Arbeitsrecht - AnwaltZertifikatOnline Leseprobe www.juris.de/azo
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AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe Herausgeberin: Edith Linnartz, RA'in, Koblenz www.AnwaltZertifikat.de Erscheinungsdatum: 10.11.2020 Erscheinungsweise: vierzehntäglich Bezugspreis: 8,- € monatlich zzgl. MwSt. (6,- € für DAV-Mitglieder) inkl. Online-Archiv und 22/2020 Prüfungsgebühr Inhaltsübersicht: e AUFSÄTZE Anm. 1 Editorial 22/2020 – Die voreilige Zeugnisklage ro b p von Edith Linnartz, RA‘in, Koblenz es e Anm. 2 Das Berufungsverfahren im arbeitsgerichtlichen Verfahren (Teil 1): Statthaftigkeit der Berufung, Formalien der Berufungseinlegung und L Berufungsfrist von Dr. Kirstin Maaß, RA'in und FA'in für Arbeitsrecht, Holthausen & Maaß, Köln ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Anm. 3 Auslegung eines Prozessvergleichs: Eigenständige Abrechnungs- und Zahlungsverpflichtung? Anmerkung zu BAG, Urteil vom 27.05.2020, 5 AZR 101/19 von Dr. Jens Tiedemann, RiArbG Anm. 4 Verweigerung der Teilnahme an amtsärztlicher Untersuchung als Abmahnungsgrund? Anmerkung zu LArbG Nürnberg, Urteil vom 19.05.2020, 7 Sa 304/19 von Dr. Torsten von Roetteken, Vors. RiVG a.D. Anm. 5 Unterschied von Mitteilungspflicht und prozessualer Darlegungslast des Arbeitgebers bei Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG wegen beabsichtigter außerordentlicher Kündigung nach § 626 BGB Anmerkung zu BAG, Urteil vom 07.05.2020, 2 AZR 678/19 von Jan Aufterbeck, RA, Rechtsanwaltskanzlei Aufterbeck, Düsseldorf Zitiervorschlag: Linnartz, AnwZert ArbR 22/2020 Anm. 1 ISSN 1865-8814 juris GmbH, Am Römerkastell 11, 66121 Saarbrücken, Tel.: 0681/5866-0, Internet: www.juris.de, E-Mail: info@juris.de Das AnwaltZertifikatOnline sowie die darin veröffentlichten Anmerkungen sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil darf (auch nicht auszugsweise) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert werden. © juris GmbH 2020 - Seite 3 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 AUFSÄTZE so ist dieses Vorgehen ohne weiteres als mutwillig anzusehen.2 1 Allerdings macht das LArbG Hamm eine Ein- Editorial 22/2020 – Die voreilige schränkung. Da sich die Erfolgsaussichten und Zeugnisklage weitere Rahmenbedingungen im Laufe eines Pro- zesses ändern können, stellt es für die Frage der von Edith Linnartz, RA‘in, Koblenz Mutwilligkeit auf den Zeitpunkt der Beschlussfas- sung ab. Entscheidend ist nämlich, wie sich die Gegenseite im Laufe des Prozesses verhalten hat. Hat sie beispielsweise zu erkennen gegeben, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie den Anspruch auf ein qualifiziertes Arbeits- zeugnis in keinem Fall erfüllen will, geht das Ge- oftmals wird – auch in Prozesskostenhilfe-Ver- richt davon aus, dass auch eine außergerichtliche fahren – in Bestandsschutzstreitigkeiten oder bei Geltendmachung erfolglos geblieben wäre.3 Denn Zahlungsklagen daneben auch noch Klage auf Er- anderenfalls hätte die klägerische Partei aufgrund teilung eines qualifizierten Zeugnisses erhoben. Prozessarmut keine Chance, ihren Anspruch noch e Hier ist – so das LArbG Hamm in einem aktuellen durchzusetzen. Allerdings genügt hierzu allein ein b Beschluss1 – Vorsicht geboten, wenn der Arbeit- klageabweisender Antrag nicht. Denn oftmals wird ro geber nicht zuvor außergerichtlich vergeblich zur dann dennoch in den weiteren Ausführungen mit- Erteilung des qualifizierten Zeugnisses aufgefor- geteilt, dass – zumindest – der Zeugnisanspruch p dert worden ist. Denn ansonsten kann dem Kläger kurzfristig erfüllt wird. s e im Rahmen des PKH-Verfahrens vorgeworfen wer- Le den, die Klageerhebung sei mutwillig erfolgt mit In dem vom LArbG Hamm zu entscheidenden der Folge, dass Prozesskostenhilfe diesbezüglich Fall hatte die Beklagte in ihrem Klageabweisungs- versagt wird. schreiben ausgeführt, dass „die Erfüllung der in diesem Verfahren geltend gemachten Ansprüche „Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechts- abgelehnt“ wird. Dies genügte dem LArbG Hamm verteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozess- für eine ausdrückliche Verweigerung der Erfüllung kostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdi- des Zeugnisanspruchs durch die Gegenseite ab gung aller Umstände von der Rechtsverfolgung Eingang des maßgeblichen Schreibens, was dazu oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl führte, dass die Klage auf Erteilung eines qualifi- eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.“ So zierten Zeugnisses (nicht mehr) mutwillig war. lautet der § 114 Abs. 2 ZPO. Das LArbG Hamm bejaht eine solche Mutwilligkeit bei einem An- Wurde tatsächlich jedoch einmal voreilig Klage spruch auf Erteilung eines qualifizierten Zeugnis- auf Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses er- ses. Denn nach § 109 GewO besteht ein gesetz- hoben, kann sich die Erfolgsaussicht nachträglich licher Anspruch auf Erteilung eines qualifizierten gleichwohl noch ergeben, wenn der Arbeitgeber Zeugnisses nur dann, wenn der Arbeitnehmer aus- das Zeugnis nicht zeitnah erteilt und damit durch drücklich ein solches verlangt. Tut er dies nicht, sein Verhalten deutlich werden lässt, dass eine au- besteht von Gesetzes wegen nur ein Anspruch auf ßergerichtliche Geltendmachung erfolglos gewe- ein einfaches Zeugnis. Vor dem Verlangen nach sen wäre.4 einem qualifizierten Arbeitszeugnis ist der Arbeit- geber nicht verpflichtet, von sich aus ein solches Die heutige Ausgabe des AnwaltZertifikatOnline zu erstellen. Der Anspruch auf ein qualifiziertes ArbR 22/2020 widmet sich dem Berufungs- Arbeitszeugnis besteht daher erst ab Geltendma- verfahren im arbeitsgerichtlichen Verfahren chung. Vorher ist eine diesbezüglich erhobene Kla- (Aufsatz 2). RA‘in Dr. Kirstin Maaß stellt im ers- ge mutwillig. Bei einem Anerkenntnis der Gegen- ten Teil ihres zweiteiligen Beitrags zum Berufungs- seite hätte die Klägerseite in diesem Fall die Kos- verfahren die einer Berufung fähigen Urteile, die ten zu tragen. Dieses Kostenrisiko würde eine Par- Statthaftigkeit der Berufung sowie insbesondere tei, die die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen die Formalien der Berufungseinlegung dar und er- hat, nicht eingehen. Wurde daher Klage auf ein läutert Fragen der Berufungsfrist. Weitere wichti- qualifiziertes Zeugnis erhoben, ohne dass dieses ge Problembereiche, die mit dem Berufungsver- vorher erfolglos außergerichtlich verlangt wurde, fahren einhergehen, beispielsweise die Form der Berufungseinlegung und Berufungsbegründung, - Seite 4 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 die Berufungsbeantwortung, die Anschlussberu- tritt der formellen Rechtskraft, und Devolutivef- fung, die Berufungsrücknahme und der Prüfungs- fekt, d.h. das Verfahren wird in der nächst höheren umfang