalität, Immigration und Integra-
              tion auf seine Wahlkampfagenda zu setzen und sie nicht dem Front National zu über-
              lassen. Dabei konnte er es sich zunutze machen, dass die Debatte in der französischen
              Gesellschaft seit dem 11. September 2001 zunehmend um diese Themen kreiste. Zu
              seinem Wahlsieg verhalf ihm letztlich auch seine Fähigkeit, die Medien geschickt zu ins-
              trumentalisieren, indem er gezielt Tabus verletzte, um selbst den Rhythmus des Wahl-
              kampfs zu bestimmen.

              The curious victory of Nicolas Sarkozy
              An analysis of the election

              Nicolas Sarkozy won a solid victory in the French presidential elections on 6 May 2007,
              with 53.32 percent of the vote. The election victory is particularly noteworthy because
              it seemed within reach for the left – after five difficult years for the conservative gov-
              ernment (CPE crisis, rejection of the EU constitutional treaty, civil unrest in the sub-
              urbs) and the defeat of the right wing parties in regional elections in 2004. Against this
              background, how can Sarkozy’s clear victory be explained?

              During the election campaign, Nicolas Sarkozy deliberately chose topics that initially
              did not appear to suit him, instead of leaving their development to chance. Pursuing
              this strategy he was able to turn the debate, especially in the socio-economic field, to
              his favour. As former home secretary, he was not afraid to put sensitive topics such as
              criminality, immigration and integration on his political agenda and thus did not leave
              this field to the far-right Front National. He took advantage of the fact that the debate
              in French society since 11 September 2001 increasingly focused on these issues. Finally,
              Nicolas Sarkozy won the presidential elections because of his ability to aptly exploit the
              media by breaking taboos purposefully in order to determine the course of the election
              campaign.

                                                                                                           
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01

Inhalt

Eine »übermäßige Fixierung« Frankreichs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  6

Der »Konjunkturwähler«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7

Die Wahl: Themen und Debatten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10

Das Rezept von Nicolas Sarkozy für den Wahlsieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12

Anmerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  16

                                                                                                                                                                           
Oktober 2007 | DGAPanalyse Frankreich 01

Der merkwürdige Sieg des Nicolas Sarkozy
von Vincent Tiberj

Der Sieg von Nicolas Sarkozy am 6. Mai 2007 fiel      Und dennoch fiel das Ergebnis von 2007 deutlich
deutlich aus. Mit 53,32 Prozent der abgegebenen       anders aus als im Jahr 2004. Man könnte einfach
Stimmen erzielte er – nach Charles de Gaulle 1965     auf die Hypothese eines in Wahlen unschlagbaren
und François Mitterrand 1988 – das drittbeste         Nicolas Sarkozy zurückgreifen, die durch alle
Ergebnis in einem klassischen Wahlduell zwischen      Umfragen vor der Wahl bestätigt zu werden schien,1
Rechts und Links zu Zeiten der Fünften Republik.      und so in der persönlichen Konfrontation der bei-
Kein konservativer Kandidat hatte vor 1965 je ein     den Kandidaten eine Erklärung für die Niederlage
solches Resultat erreicht. Betrachtet man die Zahl    Ségolène Royals suchen. Wenn im Übrigen von
der abgegebenen Stimmen, ist Nicolas Sarkozy          einer »Postkartenstrategie« gesprochen wird, um die
sogar der Präsident, dem die meisten Wähler ihre      beinahe tägliche Medienpräsenz Nicolas Sarkozys
Stimme gaben – mit Ausnahme von Jacques Chirac        zu beschreiben, so muss hinzugefügt werden, dass
im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen        er dieser Strategie bereits seit seinem Amtsantritt
am 5. Mai 2002.                                       als Innenminister im Kabinett Raffarin folgte. In
                                                      gewisser Weise begann daher der Wahlkampf 2007
Dieser Sieg ist deshalb besonders bemerkenswert,      bereits im Mai 2002. Sarkozys Allgegenwart in den
da er zuvor für die Linke greifbar nahe schien. Die   Medien wurde häufig kritisiert, doch sie reicht als
Situation des PS im Jahr 2007 unterschied sich        Erklärung für den Wahlsieg 2007 nicht aus.
deutlich von der Ausgangslage, in der sich Lio-
nel Jospin im Jahr 1995 befand. Damals erholte        Dennoch fielen die Ergebnisse nicht so positiv
sich die Linke erst langsam von ihrer historischen    aus, wie die Wahlkampfstrategen der UMP es sich
Niederlage bei den Parlamentswahlen 1993, bei         erhofft hatten. Den Umfragen des »Baromètre poli-
denen der PS nur 31,01 Prozent und der PCF 4,8        tique français«2 zufolge, die vom Forschungsinstitut
Prozent der Stimmen erhalten hatte, gegenüber         CEVIPOF zwischen April 2006 und Februar 2007
28,99 Prozent für den RPR und 26,14 Prozent für       durchgeführt wurden, wuchs die Glaubwürdigkeit
die UDF. Angesichts dieser »blauen Welle« sorgte      des UMP-Vorsitzenden mit dem Näherrücken
bereits die Tatsache für eine Überraschung, dass      der Wahlen: Im März 2006 fanden 55 Prozent
Lionel Jospin den ersten Durchgang der Präsident-     der Befragten, Sarkozy habe »das Zeug zum Prä-
schaftswahlen gewann und auch in der Stichwahl        sidenten«, im Februar 2007 waren es 68 Prozent.
trotz der Niederlage gegen Jacques Chirac ein         Damit übertraf er seine sozialistische Konkurrentin
respektables Ergebnis erzielen konnte. Den Wahlen     deutlich, deren Eignung für das Präsidentenamt
2007 gingen dagegen fünf schwierige Jahre für die     nach ihrer Nominierung zur Kandidatin von den
amtierende Regierung (CPE-Krise, Ablehnung des        Befragten sogar geringer eingeschätzt wurde als
Europäischen Verfassungsvertrags, Proteste gegen      zuvor. Bis Dezember 2006 urteilte ungefähr jeder
das Gesetz Fillon, Unruhen in den Vorstädten) und     zweite Franzose, sie habe »das Zeug zur Präsiden-
vor allem die Regionalwahlen im Jahr 2004 voraus,     tin«, im Februar 2007 waren es nur noch 42 Pro-
die nach der Reform des Wahlrechts erstmals nach      zent. Doch trotz seiner steigenden Glaubwürdigkeit
der Hälfte der fünfjährigen Amtszeit des Staatsprä-   und des wachsenden Vorsprungs auf seine Haupt-
sidenten abgehalten worden waren. Dabei hatte die     konkurrentin konnte Sarkozy nicht das Image eines
Linke zum ersten Mal seit der Wiederwahl François     polarisierenden Politikers abstreifen, obwohl er
Mitterrands eine Mehrheit errungen, und das bei       selbst bewusst auf die Überwindung politischer
einer für Regionalwahlen ungewöhnlich hohen           Konfliktlinien setzte. Im März 2006 äußerten sich
Wahlbeteiligung (66 Prozent im zweiten Wahlgang).     49 Prozent der Befragten beunruhigt über einen
Vor diesem Hintergrund schien die politische Situ-    möglichen Wahlsieg des heutigen Präsidenten. Bis
ation für die Linke im Jahr 2007 deutlich günstiger   zwei Wochen vor dem ersten Durchgang der Präsi-
zu sein als 1995.                                     dentschaftswahlen blieb dieser Wert konstant. Die

