Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin, oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt.

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Lehrstuhl für Politische Theorie
         und Ideengeschichte

Technische Universität Dresden
Institut für Politikwissenschaft
Wintersemester 2012/13
HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings.
Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel

      Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin,
      oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt.

         Autor_innen: Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Die Grenzen der Menschenrechte
Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka
Lehrstuhl für Politische Theorie
         und Ideengeschichte

       Einleitung                                                        2

        I. Politik und Polizei bei Jacques Rancière                      3

        II. Zum Platz der Asylbewerberin und der Geduldeten              9

        III. Die politische Subjektivierung der Flüchtlinge              14

        IV. Schlussbetrachtung                                           21

        V. Literaturverzeichnis                                          23

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Die Grenzen der Menschenrechte
Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka
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Einleitung

      Der Name des Seminars 1 verweist bereits auf die prekäre Stellung der Flüchtlinge. Er impliziert eine
ausweglose Situation der Ohnmacht, der Bedrohung und Gefahr, der die Flüchtlinge schutzlos
ausgeliefert zu sein scheinen. In erster Linie sind sie Opfer. Sie sind schwach, hilflos, verlassen, bedroht
und deshalb auf den Schutz anderer angewiesen (vgl. Jobst 2012: 58). Es scheint, als seien sie ihrem
Schicksal ausgeliefert, unfähig ihren Status der Schutzlosigkeit aus eigener Kraft heraus zu überwinden.
Schlägt frau 2 das entscheidende Kapitel „Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der
Menschenrechte“ aus Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ auf, so liest
sie eine erschreckende Darstellung der Flüchtlingsproblematik. Die Flüchtlinge sind rechtlose, vogelfreie
Schnorrer, die als unschuldig Bestrafte den Auswurf der Menschheit darstellen (vgl. Arendt 2011). Die
Liste könnte ohne Weiteres verlängert werden. In der gegenwärtigen Migrationsforschung wird die Figur
der Flüchtlinge zunächst stets als passive wahrgenommen.
      Die Arbeit von Anna Jobst ist eine der wenigen, welche diskursanalytisch untersucht, wie unser Bild
der Flüchtlinge konstruiert und reproduziert wird: Sie kommt zum abschließenden Ergebnis, dass die
Narrative der etablierten Diskurse ein Bild der Schwäche und Schutzlosigkeit konstituieren. Es sind vor
allem die Flüchtlinge als passive Opfer, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben; als Objekte,
welchen beinahe jegliche Autonomie abgesprochen wird: „Sie sind fremd bestimmt und gesteuert, ein
Spielball der bösen Mächte, der europäischen Regierungen und ihrer Helfer, die ihnen ihre Subjektivität
rauben.“ (Jobst 2012: 58)
      Die Frage, die sich uns stellt, ist, ob Flüchtlinge sich auch als politisches Subjekt verstehen lassen,
als politisches Subjekt, das sich seiner zugeschriebenen Passivität entzieht. Ziel dieser Arbeit ist es, den
Flüchtling aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und so möglicherweise ein
emanzipatorisches Potenzial zu entdecken, welches sonst verborgen bleibt. Jacques Rancières politische
Theorie ist charakterisiert durch ein emanzipatorisches Politikverständnis, sodass es sich anbietet, seine
Überlegungen zum Ausgangspunkt dieser Arbeit zu machen. Was wird mit Rancière sichtbar, was in
einem großen Teil der Migrationsforschung verborgen bleibt? Dazu bedarf es zunächst einer
Auseinandersetzung mit seiner politischen Theorie, da diese mit den herkömmlichen Kategorien des

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    Folgende Arbeit ist im Rahmen des Projektseminars An den Grenzen des Rechts. Zur politischen Theorie des
    Flüchtlings im Wintersemester 2012/13 an der TU Dresden entstanden.
2   Wir sind der Meinung oft genug Abhandlungen über den Bürger, den Wähler und Dinge, die man tun oder lassen
    sollte, gelesen zu haben. Wir halten es für angebracht in dieser Arbeit den Spieß umzudrehen und nur die
    weiblichen Bezeichnungen zu verwenden. Ebenso wie der Anspruch erhoben wird, dass man für Mann und Frau
    steht, erheben wir den Anspruch mit frau und den weiblichen Bezeichnungen Mann und Frau und alles dazwischen
    zu bezeichnen. An manchen Stellen wird aus stilistischen Gründen die neutrale Form verwendet.
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alltäglichen Verständnisses von Politik bricht und bereits etablierte Begriffe mit unterschiedlichen
Extensionen verwendet. Nach vorangehender Begriffsklärung picken wir das Wesentliche seiner
politischen Theorie für unsere Argumentation heraus. Wir werden uns dabei auf diejenigen Aspekte
konzentrieren, die für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage relevant sind. Was versteht Rancière
unter Politik? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit frau von einem politischen Prozess
sprechen kann? Wer ist das politische Subjekt und welche Bedeutung kommt ihm in diesem Prozess zu?
Im zweiten Teil der Arbeit wird die politische Theorie Rancières auf die in Deutschland lebenden
Asylbewerberinnen beziehungsweise Flüchtlinge angewendet. Gemäß der entschiedenen Trennung in
Polizei und Politik bei Rancière, wird zunächst das in Deutschland vorherrschende Bild der
Asylbewerberinnen und Geduldeten gezeichnet, das maßgeblich durch die ihnen auferlegte
Residenzpflicht bestimmt ist. Anschließend wird analysiert, ob und inwieweit der Protest der
Asylbewerberinnen gegen eben diese Residenzpflicht als eine politische Subjektivierung der Flüchtlinge
verstanden werden kann.

