Archivmagazin - Stadt Pforzheim
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Archivmagazin Neues aus dem Stadtarchiv Pforzheim Nr. 2020/2 Thema: Nachlässe Aus dem Inhalt: Laura Perls Kriegsende 1945 Neuerscheinung des Stadtarchivs Aufruf: Corona-Krise archivieren! Stadtarchiv Pforzheim Mitteilungen für die Mitglieder Institut für Stadtgeschichte ♦ Nr. 40/Juli 2020
Förderverein Grußwort des Vorsitzenden Kurz bevor unsere Gesellschaft auch in Pforzheim in den Lockdown ging, fand am 8. März die Ver- Liebe Mitglieder des Fördervereins, leihung des Georg-Simler-Preises im Vortrags- raum des Stadtarchivs statt. Damit wollten wir in diesen besonderen Zeiten ist das Archivmagazin das Stadtarchiv als Ort, an dem auch die meisten ein kleines Zeichen von Normalität und ein Blick eingereichten Arbeiten recherchiert wurden, in zurück in die Zeit vor der Pandemie. Ich hoffe, Bezug zu einem Preis setzen, der sich an Schulen dass wir uns im zweiten Halbjahr wieder bei Ver- richtet und herausragende Leistungen in der schu- anstaltungen des Stadtarchivs und des Förderver- lischen Aufarbeitung und Vermittlung der Stadt- eins treffen können. Mit einer guten Portion von geschichte würdigt. Vernunft und Rücksichtnahme, mit der es bisher gelang, die Pandemie vergleichsweise glimpflich Mit dem Werk „Spurensuche“, das die Schülerin zu bewältigen, meine ich, werden wir dies schaf- des Hilda-Gymnasiums Annsophie Schmidt mit fen. Unterstützung ihres Geschichtslehrers Martin Rühl eingereicht hat, wurde der Georg-Simler- Die bisher ausgefallenen Veranstaltungen, insbe- Preis durch die drei preisstiftenden Vereine, der sondere den Ausflug unseres Vereins, werden wir Löblichen Singergesellschaft, der Reuchlin-Ge- im nächsten Jahr nachholen. Die Veranstaltungen, sellschaft sowie unserem Verein, an eine würdige die das Stadtarchiv bisher für das 2. Halbjahr ge- Preisträgerin verliehen. Oberbürgermeister Peter plant hat, hoffen wir mit einem geeigneten Kon- Boch sprach ein Grußwort. zept unter Beachtung der dann geltenden Hygie- ne- und Abstandsregeln durchführen zu können. Die „Spurensuche“ von Annsophie Schmidt hat auf Darüber werden wir Sie rechtzeitig informieren. inhaltlich wie auch formal hervorragende Weise die Biographien von jüdischen Schülerinnen und Impressionen vom Tag der Archive 2020 II Archivmagazin 2020/2
Förderverein Lehrern in der Zeit der NS-Diktatur erforscht. In 23.11.2020, 19 Uhr, zur Verleihung des Eberhard- den 44 Biographien des 230 Seiten umfassenden Gothein-Preises an Herrn Prof. Dr. Becht einladen. Buchs wird eine emotionale Begegnung mit den Mit seinem Werk „‚Führer befiehl…‘. Das national- Schicksalen hinter den Namen möglich, die die sozialistische Pforzheim“ legt Prof. Dr. Becht eine sachliche Vermittlung von Geschichte in der Schu- umfassende Darstellung und Analyse der Ge- le ergänzt. Die Bedeutung ihrer Arbeit wird auch schichte unserer Stadt in der Zeit der NS-Diktatur dadurch deutlich, dass Schülerinnen und Schüler vor, die eine wichtige Lücke in der Aufarbeitung ihren Impuls aufgreifen und sich in Zukunft wei- der Stadtgeschichte zu schließen hilft. Über Ort ter um die Erforschung der Schulgeschichte be- und Programm informieren wir Sie rechtzeitig. Im mühen. Somit leisten die Preisträgerin und ihr Anschluss daran findet die Jahreshauptversamm- Werk einen Beitrag dazu, junge Menschen über lung des Fördervereins für das Stadtarchiv statt. Geschichte aufzuklären und damit für unsere De- mokratie und ihre Werte zu gewinnen. Damit kann Ihr Kai Adam aufkeimendem Extremismus und Antisemitismus Vorsitzender des Fördervereins der Nährboden entzogen werden. für das Stadtarchiv Pforzheim e. V. Die Bedeutung des Stadtarchivs wird gerade durch Arbeiten wie die der diesjährigen Preisträgerin deutlich, da unser Archiv mit seiner intensiven Be- ratung und Unterstützung bei solchen Projekten in Pforzheim einen Platz einnimmt, der sonst von Universitäten gefüllt wird. An die Preisverleihung schloss sich der Tag der Archive an. In diesem Rahmen öffnete das Stadt- archiv seine Türen für zahlreiche Präsentationen, Vorträge und Führungen. Unter dem Motto „Kom- munikation. Von der Depesche bis zum Tweet“ fand eine Präsentation zur Briefkultur mit Lesung statt. Rührende Liebesbriefe und erschüttern- de Feldpost aus den Beständen des Stadtarchivs wurden den Besucherinnen und Besuchern vor- gestellt. Durch die Lesesaalausstellung „Wilhelm Reble. Kriegstage in Wort und Bild“ gab es im Anschluss eine Führung. Außerdem konnten his- torische Pforzheimer Zeitungen von einem inter- essierten Publikum jeden Alters bestaunt werden. Abschluss des Programms bildete eine Archiv- und Magazinführung zum Thema Kommunikation. Abschließend möchte ich Sie auf den Termin unse- rer ursprünglich für März geplanten Jahreshaupt- versammlung hinweisen und Sie am Montag, Archivmagazin 2020/2 III
