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© kaninstudio - AdobeStock.com Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky Die Betroffenen sind niemals nur (passive) Opfer – sie sind politische Subjekte, die sich gegen die andauernde Fremd- und Opfermachung aktiv einsetzen Zusammenfassung Antisemitism as a Biographical Category In den hiesigen Debatten um Antisemitismus spielt of Experience die Kontinuität und Wirkung von Antisemitismus als eine lebensgeschichtliche (biographische) Erfahrungs- Summary kategorie eine eher untergeordnete Rolle. Im Umgang The continuity and impact of anti-Semitism as a life- mit Antisemitismus als biographische Erfahrungska- historical (biographical) category of experience plays a tegorie stellt die Vergangenheit aber einen wichtigen rather subordinate role in the debates on anti-Semitism Bezugspunkt dar. Es ist unbedingt erforderlich, stets here. In dealing with anti-Semitism as a biographical die Expertisen und Erfahrungen von Betroffenen ein- category of experience, the past is an important point zubeziehen und zu würdigen. Die Ausdehnung des of reference. It is advisable and absolutely necessary Aktionsradius und die Schärfung der Wahrnehmbar- to always include and acknowledge the expertise and keit von Antisemitismus als eine real existierende experiences of those affected. The expansion of the ra- Ausgrenzungs- und Gewaltpraxis spielt dabei eine dius of action and the sharpening of the perceptibility zentrale Rolle. of anti-Semitism as a real existing practice of exclusion and violence thematized plays a central role here. Schlüsselwörter Antisemitismus, Diskriminierung, Shoah, Migration, Keywords Trauma antisemitism, discrimination, Shoah, migration, trauma 18 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky „Und ich glaube, so diese Angst, dass man teil gesellschaftlicher Strukturen. Strukturel- sein Kind erkennbar schon nicht auf die Stra- le Formen von Antisemitismus äußern sich ße schickt, da muss man sich schon wirklich durch Regelungen wie die Forderung nach überlegen, bin ich eine gute Mutter, wenn ich Beschneidungsverbot, das Missachten von mein Kind dieser Gefahr aussetze? Also, ich jüdischen Feiertagen, Absprache von Rechten glaube, das hat einfach einen Rieseneffekt, oder in dem (nicht) gewährten Schutz.4 auch wenn einen das vielleicht im Alltäglichen Antisemitisch aufgeladene Vorstellungen selbst noch nicht getroffen hat. Aber diese Vor- sind der Gesellschaft inhärent und können fälle haben einfach einen totalen Effekt auf das zudem ungeachtet der Herkunft, Religion, eigene Leben. Wie man das gestaltet. Und sozialen und politischen Positionierung ein- wie frei man sich auch fühlt, bestimmte Dinge genommen und zu jeder Zeit reproduziert zu machen. Aber ich finde auch, man hat so in werden. Die gefühlte Distanz, das Schwei- diesem Mainstream, in der mainstream-deut- gen in den Familien, die zunehmende Nor- schen Mehrheitsgesellschaft auch, definitiv malisierung antisemitischer Argumentation, ein Antisemitismusproblem“ 1 die politische und digitale Radikalisierung u.a. Antisemitismus ist wider Erwarten nicht verstärken diese Tendenz.5 In den hiesigen „nur“ ein historisches und soziales Phä- Debatten um Antisemitismus spielt jedoch nomen, sondern ein strukturelles und ge- die Kontinuität und Wirkung von Antisemitis- waltproduzierendes Machtverhältnis mit mus als eine lebensgeschichtliche (biographi- nachhaltigen Effekten. Das antisemitische sche) Erfahrungskategorie eine eher unterge- Ressentiment strukturiert und reguliert die ordnete Rolle. Antisemitismus wird oftmals Wahrnehmung von und die Beziehung zu sehr abstrakt, als Einstellung ohne Wirkung Jüdinnen und Juden und Jüdischem. Anti- diskutiert – seine Wirkmächtigkeit als Erfah- semitische Auffassungen treten in allen ge- rungskategorie geht in den Diskursen unter, sellschaftlichen Gruppen in Erscheinung und oder die Effekte werden überindividualisiert