                                   I. Politik und Polizei bei Jacques Rancière

      Jacques Rancière unterscheidet zwischen Politik und Polizei, welche als zentrale Begriffe die
Grundlage seiner Politikkonzeption bilden. Mit dem Begriff der Polizei wird weder nur der Teil der
exekutiven Gewalt bezeichnet, der den Gesetzen des Staates zu ihrer Durchsetzung verhilft, noch ist er
mit dem gleichzusetzen, was gemeinhin der Staat genannt wird (vgl. Rancière 2002: 40). Die Polizei, wie
Jacques Rancière sie versteht, ist eine Fiktion, eine Einbildung, ein Gemachtes, die allerdings kein Wahres
mit einem Teppich überzieht, dieses Wahre dadurch verdeckt und entstellt; sondern eine vollständige
Besetzung einer Leere durch eine bestimmte Weise der Wahrnehmung der sozialen Umstände. Indem sie
zuallererst festlegt, was als wahrnehmbar gilt und was nicht, gibt die Polizei dem Sozialen seine Ordnung
und stellt die Interpretationsressourcen, um diese zu verstehen, bereit. Sie teilt den Menschen mit:
‚Außerhalb dessen, was ich wahrnehme, gibt es nichts!‘ So lautet die jahrtausendealte Parole, die die
Polizei von sich gibt. Das, was als wahrnehmbar gilt, wird in verschiedene Bereiche gegliedert. An erster
Stelle steht der Bereich der Öffentlichkeit in Abgrenzung zum lediglich Privaten, durch den die Tatsache
eines geteilten Gemeinsamen zwischen den Menschen belegt und diesem Gemeinsamen ein Ort gegeben
wird. Gleichzeitig wird die Bevölkerung durch die polizeiliche Wahrnehmung in gesellschaftliche Klassen
mit ihnen eigenen Eigenschaften eingeteilt (in die Klasse der Frauen, in die der Männer, in die Klasse der
Arbeitnehmer, in die der Arbeitgeber, in die Klasse der Christen, in die der Muslime usw.). „Im
polizeilichen Sinne ist eine Klasse eine Gruppierung von Menschen, denen ihre Herkunft oder ihre
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Tätigkeit ein besonderes Statut und einen besonderen Rang zuweisen“ (Rancière 2002: 95), und jede
erhält, dem Anteil des Nutzens entsprechend, den sie zum Gemeinwohl beiträgt, Rechte zur Teilhabe am
Gemeinsamen. So wird von dem Nutzen, den jede Klasse dem Gemeinwohl bringt, die Legitimität der
Verteilung und letztlich die Gerechtigkeit der Ordnung abgeleitet (vgl. Rancière 2002: 33). Je größer der
von der Polizei beigemessene Wert des Beitrags für das Gemeinsame ist, desto höher ist der Grad an
Teilhabe und Einfluss in der polizeilichen Ordnung. Die Polizei weist jedem Körper seinen Platz zu. Dieser
Platz beinhaltet eine polizeilich anerkannte Identifizierung, die seine Zugehörigkeit zu einer Klasse
begründet, und legt fest, an welchen Orten und zu welchen Zeiten bestimmte Funktionen, Tätigkeiten
und Seinsweisen wahrgenommen werden und andere nicht (vgl. Rancière 2006: 25f.).
      Diese gesellschaftlichen Klassen treffen sich also im Bereich des Gemeinsamen als konstituierte
Partnerinnen, um dem Guten und Gerechten entsprechend das Gemeinwohl zu bestimmen. Die
Möglichkeit ungezählter Teile sowie auch die Möglichkeit von identifizierten Teilen mit anderen als von
der Polizei zugeschriebenen Funktionen, Tätigkeiten und Seinsweisen wird ausgeschlossen. Rancière
nennt dieses „System sinnlicher Evidenzen“ eine „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière, 2006: 25). Und
diese Aufteilung muss als zweifache verstanden werden: Auf der einen Seite befindet sich die Trennung
und Ausschließung, auf der anderen wiederum die Erlaubnis zur Teilhabe an den gemeinsamen
Angelegenheiten (vgl. Rancière 2008: 31). So liest frau bei Rancière:
            „Eine Aufteilung des Sinnlichen ist die Art und Weise, nach der sich im Sinnlichen ein Verhältnis zwischen
            einem geteilten Gemeinsamen und die Einteilung exklusiver Anteile bestimmt. Diese Einteilung, die von ihrer
            sinnlichen Evidenz her die Einteilung der Anteile und Teile vorwegnimmt, setzt selber eine Aufteilung dessen,
            was sichtbar ist und was nicht, dessen, was sich vernehmen lässt und was nicht, voraus.“ (Rancière 2008: 31)

Die Polizei ist also eine das Gemeinsame der Menschen erzeugende sowie verwaltende Maschine, die
ihre Einzelteile selbst bestimmt, sie identifiziert, ihnen einen Wert beimisst, diese Werte zusammenzählt,
mit ihnen rechnet. Diese Zählung oder Rechnung beruht auf der These, dass die Summe aller Einzelteile
der Gesamtheit der Gesellschaft entspricht (vgl. Rancière 2002: 23). Es handelt sich bei der Polizei um
eine Rechenmaschine, die von der eigenen Rechnung behauptet exakt zu sein und diese durch die
Bestimmung dessen, was als wahrnehmbar gilt, schon immer legitimiert, als dem Gerechten und Guten
entsprechend darstellt. Nur ist sie nie exakt, denn die Ableitung des Gerechten vom Nützlichen enthält
„eine grundlegende Verrechnung“ (Rancière 2002: 18), eine „falsche Kontinuität“ (Rancière 2002: 33):
            „Zwischen dem Nützlichen und dem Gerechten gibt es das Unmessbare des Unrechts, das allein die politische
            Gemeinschaft als Antagonismus der Teile der Gemeinschaft einsetzt, die nicht wirklich Teile des
            Gesellschaftskörpers sind.“ (Rancière 2002: 33)

      Was kann dieses Unmessbare des Unrechts sein? Die Bedingung der Möglichkeit einer polizeilichen
Ordnung liegt in der Gleichheit zwischen Beliebigen (vgl. Rancière 2002: 42), wobei diese in jeder
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Ordnung wieder negiert werden muss. Für Rancière kann eine polizeiliche Ordnung nur existieren, wenn
einige befehlen und andere gehorchen. Die Herrschenden rechtfertigen ihren Anspruch zu herrschen mit
ihrer Überlegenheit gegenüber den Beherrschten, worauf auch immer diese gründen mag, und verneinen
die Möglichkeit einer Gleichheit. Dabei wird die Gleichheit verkannt, die notwendig ist, um den Befehl als
auch das Dem-Befehl-Gehorchen-Müssen zu verstehen (vgl. Rancière 2002: 45). Es ist eben diese
Gleichheit als leeres Eigentum, welche jedem Individuum als sprechendem Wesen zukommt, unabhängig
davon, ob sie ihm von der polizeilichen Ordnung zugesprochen wird oder nicht (vgl. Rancière 2002: 45)
und in deren Zurschaustellung dieses unmessbare Unrecht erscheint.
      Allerdings ist nicht jede Darstellung einer Gleichheit dazu in der Lage, einen politischen Streit zu
erzeugen. Um dies zu verdeutlichen, führt Rancière die Revolte der Sklaven der Skythen als Beispiel an,
denen bei Geburt von ihren Herren die Augen ausgestochen werden, da sie diese für die Arbeiten, die sie
nur mit den Händen verrichten, nicht benötigen. Für die Zeit einer Generation wachsen die Kinder der
Sklaven mit unversehrten Augen heran, da die Skythenkrieger sich auf einem langen Feldzug befinden.
Diese Kinder können zwischen sich und den zurückgebliebenen Skythen keinen erkennbaren Unterschied
ausmachen, der ihre Unterlegenheit rechtfertigte. Als die Skythenkrieger zurückkehren, verbarrikadieren
die Sklaven das Lager, bewaffnen sich, um ihre Gleichheit mit den Kriegern darzustellen, und erwarten
die Anerkennung dieser. Nach einem ersten missglückten Angriff auf das von den Sklaven verteidigte
Lager besprechen sich die Krieger und beschließen, ihre Waffen niederzulegen, anstatt dessen mit
Peitschen in das Lager zu marschieren und so die Ungleichheit neu zu begründen. Den Sklaven bleibt
nichts anderes übrig, als sich erneut zu ergeben. Indem sie sich lediglich in ihrer Funktion als Krieger mit
den Skythen gleichsetzen, sind sie nicht dazu in der Lage aus dieser bewaffneten Gleichheit einen Streit
um das, was wahrgenommen wird und was nicht, sowie um dessen Aufteilung zu eröffnen (vgl. Rancière
2002: 36). Sie vermögen es nicht, sich als ,,sprechende Wesen zu konstituieren, die dieselben
Eigentümlichkeiten haben wie diejenigen, die sie ihnen absprechen“ (Rancière 2002: 36). Denn der
Gleichheit zwischen zwei beliebigen sprechenden Wesen ist nicht zwingend ein politisches Moment
inhärent:
              „Die Gleichheit ist kein Gegebenes, das die Politik einer Anwendung zuführt, keine Wesenheit, die das Gesetz
              verkörpert, noch ein Ziel, das sie sich zu erreichen vornimmt. Sie ist nur eine Voraussetzung, die in den
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              Praktiken, die sie ins Werk setzen, erkannt werden muss.“ (Rancière 2002: 44f.)