                                                                                                             
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Präsidentin der Region Poitou-Charentes dagegen          (davon 48 Prozent »uneingeschränkt«). Sogar der
ließ sogar während ihrer Schwächephase im Januar         umstrittene Vorschlag von François Hollande, die
2007 nur bei 42 Prozent der Wählerschaft Ängste          Steuerabgaben ab einem Monatsverdienst von
aufkommen.                                               4000 Euro anzuheben, fand bei den französischen
                                                         Wählern eine Mehrheit: 54 Prozent unterstützten
Kommunikation scheint also auch auf einer                ihn, 26 Prozent gar »uneingeschränkt«. Auch zu
politischen Bühne, die zunehmend von den Per-            zwei Vorschlägen Sarkozys wurde die Meinung der
sönlichkeiten der Politiker geprägt ist und sich in      Wahlbevölkerung ermittelt, doch fiel das Ergebnis
dieser Hinsicht mehr und mehr amerikanischen             hier weniger eindeutig aus. 62 Prozent der befragten
Verhältnissen anpasst,3 nicht alles bewirken zu kön-     Franzosen stimmten dem Vorschlag zu, nur eine
nen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass der Wähler      von zwei durch Pensionierung frei werdenden Stel-
politische Botschaften völlig unbedarft aufnimmt.        len im öffentlichen Dienst neu zu besetzen. Davon
Je eindringlicher ihm diese vermittelt werden sollen,    unterstützen jedoch nur 30 Prozent der Befragten
desto gefestigter tritt die ideologische Grundhal-       den Vorschlag »uneingeschränkt«, was dem Pro-
tung des Wählers zu Tage – und damit auch seine          zentsatz einer festen Stammwählerschaft entspricht,
Fähigkeit, politischen Botschaften mit Vorbehalt         ähnlich der, die eine Steuererhöhung »uneinge-
zu begegnen.4 Die Besorgnis gegenüber Nicolas            schränkt« unterstützt, doch deutlich kleiner als
Sarkozy lässt sich vor allem durch solche kognitiven     die Gruppe derer, die sich für eine Anhebung des
und ideologischen Vorbehalte von Teilen der Wäh-         Mindestlohns aussprechen. Für seinen Vorschlag,
lerschaft erklären. Die Persönlichkeit der beiden        ein Ministerium für Immigration und nationale
Kandidaten hat sehr wahrscheinlich für die Ent-          Identität zu schaffen, erhielt Sarkozy im April 2007
scheidung der Bevölkerung am 6. Mai eine Rolle           nur die Zustimmung einer sehr knappen Mehrheit:
gespielt, doch sie reicht als einziger Erklärungsan-     51 Prozent unterstützten den Vorschlag und nur 23
satz nicht aus, immerhin haben beide Kandidaten          Prozent waren »uneingeschränkt« dafür. Ein Rechts-
persönliche Stärken, aber auch Schwächen gezeigt:        ruck Frankreichs scheint diesen Umfragewerten
Der Einen fehlte es an Glaubwürdigkeit, doch ver-        zufolge weit entfernt, in wirtschaftlichen ebenso wie
fügte sie über ein stärker konsensorientiertes Profil;   in gesellschaftlichen Fragen. Der Sieg von Nicolas
der Andere schien dem Amt des Staatspräsidenten          Sarkozy war nicht von vornherein zu erwarten.
eher gewachsen zu sein, doch löste er in der Bevöl-
kerung Besorgnis aus.
                                                         Eine »übermäßige Fixierung«
Einige Wahlanalytiker führten das Ergebnis des           Frankreichs
6. Mai auf einen »Rechtsruck in der Wählerschaft«
zurück. Bei der Betrachtung der politischen Grund-       Wenn sich der Sieg von Nicolas Sarkozy weder
haltung der französischen Wähler ist diese konser-       durch eine liberal-konservative Wende erklären lässt
vative Wende jedoch alles andere als offensichtlich,     noch einfach ein »charismatischer« Sieg war, so
sowohl bezüglich gesellschafts- und wirtschafts-         muss es einen anderen Faktor gegeben haben, der,
politischer Themen als auch im zivilgesellschaft-        unabhängig von den Stärken und Schwächen der
lichen Bereich. Das CEVIPOF hat vor dem ersten           beiden aussichtsreichsten Kandidaten, den Wahl-
Wahlgang der Präsidentschaftswahlen französische         ausgang beeinflusste. Die »Sarkozy-Wende« wird
Wähler zu ihrer Meinung über einige zentrale Vor-        vermutlich die Debatten der Wahlforscher während
schläge der beiden Kandidaten befragt: 88 Prozent        der nächsten Jahre beherrschen; hier aber geht es
der Befragten unterstützten die Rückforderung            darum, eine der versteckten Lesarten dieses Wahl-
staatlicher Leistungen gegenüber Firmen, die ihren       ergebnisses darzustellen: nämlich die einer »über-
Sitz ins Ausland verlagern (davon sprachen sich          mäßigen Fixierung« (»crispation identitaire«) der
63 Prozent »uneingeschränkt« für den Vorschlag           französischen Gesellschaft,5 die sich insbesondere
aus). 77 Prozent befürworteten eine Anhebung             im Zusammenhang mit Fragen der Immigration
des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns             und Integration bemerkbar gemacht hat. Zudem
auf 1500 Euro »zum nächstmöglichen Zeitpunkt«            muss die Wechselwirkung zwischen jener Fixierung