des Berufungsgerichts, erfolgen in einem Instanz anhängig. Allerdings sind sowohl bei der zweiten Teil. Einlegung als auch bei der Begründung Formalien und Fristen einzuhalten. Handwerkliche Fehler in Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit, und vor allem: diesem Zusammenhang führen häufig bereits zur Bleiben Sie gesund! Unzulässigkeit der Berufung. Herzliche Grüße Der vorliegende Beitrag soll in zwei Teilen ei- nen Überblick über das Berufungsverfahren vor Edith Linnartz dem Landesarbeitsgericht verschaffen. In einem ersten Teil werden die berufungsfähigen Urteile, Herausgeberin die Statthaftigkeit der Berufung sowie insbeson- dere die Formalien der Berufungseinlegung und Fragen der Berufungsfrist näher erläutert. In ei- 1 LArbG Hamm, Beschl. v. 16.09.2020 - 5 Ta nem nachfolgenden zweiten Teil wird eine Darstel- 489/20. lung der Form von Berufungseinlegung und Be- e 2 LArbG Hamm, Beschl. v. 03.06.2019 - 5 Ta rufungsbegründung, der Berufungsbeantwortung, b 195/19; LArbG Hamm, Beschl. v. 09.09.2015 der Anschlussberufung, der Berufungsrücknahme ro - 5 Ta 477/15; LArbG Hamm, Beschl. v. und des Prüfungsumfangs des Berufungsgerichts 09.10.2014 - 5 Ta 351/14 n.v.; LArbG Hamm, erfolgen. p Beschl. v. 09.12.2013 - 14 Ta 347/13; LArbG es e Hamm, Beschl. v. 14.05.2012 - 4 Ta 721/11 B. Die Rechtslage n.v.; LArbG Hamm, Beschl. v. 16.12.2004 - 4 L Ta 355/04; siehe aber auch LArbG Köln, Be- I. Objektive Darstellung der Rechtslage schl. v. 03.04.2019 - 9 Ta 10/19; LArbG Köln, Beschl. v. 11.10.2017 - 9 Ta 176/17 Rn. 9. Für das Berufungsverfahren im arbeitsgerichtli- 3 So auch jetzt das LArbG Köln, Beschl. v. chen Prozess gelten gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG die 04.05.2020 - 1 Ta 59/20. Vorschriften der ZPO zur Berufung entsprechend, 4 LArbG Köln, Beschl. v. 04.05.2020 - 1 Ta 59/20 soweit das ArbGG keine besonderen Bestimmun- Rn. 4 mit Verweis auf OLG Brandenburg, Be- gen enthält. Zu den anwendbaren Bestimmungen schl. v. 18.04.2018 - 13 WF 68/18 Rn. 2; sowie gehören insbesondere die Regelungen über Schultzky in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 114 Rn. 45. • die Einlegung und die Begründung der Berufung (§§ 518-520 ZPO), unter Be- 2 achtung des § 66 Abs. 1 ZPO, • die Prüfung der Zulässigkeit der Beru- Das Berufungsverfahren im fung gemäß § 522 ZPO, arbeitsgerichtlichen Verfahren (Teil • die Anschlussberufung gemäß § 524 1): Statthaftigkeit der Berufung, ZPO, Formalien der Berufungseinlegung und • den Berufungsverzicht gemäß § 515 Berufungsfrist ZPO und • die Rücknahme der Berufung gemäß von Dr. Kirstin Maaß, RA'in und FA'in für Arbeits- § 516 ZPO. recht, Holthausen & Maaß, Köln 1. Berufungsfähige Urteile A. Einleitung Berufungsfähig sind grundsätzlich Endurteile des Arbeitsgerichts. Anfechtbar sind ferner Teilurteile Mit Blick auf die arbeitsgerichtlichen Urteile der gemäß § 301 ZPO, Vorbehaltsurteile nach § 302 ersten Instanz ist stets die Berufung an das Lan- ZPO, Ergänzungsurteile nach § 321 ZPO, Zwi- desarbeitsgericht als Rechtsmittel in Betracht zu schenurteile über die Zulässigkeit der Klage ge- ziehen. Sie bezweckt die tatsächliche und recht- mäß § 280 ZPO und nach § 5 Abs. 4 Satz 3 liche Überprüfung von erstinstanzlichen Entschei- KSchG sowie Urteile im Rahmen des einstweiligen dungen. Sie hat Suspensiveffekt (vgl. § 707 ZPO), d.h. ihre fristgerechte Einlegung hemmt den Ein- - Seite 5 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 Rechtsschutzes. Auch gegen zweite Versäumnis- sich bei der Zwei-Wochen-Frist nicht um eine Not- urteile kann Berufung eingelegt werden. frist handelt. Nicht berufungsfähig sind hingegen Grundurteile Die Berufung ist ferner gemäß § 64 Abs. 2b ArbGG gemäß § 304 ZPO und Zwischenurteile nach § 303 statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegen- ZPO, durch die über den Grund des Anspruchs standes 600 Euro übersteigt. Der Beschwerde- oder einen Zwischenstreit entschieden wird sowie wert wird ermittelt aus einem Vergleich zwischen erste Versäumnisurteile. erstinstanzlichem Antrag mit seiner Bescheidung durch das angefochtene Urteil und dem Beru- Ist gegen Urteile des Arbeitsgerichts die sofortige fungsantrag, also durch die Beschwer einer Partei. Beschwerde gegeben, ist eine Berufung ebenfalls Dies bedeutet: nicht möglich. • Bei einer uneingeschränkten Überprü- 2. Statthaftigkeit der Berufung fung des arbeitsgerichtlichen Urteils entspricht der Beschwerdewert dem Die Berufung ist statthaft, wenn sie vom Arbeits- im Urteil festgesetzten Urteilsstreit- gericht gemäß § 64 Abs. 2a ArbGG zugelassen wert. e wurde oder ein anderer der in § 64 Abs. 2b bis • Bei einer eingeschränkten Berufung b 2d ArbGG geregelten Fälle vorliegt. In § 64 Abs. 3 gegen einzelne Streitgegenstände ist ro ArbGG sind die Zulassungsvoraussetzungen auf- der Beschwerdewert durch die Additi- geführt. Danach muss es sich entweder um ei- on der Streitgegenstände zu ermitteln. p ne Rechtssache mit grundsätzlicher Bedeutung • Unstatthaft ist eine Berufung, wenn es e (Nr. 1) handeln oder um eine privilegierte Streitig- sich der Berufungskläger bei einem keit mit tarifvertraglichem Bezug (Nr. 2). Die Beru- teilbaren Streitgegenstand in seiner L fung ist schließlich wegen Divergenz zuzulassen, Begründung nur gegen eine Verurtei- d.h. wenn das Arbeitsgericht in der Auslegung ei- lung wendet, die unterhalb des Be- ner Rechtsnorm von einem ihm im Rechtsstreit schwerdewertes liegt. vorgelegten Urteil, das für oder gegen eine Par- tei des Rechtsstreits ergangen ist, oder von ei- Maßgeblicher Zeitpunkt für die Berechnung ist der nem Urteil des im Rechtszug übergeordneten Lan- Zeitpunkt der Einlegung der Berufung2. desarbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Dieser Zulassungs- 3. Berufungsschrift grund dient der Wahrung der Rechtseinheit im Be- zirk des jeweiligen Landesarbeitsgerichts. Die Berufungseinlegung erfolgt nach § 519 ZPO durch Einreichung einer Berufungsschrift beim Die Zulassungsentscheidung erfolgt von Amts we- zuständigen Landesarbeitsgericht. Gemäß § 519 gen und ist im Urteilstenor aufzunehmen. Das Abs. 2 ZPO muss die Berufungsschrift die Bezeich- zuständige Landesarbeitsgericht ist an die Zu- nung des Urteils, gegen das die Berufung gerich- lassung gebunden. Durch die Aufnahme der Zu- tet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses lassungsentscheidung soll die Partei bereits vor Urteil Berufung eingelegt wird, enthalten. Zudem der Urteilszustellung eindeutig erkennen können, ist auf die genaue Bezeichnung von Berufungsklä- ob und ggf. in welchem Umfang ihr die Möglich- ger und Berufungsbeklagtem zu achten. Die Beru- keit zur Rechtsmitteleinlegung eröffnet worden fungsschrift hat zudem die Unterschrift des postu- ist. Diese Voraussetzungen sind nur erfüllt, wenn lationsfähigen Prozessbevollmächtigten (vgl. § 11 aus