      Rancières emanzipatorischer Politikbegriff gründet auf einer Konzeption, welche die politische

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    Sie kann also nie ein zu erreichender Zustand sein, sondern verkehrt sich in dem Moment, in dem sie in die
    polizeiliche Ordnung eingeschrieben wird, in ihren Gegensatz, nimmt eine neue Form der Ungleichheit an (vgl.
    Rancière 2002: 43).
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Subjektivierung betont, ohne dabei die polizeiliche Identität der Teile zu fixieren. Im Gegenteil, die
politische Subjektivierung bedeutet eine „Ent-Identifizierung“ (Rancière 2002: 48) von der polizeilich
gegebenen Identität, da politische Namen umstrittene Namen sind (vgl. Rancière 2011: 487). So schreibt
die Subjektivierung einen Namen des Subjekts als unterschieden von jeder polizeilichen Klasse ein,
erzeugt einen Bruch mit den Kategorien der Polizei. „Im politischen Sinne ist eine Klasse etwas ganz
anderes: ein Operator des Streits, ein Name, um die Ungezählten zu zählen, eine Subjektivierungsweise,
die sich über jede Wirklichkeit gesellschaftlicher Gruppen legt.“ (Rancière 2002: 95; Hervorhebung im
Original) Immer dann, wenn ein Teil der Bevölkerung, der keine polizeilich anerkannte Klasse mehr
darstellt und somit kein Recht auf Teilhabe am Gemeinsamen besitzt, Gebrauch von dieser leeren
Gleichheit macht, zeigt sich das Unrecht, das in der Ableitung des Gerechten vom Nützlichen nicht zu
messen ist. Dieser sich von seinem Platz erhebende Teil der Bevölkerung errichtet eine „Gemeinschaft als
politische Gemeinschaft, das heißt als geteilte, auf einem Unrecht gegründet“ (Rancière 2002: 24), nimmt
sich so einen Anteil am Gemeinsamen, der ihm von der polizeilichen Ordnung abgesprochen wird. Das
Aufzeigen dieses Unrechts bringt zwei getrennte Welten zusammen; richtet die eine Welt in der anderen
ein (vgl. Rancière 2008: 35). Der polizeilichen Ordnung wird eine künstliche Gemeinschaft hinzugefügt,
die nur für und durch den Konflikt existiert; eine ,,Gemeinschaft des Konflikts über das Dasein des
Gemeinsamen selbst zwischen dem, der Anteil hat, und dem, der anteillos ist“ (Rancière 2002: 47).
        Dieses Recht auf Teilhabe am Gemeinsamen derjenigen, die kein Recht dazu besitzen, nennt
Rancière den „Anteil der Anteillosen“ (Rancière 2002: 24). Hier offenbart sich diese grundlegende
Verrechnung – die eher ein Messfehler als eine Verrechnung ist –, die nicht in der Lage ist, den
Unterschied einer jeden Klasse zu sich selbst zu messen (vgl. Rancière 2002: 31). Durch diese Einrichtung
eines Anteils der Anteillosen entsteht eine Bühne des Dissens, wird ein Streit über die symbolische
Ordnung der Gemeinschaft eröffnet, sowohl darüber, was sinnlich wahrnehmbar ist und was nicht, als
auch um dessen Aufteilung selbst. Es ist dieser Streit, durch welchen Politik überhaupt erst existieren
kann. Jedoch ist unter diesem Streit kein Interessen- oder Meinungskonflikt zwischen konstituierten
Partnern zu verstehen, welcher innerhalb der polizeilichen Ordnung durch kommunikative
Verfahrensmodi beigelegt werden könnte; sondern es handelt sich um einen Streit, „der sich auf die
Zählung der Teile bezieht, selbst noch bevor er sich auf ihre Rechte [auf Teilhabe] bezieht“ (Rancière
2002: 22). Das Spezifische der Politik besteht gerade darin, dass Ort, Gegenstand und Subjekt des Streits
nicht im Vorhinein festgelegt sind, sondern dass die Aufteilung des Sinnlichen selbst in Frage gestellt
wird.
        Aber wer kann dieses politische Subjekt sein? ,,Es ist die politische Beziehung,“ schreibt Rancière,
„die es erlaubt, das politische Subjekt zu denken, und nicht umgekehrt.“ (Rancière 2008: 7) Es sind
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diejenigen, denen durch die polizeiliche Identifizierung die Rechte abgesprochen werden, die sie sich aber
dennoch nehmen. Sie zeigen die Kluft auf zwischen den mit ihrer polizeilich bestimmten Identität
korrespondierenden Rechten und den Rechten, die sie nicht haben, welche ihnen aber der gleichheitlichen
Logik nach zustehen. Die politischen Subjekte sind demnach Subjekte, welche sich aus dem Unrecht
konstituieren, ihre Gleichheit demonstrieren und es so vermögen, diese eigentlich leere, nutzlose
Eigenschaft in eine politische Freiheit umzuwandeln. Diese Aussage impliziert, dass die Einrichtung der
Gleichheit, die Errichtung einer Bühne des Dissens nur von den Anteillosen selbst erfolgen kann; sie bleibt
wirkungslos, wenn diese Gleichheit nicht von den Individuen durch ihre Subjektivierung selbst erkannt
wird, sondern stellvertretend für sie eingefordert wird.
       Was lässt sich aber unter dieser politischen Freiheit verstehen? Um das Spezifische dieser so
essentiellen politischen Freiheit verstehen zu können, verweist Rancière auf die Freiheit der Athener – des
Demos –, die allein aufgrund des Verbots der Versklavung der Schuldner durch die Gläubiger gegeben
war (Rancière 2002: 20). Der Demos ist die „undifferenzierte Masse derer, die keine positiven
Anspruchsrechte haben […], aber denen dennoch dieselbe Freiheit zuerkannt wird wie denen, die diese
Anrechte besitzen.“ (Rancière 2002: 21) Erst wenn diese undifferenzierte Masse die Freiheit als ihre
eigene Eigenschaft erklärt, die ihr gar nicht alleine gehört, kann sie diese Eigenschaft in einen positiven
Besitz umwandeln und sich so als Anteilhabende in die Gemeinschaft einschreiben: ,,Die antike Politik
beruhte einzig auf der Verrechnung dieses Demos, der Teil und Ganzes war, und von dieser Freiheit, die
nur ihm gehörte, indem sie allen gehörte.“ 4 (Rancière, 2002: 70)
       Die Freiheit des Demos ist heute in Form der proklamierten Menschenrechte gegeben, jedoch sind
diese Menschenrechte als ebenso leere Eigenschaft wie einst die Freiheit der Athener zu begreifen. So
bringt Rancière das Paradox der Menschenrechte als „die Rechte derer, die nicht die Rechte haben, die
sie [aufgrund der Proklamation der Menschenrechte] haben, und zugleich die Rechte [durch ihre
Subjektivierung] haben, die sie nicht haben“, zum Ausdruck (Rancière 2011: 481). Es handelt sich hierbei
um „zwei Existenzformen der Rechte“ (Rancière 2011: 481). Auf der einen Seite stehen die in die
Gemeinschaft eingeschriebenen Rechte in geschriebener Form. Diese Einschreibung lässt die
Menschenrechte jedoch in ihrer abstrakten Form bestehen. Erst durch die Subjektivierung, d.h. wenn die
Träger dieser abstrakten Rechte dieser Einschreibung mit Situationen ihrer Negation begegnen, zeigt sich