Förderverein „Montagabend im Archiv“ • Programm 2020 In Kooperation mit der Löblichen Singergesellschaft von 1501 Pforz- heim Aufgrund der Corona-Pandemie konnten bisher zwei Vorträge der Veranstaltungsreihe Montag- abend im Archiv nicht stattfinden; sie werden 2021 nachgeholt. Es ist geplant, die ab Septem- ber geplanten Vorträge unter Einhaltung der Hy- gienevorgaben anzubieten, sofern die Entwick- lung dies zulässt. Über die Durchführung und über den Veranstaltungsort wird im Veranstal- tungskalender der Stadt sowie auf der Website des Stadtarchivs informiert. Mitglieder des För- dervereins werden außerdem per Rundmail in- formiert. Vielen Dank für Ihr Verständnis! Entfallen musste leider auch die für Anfang Mai geplante Archivalienpräsentation zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Um die Warte- zeit bis zum Wiedereinstieg in das Veranstaltungs- programm zu überbrücken und zur Kompensation der entfallenen Veranstaltung zum Kriegsende Förderverein für das Stadtarchiv Pforzheim e. V. 1945, hat sich das Archivteam für die vorliegende Ausgabe des Archivmagazins ein besonders dickes Kronprinzenstr. 28 Heft erstellt und ein Schwerpunktthema gewählt: 75177 Pforzheim Die vielfältige Welt der Nachlässe, die im Stadt- Foerderverein.Stadtarchiv@pforzheim.de archiv verwahrt werden. Das aktuelle Heft gibt 07231/39-1836 Einblick in diesen einmaligen Teil des schriftlichen Kulturerbes der Stadt und informiert über die Ar- Bankverbindungen: chivierung der besonderen Beständegruppe. Da- bei geht es auch um das Kriegsende vor 75 Jahren Sparkasse Pforzheim Calw im Spiegel von Nachlassunterlagen. Das Stadtar- IBAN DE68666500850007619197 chiv wünscht eine anregende Lektüre! BIC PZHSDE66XXX Wem der stadtgeschichtliche Lesestoff dennoch Volksbank Pforzheim auszugehen droht, dem sei die Neuerscheinung IBAN DE65666900000003178470 „Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, BIC VBPFDE66XXX Band 6“ empfohlen, die am Schluss des vorliegen- den Heftes vorgestellt wird. IV Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe Lebensspuren auf Papier. Nachlässe im Stadtar- de man auch wieder aufatmen. […] ich denke so chiv Pforzheim oft an Dich & wie es Dir geht; […] wer hätte das Klara Deecke gedacht, daß es uns so ergehen würde. […] Dein Vater fehlt mir zur Aussprache, er hatte immer so Prolog großen Lebensmut, der mir zeitweise fehlt.“2 „Mein lieber Arthur! Ich würde Dir mein Lieber Diese eindringlichen persönlichen Schilderungen gerne von Tag zu Tag schreiben, aber es ist mit sind überliefert im Nachlass N122 Emsheimer großen Schwierigkeiten verbunden, teils aus Man- des Stadtarchivs. Arthur Emsheimer, Empfänger gel an Briefbogen, teils an Couverts. […] Unsere der Briefe, wurde 1900 in Pforzheim geboren. Er Adresse hast Du ja und freuen wir uns beide auf besuchte das Reuchlin-Gymnasium und studierte Deine Nachrichten. Du mein Lieber bist ja unser Jura. Vor der Verfolgung durch die Nationalsozia- einziger Halt zum Aushalten. […] Wir müssen im Lager um ungefähr 6 - ½ 7 Uhr früh aufstehen und da denke ich immer an Dich, wenn ich ca. 40 km von uns südlich und südwestlich die Pyre- näenspitzen bis 3200 m Höhe in der wunderbaren Spitzenbeleuchtung mit Schnee beobachten kann, wie ich es nie gesehen. Das sind Momente, die einen in dieser Stimmung hier noch et- was hochhalten. Ich bewundere unsere liebe Mama, die ich schon 2 mal über den Drahtzaun auf 4-5 m sprechen durfte, wie sie sich für uns beide auf- recht hält, und bedaure sie so sehr, das noch erleben zu müssen.“1 Diese Zeilen Abb. 1: Stolpersteine für Alice und Oskar Emsheimer, verlegt schrieb Oskar Emsheimer, jüdischer Weingroß- vor der Theaterstraße 2 in Pforzheim (S1-16-26-Z-2010-1-DO; händler aus Pforzheim, der am 22. Oktober 1940 Foto: Hans Mann) mit seiner Frau Alice aus Pforzheim in das Lager listen und seiner erzwungenen Emigration in die Gurs in Südfrankreich deportiert wurde, wenige Schweiz wirkte er als Jurist im Staatsdienst. In Tage nach der Internierung an seinen Sohn Arthur der Schweiz war er lange Jahre bei der Schwei- in der Schweiz. Auch Alice Emsheimer schrieb ih- zerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe tätig, rem Sohn. Sie berichtete ihm zwei Jahre später der Dachorganisation der Schweizer Flüchtlings- aus dem Lager Récébédou, wohin Emsheimers organisationen, zuletzt auch als deren Leiter. Für im März 1941 verlegt worden waren: „Bei uns ist seine Verdienste in der Flüchtlingshilfe und sein es wieder bitterkalt, dazu haben wir wenig Feuer, Engagement für die Versöhnung zwischen Juden ich finde, daß frieren noch ärger ist wie hungern. und Deutschen wurde ihm 1980 in Pforzheim das Wenn nur der Winter ein Ende hätte, dann wür- Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Nach sei- 1 StadtA PF, N122-18, Brief Oskar Emsheimer an Arthur Ems- 2 StadtA PF, N122-18, Brief Alice Emsheimer an Arthur Ems- heimer vom 3.11.1940. heimer vom 11.11.1942. Archivmagazin 2020/2 5
Thema: Nachlässe nem Tod 1991 wurden die Briefe seiner Eltern so- chiv. Im vorliegenden Artikel sollen grundsätzliche wie weitere Korrespondenz aus der Zeit des Nati- Überlegungen zum Stellenwert von Nachlässen onalsozialismus an die Stadt Pforzheim übergeben innerhalb der Überlieferung angestellt und ein und werden nun im Stadtarchiv für die Nachwelt Überblick über die Archivierung und Nutzung die- archiviert. Die Unterlagen bewahren Erinnerungen ser Beständegruppe gegeben werden. an das Leid, das den jüdischen Pforzheimern an- getan wurde, und sind wichtige Quellen für die Er- Die rund 200 hier archivierten Vor- und Nachlässe forschung der Stadtgeschichte im Nationalsozialis- von Einzelpersonen und Familien umfassen Unter- mus. Denn um einen umfassenden Einblick in die lagen von Politikerinnen, Architekten, Schriftstel- Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung der jü- lerinnen, Fabrikanten, Fotografinnen, Musikern, dischen Pforzheimerinnen und Pforzheimer im Na- Wissenschaftlerinnen, Heimatforschern und vie- tionalsozialismus zu gewinnen, ist es notwendig, len anderen bedeutenden Persönlichkeiten aus auch private Unterlagen wie Briefe heranzuziehen. dem öffentlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Die monströsen Verbrechen des Holocaust vermag und kirchlichen Leben der Stadt Pforzheim. In- freilich auch der Briefwechsel der Emsheimers nerhalb der Tektonik des Stadtarchivs, also der nicht in Gänze in Worten zu schildern, sondern nur Ordnung der Bestände, in denen sich die einzel- durch sein Verstummen anzudeuten: Zunächst en- nen Archivalien befinden, bilden die Nachlässe den die Briefe des Vaters, er starb im September die eigene Beständegruppe N, die zusammen mit 1941 im Lager Récébédou. 1944 reißt der Brief- den Unternehmens- und Vereinsarchiven die Be- wechsel mit der Mutter ab: Sie wurde am 30. Mai ständehauptgruppe des Archivguts nichtamtlicher 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Provenienz bilden.3 Schon dieser kleine Einblick in das Schicksal der Der Ausdruck „nichtamtlich“ weist mit der Definiti- jüdischen Pforzheimer Familie Emsheimer ist on als „alles, was nicht amtlich ist“ dabei schon auf geeignet, die Bedeutung von Nachlässen in der die nachrangige archivische Einordnung dieser Un- archivischen Überlieferungsbildung zu unter- terlagen hin. Archivgut im Sinne der Archivgesetze streichen. Bereits aus wenigen Briefzitaten wird wie auch der Archivordnung der Stadt Pforzheim deutlich, welcher besondere Stellenwert individu- meint nämlich zunächst immer amtliches Archiv- ellen Biografien und den zugehörigen subjektiven gut. Die Übernahme von Akten und anderen Un- Selbstzeugnissen innewohnt: Sie wirken als unmit- terlagen aus den Ämtern und sonstigen Stellen der telbare, ungefilterte Quellen und sind damit nicht Stadt Pforzheim bildet den Kern der im Stadtarchiv nur für die archivpädagogische Arbeit und die Er- verwahrten Überlieferung. Die damit verbundene innerungskultur besonders wertvoll. Da wir bald rechtssichernde Funktion der Archive war in der in einer Welt ohne Holocaustüberlebende leben Vergangenheit Grund für die Entstehung der Ins- werden, gilt dies umso mehr. titution Archiv und wird noch heute in den gesetz- lichen Pflichtaufgaben der Archive vorangestellt Nachlässe als Archivgut und ausführlich geregelt. Demgegenüber wird nichtamtliches Archivgut – ob nun als geschlos- Nachlässe sind eine besonders vielseitige Quelle, sener Nachlass oder in Form einzelner Samm- die für ganz unterschiedliche Fragestellungen und Nutzungszwecke von Belang ist. Die vorliegende 3 Vgl. die Beständeübersicht des Stadtarchivs, online unter: Ausgabe des Archivmagazins befasst sich schwer- https://www.pforzheim.de/stadt/stadtgeschichte/stadtar- punktmäßig mit dem Thema Nachlässe im Stadtar- chiv/bestaendeuebersicht.html. 6 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe lungsstücke – traditionell als reine Ergänzung des „eigentlichen“ Archivguts betrachtet.4 Ehe darauf eingegangen werden soll, inwiefern dies heute ins- besondere in Kommunalarchiven anders gesehen wird, ist jedoch zunächst zu klären, was unter ei- nem archivischen Nachlass verstanden wird. Was ist ein archivischer Nachlass? Googelt man den Begriff Nachlass ohne Bezug zum Thema Archiv, stößt man auf Definitionen wie folgende: „Der Nachlass ist die Summe des akti- ven sowie passiven Vermögens eines Verstorbe- nen. Es handelt sich also um den gesamten Besitz, der nach dem Tod des Erblassers unter den Erben verteilt wird. Zum Nachlass gehören: Vermögen wie Kapitalvermögen und Barvermögen. Immobi- lien und andere Werte, die nicht in Geld angelegt oder festgelegt sind. Alle Verpflichtungen des Ver- storbenen. Privater Besitz. Private Sammlungen, Kunst, Schriftstücke.“5 Auch wenn sich Nachlässe im Stadtarchiv eben- falls als Erbe, nämlich als Teil des kulturellen Erbes der Stadt Pforzheim, bezeichnen lassen, handelt es sich bei archivischen Nachlässen natürlich nicht um Bankvermögen und Immobilien oder das Ta- felsilber. Ein archivischer Nachlass ist enger defi- niert: „Ein Nachlass im archivischen Sinn ist die Gesamtheit der von einer Person hinterlassenen (schriftlichen) Unterlagen aus seiner beruflichen und privaten Lebensführung. Man spricht auch 4 Vgl. Schaper, Uwe: Bedeutung der nichtamtlichen Überlie- ferung für Kommunalarchive, in: Marcus Stumpf/Katharina Tiemann (Hgg.), Nichtamtliches Archivgut in Kommunalar- chiven. Teil 1: Strategien, Überlieferungsbildung, Erschlie- ßung, Münster 2011, S. 9-21, hier S. 13. 5 Quelle:https://www.steuerklassen.com/erbschafts- Abb. 2: Briefe, im besten Fall ganze Korrespondenzen, sind zentraler Bestandteil vieler Nachlässe. So auch in Best. N122, steuer/nachlass/#:~:text=Der%20Nachlass%20 dem Teilnachlass der jüdischen Familie Emsheimer, in dem ist%20die%20Summe,Verm%C3%B6gen%20wie%20 die oben zitierten Briefe aus dem Lager Gurs enthalten sind Kapitalverm%C3%B6gen%20und%20Barverm%C3%B6gen, (StadtA PF, N122-18) zuletzt abgerufen am 02.07.2020. Archivmagazin 2020/2 7