dem verkündeten Tenor und ungeachtet ei- ArbGG) zu enthalten. Mit ihr soll zudem gemäß ner möglichen Beschwer für die Partei ersichtlich § 519 Abs. 3 ZPO eine Ausfertigung oder beglau- ist, ob das Gericht die Voraussetzungen des § 64 bigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorge- Abs. 2a ArbGG bejaht hat, was insbesondere bei legt werden. teilbaren Streitgegenständen von Bedeutung sein kann1. Unterbleibt die Zulassung (ggf. auch verse- Praxishinweis: Die Beifügung einer Ausfertigung hentlich), kann innerhalb von zwei Wochen ab Ver- bzw. Abschrift des angefochtenen Urteils emp- kündung des Urteils eine entsprechende Ergän- fiehlt sich auf jeden Fall. Das erstinstanzliche Ur- zung beantragt werden. Wird kein Antrag gestellt, teil ist eine wichtige Auslegungshilfe. Kann bspw. ist die Berufung nicht zugelassen. Bei Fristversäu- die Identität des angefochtenen Urteils nicht zwei- mung findet keine Wiedereinsetzung statt, da es felfrei aus der Berufungsschrift festgestellt wer- - Seite 6 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 den, kann das beigefügte Urteil durch das Landes- ser Rechtsprechung folglich auch ohne qualifizier- arbeitsgericht hinzugezogen werden. te elektronische Signatur formgerecht per E-Mail übermittelt werden. Auf diese Weise wahrte der Die Berufung kann nicht unter einer Bedingung Schriftsatz aber nur dann die Rechtsmittelfrist, eingelegt werden. Sie ist als Prozesshandlung be- wenn er dem zuständigen Gericht – mit der in Ko- dingungsfeindlich. Dies gilt auch für die Einlegung pie wiedergegebenen Unterschrift des Prozessbe- der Berufung unter der Bedingung der Bewilligung vollmächtigten versehen – noch innerhalb der Frist von Prozesskostenhilfe3. in ausgedruckter Form vorlag. Ob angesichts des neugefassten § 46c ArbGG diese Rechtsprechung 4. Frist zur Einlegung und zur Begründung noch aufrechterhalten werden kann, bleibt abzu- der Berufung warten. Daher sollte höchst vorsorglich von einer Übermittlung per E-Mail abgesehen werden. Die Frist für die Einlegung der Berufung beträgt gemäß § 517 ZPO einen Monat, für ihre Begrün- Auch eine Berufungseinlegung bzw. -begründung dung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO zwei Monate. über das besondere elektronische Anwaltspost- fach (beA) ist zulässig. Gemäß § 46c Abs. 5 ArbGG Die Frist für die Berufungseinlegung ist eine sog. ist das elektronische Dokument zu dem Zeitpunkt e Notfrist. Sie kann folglich weder verlängert noch eingegangen, in dem es von der für den Empfang b verkürzt werden. Bei ihrer Versäumung ist aller- bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ro dings eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand worden ist. Entscheidend ist somit nicht der Aus- nach den §§ 233 ff. ZPO möglich. druck des Dokuments, sondern der Zeitpunkt der p Speicherung. s e Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des in Le vollständiger Form abgefassten Urteils. Die Be- Praxishinweis: Versendet ein Rechtsanwalt die rechnung der Fristen richtet sich nach § 222 ZPO, Berufungsschrift über das beA an das Landesar- §§ 187, 188 BGB. Fällt das Fristende auf einen beitsgericht, hat er in seiner Kanzlei das zuständi- Samstag, Sonntag oder Feiertag, endet die Frist ge Personal dahingehend zu belehren, dass stets folglich am nächsten Werktag. Die Berufung kann der Erhalt der automatisierten Eingangsbestäti- auch noch am letzten Tag der Berufungsfrist bis gung nach § 46c Abs. 5 Satz 2 ArbGG zu kontrol- 24:00 Uhr eingelegt werden. Der Einwurf in ei- lieren ist. Er hat zudem diesbezüglich zumindest nen Nachtbriefkasten ist fristwahrend. Behauptet stichprobenweise Überprüfungen durchzuführen7 der Berufungsführer, der Eingangsstempel sei un- richtig, da der Nachtbriefkasten aus technischen Die Berufungsfrist beginnt spätestens mit Ablauf Gründen nicht richtig funktioniert habe oder bei von fünf Monaten nach Verkündung des Urteils. der Abstempelung ein Fehler unterlaufen sei, ist Folglich muss die Berufung spätestens zu diesem es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Zeitpunkt eingelegt werden, selbst wenn bis da- Aufklärung notwendigen Maßnahmen zu ergrei- hin von dem erkennenden Arbeitsgericht kein voll- fen4. ständig abgesetztes Urteil zugestellt wurde. Er- folgt die Zustellung des Urteils erst nach Ablauf Bei der Übermittlung der Berufungsschrift durch der Fünf-Monats-Frist, reicht es für eine ordnungs- Telefax muss der Übermittlungsvorgang bis 24:00 gemäße Berufungsbegründung, wenn der Beru- Uhr abgeschlossen sein. Eingegangen ist die Beru- fungskläger die fehlenden Entscheidungsgründe fung auf diesem Wege dann, wenn die Empfangs- rügt8. signale von der technischen Empfangseinrichtung des Gerichts (Telefaxgerät, Computer etc.) voll- Eine Berufungseinlegung vor Verkündung des Ur- ständig aufgezeichnet worden sind5. Dabei ist zu teils ist unzulässig. Allerdings kann die Berufung beachten, dass gemäß § 130 Nr. 6 ZPO bei einer schon vor Zustellung des verkündeten Urteils ein- Übermittlung durch Telefax die Unterschrift auf gelegt und begründet werden.9 Der Rechtsmittel- dieser Telekopie ausreichend ist. führer trägt aber in diesem Fall das Risiko, dass die Berufung unzulässig ist, wenn er mit seinen Aus- § 46c ArbGG sieht als weitere Möglichkeit vor, führungen die Urteilsgründe verfehlt10. Schriftsätze, Anlagen, Erklärungen etc. als elek- tronisches Dokument, nach Ansicht des BAG6 so- Voraussetzung für den Fristbeginn ist eine rich- gar per E-Mail, zu übermitteln. Eine Berufungs- tige Rechtsmittelbelehrung (vgl. § 9 Abs. 5 Satz einlegung bzw. -begründung konnte nach die- 3 ArbGG). Ist eine Belehrung über die der Beleh- - Seite 7 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 rungspflicht unterliegenden Punkte unterblieben schrift beim erstinstanzlichen Gericht so rechtzei- oder objektiv unrichtig erteilt, ist die Einlegung ge- tig eingegangen ist, dass bei Weiterleitung des mäß § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG grundsätzlich inner- Schriftsatzes an das zuständige Rechtsmittelge- halb eines Jahres seit Zustellung der Entscheidung richt ohne weiteres zu erwarten gewesen wäre, zulässig. dass die Berufungsschrift dort noch innerhalb der Berufungseinlegungsfrist eingeht. In einem sol- Die Frist zur Begründung der Berufung kann ge- chen Fall darf die Partei nach den Grundsätzen der mäß § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG einmalig auf An- fairen Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. trag vom Vorsitzenden verlängert werden, wenn Art. 20 Abs. 3 GG) nicht nur auf die Weiterleitung nach seiner freien Überzeugung der Rechtsstreit des Schriftsatzes, sondern auch darauf vertrauen, durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder dass dieser noch fristgerecht beim zuständigen wenn die Partei erhebliche Gründe darlegt. Eine