                                                                                                                 
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und einem Kandidaten, dessen Wahlkampfarbeit             zugleich: »Niemals zuvor haben Wertvorstellungen
sich als besonders wirkungsvoll erwiesen hat, unter-     in den Bereichen der öffentlichen Ordnung und der
sucht werden.                                            Immigration den zweiten Wahlgang einer Präsident-
                                                         schaftswahl so stark beeinflusst [wie im Jahr 2007].
Diese übermäßige Fixierung beruht auf einer Viel-        Die Diskussion um den Islam ist besonders typisch
zahl von Befürchtungen, die durch die Debatten           für die Entwicklung, die stattgefunden hat. Auf der
um die »France plurielle« nach dem 11. September         einen Seite stehen immer weniger Menschen dem
hervorgerufen wurden: die Furcht vor dem kultu-          Islam grundsätzlich negativ gegenüber. Auf der
rellen Auseinanderbrechen und einer Islamisierung        anderen Seite ist die Haltung gegenüber der isla-
der französischen Gesellschaft und die Angst um          mischen Religion plötzlich ein entscheidendes Krite-
die republikanischen Werte. Neu an diesem gesell-        rium für die politische Entscheidung geworden: Der
schaftlichen Phänomen ist, dass solche Befürch-          Abstand [zwischen der sozialistischen Kandidatin
tungen nicht mehr allein im Zusammenhang mit             und dem konservativen Kandidaten, bei alleiniger
der Frage nach dem Einfluss des FN artikuliert           Betrachtung ihrer Haltung gegenüber dem Islam]
werden, wie dies in den neunziger Jahren der Fall        steigt so im zweiten Wahlgang von 16 Prozent 1995
war. Sie sind zu legitimen Diskussionsthemen             auf 32 Prozent 2007.« Es ist also anzunehmen,
geworden, auch dort, wo sie früher verpönt waren.        dass sich hinter den Angaben der Wähler noch eine
Diese Fixierung hat das Ergebnis der Präsident-          »versteckte Agenda« verbirgt, welche die Wahl 2007
schaftswahlen 2007 beeinflusst und könnte so eine        beeinflusst hat und in der die Fixierung der franzö-
neue politische Ausgangslage schaffen, in der die        sischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielt.
Begriffe »rechtes« und »linkes« politisches Lager
neu definiert werden müssten.6                           Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, ist es
                                                         wichtig, auf die strukturellen Veränderungen in der
Frankreich erlebt, wie andere westliche Demokra-         Wählerschaft einzugehen; vor allem auf die Entste-
tien, eine »stille Revolution«7 der Wertvorstellungen,   hung eines neuen Wählertyps, der sein Wahlverhal-
die zum einen zu einem Wandel in der Erwartungs-         ten von aktuellen Interessenlagen und der momen-
haltung der Wähler führt, zum anderen zu einer           tanen politischen Situation abhängig macht. Denn
neuen Politik, die von gesellschaftlichen und post-      dieser »Konjunkturwähler« stand im Mittelpunkt
materialistischen Fragestellungen (sexuelle Toleranz,    der Wahlkampfstrategie von Nicolas Sarkozy und
Immigration, kulturelle Vielfalt usw.) bestimmt          ermöglichte dem UMP-Vorsitzenden letztendlich
wird. Diese neue Orientierung hat nach und nach          den Wahlsieg.
die traditionellen politischen Debatten um soziale
Ungleichheit, das Wirtschaftssystem und die Vertei-
lung des Wohlstands verdrängt. Die Bürger stehen         Der »Konjunkturwähler«
daher Immigranten oder französischen Staatsbür-
gern mit Migrationshintergrund positiver gegenü-         Nicht nur der PS oder die UMP diskutieren über
ber, was sich auch in einem Rückgang von Ethno-          Veränderungen ihrer ideologischen Grundausrich-
zentrismus und Fremdenfeindlichkeit ausdrückt.           tungen. Die Wähler greifen derartige Debatten auf,
Von einer »Fixierung« in der Gesellschaft zu spre-       wodurch sich auch ihr Entscheidungsraster bei der
chen, könnte vor diesem Hintergrund also paradox         Stimmabgabe verändert. Zu oft werden die Wähler
erscheinen. Und tatsächlich wurde 2007 die Bedeu-        als homogene Gruppe wahrgenommen, deren poli-
tung der Immigration als Wahlkampfthema ähnlich          tische Bande, sobald einmal geknüpft, von Dauer
gering eingeschätzt wie in der Vergangenheit (zehn       sind. Doch diese Annahme verkennt die aktuellen
Prozent 2002, neun Prozent 2007). Bei alleiniger         Entwicklungen, vor allem das Aufkommen einer
Betrachtung dieses Indikators bliebe die Bedeutung       »Konjunkturwählerschaft«, die zugleich durch ein
dieser Fixierung der Gesellschaft letztlich begrenzt.    zunehmend individualisiertes Verhältnis zur Poli-
                                                         tik, eine bewusste Unterstützung einzelner ideo-
Und dennoch scheint die Situation nicht so ein-          logischer Aspekte sowie eine gewisse Flexibilität
fach zu sein, denn Etienne Schweisguth8 bemerkt          gekennzeichnet ist, die sich auf ihre Entscheidung,

                                                                                                                
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zu wählen oder nicht zu wählen, ebenso auswirkt          Arbeitern innerhalb eines Betriebs Bestand haben,
wie letztlich auf die Wahlentscheidung an der Urne       wenn die eigentlich für sie vorgesehenen Stellen
selbst. Hierin liegt eine der bedeutendsten Verände-     zunehmend ausgelagert und in den Dienstleistungs-
rungen, die das Wahlverhalten während der letzten        sektor integriert werden?
Jahrzehnte in den europäischen Demokratien erfah-
ren hat: Die Stimmabgabe wird immer weniger von          Ausgehend von der vereinfachenden Gleichung
der Klassenzugehörigkeit bestimmt, vor allem die         »Nenne mir deinen sozialen Stand und ich sage
Arbeiterschicht verliert zunehmend ihre Bindung          dir, zu welchem politischen Lager du gehörst«,
an das linke politische Lager;9 diese Annahme            erscheint es folglich nur logisch, dass sich das Ver-
grundsätzlicher Bindungen ist Teil eines überkom-        halten der Arbeiterklasse mehr und mehr dem der
menen Wählermodells, das in viele Analysen nach          übrigen Gesellschaft anpasst. So zeigt Florent Gou-
wie vor einfließt, obwohl es kaum in der Lage ist,       gou, dass die Linke im Jahr 1974 von der Arbei-
die gesellschaftlichen Veränderungen zu erfassen.        terklasse im Schnitt 17 Prozent mehr Stimmen
                                                         erhielt als vom Rest der Gesellschaft. 1995 lag diese
Wenn sich die linken Parteien besorgt über ihren         Differenz noch bei acht Prozent, und war im Jahr
sinkenden Rückhalt in der Arbeiterschaft zeigen, so      2002 ganz verschwunden.10 Am 22. April 2007 ent-
beziehen sie sich dabei auf dieses starre Wähler-        schieden sich 26 Prozent der Arbeiter für Nicolas
modell, das auf historischen Gesellschaftsbildern        Sarkozy, 25 Prozent für Ségolène Royal, 16 Prozent
beruht, die durch die lange Allianz zwischen den         für Jean-Marie Le Pen und 15 Prozent für François
Gewerkschaften und der Linken geprägt wurden.            Bayrou.11 Insgesamt unterstützten 40 Prozent der
Doch auch wenn der Begriff der »Arbeiterschicht«,        Arbeiter das linke Lager, dieser Wert liegt 3,7 Pro-
der die Idee einer homogenen Gruppe impliziert,          zent über dem Anteil linker Wähler an der Gesamt-
durch den Ausdruck »catégories populaires« abge-         wählerschaft. Aber wer wollte hier von einer
löst wurde – ein Begriff, der die Vielfalt der Indivi-   Rückkehr zu früheren Verhältnissen sprechen? Die
duen innerhalb einer solchen Gesellschaftsgruppe         zunehmende Streuung der Wahlentscheidungen in
besser zum Ausdruck bringt –, erwartet man von           der Arbeiterklasse erscheint dabei als eine direkte
ihren Mitgliedern doch auch weiterhin, dass sie          Folge des Generationenwechsels, des Wandels des
eine Einheit bilden. Diese nach wie vor verbreitete      Arbeiterberufs und der Schwächung von Instanzen,
Einteilung in Gesellschaftsklassen lässt sich jedoch     die den Gruppenzusammenhalt fördern. Doch wer-
soziologisch wie politisch immer weniger rechtfer-       den bei dieser Analyse Entwicklungen außer Acht
tigen. 34 Prozent der heutigen Werktätigen sind          gelassen, die das gesamte Wahlvolk betreffen und
nach 1971 geboren und kennen nur die andauernde          zur Entwicklung einer »Konjunkturwählerschaft«
Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit.         beigetragen haben.
Sozialisierungsprozesse, die zum Erhalt eines
Klassenverständnisses beitragen könnten, haben           Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich nach und
dadurch zumindest an Wirkung eingebüßt. Dies             nach eine neue Haltung gegenüber der Politik etab-
ist unter anderem der Schwächung jener Instanzen         liert, ohne dass die Bedeutung dieser Entwicklung
zuzuschreiben, welche die Sozialisation prägen, wie      erkannt wurde. Sie äußert sich in einer zuneh-
beispielsweise Gewerkschaften. Wie soll bei jun-         menden Distanzierung vom politischen Geschehen,
gen Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer           ausgelöst durch ein Misstrauen, das die Wähler-
Berufsgruppe entstehen, wenn der Arbeitsplatz            schaft gegenüber den politischen Verantwortlichen
unsicher ist und der Angestellte sich gegenüber sei-     empfindet: dem Umfrageinstitut SOFRES zufolge
ner Firma mehr oder weniger allein gelassen fühlt?       waren im Jahr 1977 42 Prozent der Befragten der
Wie kann sich ein solches Gefühl entwickeln, wenn        Meinung, dass die Politiker sich wenig oder fast
sich unter den Arbeitnehmern immer öfter eine Art        gar nicht darum kümmerten, was die Franzosen
modernes Nomadentum entwickelt und sie immer             dachten; 1990 wurde in dieser Frage erstmals die
seltener ihr gesamtes Leben als Werktätige in ein-       Schwelle von 60 Prozent überschritten, und mit
und demselben Unternehmen verbringen können?             Ausnahme des Jahres 1994 sank dieser Wert seit-
Wie soll ein Gefühl von Solidarität zwischen den         dem nicht mehr. Im März 2006 zweifelten 69 Pro-