Thema: Nachlässe von einer ‚Privatregistratur‘, worunter alles fällt, le historische Dokumente fehlen, kommt nicht- was bei einer natürlichen Person an Schriftgut amtlichem Schriftgut ein besonderer Stellenwert organisch erwachsen ist.“6 Der ideale archivische zu, der weit über die oben genannte Ergänzung Nachlass besteht aus der persönlichen Registratur des „eigentlichen“ Archivguts hinausgeht. Der einer Person zu ihren Lebzeiten (Lebenszeugnisse, nordrhein-westfälische Archivar Norbert Reimann Korrespondenz, persönliche Papiere, Tagebücher, brachte es auf den Punkt: „Obgleich die Kommu- Manuskripte etc.). Museale Objekte oder Biblio- nalverwaltungen nach wie vor […] das Leben ihrer theksgut sollten bei archivischen Nachlässen nicht Bürger in vielen Bereichen begleiten, wird heute im Vordergrund stehen. Solche idealen Nachlässe niemand mehr ernsthaft behaupten wollen, an werden in der Archivkunde als „echte“ Nachlässe Hand der Registraturen von Haupt- und Personal- bezeichnet. Denn sie bilden einen geschlossenen amt, Einwohnermeldeamt, Ausländeramt, Feuer- Fond, der tatsächlich beim Nachlasser als solcher wehr, städtischen Krankenanstalten oder anderer entstanden ist.7 kommunaler Dienststellen könne das Leben einer Stadt, eines Kreises oder einer Gemeinde umfas- Längst nicht alle Nachlässe, auch nicht in der Be- send nachvollzogen und dargestellt werden. Ohne ständegruppe N des Stadtarchivs, sind solche ide- die Überlieferung von Vereinen, Institutionen, alen oder „echten“ Nachlässe. Vielleicht handelt kulturellen Einrichtungen, Bürgerinitiativen, Ge- es sich nur um einen unvollständigen Teilnachlass. werkschaften, Unternehmen, kirchlichen Einrich- Oder der Nachlass wurde um weitere Dokumente tungen, vor allem aber auch politischen Parteien, ergänzt, die sich nie in der persönlichen Registra- ohne die Sicherung von Nachlässen bedeutender tur des Bestandsbildners befunden haben – hier Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist eine spricht man vom „angereicherten“ Nachlass. umfassende Dokumentation des Lebens einer Ge- Möglicherweise handelt sich sogar auch nur um meinde, einer Stadt oder eines Kreises nicht mehr einen sog. „unechten“ Nachlass, der, ohne echten möglich.“8 Kern, eigentlich eine personenbezogene Samm- lung von Autografen, Fotos, Zeitungsartikeln etc. Auch das Stadtarchiv Pforzheim hat den Anspruch, zu einer Person ist, sich aber nie als solche in de- nicht nur die Verwaltung, sondern die Pluralität ren privater Registratur befand. Doch auch all die- der lokalen Lebenswelt, die Stadtgesellschaft in se Nachlässe haben ihre archivische Berechtigung, ihrer Vielfalt abzubilden und dabei nicht nur die besonders im Stadtarchiv Pforzheim. offizielle Sicht für die Nachwelt zu erhalten. Dazu wird einem ganzheitlichen Ansatz der Überlie- Überlieferung und Aussagekraft von Nachlässen ferungsbildung gefolgt, bei dem amtliche und nichtamtliche Überlieferung aufeinander bezogen Gerade im Kommunalarchiv und besonders dann, werden. Die Archivordnung der Stadt Pforzheim wenn wie in Pforzheim durch Kriegsverluste vie- sieht daher als Aufgabe des Stadtarchivs auch an, Dokumentationsunterlagen zu Geschichte und 6 Schiffer, Peter: Nachlässe, in: Südwestdeutsche Archivali- Gegenwart der Stadt zu sammeln sowie Archivgut enkunde, online unter: https://www.leo-bw.de/themen- modul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/besondere- 8 Norbert Reimann auf dem Westfälischen Archivtag 2001, uberlieferungsbereiche/nachlasse, zuletzt abgerufen am zit. nach: Stumpf, Marcus: Vorwort, in: ders./Katharina 02.07.2020. Tiemann (Hgg.), Nichtamtliches Archivgut in Kommunalar- 7 Vgl. Franz, Eckhart G./Lux, Thomas: Einführung in die Ar- chiven. Teil 1: Strategien, Überlieferungsbildung, Erschlie- chivkunde, 9. Aufl., Darmstadt 2018, S. 96. ßung, Münster 2011, S. 7-8, hier S. 7. 8 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe Abb. 3: Das Hinweisblatt „Informationen zur Archivierung von (https://www.pforzheim.de/stadt/stadtgeschichte/stadtar- Nachlässen“ (hier Seite 1) informiert über die Abgabe von chiv/bestaendeuebersicht/nachlaesse-firmen-undvereinsar- Nachlässen an das Stadtarchiv. Das Hinweisblatt ist im Stadt- chive.html) archiv erhältlich oder kann online heruntergeladen werden Archivmagazin 2020/2 9
Thema: Nachlässe auch anderer Stellen und Privater zu erfassen, zu Archivgut spielen Nachlässe auch als Ersatzdo- verwahren, zu erhalten und allgemein nutzbar zu kumentation eine Rolle. Wenn die amtlichen Un- machen.9 terlagen zu einem Thema nicht mehr existieren, können Nachlässe Informationen über Zusam- Da Geschichte von Menschen gemacht wird und menhänge und Prozesse liefern, die man sonst in Einzelpersonen das öffentliche Leben einer Stadt- Verwaltungsakten suchen würde.11 gesellschaft prägen können, kommt Nachlässen hierfür eine besondere Bedeutung zu. Vor allem Kein Wunder, dass privates Schriftgut, Fotos und anderen ist der Nachlass eine biografische Pri- Filme, wie sie sich in Nachlässen finden, ein „Re- märquelle mit Aussagewert zur Person und ihrer ner“ der historischen Forschung sind, insbesonde- Funktion/ihrem Werk. So gibt beispielsweise der re für alltags- und kulturgeschichtliche Fragestel- 2017 übernommene Nachlass der Pforzheimer lungen, und auch von Archiven gern übernommen Autorin Renate Schostack10 durch die enthalte- werden.12 Das Individuum als handelnde Person nen Manuskripte Auskunft über die Arbeitsweise der Geschichte, wo könnte es sich besser heraus- der Autorin und verschiedene Entstehungsstufen arbeiten lassen als aus einem Nachlass? Dabei des gedruckten Buchs. Der