Antisemitisch aufgeladene Vorstellungen können ungeachtet der Herkunft, Religion, sozialen und politischen Positionierung einge- nommen werden und lassen sich zu jeder Zeit reproduzieren beschränken sich nicht nur auf manifeste Ar- – nahezu ausschließlich im Zusammenhang tikulationsformen, sondern treten auch subtil mit psychologischen Reaktionen der Betroffe- und zwischen den Zeilen in Erscheinung, wie nen – quasi ohne die gesellschaftlichen Kau- etwa im verbreiteten Gebrauch des Wortes salitäten – betrachtet. »Jude« als Schimpfwort.2 Grundsätzlich stellt die jahrzehntelange Antisemitismus äußert sich zudem in öf- De-Thematisierung des Post-Shoah-Antise- fentlichen Entgleisungen und antisemitisch mitismus ein großes Problem für seine aktu- aufgeladenen Diskursen sowie Hetzreden bis elle Rezeption dar. In der Nachkriegszeit und hin zu tätlichen Übergriffen und terroristischen auch in den darauffolgenden Jahrzehnten Anschlägen wie in Halle.3 Ebenso werden in „verschwand“ Antisemitismus aus dem Be- den Medien, an (Hoch-)Schulen und anders- wusstsein der (nicht jüdischen) Mehrheitsge- wo „israelkritische“ Positionen vertreten, die sellschaft, aber er hörte nicht auf zu existie- jedoch nicht selten antisemitische Ressen- ren. Die Position der Abwehr war viele Jahre timents transportieren. Antisemitismus ist vorherrschend in der Antisemitismusdiskus- folglich nicht nur auf individueller Ebene – zum sion und verhinderte eine tiefergehende Aus- Beispiel in Form von Abwertungen und Über- einandersetzung mit Motiven derer, die anti- griffen – virulent, sondern auch als Bestand- semitisch fühlen, denken und handeln, aber Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1 | 19
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky auch jener, die davon betroffen sind. Das Be- antisemitische Straftaten in Deutschland.11 dürfnis nach einer konsistenten und vor allem In 2018 liegt die Zahl bei insgesamt 1.799 „unbeschadeten Identität“ erzeugt offenbar Straftaten (überwiegend Propagandadelikte den Wunsch, Antisemitismus zu verdrängen und Sachbeschädigung), die der Gewalttaten und sich der damit verbundenen Gefühle bei 69. Damit wurden in 2018 Höchstwerte und Implikationen zu entledigen.6 Bis heute erreicht, die Zahlen schwanken allerdings scheint Antisemitismus in der nicht-jüdischen im Zeitraum der Beobachtung von 2001 bis Öffentlichkeit als „völlig abstrakt“, „ungreif- 2018, zum Teil ohne klar erkennbaren Trend.12 bar“ und „unwirklich“ zu sein.7 Dass Antisemitismus existiert und sich als Viele antisemitische Straftaten – Propaganda- Gewalt und Diskriminierung ausdrückt, wird delikte, Sachbeschädigung, Gewalt – werden jedoch zunehmend sichtbar sowohl in den von den Betroffenen nicht angezeigt Berichten von Betroffenen8 als auch anhand jüngster Studien9: Die Einschätzung, inwieweit Antisemi- • Demnach nehmen rund 90 Prozent der tismus verbreitet ist, wo er sich bemerkbar in Deutschland lebenden Jüdinnen und macht und wie er wirkt, hängt nicht zuletzt Juden einen Anstieg von Antisemitismus davon ab, welche Indikatoren zu seiner Ein- wahr. schätzung herangezogen werden. Neben • Rund 30 Prozent wurden selbst Opfer ei- den kriminalpolizeilichen Statistiken und Ent- ner antisemitischen Belästigung. wicklungsbeobachtungen durch RIAS13 gibt • Jede dritte Person kann bezeugen, wie es weitere Erkenntnisquellen, zum Beispiel andere Jüdinnen und Juden beleidigt, be- die Einstellungsstudien.14 Aber auch diese drängt oder attackiert wurden. Erkenntnisquelle ist nicht umfassend – es • Rund 90 Prozent halten antisemitische Äu- gibt zum Beispiel in Deutschland kein regel- ßerungen insbesondere im Internet für ein mäßiges Monitoring von antisemitischen Ein- Problem und 70 Prozent geben an, Antise- stellungen, das explizit und nicht als Teil einer mitismus im öffentlichen Raum und in den Studie in regelmäßigen Abständen durchge- Medien erfahren zu haben. führt wird.15 Um sich ein umfassendes Bild • Rund 80 Prozent der Befragten melden über das Ausmaß von Antisemitismus zu ma- selbst gravierende Vorfälle nicht der Poli- chen, ist es jedoch wichtig, die Wechselwir- zei, da sie der Meinung sind, die Meldung kungen zwischen diesen unterschiedlichen würde „nichts bewirken.