Gericht eingeht18. zweite Verlängerung der Berufungsbegründungs- frist ist ausgeschlossen11. Dabei ist es auch un- Bei der Versäumung der Berufungsbegründungs- erheblich, ob der Vertreter der Gegenpartei einer frist kann Wiedereinsetzung in den vorherigen Fristverlängerung zugestimmt hat12. Stand beantragt werden. e Der Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb II. Rechtliche Würdigung b der jeweiligen Frist bei Gericht eingehen, kann ro aber noch nach Fristablauf beschieden werden13. Ist man erstinstanzlich unterlegen, ist zunächst zu prüfen, ob eine Berufung Sinn ergibt. Hat das Ge- p Die Gründe für die Fristverlängerung sind im An- richt erster Instanz rechtliche Fragen unzutreffend es e trag glaubhaft zu machen. An die Darlegung eines bewertet oder rechtliche Fehler gemacht, ist ei- erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der ne Berufungseinlegung sinnvoll. Auch sind viele L Fristverlängerung sind bei einem ersten Antrag Rechtsfragen umstritten und können von einem keine hohen Anforderungen zu stellen. Grund- anderen Gericht durchaus anders beurteilt wer- sätzlich reicht der Hinweis auf das Vorliegen ei- den. Ebenso kann eine Berufung Sinn ergeben, nes solchen Grundes – etwa Urlaubsabwesenheit, wenn eine andere Beurteilung der festgestellten Arbeitsüberlastung oder das Erfordernis weiterer Umstände und Tatsachen des Falles möglich er- Abstimmung zwischen Prozessbevollmächtigtem scheint. Es gilt aber stets – bereits aus Kostenas- und Partei – aus, ohne dass es einer weiteren pekten –, die realistischen Erfolgschancen einer Substantiierung bedarf14. Die Prozessbevollmäch- Berufung im konkreten Fall auszuloten. tigten können grundsätzlich erwarten, dass dem Antrag entsprochen wird, wenn einer der im Ge- Hinzukommt, dass das Rechtsmittel der Berufung setz genannten Gründe vorgebracht wird15. Das nicht ohne Tücken ist. Dabei hat der arbeitsrecht- Gesetz enthält keine Regelung über die Dauer liche Praktiker zu beachten, dass handwerkliche der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. Fehler im Zusammenhang mit der Zulässigkeit Diese bestimmt sich nach dem Antrag des Beru- der Berufung nicht nur im Berufungsverfahren vor fungsklägers und der durch die Verlängerung ein- dem Landesarbeitsgericht geprüft werden. Auch tretenden Verzögerung des Verfahrens. Eine Ver- das BAG als Revisionsgericht prüft diese. Denn längerung der Frist ist daher auch um mehr als ei- die Zulässigkeit der Berufung ist Prozessvoraus- nen Monat zulässig16. setzung für das gesamte weitere Verfahren und ist nach der Einlegung der Berufung, also auch Praxishinweis: Die Zurückweisung des Fristver- vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prü- längerungsantrags ist unanfechtbar (§ 225 Abs. 3 fen19. Selbst wenn also das Landesarbeitsgericht ZPO). Es empfiehlt sich daher, sich vor Fristablauf die Berufung für zulässig erachtet hat, prüft das bei Gericht zu erkundigen, wie der Antrag beschie- BAG als Revisionsgericht, ob die Berufung zuläs- den wurde. Eine Verpflichtung des Prozessbevoll- sig, insbesondere ordnungsgemäß begründet war. mächtigten hierzu besteht allerdings nicht 17. C. Auswirkungen für die Praxis Die Einreichung einer Berufungsschrift bei dem mit der Sache erstinstanzlich befassten, für das Der arbeitsrechtliche Praktiker sollte sowohl bei Rechtsmittel aber unzuständigen Gericht wirkt der Abfassung als auch bei der Einreichung sich nur dann nicht auf die Versäumung der Be- von Berufungsschrift und Berufungsbegründung rufungseinlegungsfrist aus, wenn die Berufungs- größtmögliche Sorgfalt walten lassen. Die maß- - Seite 8 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 geblichen Fristen sind zu kennen und selbstver- 17 BGH, Beschl. v. 05.06.2012 - VI ZB 16/12 - ständlich zu beachten. Das erstinstanzliche Urteil NJW 2012, 2522. ist sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher 18 BVerfG, Beschl. v. 20.06.1995 - 1 BvR 166/93 Hinsicht einer gewissenhaften und genauen Ana- - NJW 1995, 3173; LArbG Berlin-Branden- lyse zu unterziehen. Die tragenden Urteilsgründe burg, Urt. v. 03.04.2018 - 21 Sa 387/18 - BB sind herauszuarbeiten und eine Auseinanderset- 2018, 1395. zung mit jedem einzelnen Argument des Arbeits- 19 BAG, Urt. v. 26.04.2017 - 10 AZR 275/16; gerichts ist unerlässlich. BAG, Urt. v. 19.07.2016 - 2 AZR 637/15. D. Literaturempfehlungen ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Ganz, Der Weg zur zulässigen Berufung – ein Fahr- 3 plan, ArbR 2014, 169. Auslegung eines Prozessvergleichs: Sagan/Schneider, Anforderungen an die Beru- Eigenständige Abrechnungs- und fungsschrift: „Aktenzeichen XY ungelöst“?, NZA Zahlungsverpflichtung? 2011, 1138. e Orientierungssätze: 1 Koch in: ErfKomm, § 64 ArbGG Rn. 5 m.w.N. ro b 1. Die Auslegung einer typischen Vergleichs- regelung unterliegt, selbst wenn der mate- p BAG, Urt. v. 27.01.2004 - 1 AZR 105/03 - NZA rielle Regelungsgehalt des Vergleichs aus- e 2 es 2004, 1239. schließlich individuell bestimmt ist, einer 3 BGH, Beschl. v. 24.03.2009 - VI ZB 89/08 - vollen revisionsrechtlichen Überprüfung. L NJW-RR 2010, 278. 4 BGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VI ZB 38/17 - 2. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in ei- NJW 2020, 1225. nem gerichtlichen Vergleich zur ordnungs- 5 BAG, Urt. v. 13.12.2012 - 6 AZR 303/12 - NZA gemäßen Abrechnung eines Arbeitsverhält- 2013, 636; BGH, Beschl. v. 15.07.2008 - X ZB nisses, zielt dies auf eine Berechnung an- 8/08 - NJW 2008, 2649. hand außerhalb des Vergleichs vorzufinden- 6 BAG, Beschl. v. 11.07.2013 - 2 AZB 6/13 - der, von ihm unabhängig anzuwendender NZA 2013, 983; BGH, Beschl. v. 04.12.2008 Rechtsnormen ab. Befand sich der Arbeitge- - IX ZB 41/08 - NJW-RR 2009, 357. ber im Abrechnungszeitraum mit der Annah- 7 BAG, Beschl. v. 07.08.2019 - 5 AZB 16/19 - me der Arbeitsleistung in Verzug, sind des- NZA 2019, 279. halb neben der Bestimmung des § 615 Satz 8 BAG, Urt. v. 13.09.1995 - 2 AZR 855/94 - NZA 1 BGB, die den Vergütungsanspruch des Ar- 1996, 446. beitnehmers aus § 611 Abs. 1 BGB (seit dem 9 BAG, Urt. v. 06.03.2003 - 2 AZR 596/02 - NZA 01.04.2017: § 611a Abs. 2 BGB) aufrechter- 2003, 814. hält, auch § 615 Satz 2 BGB bzw. § 11 Nr. 1 10 BAG, Urt. v. 16.06.2004 - 5 AZR 529/03 - AP KSchG heranzuziehen. Nr 2 zu § 551 ZPO 2002. 