inhaltliche Mehrwert zeichnen sich Nachlassdokumente gegenüber Ein- bleibt dabei aber nicht stehen. Ohne Bezug auf Le- zelstücken aus Sammlungen durch ihren inneren ben und Werk einer bedeutenden Person bieten Zusammenhang aus, der durch Kontextinformati- die in Nachlässen enthaltenden Dokumente einen onen ein tieferes Verständnis ermöglicht und es allgemeinen Perspektivwechsel: Sie beleuchten bspw. erlaubt, Entwicklungen nachzuvollziehen Ereignisse, Phänomene und strukturelle Entwick- oder Ereignisse in Relation zu setzen. lungen aus privater Sicht und nicht in amtlicher Darstellung. Im Stadtarchiv werden dabei nicht Sind die genannten inhaltlichen Mehrwert-Qua- nur private Unterlagen berühmter Personen, son- litäten bei einem konkreten Nachlass gegeben, dern auch „ganz normaler“ Pforzheimerinnen und liefert er aussagekräftige Unterlagen in Bezug auf Pforzheimer archiviert. Damit liefern Nachlässe Person und Funktion und hat er seine Bedeutung nicht nur den Perspektivwechsel von amtlich zu bezogen auf die Stadt Pforzheim, etwa indem der privat, sondern bieten auch eine Vielzahl indivi- Nachlasser das öffentliche Leben in Pforzheim ge- dueller Perspektiven des kommunalen Mikrokos- prägt hat, ein Funktionsträger war, hier gelebt hat mos. Hinzu kommt, dass Nachlässen über eine oder geboren wurde, wäre dieser Nachlass für die andere Informationsqualität verfügen als Verwal- tungsunterlagen. Während amtliche Unterlagen 11 Vgl. zum inhaltlichen Mehrwert von Nachlässen Fle- eine politische Entscheidung zwar minutiös, aber ckenstein, Gisela: Ein Nachlass für das Historische Archiv sehr umfangreich dokumentieren, kann dieselbe der Stadt Köln? Übernahmekriterien und Bewertung auf Entscheidung aus der Handakte eines Kommunal- der Grundlage eines Dokumentationsprofils, in: Marcus politikers in komprimierter Form nachvollzogen Stumpf/Katharina Tiemann (Hgg.), Nichtamtliches Archiv- werden. Gerade angesichts der Kriegsverluste an gut in Kommunalarchiven. Teil 1: Strategien, Überliefe- rungsbildung, Erschließung, Münster 2011, S. 22-37, hier 9 § 1 Abs. 2 f. Archivordnung der Stadt Pforzheim vom S. 23 ff. 17.12.2019, online unter: https://www.pforzheim.de/ 12 Vgl. Steinwascher, Gerd: Glanz und Elend privaten Schrift- stadt/stadtgeschichte/stadtarchiv/hinweise-zur-archivbe- tums. Überlegungen zur Übernahme von Nachlässen und nutzung.html. Perspektiven der Nachlassüberlieferung, in: Archiv-Nach- 10 StadtA PF, N193. richten Niedersachsen 17 (2013), S. 111-116, hier S. 114. 10 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe Archivierung im Stadtarchiv Pforzheim potentiell den Mahlstrom eines Wohnungsauflösers gerät.“13 geeignet. Zu berücksichtigen ist dafür aber auch Und auch wenn der Kontakt geknüpft ist, gilt es zu der bestandserhalterische Zustand, die Vollstän- erläutern, welche Unterlagen zum Nachlass gehö- digkeit des Nachlasses und die Frage, ob es sich ren, und den Blick auf Materialien zu lenken, die um einen echten Nachlass handelt, die Verwah- zunächst vielleicht nicht im Fokus stehen. Nach- rung eines (weiteren) Teilnachlasses bei einer vollziehbarerweise melden sich viele Erben mit anderen Institution, das Recht, die Unterlagen der Büchersammlung eines Verstorbenen beim zu bewerten, sowie die Frage, ob es sich um eine Stadtarchiv – schließlich wurden in einer Biblio- Dauerleihgabe handelt oder das Eigentum am thek über Jahrzehnte viele Schätze gesammelt, Nachlass an die Stadt Pforzheim übergeht. die nicht einfach entrümpelt werden sollen. Doch welche neuen Informationen über Pforzheim kön- Für das Stadtarchiv geht es freilich zunächst einmal nen die Bücher liefern, wie wird der Verstorbene darum, überhaupt in die erstrebenswerte Lage zu darin greifbar? In den meisten Fällen zeigt sich, kommen, über die Archivierung eines Nachlasses dass bspw. in Briefen, persönlichen Unterlagen entscheiden zu können. Die Akquise von Nachläs- und Fotos weit größerer stadtgeschichtlicher Wert sen ist dabei eine zwar zeitaufwändige, aber sehr steckt. Anders als bei Büchern handelt es sich hier reizvolle Facette des Archivarsberufs. Anders als häufig um Unikate, viele davon spiegeln direkt das die Verwaltungsstellen der Stadt Pforzheim, die Leben, Handeln oder Denken des Nachlassgebers gesetzlich verpflichtet sind, ihre nicht mehr be- wider und informieren nebenbei über das Pforz- nötigten Unterlagen dem Stadtarchiv anzubieten, heimer Stadtgeschehen. Um darauf hinzuweisen, besteht darauf bei privaten Unterlagen selbstver- hat das Stadtarchiv ein Informationsblatt (Abb. 3) ständlich kein Anspruch. Hier kommt viel darauf erstellt. Die persönliche Beratung und die gemein- an, ob Nachfahren überhaupt bereit sind, sich vom same Sichtung von Nachlassunterlagen sind eben- Nachlass zu trennen und wenn ja, ob sie in diesem falls ein wichtiger Bestandteil der Nachlassakqui- Fall an eine Entrümplungsfirma, ein Antiquariat se. Die gemeinsame Sichtung dient dabei nicht oder an das Stadtarchiv denken. Neben dem Be- nur dazu, das archivwürdige Material zu ermitteln. wusstsein für die historische Bedeutung eigener Dazu erfährt das Stadtarchiv auch Informationen Familienunterlagen wäre für letzteres Vorausset- zum Nachlassgeber und seinem Leben und Werk, zung, dass das Stadtarchiv und seine Dokumen- die dabei helfen, die Unterlagen später zu ordnen tationstätigkeit bei den Betroffenen überhaupt