4   Die deutsche Übersetzung ist nicht gut und verwirrend. Im französischen Original heißt es: „La politique antique
    tenait au seul mécompte de ce démos qui est partie et tout, et de cette liberté qui n'appartient qu'à lui tout en
    appartenant à tous.“ (Rancière 1995: 89). Genauer ist folgende Übersetzung: „Die antike Politik hing einzig ab von
    der Verrechnung dieses Demos, der Teil und Ganzes ist, und [der Verrechnung] dieser Freiheit, die nur ihm
    anhängt, während sie allen anhängt.“ Mit der Verwendung der Verben „abhängen“ und „anhängen“ kommt die
    stilistische Feinheit Rancières, der jeweils Formen des französischen Verbs tenir à qc/qn benutzt, auch im
    Deutschen zum Ausdruck.
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die andere Existenzform dieser Rechte, in der sie einen Einsatz im Streit um das Gemeinsame darstellen,
ein Unrecht aufzeigen. „[S]ie verbinden die Welt, in der diese Rechte Gültigkeit haben, mit der Welt, in
der sie keine Gültigkeit haben.“ (Rancière 2011: 483f.) Politisch ist demnach der Ort der Begegnung der
zwei gegensätzlichen Logiken – der Gleichheitslogik und der polizeilichen Logik –, an dem der
Unterschied zwischen der ungleichmäßigen Verteilung der Individuen und der Gleichheit der sprechenden
Wesen hervortritt. Obwohl die gleichheitliche Logik der Politik gänzlich verschieden von der der Polizei
ist, bleibt sie immer an diese geknüpft.
      Politik, wie Rancière sie denkt, ist zu begreifen als eine Unterbrechung der polizeilichen Logik – die
jedem Individuum, seiner gesellschaftlichen Klasse entsprechend, eine Identität, einen Platz gibt –, indem
sich eine neue Klasse bildet, die mit keiner der gesellschaftlichen Klassen identisch ist; sich von der
polizeilichen Identität, die die Anteillosigkeit am Gemeinsamen ausdrückt, „ent-identifiziert“ (Rancière
2002: 48), so diese Identität zum Gegenstand eines Streits macht und versucht sich als Anteil der
Anteillosen in das Gemeinsame einzuschreiben. Die Bedingung der Möglichkeit eines Streits ist ein
politisches Subjekt, welches die Polizei auffordert, ,,den Gegenstand zu sehen und das Argument zu
vernehmen, das zu sehen und zu hören [sie] ‚normalerweise‘ keinerlei Grund hat“ (Rancière 2008: 36);
ein politisches Subjekt, das der Polizei die eigene Vernünftigkeit vor Augen hält. Jedoch ist der
Widerstand jeder polizeilichen Ordnung gegen alternative Ordnungskonzepte – gegen eine alternative
Aufteilung des Sinnlichen, die der etablierten Ordnung widerspricht – grundsätzlich. Sie spricht den
Anteillosen ihren Anteil ab, leugnet deren Vernünftigkeit. Für sie bleiben die Demonstrationen nur
vernachlässigbares    Geschrei    und      niederzuschlagende   Revolte.   Das   Nicht-Hören(-Wollen)    ist
charakteristisch für die Reaktion der Polizei auf die Forderungen des Anteils der Anteillosen. Sie hört
nicht, dass die Ausstellung der Anteillosen etwas zum Gemeinsamen beiträgt, dass die Anteillosen einen
vernünftigen Gesprächspartner darstellen. Diese Reaktion des Nicht-Hörens äußert sich in einem
Zurückstoßen auf den jeweiligen Platz, in einer unveränderten Wahrnehmung der Anteillosen in ihrer
bereits etablierten polizeilichen Identität. Das Verhalten der Polizisten wird von den Anteillosen nicht
einfach stillschweigend hingenommen, sondern sie versuchen ein weiteres Mal ihre Aussagen als
Aussagen rationaler sprechender Wesen darzustellen. Indem sie beginnen die Reaktion der Polizei zu
,,kommentieren“, machen sie deutlich, dass die Polizei sie als politisches Subjekt mit einem Recht zum
Streit weder erkennen kann noch will (vgl. Rancière 2002: 64ff.). Am Ende des Kommentars steht ein
‚Wir-Haben-Sie-Verstanden‘, das ausdrückt, dass ein Sie versucht ein Verhältnis zu einem Wir zu leugnen.
Durch dieses Wir-Verstehen stellen diejenigen, denen die Rechte auf Teilhabe abgesprochen werden, sich
erneut als vernünftige Gesprächspartner dar und zwingen die Polizei durch die drohende Gefahr des
Verlustes der eigenen Rationalität auf die Argumente der Anteillosen einzugehen, sie als ein politisches
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Subjekt wahrzunehmen (Rancière 2002: 66). Dies ist die Rationalität der Politik, wie Rancière sie versteht
und die er die Vernunft des Unvernehmens nennt.
      Wir beenden die Betrachtung hier und wenden uns sowohl dem Platz der Asylbewerberinnen in
Deutschland als auch der Subjektivierung der Flüchtlinge zu.

                          II. Zum Platz der Asylbewerberin und der Geduldeten

      Im folgenden Kapitel soll die polizeiliche Identifizierung der Asylbewerberin und der Geduldeten in
der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet werden. Es sollen ihre Seinsweisen, Orte und
Tätigkeiten beleuchtet werden, kurz: welchen Platz sie zugeteilt bekommt. Dazu werden einerseits die
Gesetze und Verordnungen, denen Asylbewerberinnen und Geduldete in Deutschland unterworfen sind,
betrachtet; andererseits wird ein Blick auf die Äußerungen der Polizei geworfen. Daraus wird gefolgert,
welche Art der polizeilichen Wahrnehmung der Asylbewerberinnen und Geduldeten in Deutschland
vorherrscht.
      Zunächst werden die Gesetze und Verordnungen betrachtet. In einem Seminar über die
Gastfreundschaft spricht Jacques Derrida von einem Gegensatz, einer „Antinomie“, die er charakterisiert
als „eine unauflösbare, nicht dialektisierbare Antinomie zwischen dem Gesetz der Gastfreundschaft“, das
die „unbedingte“ Gastfreundschaft ausdrückt und diese jedem absolut ohne Bedingung gewähren will;
„und den Gesetzen der Gastfreundschaft“, die die Ankommenden selektieren, ihnen bestimmte Pflichten
und Einschränkungen auferlegen (Derrida 2001: 60f.). Die Antinomie stellt sich folgendermaßen dar: „Das
Gesetz steht über den Gesetzen“, es muss als ein den Gesetzen inhärentes Prinzip gedacht werden,
welches die Gesetze der Gastfreundschaft anleitet, ihnen den Weg weist, selbst aber, da über den
Gesetzen stehend, „illegal“ (Derrida 2001: 61) ist. Das Gesetz der Gastfreundschaft selbst befiehlt nichts,
ist nicht im Modus des Imperativs formuliert und benötigt so die – faktisch formulierten, legalen –
Gesetze der Gastfreundschaft, um wirklich zu sein, um nicht eine bloße Illusion zu werden (Derrida 2001:
62). Gleichzeitig gefährden die Gesetze immer schon von Grund auf das Gesetz, denn sie müssen dazu
fähig sein „das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft“ zu bedingen (Derrida 2001: 62). Es besteht
zwischen ihnen also ein dialektischer Gegensatz, der nie spekulativ aufzuheben ist.
      Die Gesetze der Gastfreundschaft, die das Asyl betreffen, haben in der Bundesrepublik Deutschland
ihren Anfang im Art. 16a Abs. I GG, in dem es da heißt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Schon
ein erster, flüchtiger Blick in die direkt darunter folgenden Schranken zeigt, wie die Gesetze das Gesetz