11 BAG, Urt. v. 18.09.1997 - 2 AZR 37/97; BAG, 3. Der Vergleich knüpft an eine Vergütungs- Urt. v. 13.09.1995 - 2 AZR 855/94 - NZA berechnung anhand außerhalb des Ver- 1996, 446. gleichs vorzufindender Rechtsnormen an. 12 BAG, Urt. v. 07.11.2012 - 7 AZR 314/12 - NZA Für das Verständnis, die Parteien hätten da- 2013, 1035. mit einen eigenständigen Rechtsgrund für 13 BAG, Urt. v. 08.06.1994 - 10 AZR 452/93 - die Vergütung schaffen wollen, bedürfte NJW 1995, 548. es besonderer Anhaltspunkte, die zweifels- 14 BGH, Beschl. v. 09.05.2017 - VIII ZB 69/16 - frei auf einen entsprechenden Parteiwillen NJW 2017, 2041; BAG, Beschl. v. 20.10.2004 schließen lassen. Solche Anhaltspunkte lie- - 5 AZB 37/04 - NZA 2004, 1350. gen nicht vor. Weder die Vergleichsrege- 15 BAG, Beschl. v. 20.10.2004 - 5 AZB 37/04 - lungen im Übrigen noch die im Zeitpunkt NZA 2004, 1350. des Zustandekommens des Vergleichs be- 16 BAG, Beschl. v. 16.07.2008 - 7 ABR 13/07 - stehende Interessenlage der Parteien spre- NZA 2009, 202. chen für einen Willen, vorliegend eine ei- - Seite 9 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 genständige Vergütungspflicht zu begrün- B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung den oder auch nur die Anrechnung eines Zwi- schenverdienstes des Arbeitnehmers auszu- Die Klägerin war bei der Beklagten mit einem schließen. – einschließlich anteiligen Urlaubsgeldes – Brut- tomonatsgehalt i.H.v. 2.687,50 Euro beschäf- 4. Die Vereinbarung einer Abrechnung be- tigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhält- reits entstandener und fälliger Entgeltan- nis fristlos zum 30.09.2015, hilfsweise ordent- sprüche auf der Grundlage der Hälfte des lich zum nächstmöglichen Termin „unter An- Durchschnittsverdienstes in einem rückwir- rechnung bestehender Urlaubsansprüche“. In kenden Prozessvergleich bewirkt zwar, dass dem nachfolgend geführten Kündigungsrechts- dem Arbeitnehmer für gesetzliche Feierta- streit schlossen die Parteien am 15.03.2016 ge, die in den Abrechnungszeitraum fallen, beim Arbeitsgericht einen Vergleich folgenden ein geringeres Entgelt zusteht als nach der Inhalts: ursprünglich im Arbeitsvertrag getroffenen Vergütungsregelung. Ein damit verbunde- „1. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete ner teilweiser Verzicht auf Feiertagsvergü- aufgrund ordentlicher arbeitgeberseitiger Kün- tung verstößt aber nicht gegen die Unab- digung mit Ablauf des 31.1.2016. e dingbarkeit des Entgeltzahlungsanspruchs b nach § 12 EntgFG, weil er bei der Beendigung 2. Die Beklagte rechnet das Arbeitsverhältnis ro des Arbeitsverhältnisses und nach Eintritt bis zu dessen Beendigung auf Basis eines Brut- der Fälligkeit des Entgeltzahlungsanspruchs tomonatsgehalts i.H.v. 1.343,75 Euro ordnungs- p erfolgt. Sollte durch die vereinbarte Herab- e gemäß ab und zahlt den entsprechenden Net- es setzung der Bruttomonatsvergütung der ge- tobetrag, vorbehaltlich auf Dritte übergegange- setzliche Mindestlohn nach dem Mindestl- ner Ansprüche, an die Klägerin aus. L ohngesetz unterschritten worden sein, läge darin gemäß § 3 Satz 2 MiLoG kein Verstoß 3. Die Klägerin hat ihren Urlaub vollständig ein- gegen § 3 Satz 1 MiLoG. gebracht. Anmerkung zu BAG, Urteil vom 27.05.2020, 4. …. 5 AZR 101/19 5. … von Dr. Jens Tiedemann, RiArbG 6. Darüber hinaus hat keine Partei mehr gegen die andere Ansprüche aus dem Arbeitsverhält- nis und seiner Beendigung, unabhängig davon, A. Problemstellung ob solche derzeit bekannt oder unbekannt sind und auf welchem Rechtsgrund sie beruhen mö- Wenn in einem Prozessvergleich zwischen den gen.“ Parteien vereinbart wird, dass die Arbeitgebe- rin das Arbeitsverhältnis bis zu dessen Been- Das in Ziff. 2 genannte Gehalt entspricht 50% digung auf Basis eines betragsmäßig bestimm- des bisherigen Bruttogehalts. Ab November ten Bruttomonatsgehalts ordnungsgemäß ab- 2015 erzielte die Klägerin in einem Arbeits- rechnet und den entsprechenden Nettobetrag verhältnis mit einer anderen Arbeitgeberin ei- an den Arbeitnehmer auszahlt, vorbehaltlich auf nen Verdienst, der 1.343,75 Euro brutto monat- Dritte übergegangener Ansprüche, wird damit lich überstieg. Die Beklagte erteilte der Kläge- überhaupt eine eigenständige Zahlungs- und in rin nach Abschluss des Vergleichs keine Abrech- der Folge eine eigenständige Abrechnungsver- nungen und leistete an sie auch keine Zahlun- pflichtung begründet und haben die Parteien gen. Die Klägerin versuchte vergeblich, im We- eine Regelung über die Anrechnung von Zwi- ge der Zwangsvollstreckung die nach Ziff. 2 des schenverdienst i.S.v. § 615 Satz 2 BGB bzw. § 11 Prozessvergleichs geschuldete Abrechnung im Nr. 1 KSchG getroffen? Wege der Ersatzvornahme durch einen Steu- erberater vornehmen zu lassen. Das Landes- arbeitsgericht lehnte diesen Antrag rechtskräf- tig mit der Begründung ab, die Regelung ha- be keinen vollstreckungsfähigen Inhalt. Darauf- - Seite 10 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 hin hat die Klägerin die vorliegende Klage er- gütungsanspruch des Arbeitsnehmers aufrecht- hoben. Sie hat geltend gemacht, ihr stehe aus erhält, auch § 615 Satz 2 BGB bzw. § 11 Nr. 1 Ziff. 2 des Vergleichs für die Zeit von Okto- KSchG heranzuziehen, d.h. anderweitiger Ver- ber 2015 bis Januar 2016 Vergütung i.H.v. je- dienst ist anzurechnen. Etwas anderes gilt nur, weils 1.343,75 Euro brutto (= insgesamt 5.375 wenn die Anwendung von § 615 Satz 2 BGB, Euro brutto) monatlich abzüglich bezogenen § 11 Nr. 1 KSchG wirksam abbedungen worden Arbeitslosengeldes i.H.v. 1.294,28 Euro netto ist (dazu BAG, Urt. v. 10.01.2007 - 5 AZR 84/06 zu, wobei Zwischenverdienst nicht anzurechnen Rn. 28). sei. Ferner begehrte die Klägerin die Erteilung von Lohnabrechnungen für die Monate Oktober 2. Ein Zahlungsanspruch ergibt sich auch nicht 2015 bis einschließlich Januar 2016 über monat- daraus, dass der sich aus der Abrechnung er- lich 1.343,75 Euro brutto. Das Arbeitsgericht hat gebende Nettobetrag „vorbehaltlich auf Dritte die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsge- übergegangener Ansprüche“, an die Klägerin richt hat ihr auf die Berufung der Klägerin statt- auszuzahlen ist. Damit wird ersichtlich nur be- gegeben (LArbG Nürnberg, Urt. v. 09.01.2019 - rücksichtigt, dass die Klägerin in Bezug auf die- 4 Sa 306/18). Mit der vom Landesarbeitsgericht se Ansprüche gemäß § 115 SGB X nicht mehr zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Forderungsinhaberin ist und deshalb auch von e Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. der Beklagten keine Zahlung verlangen kann. Die Revision hatte vor dem BAG Erfolg. ro b 3. Dass bei der Auszahlung des Nettoverdiens- tes ein von der Klägerin im Streitzeitraum erziel- p Die Revision der Beklagten ist begründet, denn ter anderweitiger Verdienst keine Erwähnung es e die Klage ist unbegründet. findet, rechtfertigt zudem nicht den (Umkehr- )Schluss auf einen von den Parteien gewollten L I. Die Klägerin hat zum einen aus Ziff. 2 des Ausschluss von dessen Anrechnung. Dem steht Prozessvergleichs vom 15.03.2016 keinen An- entgegen, dass die Anrechnung anderweitigen spruch auf Annahmeverzugslohn. Nach Auffas- Verdienstes nach § 615 Satz 2 BGB ipso iure sung des BAG haben die Parteien in Ziff. 2 des eintritt und in Höhe dieses Verdienstes bereits Vergleichs keine eigenständige, von außerhalb die Entstehung des Anspruchs auf Annahme- des Prozessvergleichs bestehenden Anspruchs- verzugsvergütung aus § 615 Satz 1 BGB aus- grundlagen losgelöste Pflicht der Beklagten be- schließt. Selbst wenn die Beklagte davon aus- gründet. Dies ergibt sich aus einer Auslegung ging, dass sie sich ab dem 01.10.2015 im An- gemäß den §§ 133, 157 BGB. Hiernach haben nahmeverzug befand und sich damit für den die Parteien in Ziff. 2 des Vergleichs keinen Streitzeitraum Zahlungsansprüche der Klägerin Rechtsgrund für eine eigenständige Zahlungs- aus § 615 i.V.m. § 611 Abs. 1 BGB ergeben konn- pflicht geschaffen, die über die gesetzlichen Be- ten, zwingt dies aber nicht zu der Annahme, die stimmungen und insbesondere § 615 BGB hin- Beklagte habe sich mit der Festlegung des hälf- ausgeht, denn es sollte nur „auf Basis von ... tigen Bruttomonatsgehalts als Grundlage für die ordnungsgemäß“ abgerechnet werden. vorzunehmende Abrechnung mit der Klägerin über die Zahlung dieses Betrags einigen und 1. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einem ge- entsprechend auf die Anrechnung anderweiti- richtlichen Vergleich, das Arbeitsverhältnis ab- gen Verdienstes verzichten wollen. Ebenso gut zurechnen, wird dadurch im Zweifel nur die oh- kann die Festlegung der Gehaltshöhe als zusätz- nehin bestehende Rechtslage bestätigt. Eine licher Ausdruck einer gewollten Verteilung des „Abrechnung“ betrifft die tatsächlich bestehen- sich aus der Ungewissheit über die Wirksamkeit den Ansprüche. Das Wort „ordnungsgemäß“ der fristlosen Kündigung ergebenden Prozessri- soll die vorzunehmende Abrechnung näher be- sikos verstanden werden. schreiben. Es zielt auf eine Berechnung an- hand außerhalb des Vergleichs vorzufindender, II. Die Klägerin hat auch keine Anspruch auf von ihm unabhängig anzuwendender Rechts- Annahmeverzug gemäß § 615 BGB i.V.m. den normen (BAG, Urt. v. 19.05.2004 - 5 AZR 434/03 §§ 293 ff. BGB, da dieser mangels genauer An- Rn. 17). Befand sich der Arbeitgeber im Abrech- gabe des Zwischenverdienstes unschlüssig ist. nungszeitraum mit der Annahme der Arbeits- Dementsprechend kann sie für die streitgegen- leistung in Verzug, sind deshalb neben der Be- stimmung des § 615 Satz 1 BGB, die den Ver- - Seite 11 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 ständlichen Monate auch keine Lohnabrechnun- musste sich der hier erkennende BAG-Senat be- gen mit dem begehrten Inhalt verlangen. reits im Urteil vom 20.11.2019 (5 AZR 578/18) mit der Auslegung eines Prozessvergleichs da- hingehend befassen, ob von der unwiderrufli- C. Kontext der Entscheidung chen Freistellung des Arbeitnehmers von sei- ner Arbeitspflicht während des Laufes der Kün- Vorliegend haben die Parteien sicherlich – wie digungsfrist unter Fortzahlung der Vergütung Ziff. 6 des Prozessvergleichs zu entnehmen ist auch die Erfüllung des Anspruchs auf Freizeit- – gedacht oder zumindest gehofft, dass sie sich ausgleich zum Zwecke des Abbaus eines posi- umfassend verglichen hätten und keine Folge- tiven Saldos eines Arbeitszeitkonto erfasst ist, prozesse drohen. Regelungen in Prozessverglei- was der Fünfte Senat verneint hat. chen haben allerdings nicht immer einen voll- streckungsfähigen Inhalt und können es auch oft genug nicht haben, da sie bewusst und ge- D. Auswirkungen für die Praxis wollt unbestimmt formuliert und vom „Geis- te der gemeinsamen Verständigung“ getragen Bei der vom BAG vorgenommenen Auslegung sind. Zum Schwur kommt es dann, wenn aus ei- von Ziff. 2 erweist sich der Prozessvergleich für e nem Prozessvergleich vollstreckt werden soll. die Klägerin wirtschaftlich als nahezu wertlos, b weil sie nach ihrem eigenen Prozessvortrag be- ro Da Zwangsvollstreckungsmaßnahmen bzgl. reits seit dem 09.11.2015 in einem neuen Ar- Ziff. 2 des Prozessvergleichs rechtskräftig ab- beitsverhältnis mit einer anderen Arbeitgeberin p gewiesen waren, musste die Klägerin eine se- stand und ihr dort erzielter Verdienst die Sum- es e parate Klage erheben, denn der Streit zwi- me der hiesigen Klageforderungen überstieg. schen Parteien über den materiell-rechtlichen L Inhalt eines Prozessvergleichs ist eine Frage, die Vorliegend hätten die Parteien nach Auffassung nicht im Ursprungsverfahren, sondern in einem des BAG, wenn sie denn bei Ziff. 2 des Pro- neuen Rechtsstreit zu klären ist (BAG, Urt. v. zessvergleichs den Willen gehabt hätten, eine 16.01.2003 - 2 AZR 316/01 Rn. 28). Demgegen- von den rechtlichen Voraussetzungen des Ver- über ist die Frage, ob ein Prozessvergleich ein gütungsanspruchs unabhängige und eigenstän- Verfahren beendet hat, durch Fortsetzung des dige Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung vermeintlich nicht erledigten Rechtsstreits zu des benannten Bruttobetrags (i.H.v. 1.343,75 klären, sofern die Unwirksamkeit auf Umstän- Euro) – ohne Anrechnung des unstreitigen Zwi- de gestützt wird, die bereits im Zeitpunkt des schenverdientes, dessen Höhe die Klägerin aus Vergleichsabschlusses vorlagen (BAG, Urt. v. vermeintlich prozesstaktischen Gründen nicht 12.05.2010 - 2 AZR 544/08 Rn. 15 - NZA 2010, angegeben hatte – zu begründen, dies ange- 1250). sichts der zugleich vereinbarten Pflicht zur „ord- nungsgemäßen“ Abrechnung, die gerade die Prozessvergleiche sind ebenso wie Verträge, je- Anwendung von § 615 Satz 2 BGB einschließt, denfalls wenn es sich bei den Vergleichsrege- deutlich(er) zum Ausdruck bringen müssen. In- lungen um Formulierungen handelt, die bei den sofern kann zukünftig nur empfohlen werden, Arbeitsgerichten oder zumindest von den je- dass die Parteien im Prozessvergleich ausdrück- weiligen Vorsitzenden zur Beilegung einer Viel- lich klarstellen, ob etwaiger Zwischenverdienst zahl von Rechtsstreitigkeiten verwendet wer- nach § 615 Satz 2 BGB bzw. § 11 Nr. 1 KSchG den, als sog. typische Erklärungen anzusehen. anzurechnen ist, wobei im Zweifel – zugunsten Die Auslegung solcher typischer Klauseln un- des Arbeitgebers – von einer Anrechnung aus- terliegt, selbst wenn der materielle Regelungs- zugehen ist, da dies dem gesetzlichen Regelfall gehalt des Vergleichs ausschließlich individu- entspricht. ell bestimmt ist, einer vollen revisionsrecht- lichen Überprüfung (BAG, Urt. v. 20.11.2019 Darüber hinaus müssen die Parteien, wenn sie - 5 AZR 578/18 Rn. 22 m.w.N.; BAG, Urt. v. eine Verpflichtung nur Erteilung von Abrechnun- 27.05.2015 - 5 AZR 137/14 Rn. 18 m.w.N.). Ent- gen vereinbaren wollen, die nicht nur die de- sprechende Vergleichsklauseln sind nach den klaratorische Wiedergabe von § 108 GewO be- §§ 133, 157 BGB so auszulegen, wie die Parteien inhaltet, sondern eine eigenständige Abrech- sie nach Treu und Glauben unter Berücksichti- nungsverpflichtung begründen soll, dies eben- gung der Verkehrssitte verstehen mussten. So falls ausdrücklich regeln. Im Zweifel ist von ei- - Seite 12 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 ner deklaratorischen Regelung