und zu verzeichnen. bekannt ist oder sie bei der Suche nach einem Verbleib für den Nachlass auf das Stadtarchiv hin- Einen Nachlass übernehmen zu können, ist in je- gewiesen werden. Zwar kann das Stadtarchiv hier dem Fall ein Vertrauensbeweis der Nachfahren proaktiv tätig werden, es bleibt aber immer auch an das Stadtarchiv. Schließlich geht es um nichts auf Glück und Zufall angewiesen. In den Worten Geringeres als die Sicherung und Erhaltung der eines bayerischen Kollegen: „[D]as Segment der unikalen Dokumente sowie auch um deren Be- Nachlässe stellt in größeren Kommunen ein kaum reitstellung für die Öffentlichkeit unter Einhaltung zu übersehendes Meer dar, in dem immer wie- der plötzlich ein Boot auftaucht, dessen Ladung 13 Löffelmeier, Anton: Nichtamtliches Schriftgut in Kommu- schnell zu löschen ist – bevor es in einen lukrative- nalarchiven: Nachlässe, in: Dorit-Maria Krenn, Michael ren Hafen unwiederbringlich davonsegelt oder in Stephan, Ulrich Wagner (Hgg.), Kommunalarchive – Häsu- er der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, Würzburg 2015, S. 187-201, hier S. 195. Archivmagazin 2020/2 11
Thema: Nachlässe des Datenschutzes. Allesamt sensible Themen, im 1. Weltkrieg, baut mit dem Architekten Karl- weshalb zwischen Stadt und Nachlassgeber nicht Heinz Stocker17 Pforzheim neu auf, entwickelt nur ein schriftlicher Vertrag geschlossen wird, mit Lore Perls18 die Gestalttherapie weiter oder sondern das Stadtarchiv sich auch darum bemüht, ist bei den Proben des Kirchenmusikers Walter die Aspekte der Archivierung zu erklären und die Hennig19 dabei. Dieselben Möglichkeiten haben einzelnen Bearbeitungsschritte transparent zu natürlich auch die Archivnutzerinnen und -nutzer machen sowie auf Wünsche der Nachlassgeber der Bestände, die mithilfe der bei der Erschlie- einzugehen. ßung erstellten Findbücher die Nachlässe im Lese- saal einsehen und auswerten können. In einigen Benutzung und Auswertungsmöglichkeiten von verzeichneten Nachlässen des Stadtarchivs kann Nachlässen im Stadtarchiv auch online auf dem Portal Findbuch.Net recher- chiert werden, etwa im Nachlass des Pforzheimer So groß die potenzielle Aussagekraft von Nachläs- Heimatforschers Oskar Trost20, des Schriftstellers sen auch sein mag, die Erkenntnisse müssen zu- Fritz Knöller21 oder des Dekorationsmalermeisters erst aus dem Material herausgearbeitet werden. Adolf Scherberger22. Getreu dem Goethe’schen Diktum „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ Jede und jeder Interessierte kann sich im Lesesaal reicht es nicht aus, einen Nachlass fürs Stadtarchiv des Stadtarchivs an die Auswertung von Nachläs- zu sichern, er muss, etwa durch die Verzeichnung sen machen. Wer dazu noch Anregungen sucht, der Dokumente und bestandserhalterische Maß- kann sich von den folgenden Artikeln dieser Aus- nahmen, vom Stadtarchiv auch benutzbar ge- gabe des Archivmagazins inspirieren lassen: Sonja macht werden und dann von den Nutzerinnen und Anžič-Kemper schildert auf den folgenden Seiten Nutzern auch ausgewertet werden. Denn wertvoll am Beispiel des Kriegsendes 1945 in Pforzheim, ist nur der Besitz, den man tatsächlich nutzt … welche wichtigen Informationen Nachlassunter- lagen zu einem zeitgeschichtlichen Ereignis der Die Erschließung von Nachlässen ist wie ihre Ak- Stadtgeschichte liefern können. Der Artikel zeigt quise eine anspruchsvolle, aber sehr schöne Seite am Beispiel von Privatdokumenten aus Nachläs- des Archivarsberufs. Wegen der im Vergleich zu sen auch auf, was bereits im Antikriegsroman „Im Verwaltungsunterlagen oftmals sehr heterogenen Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque Unterlagen, die zudem nicht selten gänzlich unge- titelgebend war: Was in amtlichen Quellen wie ordnet vorliegen, ist die Verzeichnung eine auf- der Kriegsberichterstattung keine oder nur lapidar wändige Angelegenheit. Doch die Mühe wird be- Erwähnung findet, kann für die betroffenen Men- lohnt: So kann man am Schreibtisch nicht nur ein schen lebensverändernde Folgen haben. Wei- Fenster in die Vergangenheit aufstoßen, sondern terhin findet sich im Heft der Bericht über einen reist mit dem Architekten und Burgenforscher aktuellen Neuzugang, den Nachlass der jüdischen Julius Naeher14 Ende der 1870er Jahr nach Brasi- Gestalttherapeutin Laura Perls. Und wer sich bei lien, erklimmt mit Walter Stößer15 in den 1930er Jahren Alpengipfel, erfährt mit dem Pforzheimer 17 StadtA PF, N139. Soldaten Hans Erpf16 die Schrecken der Westfront 18 StadtA PF, N199. 19 StadtA PF, N194. 14 StadtA PF, N41. 20 StadtA PF, N47. 15 StadtA PF, N186. 21 StadtA PF, N115. 16 StadtA PF, N108. 22 StadtA PF, N141. 12 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe der Lektüre des Hefts angesprochen fühlt, weil im Spiegel privater Unterlagen leisten möchte, sich in seinem Besitz historische Nachlassunter- kann das Stadtarchiv mit der Abgabe von Unter- lagen befinden, ist jederzeit eingeladen, Kontakt lagen unterstützen. Näheres dazu erfährt man im mit dem Stadtarchiv aufzunehmen. Auch wer sei- Artikel „Dokumente zur Corona-Krise gesucht!“ nen Beitrag zur Dokumentation der Corona-Krise von Dr. Sonja Hillerich weiter hinten im Heft. Abb. 4: Auf Findbuch.Net sind alle Nachlässe des Stadtarchivs online aufgeführt und es lässt sich in einigen Nachlässen re- cherchieren (www.stadtarchiv-pforzheim.findbuch.net) Archivmagazin 2020/2 13