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der Gastfreundschaft in Deutschland verspeisen, bis zu und über den Biss hinaus, der die Bezeichnung
Gastfreundschaft als Euphemismus erscheinen lässt. Wer in Deutschland Asyl genießt, gilt als staatlich
anerkannter Flüchtling. Bei allen anderen Ankommenden handelt es sich, sofern ihr Status als Flüchtling
nicht anerkannt wurde, im rechtlichen Sinne um Illegale, Geduldete 5 – also Ausreisepflichtige, deren
Abschiebung aus verschiedenen Gründen nicht vollzogen werden kann – oder um Asylbewerberinnen,
deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossenen ist: „Nicht, wer aus seinem Land fliehen musste,
sondern nur, wer auch alle Kriterien der (restriktiven) Rechtsprechung erfüllt, soll sich ‚Flüchtling‘ nennen
dürfen.“ (Hohlfeld 2005: 21) Diese Kriterien sind nach herrschender Meinung der Rechtsprechung
erdrückend. Zunächst muss eine „objektive Verfolgungsgefahr“ bestehen, eine allein „subjektiv
begründete Furcht vor Verfolgung“ ist ungenügend (vgl. Hohlfeld 2005: 53). Die Asylbewerberin muss
aufgrund der Verfolgung von staatlichen (oder „staatsähnlichen“) Akteurinnen ihre Heimat verlassen
haben, was von Grund auf Bürgerkriegsflüchtlinge ausschließt. Die Gründe der Verfolgung müssen
„asylrelevante Persönlichkeitsmerkmale“ (Hohlfeld 2005: 53) der Asylbewerberin, wie etwa die religiöse
Überzeugung, die politische Meinung, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder sozialen
Gruppe etc., sein. Fluchtursachen, die eine ganze Bevölkerung betreffen, – z.B. (Bürger-)Kriege, Unruhen,
existenzbedrohende Missstände wie Hunger- und Naturkatastrophen – führen nicht zu einer
Anerkennung des Asylantrags, da nur die individuelle Verfolgung zum Genuss des Asyls berechtigt. Nur
eine „bestimmte Intensität“ der Verfolgung als auch eine mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“
drohende Verfolgung rechtfertigen das Asyl (Hohlfeld 2005: 53). 6 „Kollektivverfolgungen“ begründen
kein Asyl, erst die sogenannte „Gruppenverfolgung, bei der nahezu jedes Mitglied einer bestimmten
Gruppe mit erheblicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat, ist asylrechtlich
relevant.“ (Hohlfeld 2005: 53) Sollten sich nach der Flucht Bedrohungen ergeben, die aufgrund von
politischer Aktivität im Exil entstanden sind – „selbst geschaffene Nachfluchtgründe“ (Hohlfeld 2005: 53)
–, rechtfertigen diese ebenfalls kein Asyl. Auch Wehrdienstverweigerinnen und Deserteurinnen können
sich nicht auf Art. 16a Abs. I berufen, denn jedem Staat steht sowohl das Recht zu, seine Bürgerinnen in
die Armee einzuberufen als auch Deserteurinnen zu verurteilen. Zuletzt darf ebenfalls keine alternative
Zufluchtsstätte im Heimatland gegeben sein (vgl. Hohlfeld 2005: 53).
      Die „Entkernung des Asylrechts“ (Hohlfeld 2005: 50), wie Thomas Hohlfeld die umfassenden