                                                                                                                 
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zent der Franzosen daran, dass die Politiker noch in     an einer Präsidentschaftswahl. Im März 2004 sank
der Lage seien, ihren Wählern zuzuhören.                 der Prozentsatz der Stimmenthaltungen bei den
                                                         Regionalwahlen um vier Prozentpunkte (von 42
Diese Vertrauenskrise ist nicht mit Politikverdros-      auf 38 Prozent). Im Juni 2004 enthielten sich bei
senheit gleichzusetzen, ganz im Gegenteil, denn          der Europa-Wahl so viele Wähler wie nie zuvor (57
das Interesse an Politik ist seit dem Jahr 1978 mehr     Prozent, was einem Anstieg um 5 Prozentpunkte
oder weniger konstant geblieben (den Umfrage-            gegenüber 1999 entsprach). Im Jahr 2005 wurde der
werten zufolge zwischen 42 und 54 Prozent). Im           Europäische Verfassungsvertrag bei einer Abstim-
Spätsommer 2006 zeigten sich 66 Prozent der              mungsbeteiligung von nahezu 70 Prozent abgelehnt,
Franzosen sehr oder ziemlich interessiert an den         was ungefähr dem Wert von 1992 entspricht. Im
Präsidentschaftswahlen, ein Wert, der in den Wahl-       April 2007 näherte sich die Wahlbeteiligung dem
kämpfen der Jahre 1981 und 1988 erst im letzten          Rekordwert von 1965,13 im Juni 2007 stieg der
Monat vor der Wahl erreicht wurde und der bereits        Prozentsatz der Enthaltungen bei den Parlaments-
zehn Prozentpunkte über dem Wert lag, den die            wahlen auf 40,2 Prozent, einen Wert, der nie zuvor
Umfrageinstitute am Wahlmorgen des 21. April             erreicht wurde. Die neunziger Jahre sind von einer
2002 ermittelt hatten. In der letzten Woche vor          stetig sinkenden Wahlbeteiligung, die zweite Amts-
dem 22. April 2007 registrierte das Umfrageinstitut      zeit Jacques Chiracs von gegensätzlichen Prozessen
SOFRES mit 87 Prozent einen historischen Rekord          der Mobilisierung und Demobilisierung geprägt.
in dieser Frage. Misstrauen ist also nicht gleichzu-     Nie zuvor hatte sich die allgemeine politische Lage
setzen mit Entpolitisierung. Während die Politiker       so stark auf das Wahlverhalten ausgewirkt, was die
in Frage gestellt werden, entwickelt sich hinter die-    Theorie von Anne Muxel und Jérôme Jaffré14 bestä-
sem Zweifel ein neues Verhältnis zur Politik. Wir        tigt, die zwischen Nichtwählern »innerhalb« und
erleben die Herausbildung eines »kritischen Bür-         »außerhalb« des politischen Systems unterscheidet:
gers«,12 eines Bürgers, der sich nichts vormachen        also zwischen jenen Nichtwählern, die sich für die
lässt und der eine Entscheidung nur dann fällt,          Politik interessieren, sich jedoch bewusst entschei-
wenn ein Kandidat ihn wirklich überzeugt hat.            den, der Wahl fernzubleiben, und solchen, die zu
                                                         den traditionellen Nichtwählern zählen und denen
Angesichts dieses neuen Wählertypus tritt der            vornehmlich aus soziologischen Gründen das poli-
»automatische Wähler«, der den Anweisungen sei-          tische System fremd bleibt.
ner Partei folgt und sich ihrer Führung anvertraut,
in den Hintergrund. Eine Wählerschaft, die festen        Ein letzter Aspekt ergänzt die Liste der Eigen-
Strukturen folgt, wird also von einer »Konjunk-          schaften des »Konjunkturwählers«: Er verhält sich
turwählerschaft« abgelöst. Es ist kein Zufall, dass      gegenüber der Politik nicht wie ein Konsument, der
immer mehr Menschen zögern, zur Wahl zu gehen            zunächst alle politischen Marken miteinander ver-
oder sich für eine bestimmte Partei zu entscheiden.      gleicht, ohne eine davon bereits im Voraus auszu-
1988 erklärten 8,5 Prozent der Befragten, sich im        schließen. Er ist jedoch auch nicht mehr der treue
Laufe des Wahlkampfs für einen Kandidaten ent-           Anhänger von früher. 1988 stimmten 75 Prozent
schieden zu haben, 11 Prozent gaben an, erst »im         der Wähler für den Kandidaten jener Partei, der sie
letzten Moment« ihre Wahl getroffen zu haben.            sich nahe fühlten; 2002 taten dies nur noch 57 Pro-
Sieben Jahre später hatte sich die Zahl derer, die bis   zent. Diese zunehmende Lockerung der Bindung
zum letzten Moment zögerten, mehr als verdoppelt,        an eine Partei führt jedoch nicht zum Verschwin-
um 2002 noch einmal um das Doppelte zuzulegen.           den des ideologischen Wählers oder der Abnahme
                                                         seiner Verbundenheit mit einem bestimmten poli-
Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Wahl-      tischen Lager. Denn wenn ein Wähler schon nicht
beteiligung zwischen 2002 und 2007, die belegt, wie      für seine bevorzugte Partei stimmt, so wird er sich
stark die Entscheidung, zur Wahl zu gehen, heute         zumindest für einen Kandidaten entscheiden, der
von der aktuellen politischen Konjunktur beeinflusst     dieser Partei nahe steht. Nur 16 Prozent der Wäh-
wird: Im Jahr 2002 ermitteln die Umfrageinstitute        ler wechselten 2007 das politische Lager, indem
einen historischen Tiefstand bei der Wahlbeteiligung     sie beispielsweise für einen konservativen Kandi-