“ Indikatoren zu verstehen und zu fragen, wie • Darüber hinaus ist davon auszugehen, das Ausmaß des Antisemitismus jenseits der dass rund 77 Prozent der Antisemitismus- Einstellungsmessung bzw. Gewaltstatistiken betroffenen in Deutschland keine professi- erschlossen werden kann. So sind zum Bei- onelle Begleitung durch parteiliche Opfer- spiel die Perspektiven und Erfahrungen von- beratungsstellen erhalten. seiten der jüdischen Community eine Quelle, Auch die kriminalpolizeilichen Statistiken und die nicht länger ausgelassen werden darf. die Jahresberichte von RIAS10 verzeichnen ei- Die Verfolgung, die Bagatellisierung des nen Anstieg an antisemitischen Gewalttaten. Verbrechens, die späte Anerkennung der Es ist jedoch anzunehmen, dass die Dunkel- Shoah, die Gefühlskälte und emotionale Di- ziffer erheblich höher ausfällt. Eine Ursache stanz, der geächtete, aber dennoch existen- ist das sogenannte Underreporting – das be- te Antisemitismus waren ein Teil der Realität deutet, dass viele antisemitische Straftaten von Jüdinnen und Juden in Deutschland nach von den Betroffenen oder ZeugInnen nicht 1945.16 Neben konstanten, schleichenden angezeigt werden. So erfasst die Polizeista- Zwischentönen kam es punktuell auch zu tistik im ersten Halbjahr 2019 bislang 409 Anschlägen.17 Gleichzeitig gab es auch in den 20 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky Jahrzehnten nach dem Kriegsende spürbare Beziehungen weiterentwickeln kommt es Verbesserungen und ein bewusst gewähltes gleichzeitig zu Bruchstellen – zu öffentlichen Arrangement. Bis vor wenigen Jahren hatten (antisemitisch aufgeladenen) Debatten oder viele in der Bundesrepublik lebenden Jüdin- gewaltförmigen Vorfällen an Schulen. Auch nen und Juden vielleicht doch keinen Zweifel die öffentliche Reaktion auf den Gaza-Krieg daran gelassen, dass sie sich zwar als (jüdi- 2014 war von hasserfüllten Attacken gegen sche) Minderheit, aber zugleich als Teil der Jüdinnen und Juden und Israel gekennzeich- politisch stabilen, demokratischen Gesell- net. Mit dem Aufstieg einer rechtsextremen schaft sehen. Partei und nach den jüngsten terroristischen Die Studie von Ben-Rafael, Sternberg und Anschlägen steigt die Verunsicherung der Glöckner spiegelt zum Beispiel eine durch- jüdischen Gemeinschaft zunehmend. Mit weg positive Wahrnehmung der deutschen jedem antisemitischen Vorfall werden Erin- Gesellschaft und Politik wider. Demnach nerungen wach und scheinbar überwunden sehen viele jüdische Repräsentanten18 die geglaubte Ängste drängen sich wieder ins Aufgeschlossenheit der deutschen Politik ge- Bewusstsein.19 genüber den Gemeinden und Organisationen Antisemitismuserfahrungen als lebensge- als ein positives Kontinuum: „Im Großen und schichtliche Kategorie stehen bei Menschen Ganzen ist die Zusammenarbeit sehr produk- mit jüdischen Biografien grundsätzlich im tiv. Staat, Bundesregierung, aber auch regio- engen Zusammenhang mit transgenerati- nale und kommunale Instanzen [zeigen] eine ven Folgen der Entrechtung und Verfolgung, Menge Aufgeschlossenheit. Ablehnende Hal- mit Flucht- und Migrationsbiografien, mit tungen sind kaum anzutreffen.“ Gleichwohl erfahrenen und antizipierten Bedrohungssi- bestätigten einige InterviewpartnerInnen, tuationen.20 Jenseits der extremen Gewalt dass es Unterschiede oder auch gänzlich bedeutet es für viele Jüdinnen und Juden andere Erfahrungen/Einschätzungen geben mit Mikroagressionen21, Fremdmachung und kann: „Keine deutsche Institution oder Behör- Exotisierungen in ihrem Alltag konfrontiert de möchte sich nachsagen lassen, dass ihr zu werden.22 Antisemitische Diskriminierung die noch verletzliche, zarte Pflanze des jüdi- beschränkt sich außerdem nicht allein auf schen Neuanfangs in Deutschland egal wäre. das Merkmal Jüdisch-sein, sondern sie ver- Es mag vorkommen, dass Juden individuell mengt sich mit weiteren identitätsstiftenden schlecht behandelt werden, niemals aber de- Merkmalen wie Geschlecht, Alter, körperli- ren offizielle Repräsentanten.