5   Die „Duldung“ ist ebenfalls ein Rechtsbegriff, mit dem die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung
    verbunden ist. Die Abschiebung kann z.B. aus humanitären Gründen oder dem gesundheitlichen Zustand der
    Geduldeten ausgesetzt werden. Thomas Hohlfeld stellt den Begriff der Duldung in die Nähe der Vogelfreiheit, denn
    Geduldete leben in Deutschland teilweise über Jahrzehnte ohne gesicherten Status (vgl. Hohlfeld 2005: 40f.).
6   In Extremfällen erreichen nicht einmal die Tötung des Ehemanns, mehrtägige Festnahmen, Körperverletzungen und
    mehrfache Vergewaltigung durch Wächter, wie im Fall einer Asylbewerberin aus Zaire, die erforderliche Intensität,
    um dem Asylantrag stattzugeben (vgl. Hohlfeld 2005: 55).
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Restriktionen nennt, veranlasste einen Experten des deutschen Asylrechts zur Aussage, die
Anforderungen seien „so hoch, dass sich ernsthaft die Frage stellen lässt, ob Juden unter diesen
Vorgaben in Deutschland vor 1943 oder im Warschauer Ghetto als verfolgt anzusehen gewesen wären“
(Renner 1999: 210). Die Aussicht auf Erfolg eines Antrags auf Asyl muss als extrem gering betrachtet
werden. Im Zuge der Dublin II-Verordnung kommt hinzu, dass es beinahe unmöglich geworden ist,
überhaupt in Deutschland Asyl zu beantragen und frau schon fast gezwungen ist „mit dem Fallschirm
über Deutschland“ (Förderverein The Voice 2007: 10) abzuspringen.
      Was lässt sich aus diesen Restriktionen bezüglich der Identifizierung der Asylbewerberinnen
schließen, welcher Platz ist ihnen in der Polizei zugeteilt? Die Asylbewerberin wird von der Polizei als eine
unerwünschte Person wahrgenommen, die nur durch die Ausreizung der Großzügigkeit der
Bundesrepublik Deutschland – für die sie Dankbarkeit zeigen sollte – für kurze Zeit, vorübergehend
aufgenommen wird und am besten so schnell wie nur irgend möglich wieder verschwindet. So ist der
erste Mosaikstein der Weise des Seins der Asylbewerberinnen in Deutschland geartet. Diese
Wahrnehmung wird bei Betrachtung der Restriktionen, der die Asylbewerberinnen während der
Bearbeitung ihres Asylantrags und Geduldete in Deutschland unterworfen sind, verdeutlicht. Mit diesen
Restriktionen        sollen    offiziell   die       Sicherstellung     der         ständigen    Erreichbarkeit    zur
Verfahrensbeschleunigung, eine gleichmäßige Verteilung der Lasten auf Länder und Kommunen, eine
Vermeidung unerwünschter Konzentration von Asylbewerberinnen und Geduldeten und die Abschreckung
von missbräuchlich gestellten Asylanträgen bezweckt werden (vgl. Selders 2009: 48). Im Zentrum steht
hier die Residenzpflicht, die in § 56 Abs. I Asylverfahrensgesetz geregelt ist: „Die Aufenthaltsgestattung
ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des
Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.“ Diese räumliche Aufenthaltsgestattung bezieht sich
nicht nur auf den Wohnsitz, sondern meint den Aufenthalt an sich (vgl. Selders 2009: 30). Der
Asylbewerberin und der Geduldeten ist es nicht gestattet diesen Bereich ohne Erlaubnis der zuständigen
Ausländerbehörde        zu    verlassen.   Bis      vor   kurzem      war     die    räumliche    Beschränkung     der
Aufenthaltsgestattung die der Grenze der einzelnen Landkreise. Seit 2010 haben mehrere Bundesländer
begonnen Lockerungen der Residenzpflicht vorzunehmen und die Aufenthaltsgestattung auf das
Bundesland      zu     erweitern.    Gleichzeitig     wurden    die     Ausschlussgründe         für   die   erweiterte
Aufenthaltsbeschränkung restriktiver. Ausschlussgründe sind: Verdacht auf Terrorismus, unerlaubte
Verlegung des Wohnsitzes, begangene Straftaten, ein geplanter Abschiebungstermin sowie der Verstoß
gegen die Mitwirkungspflichten. Kay Wendel geht davon aus, dass „mit den Ausschlussgründen von den
Lockerungen […] der Radius der Bewegungsfreiheit nunmehr vom Verhalten der einzelnen abhängig
gemacht“ und die erneute „Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf ein bestimmtes Gebiet systematisch
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als Druck- und Sanktionsmittel eingesetzt“ (Wendel 2013: 40) werden.
      Interessant ist hier die Begründung der Verweigerung einer Verlassenserlaubnis zum Besuch einer
politischen Veranstaltung. Diese wird regelmäßig nicht erteilt, da sie zu selbst geschaffenen
Nachfluchtgründen führen könnte, die einen ungebetenen Effekt auf das Asylverfahren haben (vgl.
Selders 2009: 33); natürlich ungebeten für die BRD. Die Idee, Asylbewerberinnen und Geduldete könnten
für ihre Rechte in Deutschland und nicht nur gegen Unterdrückung im Heimatland demonstrieren,
erscheint abwegig, denn ihre Identifizierung hat nichts zum Gemeinsamen in Deutschland beizutragen.
Sollte eine Asylbewerberin ohne Verlassenserlaubnis, z.B. mit dem Zug, die räumliche Beschränkung
übertreten, wartet am Bahnhof schon die „niedere Polizei“ (Rancière 2002: 40), die sie einer Kontrolle
unterzieht.
      Die Folge der Kontrolle ist eine doppelte. Einerseits wird die Asylbewerberin kriminalisiert, sie wird
für etwas bestraft, wofür keine andere eine Strafe erwarten muss. So wurden von der Einführung der
Residenzpflicht 1982 bis 2006 mehr als 160.000 Verurteilungen aufgrund von Verstößen gegen die
Residenzpflicht gefällt (vgl. Selders 2009: 101), wodurch das Bild der kriminellen Asylbewerberin
entsteht. Andererseits hat die Kontrolle Auswirkungen auf die deutsche Bevölkerung: Dadurch, dass an
öffentlichen Plätzen vor allem Menschen kontrolliert werden, deren Erscheinung nicht der stereotypischen
Deutschen entspricht, entsteht in der deutschen Gesellschaft ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den
Asylbewerberinnen, die zu Recht nicht die gleichen Rechte hätten (vgl. Selders 2009: 54). Die
Restriktionen sind also nicht nur der Ausdruck einer bestimmten polizeilichen Identifizierung, sondern sie
selbst bekräftigen diese noch.
      An welchen Orten trifft man die Asylbewerberinnen an? Verbunden mit der Residenzpflicht ist die
zwingende Unterbringung der Asylbewerberinnen und Geduldeten in Sammelunterkünften (vgl. Selders
2009: 11). Ausnahmen bestehen, doch in der Regel ist es ihnen genauso wenig erlaubt eine eigene
Wohnung zu beziehen, wie sie das Recht auf Bewegungsfreiheit haben. Die Sammelunterkünfte liegen oft
an abgelegenen Orten, von denen sie nur erschwert Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel erhalten
und so kaum in Kontakt mit der Gesellschaft kommen. Das Ziel dieser Maßnahme ist es, die
Asylbewerberinnen von der Bevölkerung zu trennen und unsichtbar zu machen (vgl. Selders 2009: 120).
Die Orte, an denen die Asylbewerberinnen und Geduldeten erscheinen, sind so in Deutschland kaum
wahrzunehmen.
      Was sind ihre Tätigkeiten? Innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Ankunft sind Asylbewerberinnen
und Geduldete nicht berechtigt, eine Arbeit aufzunehmen. Danach erhalten sie allerdings nur eine
Arbeitserlaubnis, wenn sie eine Arbeitsstelle in Aussicht haben, die keine andere Deutsche, EU-Bürgerin
oder eine Person mit einem anderen Aufenthaltstitel besetzen möchte, woraus sich regelmäßig ein
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faktisches Arbeitsverbot ergibt (vgl. Selders 2009: 11). Die Asylbewerberin arbeitet also nicht. Was macht
sie sonst? Nichts! Frau könnte beinah meinen, in der Wahrnehmung der Polizei bestehe ihre Tätigkeit in
nichts anderem als auf die Ablehnung ihres Asylantrags zu warten. Bis das Bundesverfassungsgericht
2012 § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG), der die Leistungen an Asylbewerberinnen und
Geduldete bestimmt hatte, kippte (vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10), mussten diese ihren Lebensunterhalt bis zu
vier Jahre nach Ankunft faktisch von etwa der Hälfte des Sozialhilfesatzes (davon ein Großteil
Sachleistungen und Gutscheine) bestreiten (vgl. Selders 2009: 11). Auch hier lässt sich der Rechtfertigung
die polizeiliche Wahrnehmungsweise entnehmen. In der Antwort der Bundesregierung auf eine
parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke zur sozialen Existenzsicherung nach dem AsylblG heißt
es zum gesenkten Unterhalt: „Die gegenüber den Leistungen nach dem SGB XII geringeren Leistungen im
AsylblG finden ihre Begründung […] im fehlenden sozialen Integrationsbedarf“ (Deutscher Bundestag
2008: 23) von Asylbewerberinnen und Geduldeten, wodurch die „Zumutbarkeit […] eines Ausschlusses
von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (Deutscher Bundestag 2008: 17) gegeben ist. Sie haben
keinen Anteil am Gemeinsamen, ihnen kann sogar zugemutet werden für volle vier Jahre von der
Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

      An den Gesetzen und Verordnungen wird auch innerhalb der Polizei, vor allem aus dem linken
Lager, Kritik geübt. Im Folgenden soll anhand der Debatte über den sogenannten Asylmissbrauch durch
Romnija aus Osteuropa beispielhaft 7 gezeigt werden, wie auch diese Kritik nicht in der Lage ist, die
Asylbewerberinnen und Geduldeten als politisches Subjekt, das etwas zum Gemeinsamen beiträgt,
wahrzunehmen.
      Seitdem die Möglichkeit der visafreien Einreise für Staatsangehörige einiger osteuropäischer
Staaten bestand, kam es zu einem erhöhten Aufkommen von Asylanträgen aus diesen Staaten. Es
dauerte nicht lange, bis von einem Missbrauch des deutschen Asylrechts gesprochen und Forderungen
gestellt wurden, die Leistungen für Asylbewerberinnen zu kürzen. So sprach sich der deutsche
Innenminister neben den Leistungskürzungen für ein schnelleres Asylverfahren aus, so dass „die
Unberechtigten schnell wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden“ (zitiert in: Der Tagesspiegel
Online, 13. 10. 2012) können. Ebenfalls forderte er, an die Asylbewerberinnen „strikt Sachleistungen statt
Bargeld [zu] verteilen“ (zitiert in: Der Tagesspiegel Online, 13. 10. 2012), um den Missbrauch des
Asylrechts zu verhindern. Auch der damalige Vorsitzende der Innenministerkonferenz war sich sicher: „Sie
wollen unberechtigt das Asylrecht der Bundesrepublik in Anspruch nehmen und damit das in Deutschland