Thema: Nachlässe Das Kriegsende 1945 im Spiegel ausgewählter Nachlass Familie Zorn Nachlassunterlagen Sonja Anžič-Kemper Mit den Nachlassunterlagen der Familie Zorn aus Eutingen kann deren Familiengeschichte seit dem Im folgenden Beitrag wird anhand von Nachläs- Jahr 1905 rekonstruiert werden. Im Vordergrund sen, die in den letzten Jahren durch das Archiv stehen die Glaserei-Werkstatt sowie zwei Söhne, erworben werden konnten, aufgezeigt, wie der beide Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Alfred Zorn, Zweite Weltkrieg familiäre, geschäftliche und geboren 1917, war künstlerisch talentiert und be- nicht zuletzt die persönlichen Verhältnisse und suchte vor dem Krieg die Goldschmiedeschule in Lebensordnungen veränderte. Es handelt sich um Pforzheim. Er starb im Jahr 1944. Die Trauerkarte private Unterlagen der Familie Zorn, von Eugen seitens der NSDAP steht im Nachlass am Ende sei- Fessler und Wilhelm Reble sowie von Dr. Ursula ner Lebenspur und seiner Werke.1 Mayer. Nachlassdokumente helfen uns auch zu erfahren, wie und was die Menschen persönlich erlebten, welche Folgerungen sie evtl. aus dem Krieg zogen. Solche Kenntnisse sind im Vergleich dazu aus „offiziellen“ Akten der Verwaltungen weniger gut zu gewinnen. Abb. 2: Trauerkarte, 1944 (Signatur: N198-4-5) Der Bruder Helmut, geboren 1910, ein vor dem Zweiten Weltkrieg vielseitig tätiger junger Mann, hilft schon mit 15 Jahren dem Vater in der Glase- 1 StadtA PF, N198-4. Abb. 1: Zeichnung von Alfred Zorn, 1932 (Signatur: N198-4-2) 14 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe rei-Werkstatt und lernt bei ihm als Lehrling; u. a. hatte er eine große Begabung für Maschinen. In seiner Freizeit war er im Schützenverein aktiv und ein Jahrzehnt lang Schützenkönig. Er lernte mit 20 Jahren beim Kapellmeister in Pforzheim das Gei- genspiel und war stolz auf seinen Meisterbrief für das Glaser-Handwerk, da er nach dem Krieg die Glaserei weiterführen sollte, die sein Vater Adolf gegründet hat.2 Abb. 3: Visitenkarte des Glasermeisters Adolf Zorn, 1930 (Si- gnatur: N198-9 Die Ereignisse in der Kriegszeit änderten den geplanten Weg. Hel- mut Zorn nahm im Jahr 1991 seinen Lebenslauf und seine Erinnerungen Abb. 5: Meisterbrief von Helmut Zorn, 1938 (Signatur: N198-9) auf Tonband auf. In die- Oktober 1944 durch eine Granatsplitter-Verlet- ser Selbsterzählung be- zung meine beide Augen, wurde auch am rechten schreibt er sachlich, wie Arm durch den Splitter schwer verletzt.“3 Seine ein verhängnisvolles Er- rechte Hand wurde ein halbes Jahr geschient, eignis im Jahr 1944 sein er war in unterschiedlichen Lazaretten unterge- Leben erheblich verän- bracht, hatte mehrere Operationen an den Augen derte: „[…] Nach Aus- und litt unter starken Schmerzen wegen seiner be- bruch des Zweiten Welt- schädigten Stirnhöhlen. Am 23. Februar 1945 war krieges im Jahre 1939 er zum ersten Mal als Kriegsblinder zu Hause.4 An wurde ich im Jahre 1940 diese schwierige Situation mussten sich Helmut Abb. 4: Helmut Zorn als im Juni zur Kriegsdienst- und seine Familie anpassen. „[…] Ich war dann Schützenkönig, ca. 1936 (Si- ableistung eingezogen gnatur: N198-2) und verlor dabei am 27. 3 StadtA PF, N198-2, Lebenslauf von Helmut Zorn (Audiodo- kument), Position 00.03. 2 StadtA PF, N198-2, Lebenslauf von Helmut Zorn (Audiodo- 4 StadtA PF, N198-2, Lebenslauf von Helmut Zorn (Audiodo- kument). kument), Position 01.17 bis 1.30. Archivmagazin 2020/2 15
Thema: Nachlässe von Juli 1946 bis November 1946 auf der Solitu- Erkrankung seiner Atmungsorgane davongetra- de bei Stuttgart zur Umschulung. Zuerst lernte ich gen. Gerade an dieser Hirnverletzung hat er am im Grundkurs Maschinenschreiben und auch die meisten zu leiden. Kopfschmerzen, Übelkeit und Blindenschrift. Leider schafft es mein Kopf damals Schlaflosigkeit sind die Folgen. Zu erwähnen wä- nicht, die Blindenschrift zu beherrschen. […] Im ren noch die schweren epileptischen Anfälle, die November 1946 war ich in der Werkstätte in der er zehn Jahre lang gehabt hat und die bis zur Be- Solitude und erlernte das Bürsten-Macher Hand- wußtlosigkeit führten. […]“6 werk […].“5 Gertrud Zorn, der Frau von Helmut Zorn, wurde in Anerkennung ihrer jahrzehntelangen Pflege und Abb. 7: Gertrud und Helmut Zorn anlässlich der Verleihung der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepu- Abb. 6: Handwerkskarte von Helmut Zorn, 1954 (Signatur: blik Deutschland, 1969 (Signatur: N198-3) N198-15) Sein neu gelernter Beruf, die Hochzeit im Oktober 1948 und die Gründung einer Familie: Alles sieht von außen relativ erfolgreich und zufriedenstel- lend aus. Wie es aber tatsächlich hinter den vier Wänden um das Leben der Familie stand, dies er- zählen uns weitere erhaltene Nachlassunterlagen und Fotos. „[…] Ich kannte meinen Mann schon vor dem Krie- ge, und so war ich nicht wenig erschrocken, als ich ihn im Jahre 1946 wieder zum ersten Mal sah. Sein schönes Gesicht war durch die Kriegsbeschä- digung sehr entstellt. Er hatte nicht nur beide Augen verloren, son- dern auch eine schwere Hirnverletzung und eine Abb. 8: Helmut Zorn mit Zither, 1972 (Signatur: N198-2) 5 StadtA PF, N198-2, Lebenslauf von Helmut Zorn (Audiodo- 6 StadtA PF, N198-3, Lebenslauf von Gertrud Zorn in gekürz- kument), Position 01.35. ter Form, 20.09.1968. 