“ che und gesundheitliche Verfassung, Sprache Mit jedem antisemitischen Vorfall werden Erinnerungen wach und scheinbar überwunden geglaubte Ängste drängen sich wieder ins Bewusstsein Vielleicht war das alles in einem eine schüt- oder Herkunft. Auf diese Weise stellt Antise- zende und stabilisierende Wahrnehmung, mitismus für viele Jüdinnen und Juden eine Ausdruck eines dualen Verständnisses – ein historische und auch eine mehrdimensionale geschichtsbewusster Staat auf der einen und Erfahrung dar, die von manchen als biogra- eine latent antisemitische Gesellschaft auf fisch widerkehrend, kontinuierlich und mehr- der anderen Seite. dimensional beschrieben wird.23 Eine Studie Selbstverständlich wussten und wissen in aus den 1980er-Jahren in den USA stellt Deutschland lebende Jüdinnen und Juden, die These auf, dass die „jüdische Wahrneh- wie dünn das Eis der Erkenntnis ist. Während mung“ des Antisemitismus – historisch be- sich die gesellschaftlichen und kulturellen dingt – immer ziemlich genau ausfällt.24 Dabei Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1 | 21
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky sind die meisten Jüdinnen und Juden weder nahmen nach sich: Bestimmte Orte können übermäßig betroffen noch selbstgefällig im gemieden, jüdische Symbole versteckt, jüdi- Hinblick auf Antisemitismus. Während einige sche Zugehörigkeit(en) verschwiegen werden. eher ängstliche Haltungen vertreten, zögern Gleichwohl zeigt sich eine steigende Politisie- zum Beispiel die anderen, Antisemitismus rung in der jüdischen Community. Sowohl die überhaupt als Problem anzuerkennen. erhöhte Sensibilität als auch eine zunehmen- Aus der Traumaforschung wissen wir, dass de Widerstandsfähigkeit sind mögliche Folgen die Überlebenden das Trauma der Verfolgung einer langanhaltenden Bedrohung. Strategien an ihre Kinder und Enkelkinder übertragen wie aktives Meldeverhalten, intensivere Be- haben. Nach dem Konzept von Postmemo- schäftigung mit der eigenen jüdischen Identi- ry25 bleiben zum Beispiel die Erinnerungen tät, die Hinwendung zu Religion und Gemein- der ersten Generation quasi „lebendig“ und schaft, Einsatz für Demokratie und gegen dringen in die Gegenwart derer ein, die diese Diskriminierung sind wichtige Sinn- und Kraft- Ereignisse lediglich aus Erzählungen, Auslas- quellen im Umgang damit. sungen oder auch Andeutungen kennen und Ein antisemitismuskritischer Umgang mit imaginieren. In Form von „haunting postme- Antisemitismus setzt zunächst voraus, dass mories“26 können zeitgeschichtliche Ereignis- die eigenen Ambivalenzen, Widersprüche se inmitten der Nachfolgegeneration durch und Distanzierungswünsche sowie struktu- Imagination, Projektion und nachempfinden- rellen Leerstellen reflektiert, durchleuchtet de Konstruktion implementiert und übernom- und bewusst gemacht werden. Die Schär- men werden. Durch die starke Identifikation fung der eigenen Wahrnehmung von und die beziehen die Nachkommen der Überleben- Positionierung zu aktuellem Antisemitismus den die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern mit all seinen historischen und gegenwärti- und Großeltern auf sich und durchleben ihre gen Verwobenheiten ist zum Beispiel bei der Verfolgung stellvertretend. So gesehen verfü- Beratung und Begleitung Antisemitismusbe- gen die Nachkommen, deren Vorfahren ver- troffener ein zentraler Aspekt. Für die Betrof- folgt wurden, über ein anderes Gedächtnis fenenberatung sind zudem die Sensibilität als Nachkommen, deren Vorfahren verfolgt für und das Wissen um die unterschiedlichen haben. Die psychologisch orientierte For- Gedächtnisse sowie die Relevanz