7   Es ist uns bewusst, dass dies keine umfassende Analyse der Debatte um den mutmaßlichen Asylmissbrauch
    darstellt.
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geltende Recht und politisch tatsächlich Verfolgte aus der ganzen Welt diskreditieren.“ (zitiert in: Die
Welt Online, 15. 10. 2012c) Diese Aussagen wurden von der Opposition zurückgewiesen und als
Demagogie und Verbreitung rassistischer Vorurteile bezeichnet (vgl. Die Welt Online, 25. 10. 2012). Das
Vermögen, sie als politisches Subjekt zu erkennen, kann aber auch dieser Kritik nicht entnommen werden:
Für den parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, stellen die Romnija, die in der BRD um Asyl
bitten, „die Ärmsten der Ärmsten“ dar, „die kaum wissen, wie sie über den Winter kommen sollen“
(zitiert in: Die Welt Online, 25. 10. 2012). In die gleiche Kerbe schlägt die Kritik von
Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International sieht in den Asylbewerberinnen nur die
„Schutzbedürftigen“, die „unmenschlich behandelt werden“ (zitiert in: Die Welt Online, 25. 10. 2012).
Aus der einen Perspektive wird die Asylbewerberin also mit dem Missbrauch des Asylrechts identifiziert,
aus der anderen ist sie das Opfer von Diskriminierung im Heimatland, die den Schutz der Bundesrepublik
Deutschland benötigt. Beide Perspektiven sind nicht fähig, sie als ein politisches Subjekt zu begreifen.
      Die Asylbewerberinnen und Geduldeten werden also als unerwünschte Personen identifiziert. Ihre
Orte sind kaum wahrzunehmen, beinahe unsichtbar, ihre Tätigkeiten sind inexistent und nicht mal die
Notwendigkeit ihrer – in unserer Gesellschaft doch so zwanghaft vorgebeteten – gesellschaftlichen
Inklusion ist gegeben. Treten sie doch in Erscheinung, dann als Kriminelle, die, anstatt sich für ihre
großzügige Aufnahme dankbar zu zeigen, das Asylrecht missbrauchen. Die Residenzpflicht in Verbindung
mit Kontrollen der niederen Polizei lässt die Identität der Asylbewerberinnen und Geduldeten als der
Identität der Deutschen unterlegen erscheinen. In der humaneren Version der Polizei werden sie als
diskriminierte Opfer, die den Schutz des Asyls benötigen, wahrgenommen. Der ihnen zugewiesene Platz
liegt jenseits vom Gemeinsamen. Sie haben absolut keinen Anteil an den gemeinsamen Angelegenheiten,
sie sollen nichts beitragen, ihre vorübergehende Anwesenheit ist allein der Ausdruck eines „rein
individuelle[n] Leben[s], das nichts überträgt, außer das Leben selbst, reduziert auf seine
Reproduktionsfähigkeit.“ (Rancière 2002: 35)

                             III. Die politische Subjektivierung der Flüchtlinge

      Wenn den Flüchtlingen in der polizeilichen Ordnung die Identität der passiven Asylbewerberin
zugeschrieben wird, welche Konsequenzen hat dann der erfolgte Protest der Flüchtlinge gegen die
polizeiliche Logik, d.h. der Protest gegen jene ihnen von der Polizei zugeteilten Orte, Tätigkeiten und
Seinsweisen, also gegen ihren Platz? Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, ob und inwieweit
der Protest gegen die Residenzpflicht als eine Subjektivierung der Flüchtlinge im Sinne Rancières
verstanden werden kann. Um die Frage angemessen beantworten zu können, erweist es sich als
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unabdingbar, von vornherein zwischen Selbstwahrnehmung der Flüchtlinge und polizeilicher
Fremdzuschreibung zu differenzieren. Es werden daher ausschließlich Quellen herangezogen, welche von
den betroffenen Flüchtlingen selbst verfasst wurden, beziehungsweise Interviews, in denen die
Flüchtlinge selbst zu Wort kommen.
       Zunächst ein kurzer Überblick der Chronologie des Protestes: Der Protest nahm seinen Anfang im
Jahr 2000 auf dem Flüchtlingskongress in Jena. Auf diesem von der Karawane für die Rechte der
Flüchtlinge und MigrantInnen organisierten Kongress wurde ein Ad-hoc-Komitee des zivilen Ungehorsams
gegen die restriktiven Gesetze des Asylverfahrens gebildet. Das Ergebnis dieses Kongresses war die
Jenaer Resolution: der Beschluss der teilnehmenden Flüchtlinge in Zukunft bewusst und konsequent
gegen das Gesetz der Residenzpflicht zu verstoßen. Jedoch wurde sich nicht nur darauf geeinigt, von nun
an weder um Erlaubnis zum Verlassen des ihnen zugewiesenen Landkreises zu bitten noch irgendwelchen
Strafen und Auflagen nachzukommen; darüber hinaus sah dieser Beschluss unter anderem verschiedene
Aktionen des zivilen Ungehorsams vor, ,,um die Notlage der Flüchtlinge in die Öffentlichkeit zu bringen“
(Förderverein The Voice 2007: 6). Die geplanten Aktionen des zivilen Ungehorsams sollten unverzüglich
mit dem Ende des Kongresses einsetzen und in einem entschiedenen Marsch der Flüchtlinge auf Berlin
gipfeln, wobei der genaue Zeitpunkt noch offen gelassen wurde. Die teilnehmenden Flüchtlinge setzten
daraufhin die genannten Willenserklärungen in Taten um, jedoch blieben diese weitgehend unbemerkt,
wurden von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Erst Anfang des Jahres 2012 erreichte der
Protest eine neue Intensität und Dimension. Motiviert durch den Suizid des iranischen Flüchtlings
Mohammed Rahsepar in einem Würzburger Flüchtlingslager, kam es zu einem von Flüchtlingen selbst
organisierten monatelangen Protestcamp in der Würzburger Innenstadt, gefolgt von Protesten in neun
anderen Städten im gesamten Bundesgebiet (vgl. Refugee Tent Action) 8. Immer wieder traten Flüchtlinge
in den Hungerstreik oder nähten sich die Lippen zu, um auf die ,,unmenschlichen Lebensbedingungen“,
denen sie ausgesetzt sind, aufmerksam zu machen. Am 8. September 2012 wurde dann der schon auf
dem Jenaer Flüchtlingskongress gefasste Beschluss realisiert: ein 600 Kilometer langer Fußmarsch von
Würzburg nach Berlin.
       Neben der Boykottierung der Sammelunterkünfte war der bewusste Verstoß gegen geltendes
Recht, indem mehrere Ländergrenzen unbefugt übertreten wurden, eine weitere Form des zivilen
Ungehorsams. Unter der programmatischen Parole ,,Refugee Protestmarch - We will rise!“ zogen die
Flüchtlinge zu Fuß nach Berlin, um ihre zentralen Forderungen nach einer Abschaffung der
Flüchtlingslager und der Residenzpflicht sowie einem Abschiebestopp zu den Verantwortlichen in Berlin