                                                                                                                
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daten stimmten, obwohl sie sich selbst dem linken      sche Kandidatin hat nur 18 Prozent der Anhänger
Parteispektrum zuordneten. So waren beim ersten        des späteren Präsidenten in ihrer Wahl beeinflusst.
Wahlgang 2007 acht Prozent der Sarkozy-Wähler
dem linken Lager zuzurechnen, ebenso viele Wäh-        Als eine dritte Entwicklung zeichnet sich ab, dass
ler Ségolène Royals sahen sich selbst im rechten       eine immer größere Offenheit das Wahlverhalten
politischen Lager.                                     kennzeichnet: Die Wähler verstehen das Politikan-
                                                       gebot als eine Palette von Möglichkeiten, zwischen
Die »Parteien innerhalb der Wählerschaft« haben        denen sie ihre Wahl treffen. Im Jahr 2004 nannten
sich in Frankreich in drei Punkten weiterentwi-        32 Prozent der Wähler im Vorfeld der Wahl zwei
ckelt.15 Erstens beruhen Neigungen zu bestimmten       Parteien, zwischen denen sie sich entscheiden woll-
Parteien heute zunehmend auf einem unbestimm-          ten; 16 Prozent schwankten zwischen drei Parteien.
ten Gefühl; der Wähler tendiert zu der Partei,         Bei der Wahl 2007 nannten die Umfrageteilnehmer
die von seinen politischen Überzeugungen am            auf die Frage »Für welche der folgenden Parteien
wenigsten weit entfernt zu sein scheint. Diese Ent-    erwägen sie, ihre Stimme abzugeben?«16 im Schnitt
wicklung betraf in den Jahren 2002 bis 2007 einen      2,24 Parteien.
Anteil von 40 bis 44,5 Prozent der Wählerschaft,
und sie geht einher mit der Entstehung eines Wäh-      Dass das Wechseln zwischen Parteien immer
lertyps, der sich in seinen politischen Ansichten      üblicher wird, erklärt und verstärkt die wach-
zunehmend unabhängig zeigt.                            sende Unschlüssigkeit der Wähler ebenso wie die
                                                       Schwankungen in den Ergebnissen der Parteien
Parallel zur Schwächung der Parteibindung erleben      bei unterschiedlichen Wahlen. Wenn also Gérard
wir, zweitens, eine zunehmend kritische Haltung        Grunberg und Florence Haegel17 eine Tendenz
der Wähler gegenüber dem politischen Angebot.          zum Zweiparteiensystem in der französischen Poli-
Zwischen 1988 und 2004 stieg beispielsweise der        tik beobachten, so ist damit eher eine zunehmende
Anteil derer an der Gesamtwählerschaft, die »auf       Strukturierung und Professionalisierung der beiden
keinen Fall« für den PS stimmen wollten, von 12        dominierenden Parteien gemeint als eine dauerhafte
auf 21 Prozent. Der Anteil der Wähler mit grund-       Zuordnung der Wählerschaft zu PS oder UMP.
sätzlich ablehnender Haltung gegenüber dem RPR         Der Ablauf der Wahl 2007 und die 57 Prozent der
und später der UMP stieg in diesem Zeitraum auf        Stimmen, welche die beiden Kandidaten der großen
33 Prozent, gegenüber einem Wert von 21 Pro-           Parteien auf sich vereinigen konnten, sind vielmehr
zent 16 Jahre zuvor. Das Wahlverhalten verändert       der politischen Konjunktur als einem grundsätz-
sich. Der Wähler folgt bei seiner Entscheidung         lichen Wiedererstarken des Systems der großen
für einen Kandidaten, den er persönlich für am         Parteien geschuldet.
besten befunden hat, immer stärker dem Prinzip
des schrittweisen Ausschließens politischer Alter-
nativen; immer seltener spielt die uneingeschränkte    Die Wahl: Themen und Debatten
Unterstützung für einen einzelnen Kandidaten eine
Rolle. Für diese Entwicklung sind die Wahlen 2007      Damit es jedoch zu diesem Wahlergebnis kommen
von besonderer Bedeutung: Nicolas Sarkozy hat          konnte, mussten mehrere »konjunkturelle« Ele-
das Wahlverhalten der Linken ganz augenschein-         mente zusammenwirken. Häufig wird in diesem
lich mehr geprägt als Ségolène Royal: Dem Institut     Zusammenhang auf die Persönlichkeit der beiden
IPSOS zufolge gaben 42 Prozent der Royal-Wähler        Spitzenkandidaten hingewiesen, insbesondere ihren
an, die PS-Kandidatin am 6. Mai vor allem deshalb      Willen, sich von den etablierten Führungsfiguren
gewählt zu haben, um Nicolas Sarkozy »den Weg          und Strukturen ihres politischen Lagers abzugren-
in den Elysée-Palast zu versperren«, gegenüber 55      zen. Andere führen die jüngste Entwicklung im
Prozent ihrer Wähler, die sich Royal tatsächlich als   Land an, insbesondere die Erinnerung im linken
Präsidentin gewünscht hatten. Unter den Wählern        Lager an den 21. April 2002, als der Rechtsextreme
Nicolas Sarkozys fällt die direkte Zustimmung stär-    Jean-Marie Le Pen den Kandidaten der Sozialisten,
ker aus, eine bewusste Stimme gegen die sozialisti-    Lionel Jospin, im ersten Wahlgang aus dem Rennen

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warf. Doch ein Wahlergebnis hängt vor allem sehr       wissen wollen. Hier spielen Medien ebenso wie
stark davon ab, welche Themen den Wahlkampf            politische Akteure eine Rolle, aber auch zivilge-
beherrschen. Und hier liegt einer der Gründe, wenn     sellschaftliche Organisationen, die neben ihrer
nicht sogar der wichtigste Grund für die Niederlage    traditionellen Funktion als Interessenvertreter
der Linken in den Jahren 2002 und 2007. Ein Wahl-      in diesem Zusammenhang als »Agenda-Setter«
kampf beschränkt sich nicht auf die Gegenüber-         auftreten. Im Allgemeinen gelingt es bei solchen
stellung politischer Programme: Wie groß mag der       Prozessen jedoch nicht, die Anliegen der breiten
Anteil derjenigen Wähler sein, die sich tatsächlich    Öffentlichkeit einzubeziehen. Zwar können mit
die Zeit genommen haben, die Wahlprogramme der         den auf diese Weise entwickelten Themen spezielle
verschiedenen Parteien und Kandidaten im Detail        Wählerschichten angesprochen werden, doch sind
zu studieren? Wie viele der Adressaten lesen wohl      Erfolg oder Misserfolg solcher Initiativen auch für
die knappen Glaubensbekundungen, die ebenfalls         die Kandidaten selbst häufig kaum abzuschätzen.
eine, wenn auch aufs Wesentliche konzentrierte         Im Jahr 2007 gelang es Nicolas Hulot, die Frage
Form dieser Programme darstellen? Ein Wahl-            der nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda der
kampf ist jedoch ebenso wenig ausschließlich eine      Wahlkampfthemen zu platzieren; andere jedoch,
Gegenüberstellung von Persönlichkeiten: Zwar wir-      wie die Schwulen- und Lesbenvereinigungen oder
ken sich die Charaktere der Kandidaten durchaus        gar die Vereinigung der Motorradfahrer waren mit
auf deren Wahlkampftaktik aus, auf ihre Selbst-        ihren Anliegen weniger erfolgreich.
darstellung und die Positionen, die sie gegenüber
anderen beziehen – wahlentscheidend ist all dies       Dieses Konkurrieren der verschiedenen Akteure
jedoch nicht.                                          in dem Bestreben, die Agenda des Wahlkampfs zu
                                                       dominieren, schränkt sicherlich ihren Handlungs-
In erster Linie ist ein Wahlkampf das Zusam-           spielraum ein, doch geht dieser dabei nicht völlig
mentreffen zwischen einem bestehenden Kontext          verloren, weit gefehlt! In gewisser Weise ist es
und einem Politikangebot, zwischen einer Agenda        ebenso wichtig, ein »gutes« Programm zu haben,
und verschiedenen Programmen. Ein Wahl-                wie diesem Programm im Vorfeld des Wahlkampfs
kampf besteht aus einer Reihe von Debatten über        den Boden zu bereiten. Ansonsten wäre die Gefahr
bestimmte Themen und über Probleme, welche             groß, unabhängig von der Qualität der einge-
die Gesellschaft bewegen; die Wähler entscheiden       brachten Vorschläge, thematisch »völlig daneben zu
schließlich zwischen unterschiedlichen Antworten,      liegen«, oder weit von dem abzuweichen, was »die
die ihnen die Politik auf diese Herausforderungen      Franzosen wollen«, selbst wenn dieser Wille eigent-
anbietet. Doch ist es ein Irrtum zu glauben, die       lich stärker durch die Kandidaten selbst als durch
Themen stünden von vornherein fest. Häufig lässt       die Wähler geprägt wird. Dieses Abstecken des
sich feststellen, dass zwischen der Agenda der Poli-   Terrains, typisch für die Phase des Vorwahlkampfs,
tiker und der der Wähler deutliche Abweichungen        ist umso wichtiger, als ein Kandidat, der seinem
auftreten,18 und selbst wenn diese Abweichungen        Gegner hier das Feld überlässt, diesem im späteren
aufgrund intensiver Meinungsumfragen seltener          Wahlkampf ein »Heimspiel« ermöglicht, mit allen
geworden sind, so spielen sie nach wie vor eine        damit verbundenen Vorteilen. So lässt sich auch
wichtige Rolle. Im Jahr 2007 führten nur vier Pro-     die Niederlage der Befürworter des Europäischen
zent der Befragten die Finanzierung der Sozialver-     Verfassungsvertrags erklären, die zusehen mussten,
sicherung als wichtiges Kriterium für ihre Wahl-       wie ihre Gegner Boden gut machten, indem sie die
entscheidung an, nur sechs Prozent nannten hier        ihnen fehlenden Stimmen im Bereich der Sozialpo-
die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit        litik hinzugewannen.19
– dennoch machte François Bayrou beide Themen
zu zentralen Punkten seines Wahlprogramms.             Nicht nur das Politikangebot hängt von den zuvor
                                                       festgelegten Themengebieten ab; sie bestimmen
Das Klima eines Wahlkampfs wird von einer Viel-        auch, welche Fragen dem Wähler überhaupt gestellt
zahl von Akteuren bestimmt, die alle ihre eigenen      werden. Und gerade im Fall des Konjunkturwählers
Themen auf der politischen Agenda platziert            beeinflusst die Themenfestlegung auch in erheb-