von aktuel- schung spricht hier von transgenerationaler lem Antisemitismus eine weitere Vorausset- Traumatisierung und vom transgenerationa- zung. Es ist nahezu charakteristisch für die len Fortwirken der Shoah.27 antisemitische Kommunikation, dass sie über Durch die starke Identifikation beziehen die Nachkommen der Überlebenden die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern und Groß- eltern auf sich und durchleben ihre Verfolgung stellvertretend Die Vergangenheit stellt also einen wichti- Andeutungen, Identitätsordnungen, Platzzu- gen Bezugspunkt bei der Analyse und Bearbei- weisungen, Kontaktvermeidung, Fremdma- tung gegenwärtiger Erfahrungen mit Antisemi- chung sowie Auf- und Abwertungen, diffus tismus dar. In einigen Studien beschreiben die und über Umwege verläuft und manchmal InterviewpartnerInnen ein hohes Ausmaß an auch nur subtil in Erscheinung tritt. Umso Belastung, Verunsicherung und Angst vor neu- wichtiger erscheint es, mit einem offenen Ge- en Übergriffen, aber auch das Vorhandensein waltbegriff zu arbeiten, der alle Formen und eines Überlebenswissens, welches (auch) Artikulationen des Antisemitismus mitein- als Ressource beschrieben wird. Ein solches schließt. Es soll grundsätzlich mehr Angebote Erleben zieht zwangsläufig Vorsichtsmaß- geben, die der Spezifika von Antisemitismus 22 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky Rechnung tragen – z.B. Antisemitismus nicht verhältnisse verstanden werden. Die ausschließlich unter Rassismus oder Rechter Ausblendung dieser Aspekte trägt dazu Gewalt einordnen, Zugang zu Gemeinden bei, dass die Ursache bei den Betroffenen und anderen jüdischen Gruppen erschließen, selbst gesucht wird. Antisemitismus nicht zwingend unter der • Das Wahrnehmen und Erleben von Anti- AGG-Kategorie Religion verbuchen.28 semitismus beschränkt sich nicht allein Oft wird das subjektive Erleben von Anti- auf das Jüdisch-Sein, sondern ist mehrdi- semitismus und Diskriminierung individuali- mensional und vermischt sich mit weite- sierend betrachtet. Der biographische Zugang ren identitätsstiftenden Merkmalen und zu Gewalterfahrungen bedeutet jedoch nicht Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, zwangsläufig deren Individualisierung. Eine körperliche und gesundheitliche Verfas- individualisierende Perspektive auf die Ge- sung und insbesondere auch Herkunft und walt hat weitreichende Konsequenzen, wie Sprache. zum Beispiel der sich wiederholende Vorwurf • Antisemitische Erfahrungen stehen in „übersensibel“ zu sein. Eine biographisch Deutschland im engen Zusammenhang sensible Betrachtung einer Gewaltpraxis be- mit den Folgen der nationalsozialistischen rücksichtigt hingegen die Biographie bei einer Verfolgung und Ermordung der Juden in gleichzeitigen historischen und gesellschaft- Europa. Traumatische Erfahrungen, die auf- lichen Kontextualisierung. So wird nicht den grund ihres extremen Ausmaßes nicht ver- Betroffenen, sondern dem gewaltproduzie- arbeitet werden konnten, bleiben nicht nur renden System Rechnung getragen. Bei der für direkt Betroffene, sondern auch für die Analyse des Antisemitismus aus der Sicht nachfolgenden Generationen eine spürba- von Menschen mit Antisemitismuserfahrun- re Belastung.30 gen sind daher zusammenfassend folgende • Auch die hiesigen Migrationserfahrungen Aspekte besonders wichtig29: sollten berücksichtigt werden. Aus Inter- • Reaktionen auf Diskriminierung dürfen views mit Jüdinnen und Juden aus der nicht ausschließlich durch individual-bio- ehemaligen Sowjetunion zeigt sich, dass grafische Faktoren, psychische Verfas- gegenwärtige Erfahrungen mit Antisemi- sung, Persönlichkeitsstruktur oder sons- tismus durch Ausschluss- und Antisemi- tige individual-psychologische Faktoren tismuserfahrungen ihrer Familien im Her- erklärt werden. kunftsland verstärkt werden (können).31 • Antisemitismuserfahrung ist niemals ein • Bei mehrfachen und wiederkehrenden Einzelfall, sondern eine