8   Die Chronologie des Protests gegen die Residenzpflicht ist der Internetseite www.refugeetentaction.net, die die
    zentrale Plattform zur Organisation des Protestes ist, entnommen.
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zu tragen. Auf dem Weg dorthin schlossen sich immer mehr Flüchtlinge sowie zahlreiche andere
Unterstützerinnen den Protestierenden an. Nach knapp einem Monat in Berlin angekommen, mündete
der Marsch in zwei Protestcamps an zentralen Plätzen der Stadt: das Protest-Camp am Oranienplatz in
Kreuzberg sowie das am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, von wo aus der Protest gemeinsam
fortgeführt werden sollte. Es gab zahlreiche Demonstrationen, Kundgebungen und Vorträge, um
öffentlichkeitswirksam auf den Protest aufmerksam zu machen. Um gegen die Abschiebepraxis zu
protestieren, besetzten einige Flüchtlingsaktivistinnen sogar kurzweilig die nigerianische Botschaft. Am
Pariser Platz traten die Protestierenden immer wieder in Hungerstreiks, welche teilweise unterbrochen,
immer wieder fortgesetzt wurden, da trotz der erfolgten Gespräche mit den Repräsentantinnen der Polizei
nicht den Erwartungen der Protestierenden gemäß auf ihre Forderungen eingegangen wurde. Der Protest
am Brandenburger Tor wurde vorübergehend ausgesetzt. In Kreuzberg genehmigte der Bezirk die
dauerhafte Nutzung des Oranienplatzes als Protestcamp. Zudem dient eine besetzte Kreuzberger Schule
den Flüchtlingen als wärmende Unterkunft (vgl. Refugee Tent Action 2012).
           Der Protest der Flüchtlinge gegen die Residenzpflicht im Kontext des Protestes gegen die
Restriktionen, welche ihnen durch die zahlreichen Gesetze und Verordnungen auferlegt sind, dauert
weiter an. Ein abschließendes Ergebnis konnte bislang nicht erzielt werden. Unabhängig davon, ob bisher
konkrete Ergebnisse vorliegen, stellt sich die Frage, inwieweit anhand dieses Protestes eine
Subjektivierung der Flüchtlinge zu erkennen ist.

      Das Besondere und Neue an diesem Protest ist, dass es sich um eine Bewegung handelt, in der die
Betroffenen sich selbst organisieren. Der gesamte Protest – von der Verabschiedung der Jenaer
Resolution über die Realisierung des Protestmarsches bis zur Koordination der gegenwärtigen Aktionen –
ist charakterisiert durch die Organisation der von der Residenzpflicht betroffenen Flüchtlinge selbst. Dazu
heißt es in einer veröffentlichten Stellungnahme der Flüchtlinge:
              ,,Diese Bewegung und dieser politische Kampf sind absolut eigenständig und unabhängig von Ideologien, von
              Organisationen und Parteien. Dies ist eine pluralistische Bewegung, organisiert von Geflüchteten selbst mit
              unterschiedlichen politischen Anschauungen und auch Differenzen. [...] Dies ist eine Bewegung von
              Geflüchteten für Geflüchtete.“ (Refugee Tent Action 2012a)

Zwar erhalten sie Hilfe und Unterstützung durch ehemalige Flüchtlinge, Aktivistinnen und
Flüchtlingsorganisationen, jedoch werden die wichtigsten strategischen und taktischen Entscheidungen
von den Flüchtlingen selbst getroffen und umgesetzt, steht keine Organisation als Initiatorin hinter dem
Protest.
      Mit dem Protest hat eine Ent-Identifizierung stattgefunden: Die Asylsuchende hat sich einen neuen
Namen gegeben – ,,Wir Flüchtlinge“ (Refugee Tent Action 2012b) – einen Namen, dessen Bedeutung und
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Intention dem polizeilich zugeschriebenen Platz der Asylbewerberin widerspricht. Auch in der
polizeilichen Ordnung gibt es die Identität der Flüchtlinge, allerdings ist es nur die Identität derjenigen,
welche von der Polizei als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Der neue Name der Flüchtlinge ist
weitreichender. Der Name bezeichnet eine Klasse, die keine gesellschaftliche Klasse mehr ist. Es ist der
Name für all jene, deren Asylantrag sich noch in Bearbeitung befindet, und für diejenigen, welche einen
vorübergehenden Status als Geduldete besitzen. Aber er ist es auch für jene, die noch keinen Asylantrag
gestellt haben oder deren Antrag abgelehnt wurde und die nun in der Illegalität leben – kurz: Es ist der
Name für all jene, die vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland leben wollen, aber (noch) keine
staatlich anerkannte Berechtigung dazu besitzen.
      Hier besteht ein weiterer Unterschied, welcher durch die polizeiliche Identität der Flüchtlinge nicht
erfasst werden kann: Es gibt nicht den Flüchtling, daher können und wollen die Flüchtlinge auch keine
Forderungen nach allgemeiner Naturalisierung erheben; einige von ihnen erheben nicht einmal mehr den
Anspruch, eingebürgert zu werden. Wenngleich sie sich aus verschiedenen Gründen gezwungen sehen,
vorübergehend ihre Heimat zu verlassen, impliziert das nicht, dass sie nicht ihre nationale Identität
beibehalten wollen. Die Lösung ihrer Probleme sehen sie daher nicht in der deutschen Staatsbürgerschaft,
sondern in der Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus. Sie verkünden, dass
              ,,die Trennung von Menschen in ,Ausländer_innen‘ und ,Inländer_innen‘, in ,Bürger_innen‘ und ,Nicht-
              Bürger_innen ‘ nach wie vor das Herzstück des politischen Handelns der Politiker_innen bildet. Deshalb sind
              ihre inhaltlosen Parolen von Gerechtigkeit und Freiheit in internationalen Versammlungen für uns unerträglich
              anzuhören.“ (Refugee Tent Action 2012c)

      Es wird deutlich, dass die Forderungen der Flüchtlinge nicht auf bloße Verteilungskonflikte
zurückzuführen sind, welche innerhalb der etablierten polizeilichen Ordnung beigelegt werden könnten.
Die Forderungen implizieren ein neues Verständnis der Flüchtlinge selbst, welches die polizeiliche
Ordnung unterbricht. Die protestierenden Flüchtlinge schreiben einen Namen als unterschieden von
jedem identifizierten Teil der Gemeinschaft ein, welcher zugleich ein neues Selbstverständnis impliziert.
Jedoch handelt es sich nicht lediglich um eine bloß gewünschte, willkürlich gewählte Identität. Das neue
Selbstverständnis kommt in ihren Äußerungen und Handlungen zum Ausdruck, nimmt durch diese
Handlungen Gestalt an. Durch den Protestmarsch und die weiteren Aktionen des zivilen Ungehorsams
konstituieren sich die Flüchtlinge als aktives Subjekt, als Subjekt, welches die polizeiliche Ordnung mit
einer alternativen Aufteilung des Sinnlichen konfrontiert. Mit dem Verstoß gegen die Residenzpflicht
erheben die Flüchtlinge sich von ihrem Platz, sie agieren an Orten, an welchen sie sich laut polizeilicher
Ordnung nicht aufzuhalten haben; sie üben neue Tätigkeiten aus, indem sie sich Repräsentantinnen
geben und Arbeitsgruppen zur Organisation und Koordinierung des Protestes bilden; sie arbeiten, obwohl

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Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka
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