                                                                                                             11
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lichem Maße die Antwort, die dieser am Tag der           Gründe der Unzufriedenheit (die weit über 60
Abstimmung gibt – und damit den Ausgang der              Prozent der Bevölkerung empfanden) ähneln sich
Wahl. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf alle         in den beiden Fällen: die Reform der Sonderrege-
Wähler auswirken; einige werden beispielsweise           lungen im Rentensystem (»régimes spéciaux«) der
einer Partei oder einem bestimmten politischen           Regierung Juppé im Herbst 1995 und die Renten-
Thema verhaftet bleiben, und letztlich, völlig unab-     reform des Arbeitsministers Fillon aus dem Jahr
hängig von der politischen Konjunktur im Land,           2004. Die Rechte agierte dabei in schwierigem,
ihre Wahlentscheidung treffen. Doch die zentralen        von sozioökonomischen Interessen beherrschten
Themen eines Wahlkampfs werden von der allge-            Gelände, auf dem die damalige Regierung eindeutig
meinen Konjunktur beeinflusst, was bestimmten            Elemente einer »Klassenpolitik« wiederbelebt hat.
Kandidaten und ihren Wahlprogrammen eher zu              In beiden Fällen hatte letztlich die Bilanz der Regie-
Gute kommt als anderen, die Persönlichkeit einiger       rung größeren Einfluss als die Vorschläge der lin-
Wähler eher anspricht als die von anderen. Ein           ken Opposition, dominierte die Angst vor sozialen
Wahlkampf, der sozioökonomische Fragen in den            Einschnitten: Zunächst äußerte sich dies in Stimm-
Mittelpunkt rückt, kann zu einem Wiederaufleben          enthaltungen konservativer Wähler und schließ-
des Klassenbewusstseins führen, das zunehmend            lich in einer verstärkten Mobilisierung der linken
verschwindet; eine Kampagne, die an sicherheitspo-       Wählerschaft, die dann zu ihrem Wahlsieg führte.20
litischen Themen ausgerichtet ist, hätte eine völlig     Zugleich lässt sich so das Wahlverhalten der Arbei-
andere Wirkung.                                          terschicht erklären: Angesichts eines Wahlkampfs, in
                                                         dessen Mittelpunkt die Abrechnung mit der zuvor
Wird auf die CEVIPOF-Analysen des Wahlver-               verfolgten liberalen Politik stand, konnte die Linke
haltens der politischen Linken zwischen 1978 und         einen massiven Stimmenzuwachs verzeichnen.
2007 dasselbe auf gesellschaftlichen Indikatoren
wie Beruf, religiöser Einstellung und Bildungsab-        Auch die Wahl 2007 hätte eine Rückkehr der
schluss beruhende soziologische Modell angewen-          Arbeiterschicht ins linke Lager auslösen können.
det, so zeigt sich, dass sich ein solcher Erklärungs-    Gleichwohl verlor die Klassenzugehörigkeit gegen-
ansatz mit starren Variablen immer weniger eignet:       über dem Jahr 2002 sogar noch an Bedeutung für
Kann das Modell im Jahr 1978 noch die Wahlent-           die Wahlentscheidung. André Malraux würde den
scheidung von 28 Prozent der Wähler erklären,            Sieg des Präsidenten wohl so kommentieren: »Die
folgen am 22. April 2007 nur noch neun Prozent           Anhängerschaft Sarkozys erinnert an die Métro zu
der Stimmentscheidungen diesem Erklärungsmus-            Beginn des Feierabends«,21 man findet dort Ver-
ter. Es ist dabei kein Zufall, dass das Modell bei der   treter aller gesellschaftlichen Schichten. Doch um
Erklärung des Wahlsiegs von Nicolas Sarkozy kaum         diese Anhängerschaft zu mobilisieren, musste sich
noch zu greifen scheint. Dennoch gibt es mindes-         der neue Präsident zunächst eine günstige Aus-
tens zwei Ausnahmen, bei denen eine sinnvolle            gangslage für seinen Wahlkampf schaffen – und er
Anwendung dieses Modells möglich erscheint: die          wusste auch, wie. Seine Strategie beruhte auf einem
Parlamentswahlen 1997 und die Europawahl 2004            einfachen Prinzip: Wenn der Wahlkampf nicht gut
(hier ermöglicht das Modell die Erklärung von 24         läuft, muss eher das Thema als der eigene Stand-
Prozent der Wahlentscheidungen).                         punkt geändert werden.

Von einzelnen Unterschieden abgesehen weisen die
beiden erwähnten Wahlen ausreichend Gemein-              Das Rezept von Nicolas Sarkozy
samkeiten auf, die einen Vergleich zwischen ihnen        für den Wahlsieg
rechtfertigen. Eine der Gemeinsamkeiten liegt
darin, dass zum Zeitpunkt der Wahl die Macht in          Nicolas Sarkozy konzentrierte seine Medienkam-
den Händen einer konservativen Regierung lag: der        pagne nicht auf ein einzelnes Thema, wie es sein
Regierung Juppé im einen, der Regierung Raffarin         Vorgänger 2002 mit dem Thema Sicherheit getan
im anderen Fall. Beide Regierungen waren zudem           hatte. Stattdessen versuchte er, den Debatten eine
bei der Bevölkerung äußerst unbeliebt. Auch die          neue Wendung zu geben und so die Rahmenbedin-