auszugehen, die lichen Untersuchung unberechtigt verwei- zudem regelmäßig unbestimmt ist und keinen gert, rechtfertigt dies eine Abmahnung. vollstreckungsfähigen Inhalt hat, so dass Folge- prozesse gerade nicht vermieden werden. Im Anmerkung zu LArbG Nürnberg, Urteil vom Ergebnis müssen entweder gerichtliche Verglei- 19.05.2020, 7 Sa 304/19 che erheblich präziser gefasst oder es müs- von Dr. Torsten von Roetteken, Vors. RiVG a.D. sen grundsätzlich Folgestreitigkeiten in Kauf ge- nommen werden. Das „Vergleichsgeschäft“ der Instanzgerichte wird dadurch nicht einfacher. A. Problemstellung E. Weitere Themenschwerpunkte der Ent- scheidung Das LArbG Nürnberg hatte zu entscheiden, ob ein Arbeitnehmer abgemahnt werden kann, Die vorliegend vereinbarte Reduzierung des wenn er die Teilnahme an einer aufgrund von monatlichen Vergütungsanspruchs für die Zeit § 3 Abs. 5 TV-L angeordneten ärztlichen Unter- nach der Kündigung auf 50% führt auch nicht zu suchung verweigert. e einer unwirksamen Verkürzung von Ansprüchen b der Klägerin auf Feiertags- und Urlaubsvergü- ro tung. Zum einen kann die Klägerin auf derartige B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Ansprüche, wenn sie denn bereits entstanden p und – insbesondere wegen der Beendigung des Der klagende Arbeitnehmer, Jahrgang 1962, es e Arbeitsverhältnisses – fällig sind, ohne Verstoß hatte sich Anfang 2019 geweigert, sich dem gegen § 12 EFZG, verzichten (Linck in: Schaub, ärztlichen Dienst der Polizei zur ärztlichen Un- L Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Aufl., § 98 Rn. 150; tersuchung vorzustellen, die der Arbeitgeber Müller-Glöge in: MünchKomm BGB, 8. Aufl., § 12 unter Bezug auf § 3 Abs. 5 TV-L angeordnet EFZG Rn. 8; Reinhard in: ErfKomm, 20. Aufl., hatte. Im Jahr 2018 war der Kläger an insge- § 12 EFZG Rn. 5; Schmitt in: Schmitt/Schmitt, samt 75 Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Ab De- Entgeltfortzahlungsgesetz, 8. Aufl., § 12 Rn. 28). zember 2018 war der Kläger für einen Zeitraum Zum anderen liege, wenn durch die vereinbarte von mehr als vier Monaten arbeitsunfähig er- Herabsetzung der Bruttomonatsvergütung der krankt. Der Kläger meinte, während einer beste- gesetzliche Mindestlohn unterschritten würde, henden Arbeitsunfähigkeit bestehe keine Ver- darin auch kein Verstoß gegen § 3 Satz 1 Mi- pflichtung, sich der ärztlichen Untersuchung zu LoG, denn gemäß § 3 Satz 2 MiLoG kann der stellen. Darauf wurde der Kläger abgemahnt. Arbeitnehmer in einem vor Gericht in mündli- cher Verhandlung geschlossenen Vergleich auf Das LArbG Nürnberg sah – wie die Vorinstanz bereits entstandene Mindestlohnansprüche ver- – die Abmahnung als gerechtfertigt an und ver- zichten (Franzen in: ErfKomm, 20. Aufl., § 3 Mi- neinte einen Anspruch auf Entfernung der Ab- LoG Rn. 5; Riechert/Nimmerjahn, Mindestlohn- mahnung aus der über den Kläger geführten gesetz, 2. Aufl., § 3 Rn. 48; Trümner in: HK-Mi- Personalakte. LoG, 2. Aufl., § 3 Rn. 48 f.; Vogelsang in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Aufl., § 66 Rn. 41). In der Weigerung des Klägers sieht das Lan- desarbeitsgericht einen Grund, der die ordentli- che Kündigung rechtfertigen könne, wobei nach 4 Auffassung des BAG auch eine außerordentli- che Kündigung in einer solchen Situation in Be- Verweigerung der Teilnahme an tracht komme. Die Weisung aufgrund von § 3 amtsärztlicher Untersuchung als Abs. 5 TV-L erfülle die dort genannten Voraus- Abmahnungsgrund? setzungen, weil angesichts des Umfangs der bis zur Weisung eingetretenen krankheitsbeding- Orientierungssatz zur Anmerkung: ten Arbeitsunfähigkeit eine hinreichende Veran- lassung für den Ausspruch der Weisung bestan- Wird die Teilnahme an einer aus hinreichen- den habe. Weitere Voraussetzungen stelle die der Veranlassung vom Arbeitgeber aufgrund Regelung nicht auf. Insbesondere setze sie nicht von § 3 Abs. 5 TV-L angeordneten ärzt- voraus, dass die angewiesene Person im Zeit- - Seite 13 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 punkt der Untersuchung arbeitsfähig sei. Der de Recht, den eigenen Gesundheitszustand ge- Arbeitgeber müsse also nicht zuwarten, bis die heim zu halten (EuGH, Urt. v. 05.10.1994 - C- Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt sei. 404/92 P Rn. 17 - NJW 1994, 3005, 3006 „X/ Kommission“). Jeder Eingriff in diesen Aspekt Das sich aus § 3 Abs. 5 TV-L ergebende Bestim- des Rechts auf Achtung der Privatsphäre bedarf mungsrecht hat der Arbeitgeber nach Auffas- deshalb nach Art. 8 Abs. 2 EMRK einer gesetzli- sung des LArbG Nürnberg entsprechend § 106 chen Grundlage. Ein inhaltsgleiches Recht ent- Satz 1 GewO, § 315 Abs. 1 BGB nach billi- hält Art. 7 GRCh; die Voraussetzungen eines Ein- gem Ermessen ausgeübt. Der Kläger hat zudem griffs ergeben sich aus Art. 52 Abs. 1 Satz 1 nach Meinung des Landesarbeitsgerichts keine GRCh, der ebenfalls eine gesetzliche Grundlage – sonstigen – Gründen vorgetragen, die eine Be- für eine Beschränkung voraussetzt. Art. 8 EM- folgung der Weisung zu dem in ihr genannten RK ist nach Art. 6 Abs. 3 EUV ein allgemeiner Zeitraum unmöglich oder unzumutbar gemacht Grundsatz des Unionsrechts und gehört damit hätten. dem primärrechtlichen Rechtskreis des Unions- rechts an, gilt also nicht nur als einfaches Bun- desgesetz. C. Kontext der Entscheidung e Art. 8 Abs. 1 GRCh, Art. 16 Abs. 1 AEUV gewähr- b § 3 Abs. 5 Satz 1 TV-L berechtigt wie § 3 Abs. 4 leisten das Recht auf Schutz der personenbezo- ro Satz 1 TVöD den Arbeitgeber, bei begründe- genen Daten. Die Eingriffsvoraussetzungen er- ter Veranlassung Beschäftigte zu verpflichten, geben sich aus Art. 8 Abs. 2 Satz 1 GRCh. Zur p durch ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, Durchführung von Art. 8 GRCh wie auch von es e dass sie zur Leistung der arbeitsvertraglich ge- Art. 7 GRCh ist die Datenschutz-Grundverord- schuldeten Leistung in der Lage sind. Bei dem nung (DSGVO) erlassen worden, wie deren Er- L beauftragten Arzt kann es sich nach § 3 Abs. 5 wägungsgrund Nr. 1 ausweist. Das Recht auf Satz 2 TV-L um einen Amtsarzt handeln, soweit Schutz personenbezogener Daten besteht nach sich die Betriebsparteien nicht auf einen ande- Art. 16 Abs. 1 AEUV unabhängig davon, ob ent- ren Arzt geeinigt haben. § 3 Abs. 4 Satz 2 TVöD sprechend Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh zur Durch- stellt auf einen Betriebsarzt bzw. eine Betriebs- führung der Art. 7 GRCh weitere Bestimmungen ärztin ab, soweit sich die Betriebsparteien nicht im Unionsrecht getroffen worden sind. auf eine andere Ärztin bzw. einen anderen Arzt geeinigt haben. Die Ausübung der sich aus § 3 Art. 9 Abs. 1 DSGVO verbietet die Verarbei- Abs. 5 Satz 1 TV-L, § 3 Abs. 4 Satz 1 TVöD erge- tung von Gesundheitsdaten. Zu diesen Daten benden Rechte, eine entsprechende arbeitsver- gehören nach dem Erwägungsgrund Nr. 35 der tragliche