Kontinuität von Antisemitismuserfahrungen entstehen wiederkehrenden Dispositionen. In die- existenzielle Fragen der Identität und Zu- sem Sinne ist jede Erfahrung mit Antise- gehörigkeit. Die Häufigkeit, das Ausmaß mitismus eine politische Angelegenheit und die Schwere antisemitischer Konfron- – sie kommt als Gewalteinwirkung von tationen bestimmen an vielen Stellen den außen und wirft (existenzielle) Fragen auf, Umgang damit. Derzeit fragen sich einige, die individuell nicht beantwortet werden ob sie in Deutschland noch (sicher) leben können. Vor diesem Hintergrund bedarf es können.32 einer genaueren Analyse situativer Fakto- • Es gibt dennoch keine einheitlichen Er- ren und einer gesellschaftlichen Kontextu- fahrungen mit Diskriminierung und Ge- alisierung. Dies setzt gleichzeitig voraus, walt. Jüdinnen und Juden in Deutschland dass die Stimmen der Betroffenen Gehör empfinden und erleben Antisemitismus finden und Solidarität erfahren. sehr unterschiedlich. Die jüdische Ge- • Antisemitismus sollte als soziale Exklusi- meinschaft zeichnet sich durch hohe Bin- on und als Teil gesellschaftlicher Macht- nendifferenzen, Mehrdimensionalität und Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1 | 23
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky Mehrsprachigkeit aus. Auch der Umgang 8 Vgl. Antisemitismusbericht 2017; Siehe hierzu auch die Jah- resberichte von RIAS mit Antisemitismus sollte daher nicht ho- 9 Vgl. Bernstein (2018): „Mach mal keine Judenaktion“; Fun- mogenisiert und vereinheitlicht werden. damental Rights Agency (FRA): Erfahrungen und Wahrneh- Die Diskriminierungsforschung belegt vielfach, mungen in Zusammenhang mit Antisemitismus. Zweite Er- hebung zu Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber dass das Erleben von Diskriminierung das psy- Jüdinnen und Juden in der EU, Wien 2018: https://fra.euro- chische und physische Wohlbefinden nachhal- pa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2018-experiences- and-perceptions-of-antisemitism-survey-summary_de.pdf; tig beeinträchtigt. Gleichzeitig gelingt es vielen Zick, Andreas/Bernstein, Julia et al.: Antisemitismus aus Betroffenen, durch vielfältige Strategien, wozu jüdischer Perspektive. Studie über die Wahrnehmungen, Er- u.a. die Suche nach sozialer Unterstützung fahrungen und Einschätzungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland; Expertise für den 2. Unabhängigen Experten- in der eigenen Community, aber auch die Bil- kreis Antisemitismus: Bericht zum Aktuellen Antisemitis- dung von Koalitionen gehört, die Belastung mus in Deutschland, Berlin 2017: https://www.annefrank. de/fileadmin/Redaktion/Bilder_grosseDateien/Dokumente/ abzufedern. Die Betroffenen sind niemals nur Expertenbericht_Antisemitismus_in_Deutschland.pdf (zu- (passive) Opfer – sie sind politische Subjekte, letzt aufgerufen: 20.1.2020). die sich gegen die andauernde Fremd- und Op- 10 RIAS – Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus: https://report-antisemitism.de fermachung aktiv einsetzen. Die Ausdehnung 11 Rückmeldung der Bundesregierung auf die regelmäßige des Aktionsradius und die Schärfung der Wahr- Anfrage der Bundestagsabgeordneten Petra Pau von der nehmbarkeit von Antisemitismus als eine real Partei Die Linke (Januar – Juni 2019); https://petrapau. de/19_bundestag/dok/down/2019_zf-rechtsextreme-straf- existierende Gewaltpraxis – thematisiert und taten.pdf. (zuletzt aufgerufen: 16.12.2019). problematisiert aus der Binnenperspektive von 12 Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat. Über- Jüdinnen und Juden – ist ein wichtiges Ziel. sicht „Hasskriminalität“ – Entwicklung der Fallzahlen 2001- 2018; https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/ DE/veroeffentlichungen/2019/pmk-2018-hasskriminalitaet Anmerkungen -2001-2018.pdf;jsessionid=9CD55037D369EE4D5C0080 1 Chernivsky, Marina / Lorenz, Frederike (2020): „Antisemitis- 3AF188B9E2.2_cid287?