                                                                                                                  12
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gungen des Wahlkampfs zu verändern. Anstatt der         Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftssystems
Linken in der Sozialpolitik das Feld zu überlassen,     gegenüber dem Wohl der Arbeitnehmer. Nicolas
nahm er sich einiger ihrer Themen an und berief         Sarkozy erkannte früh die Möglichkeiten, die sich
sich in seiner Wahlkampagne auf einige traditio-        aus dieser Entwicklung für seinen Wahlkampf
nelle Vertreter des linken Lagers. So erhoffte er       ergaben, und nutzte sie seit Januar 2007. Seine
sich, die Debatte mitzugestalten und auch im antili-    politische Botschaft hatte dabei nicht mehr viel
beralistischen Lager zu punkten. Er spielte mit den     mit den Beschlüssen des UMP-Parteitags vom
ideologischen Grenzen politischer Lager und zeigte      16. und 17. März 2005 gemein, in deren Mittel-
dabei deutlich seine Absicht, sie gegebenenfalls        punkt eine Reform des Arbeitsrechts gestanden
auch zu überschreiten. So gelang es ihm, auch in        hatte. Vielmehr konzentriert sie sich auf die Idee
der Sozialpolitik die Debatte nach seinen Vorstel-      der individuellen Verantwortlichkeit: persönliches
lungen zu gestalten.                                    Verdienst statt solidarischer Gesellschaft; der indi-
                                                        vidualistische Leitsatz »Wer mehr arbeitet, verdient
Häufig haben Kommentatoren von einem Anstieg            auch mehr« statt des Ziels, die Gesellschaft als
sozialer Ungleichheit und der Unsicherheit der          Ganzes voranzubringen. Diese Individualisierung
Arbeitsplätze in Frankreich gesprochen, und             in Wirtschaftsfragen war eine Reaktion auf die
dieses Thema fand einen gewissen Widerhall in           wachsende Besorgnis ums eigene Wohl bei einem
der Wählerschaft: Im Jahr 2007 sahen die Fran-          Teil der Wählerschaft und veränderte entscheidend
zosen im Bereich der Arbeitslosigkeit den größ-         die Ausgangslage des Wahlkampfs. Vor dem Hin-
ten Handlungsbedarf für die Politik. Doch diese         tergrund von Ségolène Royals Phase des Abwartens
Spitzenposition auf der politischen Agenda, die         und Zuhörens im Namen der »Partizipation« fiel
den Sozialthemen bereits im Jahr 2002 von den           diese Entwicklung umso stärker ins Auge. Zuzu-
Themen Gewalt und Unsicherheit streitig gemacht         hören statt selbst die politische Bühne zu beherr-
worden war, schien auch 2007 nicht unangefoch-          schen hieß zugleich, seinem Gegner das Feld in den
ten zu sein, insbesondere dann, wenn die Situation      Medien zu überlassen und ihm die Möglichkeit zu
mit den Jahren 1988 und 1995 verglichen wird (43        geben, die Wahlkampfthemen zu bestimmen. Die
Prozent im Jahr 2007 gegenüber 80 und 73 Prozent        Logik der Individualisierung setzte sich so gegen-
in den beiden Vergleichsjahren). Zudem rückten          über einer Gemeinschaftslogik durch und brachte
neue Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik         die beiden Kandidaten im Bereich der Wirtschafts-
im Jahr 2007 in den Vordergrund und führten             politik auf Augenhöhe – genau dort, wo sich die
zu neuen Ängste: Nie zuvor war den Fragen der           traditionelle Skepsis der Wähler gegenüber einer
Kaufkraft und der Preissteigerungen am Vorabend         liberalen Wirtschaftspolitik zu Lasten des UMP-
einer Präsidentschaftswahl eine so große Bedeutung      Vorsitzenden hätte auswirken können.
beigemessen worden (13 und 18 Prozent im Jahr
2007 gegenüber jeweils drei Prozent im Jahr 1995).      Dass es ihm gelang, diese Nachteile in der Wirt-
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Anliegen der     schaftspolitik auszugleichen, ist einer der Gründe
Bürger scheinen dabei in besonderer Weise von der       für den Sieg Sarkozys. Hinzu kommt, dass er wei-
jeweiligen persönlichen Interessenlage beeinflusst      tere Themen auf der Wahlkampfagenda platzieren
zu sein; die Wähler handelten 2007 eher als ein-        konnte, mit denen er später punkten sollte: Immig-
zelne Wirtschaftsakteure denn als Mitglieder einer      ration, Integration, Sicherheit. In diesem Zusam-
Gemeinschaft. Die Angst vor persönlichen Nach-          menhang spielte die bereits erörterte übermäßige
teilen stand im Vordergrund.                            Fixierung der französischen Gesellschaft eine ent-
                                                        scheidende Rolle.
Hierin lag ein wichtiges Potenzial für eine Neuge-
staltung des wirtschafts- und gesellschafspolitischen   Schematisch betrachtet existieren innerhalb der
Diskurses, der die traditionelle Gegenüberstellung      Wählerschaft zwei Gegensatzpaare: In wirtschafts-
wirtschaftspolitischer Positionen und Instrumente       politischen Fragen stehen sich Liberalismus und
überwinden sollte, welche die Debatte zwischen          Antiliberalismus gegenüber, auf gesellschaftlicher
Links und Rechts lange Zeit bestimmt hatte: die         Ebene autoritäre und libertäre Gesellschaftsbilder.22

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Diese beiden Achsen mit ihren je zwei Grundhal-           auf soziale und wirtschaftliche Themen konzent-
tungen scheinen unabhängig voneinander und in             rieren können. Doch Nicolas Sarkozy steckte den
der Regel nicht deckungsgleich zu sein. So kennen         thematischen Rahmen seines Wahlkampfs anders
große Teile der Wählerschaft die Erfahrung, bei           ab: Verbrechensbekämpfung, Migrationspolitik und
ihrer Wahlentscheidung in zwei gegensätzliche             Integrationsfragen stellten die ideologischen Eck-
Richtungen zu tendieren. In den siebziger und             punkte seines Programms dar. Und dies wirkte sich
achtziger Jahren folgten die Arbeiter beispielsweise      in zweifacher Hinsicht auf die Wählerschaft aus.
mehrheitlich ihren sozial- und wirtschaftspolitischen
Überzeugungen und unterstützten mit ihrer Stimme          Zum einen drängte sich diese Agenda dem Kan-
die linken Parteien. Doch zugleich hätte der Wert-        didaten Nicolas Sarkozy geradezu auf – und zwar
konservatismus der Arbeiterklasse23 dieser Ent-           nicht zuletzt durch die Positionen der sozialisti-
scheidung im Wege stehen können, denn kaum eine           schen Kandidatin: die Vorschläge zur Erhöhung
Partei vertritt zugleich einen wirtschaftlichen Antili-   von Mindeststrafen aus dem rechten Lager überbot
beralismus und ein autoritäres Gesellschaftsbild.         sie durch den Begriff einer »gerechten Ordnung«
                                                          und der Forderung von Militärcamps für jugend-
In gewisser Weise formt in der Politik das Ange-          liche Straftäter. Das Thema Unsicherheit machte
bot der Parteien die Nachfrage der Wähler, indem          die Linke zu dem Feld, auf dem sie ihre Glaub-
es sie für bestimmte Themen sensibilisiert und so         würdigkeit und ihre Führungskompetenz beweisen
Trennlinien innerhalb der Wählerschaft aufbaut.           wollte. Die wichtige Funktion dieser Positionen in
Dem Front national und Jean-Marie Le Pen bei-             der sozialistischen Kampagne rückte das Thema
spielsweise gelang der Aufstieg nicht deshalb, weil       Unsicherheit erst in den Mittelpunkt und trug dazu
sie eine Nachfrage nach immigrationsfeindlicher           bei, einen repressiven Grundton in den Wahlkampf
Politik weckten, sondern auf Grund ihrer Fähigkeit,       einzuführen und nicht zuletzt dadurch den Positi-
die latent in der Wählerschaft vorhandene autori-         onen des erfahrenen ehemaligen Innenministers in
täre Haltung in politische Forderungen zu fassen.         der Sicherheitspolitik Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Dass der zweite Wahlerfolg Le Pens durch seinen           Wenn es einen Bereich gab, in dem Sarkozy sicht-
Rückhalt in der Arbeiterschicht ermöglicht wurde,         bare Ergebnisse vorweisen konnte, die zudem die
ist daher kein Zufall. Angesichts der zunehmenden         Zustimmung der Bevölkerung fanden, so war es
Annäherung zwischen Rechts und Links blieben              der der Sicherheitspolitik.
sicherheitspolitische und ethnozentristische The-
men im politischen Diskurs unbesetzt, und der FN          Zudem traf die Haltung Sarkozys im Bereich der
verstand es, sich dieser Themen anzunehmen. Bei           »Abschottung nach außen« einen verborgenen Nerv
einer alleinigen Wahlentscheidung zwischen RPR            bei Teilen der Wählerschaft. Immigration und Inte-
und PS wäre die Arbeiterschicht jedoch vor allem          gration waren bis vor einigen Jahren für jeden kon-
durch ihren Wertkonservatismus von einer Rück-            servativen Kandidaten riskante Themen; die Fixie-
kehr ins linke Lager abgehalten worden. Und nicht         rung der französischen Gesellschaft jedoch machte
zufällig beeinflusste die Klassenzugehörigkeit die        sie zu legitimen Wahlkampfthemen. Die Betonung
Entscheidung des zweiten Wahlgangs bei den Präsi-         republikanischer Werte in der Immigrationsdebatte
dentschaftswahlen 1988 und 1995 mehr als die des          diente nicht nur rhetorischen Zwecken, um die
ersten: War das Politikangebot im ersten Wahlgang         Bevölkerung durch eine Diskussion dieser Themen
noch von den beiden genannten Gegensatzpaaren             nicht vor den Kopf zu stoßen. Das Thema Immig-
und ihren Wertvorstellungen geprägt, welche die tra-      ration wurde zu einem zentralen Punkt der poli-
ditionelle Zuordnung zu politischen Lagern durch-         tischen Debatte und fand Anerkennung als Wahl-
kreuzten, so bot sich im zweiten Wahlgang nur             kampfthema, insbesondere in Folge der Unruhen
mehr das klassische Schema von zwei Alternativen.24       in den Vorstädten im Jahr 2005, der Debatte über
                                                          Kopftücher an den Schulen oder des wachsenden
Der UMP-Kandidat hätte die Politik einer Abschot-         Drucks, den einige muslimische Organisationen
tung der französischen Gesellschaft nach außen            auszuüben versuchten. All dies wiederum kam
dem FN überlassen und sich in seinem Wahlkampf            jenen Kandidaten zu Gute, die sich einer »Islami-