Nachweispflicht für einzelne Beschäf- DSGVO alle Daten, die sich auf den Gesund- tigte zu begründen, ist Teil der Wahrnehmung heitszustand einer betroffenen Person beziehen des in § 106 Satz 1 GewO geregelten Direktions- und aus denen Informationen über den frühe- rechts des Arbeitgebers. ren, gegenwärtigen und künftigen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand der betrof- Die genannten tariflichen Erweiterungen des fenen Person hervorgehen. Das schließt Infor- in allgemeiner Form in § 106 GewO gere- mationen etwa über Krankheiten, Behinderun- gelten Direktionsrechts hat das LArbG Nürn- gen, Krankheitsrisiken, Vorerkrankungen, klini- berg ungeprüft als zulässig eingestuft und sich sche Behandlungen oder den physiologischen nicht die Frage gestellt, ob die tariflichen Er- oder biomedizinischen Zustand der betroffenen mächtigungen einen zulässigen Eingriff in das Person unabhängig von der Herkunft der Da- Grundrecht auf informationelle Selbstbestim- ten ein, ob sie nun von einem Arzt oder sonsti- mung des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gem Angehörigen eines Gesundheitsberufes, ei- darstellen. Das BVerfG hält das, bezogen auf ei- nem Krankenhaus, einem Medizinprodukt oder ne aufgrund von § 44 Abs. 6 BBG erlassene Wei- einem In-Vitro-Diagnostikum stammen. sung zur ärztlichen Untersuchung der Dienstfä- higkeit, für möglich (BVerfG, Einstweilige Anord- Nach Art. 2 Abs. 1 DSGVO findet diese VO An- nung v. 13.05.2020 - 2 BvR 652/20 Rn. 13). wendung auf die ganz oder teilweise automati- sierte Verarbeitung personenbezogener Daten Die gleiche Problematik besteht im Hinblick sowie auf die nichtautomatisierte Verarbeitung auf das sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergeben- personenbezogener Daten, die in einem Datei- - Seite 14 -
AnwaltZertifikatOnline Arbeitsrecht – Leseprobe AnwZert ArbR 22/2020 system gespeichert sind oder gespeichert wer- seinen bzw. ihren diesbezüglichen Pflichten den sollen. Dateisysteme sind nach Art. 4 Nr. 6 nachkommen kann, soweit dies nach Unions- DSGVO alle strukturierten Sammlungen perso- recht oder dem Recht der Mitgliedstaaten oder nenbezogener Daten, die nach bestimmten Kri- einer Kollektivvereinbarung nach dem Recht terien zugänglich sind, unabhängig davon, ob der Mitgliedstaaten, das geeignete Garantien diese Sammlung zentral, dezentral oder nach für die Grundrechte und die Interessen der be- funktionalen oder geografischen Gesichtspunk- troffenen Person vorsieht, zulässig ist. Art. 9 ten geordnet geführt wird. Personalakten erfül- Abs. 2 Buchst. b DSGVO lässt als Eingriffser- len diese Voraussetzungen, so dass es nicht mächtigung neben einer Rechtsvorschrift des darauf ankommt, ob sie automatisiert geführt jeweiligen Mitgliedstaates auch eine Kollektiv- werden. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 15 der vereinbarung genügen. Insoweit begegnet die DSGVO soll der Schutz personenbezogener Da- Anwendung von § 3 Abs. 5 Satz 1 TV-L bzw. § 3 ten technikneutral sein. Lediglich Akten oder Abs. 4 Satz 1 TVöD keinen unionsrechtlichen Be- Aktensammlungen sowie ihre Deckblätter, die denken, um das Verbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO nicht nach bestimmten Kriterien geordnet sind, aufzuheben. sollten nach diesem Erwägungsgrund nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fal- Es genügt jedoch nicht, dass eine gesetzliche e len. Regelung oder eine Kollektivvereinbarung die b Verarbeitung der in Art. 9 Abs. 1 DSGVO ge- ro Da jedenfalls das zusammenfassende Ergebnis nannten sensiblen personenbezogenen Daten der aufgrund der vom Kläger verlangten ärztli- für bestimmte arbeitsrechtliche Zwecke als er- p chen Untersuchung beim Arbeitgeber Bestand- forderlich definiert und die Erforderlichkeit im es e teil der Personalakte geworden wäre, sind die konkret geregelten Fall zweifelsfrei gegeben ist. Voraussetzungen für eine Anwendung der DSG- Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DSGVO verlangt zu- L VO erfüllt. Personalakten gehören auch bei nicht sätzlich, dass in der die Befreiung vom Verbot automatisierter Führung zu den Akten, die nach des Art. 9 Abs. 1 DSGVO regelnden Rechtsvor- bestimmten Kriterien geordnet sind. schrift bzw. Bestimmung des Kollektivvertrages auch geeignete Garantien für die Grundrech- Das Verarbeitungsverbot in Art. 9 Abs. 1 DSG- te der Betroffenen einerseits und ihrer Interes- VO erfasst nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO bereits das sen andererseits enthalten sind, diese Fragen Erheben personenbezogener Daten, aber auch also mitgeregelt sind, um auf diese Weise den deren Weitergabe an den Arbeitgeber. Dement- besonderen Schutz der in Art. 9 Abs. 1 DSG- sprechend laufen Ermächtigungen, wie sie in § 3 VO genannten besonderen personenbezogenen Abs. 5 Satz 1 TV-L, § 3 Abs. 4 Satz 1 TVöD enthal- Daten unmittelbar zu gewährleisten und die- ten sind, sich aber auch aus Bestimmungen wie sen Schutz nicht nur der allgemeinen Verant- § 44 Abs. 6 BBG und § 96 Abs. 1 Satz 2 BBG erge- wortlichkeit derjenigen Stelle zu überlassen, die ben, unmittelbar dem strikten Verbot des Art. 9 spezifische personenbezogene Daten verarbei- Abs. 1 DSGVO zuwider und müssen unangewen- tet (v. Roetteken, ZBR 2017, 145, 149 f.; ZBR det bleiben, soweit sich nicht aus Art. 9 Abs. 2 2013, 361, 369 f.). DSGVO die – ausnahmsweise – Berechtigung zur Verarbeitung von Gesundheitsdaten ergibt. Ei- Die besonderen Garantien müssen sich vor al- ne solche Ermächtigung besteht immer dann, lem auf die Durchführung des Grundsatzes der wenn der oder die Betroffene in die jeweilige Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSG- Verarbeitung einwilligt (Art. 9 Abs. 2 Buchst. a VO) und des Grundsatzes der Speicherbegren- DSGVO). Da der Kläger hier keine solche Einwil- zung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. e DSGVO) beziehen, ligung erteilt hatte, kann die Verarbeitung nur aber auch darauf, wie die Grundsätze der Inte- auf Grundlage von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DSG- grität und Vertraulichkeit (Art. 5 Abs. 1 Buchst. f VO zulässig gewesen sein. DSGVO) in Bezug auf diese besondere Art von Daten gewahrt werden. Da es keine besonde- Voraussetzung dieser Ermächtigung ist die Er- ren Rechtsvorschriften zur Gestaltung von Per- forderlichkeit der Datenverarbeitung, damit der sonalakten für Beschäftigte im Arbeitsverhält- Verantwortliche oder die betroffene Person die nis gibt und die beamtenrechtlichen Vorschrif- ihm bzw. ihr aus dem Arbeitsrecht und dem ten jedenfalls die Grundsätze des Art. 5 Abs. 1 Recht der sozialen Sicherheit und des Sozial- Buchst. c, e DSGVO nicht umsetzen, besteht in- schutzes erwachsenden Rechte ausüben und soweit eine datenschutzrechtliche Regelungslü- - Seite 15 -
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