__blob=publicationFile&v=5. (zu- mus an der Schule“ – Veröffentlichung des Studienberichts letzt aufgerufen: 16.12.2019). im März 2020 13 RIAS – Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus: 2 Vgl. Bernstein, Julia (2018): „Mach mal keine Judenaktion!“: He- https://report-antisemitism.de rausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bil- 14 Dazu gehören zum Beispiel die FES-Mitte-Studie und die dungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus (2017-2018), htt- Leipziger Autoritarismusstudie – beide Studien untersu- ps://www.handlungskofferantisemitismus.org/. Rensmann, Lars chen Antisemitismus als Subdimension rechtsextremer (2013): »Die Ausgrenzung des Eigenen und die Exklusion derBei Einstellungen bzw. als Teil eines Syndroms Gruppenbe- der Betrachtung der „Umstände der Tat“ und der „Einstellung zogener Menschenfeindlichkeit und in Fortführung der des Täters“ ist für die Beratungsstellen die Wahrnehmung der gleichnamigen Langzeitstudie Betroffenen, also die Opferperspektive, ausschlaggebendAnde- ren‹. Zur politischen Psychologie des Antisemitismus heute«, in: 15 Vgl. Antisemitismusbericht 2017 Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 17 (2013) 2, S. 171 16 Chernivsky, Marina / Wiegemann, Romina (2020): Quali- 3 Mehr Infos zum Anschlag in Halle u.a. hier: https://www. tätsstandards antisemitismuskritischer Beratung (Veröf- zeit.de/thema/halle-an-der-saale fentlichung im Herbst 2020). Danach abrufbar unter www. zwst-kompetenzzentrum.de 4 In einer 2006 durchgeführten (repräsentativen) Umfrage ver- neinte noch ein Viertel der Befragten, dass Juden die glei- 17 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat es in Deutschland chen Rechte wie die Mehrheitsgesellschaft haben sollten viele antisemitische Anschläge und Angriffe auf Juden (vgl. Werner Bergmann, Expertenkreis Antisemitismus beim oder jüdische Einrichtungen gegeben. Allein die „Antise- BMI, Vortrag zu Ergebnissen der Einstellungsforschung zum: mitische Schmierwelle“ im Jahre 1959 ist ein markantes »Antisemitismus in Deutschland« am 15.2.2010/Aktualisierte Beispiel antisemitischer Gewalt – die Chronologie schwe- Fassung Juni 2011, S. 6, http://www.bagkr.de/wp-content/ rer antisemitischer Vorfälle hier: https://www.migazin. uploads/bergmann_antisemitismus-in-dt.pdf (Letzter Zugriff de/2020/02/13/chronologie-antisemitischer-anschlaege-in- am 13.02.2020); Trotz mehrmaliger Anfragen wurde der Syn- deutschland/ (letzter Zugriff am 13.02.2020) agoge in Halle kein polizeilicher Schutz angeboten. 18 Ben-Rafael, Eliezer / Sternberg, Yitzhak / Glöckner, Olaf 5 Vgl. Antisemitismusbericht (2017): http://www.bmi. (2010): Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutsch- bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/ land, Studie im Auftrag des L.A. Pincus Funds for Jewish themen/heimat-integration/expertenkreis-antisemitismus/ Education in the Diaspora, o.O. 2010 sowie Erfahrungsbe- expertenbericht-antisemitismus-in-deutschland.pdf?__ richte der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutsch- blob=publicationFile&v=4 (Letzter Zugriff am 13.02.2020) land und anderer Bildungsträger/Projekte, S. 43. 6 Chernivsky, Marina (2017): Biografische Perspektiven auf 19 Vgl. Chernivsky, Marina / Kiesel, Doron (2018): Müssen wir Antisemitismus, In: Fragiler Konsens, Mendel, Meron/ wieder Angst haben? Antisemitismus in Deutschland. In: Messerschmidt, S. 274 Tanzende Verhältnisse – zur Soziologie politischer Krisen. S. 236-253 7 Chernivsky / Lorenz (2020): Studie „Antisemitismus an der Schule“ 24 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1
Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie Marina Chernivsky 20 Chernivsky, Marina (2018): Zwischen den Generationen. 30 Die Auswirkungen der Verfolgungserfahrungen können In: 4. Heft (Gegenwartsbewältigung) Jalta – Positionen zur auch als Überlebenden-Syndrom bezeichnet werden. Pri- jüdischen Gegenwart (Hrsg.) märe Erkenntnisquellen sind die psychotherapeutische 21 „Mikroaggression“ ist ein sozialpsychologischer Begriff, Arbeit mit Überlebenden der Shoah sowie ihren Kindern der 1970 von Chester Pierce geprägt wurde, um kleine, und Enkeln, andererseits die später einsetzenden Therapi- als übergriffig wahrgenommene Äußerungen in der alltäg- en und Untersuchungen von Kindern und Enkeln der Täter. lichen Kommunikation zwischen Weißen und Schwarzen Vgl. auch Gabriele Rosenthal (Hrsg.), Der Holocaust im zu beschreiben. Darunter werden alltägliche Äußerungen Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden verstanden, die abwertende Botschaften senden, die sich der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 1997. auf deren Gruppenzugehörigkeit beziehen. Von Mikroag- 31 Bernstein, Julia: (2010): Wollen Sie uns etwa über Holo- gression betroffen sind oft Angehörige marginalisierter ge- caust erzählen? In: Trauma und Intervention. Zum profes- sellschaftlicher Gruppen: People of Color, Menschen mit sionellen Umgang mit Überlebenden der Shoah und ihren Migrationshintergrund, Homosexuelle oder Menschen mit Familienangehörigen, Frankfurt a.M. S. 76, http://zwst.org/ Behinderungen. cms/documents/347/de_DE/pflegebuch-trauma-interven- 22 Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, tion-rz-web.pdf (eingesehen 8.12.2016). Kap. „Antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung“ , S. 32 Vgl. Antisemitismusbericht 2017 53–90. 33 Vgl. Hansen, Nicole: Die Verarbeitung von Diskriminierung, 23 Bernstein, Julia (2010): Food for Thought. Transnational Con- In: Andreas Beelmann/Kai Jonas (Hrsg.), Diskriminierung tested Identities and Food Practices of Russian-Speaking und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwen- Jewish Migrants in Israel and Germany. Frankfurt/New York; dungsperspektiven, Wiesbaden 2009, S. 155-170. Bernstein (2018): „Mach mal keine Judenaktion“ 24 Eine ältere Studie aus den USA von Gary A. Tobin/Sharon L. Sassler, Jewish Perception of Antisemitism, New York Marina Chernivsky 1988; 25 Der Begriff geht auf die Kulturwissenschaftlerin Marian- Psychologin und Verhaltens- ne Hirsch und dient der Beschreibung der Übernahme wissenschaftlerin, Leiterin traumatischer Inhalte durch die Kinder von Shoah-Überle- des Kompetenzzentrums für benden. Hirsch entwickelt das Konzept anhand eigener Er- Prävention und Empowerment fahrungen sowie unter Auswertung literarischer und künst- (ZWST) sowie Mitbegründerin lerischer Darstellungen des Phänomens der „fremden Erinnerung“ . Sie beobachtet eine derart intensive Weiter- und Geschäftsführerin von gabe dieser Erlebensinhalte, dass Kinder und Kindeskinder OFEK e.V. Beratungsstelle bei sie als eigene Erinnerungen wahrnehmen. Vgl. Marianne antisemitischer Gewalt und Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Diskriminierung; Sie war Mit- Culture after the Holocaust. New York: Columbia UP 2012. glied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Anti- 26 häufig heimsuchend, herumgeisternd, intrusiv. semitismus des Deutschen Bundestages (2015-2017) 27 Vgl. Moré, Angela (2016): Im Schatten der Schuld. Psychi- und ist 2019. Mitglied im neuen Beratungsgremium sche Belastungen bei den Nachkommen von Tätern und des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Täterinnen (Psychoanalytische Herbstakademie der DPG Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Hamburg); Kellermann, Natan: (2009): Holocaust Trauma. Psychological Effects and Treatment. New York Kompetenzzentrum für Prävention und Empower- 28 Chernivsky / Wiegemann (2020): Qualitätsstandards anti- ment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in semitismuskritischer Beratung Deutschland (ZWST) 29 Vgl. Antisemitismusbericht 2017 Tel.: 030 513 039 88 E-Mail: chernivsky@zwst-kompetenzzentrum.de Web: www.zwst-kompetenzzentrum.de Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 1 | 25
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