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sierung der französischen Gesellschaft« widersetzen     Dennoch berührte sie damit implizit das Thema
möchten. Auch Sarkozy näherte sich diesen Positi-       der nationalen Identität und sorgte dafür, dass es im
onen an und sprach sich vor allem gegen Polygamie       Wahlkampf präsent blieb, anstatt eine neue Debatte
und die Beschneidung von Mädchen und Frauen             zu eröffnen und das Themenfeld zu wechseln.
aus, obwohl diese Themen nur einen überaus gerin-
gen Teil der pluralistischen französischen Gesell-      Letztendlich bestand das Rezept von Nicolas Sar-
schaft betrafen. Auch sein Vorschlag zur Schaffung      kozy also aus folgenden Elementen:
eines Ministeriums für Immigration und nationale
Identität verursachte großen Wirbel.                    •   Ein bewusstes Aufgreifen der Themen, die ihm
                                                            zunächst nicht zu liegen schienen, verbunden
Wie im Bereich der Sicherheitspolitik bereiteten            mit dem Versuch, sie neu auszurichten, anstatt
seine Gegner Sarkozy auch hier ein leichtes Spiel.          ihre Entwicklung dem Zufall zu überlassen. Als
Schon der Vorschlag eines Ministerium für Immig-            bestes Beispiel hierfür dient der wirtschafts- und
ration und nationale Identität vom 10. März 2007            sozialpolitische Bereich, in dem es ihm gelang,
nahm der sozialistischen Kandidatin den Wind                die traditionelle Opposition zwischen Rechts und
aus den Segeln, als sie gerade im Anschluss an              Links aufzubrechen und stattdessen der Solidar-
ihre Rede in Villepinte (11. Februar) und ihren viel        gesellschaft eine Gesellschaft des Verdienstes
beachteten Auftritt in der Wahlsendung »J’ai une            gegenüberzustellen.
question à vous poser« (19. Februar) ihr Programm       •   Seine Entscheidung, auch schwierige politische
vorstellen wollte. In den Medien steuerte sie zu            Themen wie Kriminalität, Immigration und Inte-
impulsiv und direkt auf ihr Ziel zu. Dem künftigen          gration auf seine politische Agenda zu setzten,
Präsidenten gelang es dagegen, wie im Fall seiner           statt hier dem FN das Feld zu überlassen. Insbe-
Aussagen über »positive Diskriminierung« und über           sondere in diesen Fragen machte er sich die über-
den Dampfreiniger (»Kärcher«) – mit letzterem               mäßige Fixierung der französischen Gesellschaft
meinte er die Anwendung rigoroser Maßnahmen in              zunutze.
Problembezirken – eine wahre Kaskade von Reak-          •   Ein gekonnter Umgang mit den Medien, indem
tionen, Analysen und Kritiken seiner Konkurrenten           er mit dem Überschreiten von Grenzlinien
auszulösen. Diese bescherten dem UMP-Kandi-                 spielte, um selbst den Rhythmus des Wahlkampfs
daten mediale Aufmerksamkeit, sicherten damit               vorzugeben und das für ihn günstigste Terrain
seine ständige, auch indirekte Präsenz in der Öffent-       festzulegen, auf dem dann der politische Macht-
lichkeit und überließen ihm den Platz im Zentrum            kampf stattfinden soll.
der politischen Debatten. Anstatt sich anderen
Fragen zu widmen, nahmen die übrigen Kandi-             Das Rezept funktionierte, Nicolas Sarkozy errang
daten die Themen Immigration und Integration als        einen sicheren Wahlsieg. Ohne einen neuen Grund-
wichtige Punkte in ihr Wahlprogramm auf. Und            ton im Wahlkampf, der die Debatte über Integra-
indem sie zur Haltung Sarkozys Position bezogen,        tion und Immigration maßgeblich beeinflusst hat,
seinen Themen damit einen Platz auf ihrer Agenda        wären diese Themenbereiche höchstwahrscheinlich
einräumten und Alternativen zu seinen Vorschlägen       ein Tabu geblieben und von der Rechten gemieden
einbrachten, verliehen sie diesen Fragen selbst eine    worden. Dann wäre Jean-Marie Le Pen vielleicht
besondere Bedeutung. Wenn Ségolène Royal von            nicht in doppelter Hinsicht von seinen Wählern im
der Marseillaise und der Nationalflagge sprach, so      Stich gelassen worden – indem sie zunächst schon
erinnerte dies an die Idee von Ernest Renan, nach       im ersten Wahlgang für den UMP-Kandidaten
der die französische Staatsbürgerschaft auf dem         stimmten und dann im zweiten Wahlgang nicht den
Bekenntnis der Bürger zu gemeinsamen Werten und         Wahlempfehlungen ihres »Chefs« folgten. Hätte
Überzeugungen beruht (»tägliches Plebiszit«). Denn      in der Wählerschaft nicht eine latente Fixierung in
ihr ging es eher darum, eine nationale Identität im     Bezug auf die oben genannten Themen bestanden,
Sinne eines Willens zum Zusammenleben wieder-           dann wären die Vorschläge Sarkozys nicht von
zubeleben, statt eine »ethnische« Staatsbürgerschaft    solcher Sprengkraft gewesen und andere politische
zu propagieren, die auf Blutsverwandtschaft beruht.     Überlegungen hätten die Wahlentscheidung der

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