16 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe Betreuung ihres schwerstkriegsbeschädigten Ehe- mannes im Jahr 1969 vom Bundespräsidenten die „Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bun- desrepublik Deutschland“ verliehen.7 Die Liebe zur Musik hat Helmut Zorn sein Leben lang bewahrt. Er griff oft zu seiner Zither, auf der er schon vor dem Krieg gespielt hatte, um bei sich selbst und den Anderen für Freude und gute Lau- ne zu sorgen. Nachlass Eugen Fessler Im Nachlass Eugen Fessler werden u. a. seine Erin- nerungen „Aus meinem Leben“ verwahrt, welche er im Jahr 1949 aufgeschrieben hat. Diese enthal- ten einen sehr genauen Lebenslauf und viele inte- ressante, wertvolle Informationen über Pforzheim in den Jahren von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Jeder, der sich für die Geschichte von Pforzheim interessiert, fin- det in diesen Erinnerungen wichtige Hinweise. Eugen Fessler, geboren 1863, war ein Schmuckfab- rikant und stammte aus einer der alteingesessenen Pforzheimer Familien, die mit den Familien Benz und Wenz in Verwandtschaft stand. Er besuchte die Abb. 9: Titelseite der Erinnerungen von Eugen Fessler (Signa- Gewerbe- und Kunstgewerbeschule in Pforzheim tur: N196-1, Foto Fessler: Notton) und gründete im Jahr 1890 seinen eigenen Betrieb, der später als Ringfabrik seinen Namen führte. Er oder besser gesagt nach Einstellung der Feindse- war ein erfolgreicher Geschäftsmann und Erfinder ligkeiten kam ein Warenhunger und ein Hunger eines nahtlosen mechanischen Kettenlötverfah- nach Lebensmitteln, der ganz beispiellos war. Geld rens, welches sich sein Bruder Max patentieren war da in Hülle und Fülle, aber an Lebensmitteln ließ. Er betrieb sein Geschäft seit 1897 in dem und an Waren war ein ungeheurer Mangel. Anwesen Östliche Karl-Friedrich-Straße 64. Dieses Leider ist auch unsere liebe Vaterstadt, wie so hatte er von Hofrat Prof. Dr. Gustav Ehrismann ge- viele schöne Städte Deutschlands, durch diesen kauft, der an der Universität Heidelberg tätig war.8 furchtbaren Krieg schwer heimgesucht worden. Die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges be- Am 23. Februar des Jahres 1945 wurde Pforzheim schreibt er so: „[…] Nach Beendigung des Krieges durch Fliegerbomben vollständig zerstört. Es ka- men dabei etwa 40 000 Menschen ums Leben. Die 7 StadtA PF, N198-3, Zeitungsausschnitt über die Verleihung genaue Zahl wird wohl niemals ermittelt werden der Bundesverdienstmedaille. können, weil noch heute unzählige arme Men- 8 StadtA PF, N196-1, Erinnerungsschreiben, S. 14. schen unter den Trümmern liegen. Archivmagazin 2020/2 17
Thema: Nachlässe Bereits am 10. Oktober 1944 gegen 10 Uhr abends ist mein Haus in der Oestlichen-Karl-Friedrichs- trasse durch Bombeneinwirkung zusammenge- stürzt, während wir uns im Keller aufgehalten hat- ten, wohin wir mit den Nachbarn uns fast jeden Abend hingeflüchtet hatten. Wir haben von dem Zusammensturz des Hauses sehr wenig bemerkt. Nach einiger Zeit ging einer von uns in den Hof, kam alsbald wieder zurück und sagte zu mir: ‚Herr Fessler, haben Sie starke Nerven?‘ Ich erwiderte, Abb. 10: Zerstörungsbild Östliche Karl-Friedrich-Straße, 1945 bis jetzt haben meine Nerven gehalten. Er: ‚Dann (Signatur: S1-8-O-15-S-9, Foto: Otto Vogt) kommen Sie mit hinaus in den Hof!‘ Und da lag In der Eyachmühle sind die Franzosen im April ein Berg von Balken, Fenstern, Türen, Möbeln usw. 1945 eingedrungen. 5 Tage vorher mussten wir Am anderen Morgen hatte man erst einen richti- schon im Keller zubringen wegen andauerndem gen Ueberblick über diese furchtbare Zerstörung. Artillerie-Beschuss. Die Granaten sind eingeschla- Alsbald erschien die techn. Nothilfe unter Leitung gen vor dem Haus, hinter dem Haus und rechts des Herrn Wilhelm Saake, welche in das Trümmer- und links davon. haus hinaufstiegen und verschiedene Sachen in Als die Franzosen kamen mussten wir uns im Hofe den Keller herunterbrachten. aufstellen. Der Offizier stellte sich an die Ecke und Die Keller in der ganzen Strasse waren durch sagte, die Frauen stellen sich hierher, die Männer Durchbrüche in den Mauern mit einander ver- dorthin. Hinter jeder Gruppe stand ein Soldat mit bunden, und so kam es, dass ein Einbrecher bis geladenem Gewehr. Der Offizier hat mit weitauf- an unseren Keller gedrungen ist. Derselbe wurde gerissenen Augen grollend gerufen: ‚Alle Geweh- gefasst und der Polizei übergeben. Jedenfalls hat re, alle Revolver, alle Schuss- und Stichwaffen und er im Sinne gehabt zu stehlen! alle Fotographen-Apparate sind sofort hier abzu- Am 21. Jan. 1945 brannte der Rest des Hauses mit liefern, Jedermann bei dem etwas von diesen Sa- vielen andern Häusern nieder. […]“9 chen vorgefunden wird bei der Haussuchung, wird erschossen. Haben Sie verstanden! Ich wiederho- In seiner Erzählung setzt er fort, wie das Leben le nochmals, alle Gewehre, alle Revolver usw.‘Wir weiter ging, als man kein Dach mehr über den hatten verstanden!!! Kopf hatte: „[…] Nach Zerstörung meines Hauses Die Männer gingen fort in die Wohnung und ha- fanden wir Zuflucht bei der Familie Gilbert auf der ben die Schuss- Hieb- und Stichwaffen, sowie Wilhelmshöhe. Nach kurzer Zeit bekam ich eine Foto- und Radioapparate geholt und auf den Tisch Wohnung bei Bäcker Schaible in der Nähe mei- gelegt. Dann drangen die Franzosen in alle Zim- nes Anwesens. Durch die fortwährenden Bom- mer ein und durchwühlten alles und nahmen mit benüberfälle haben wir es nicht gewagt, in dieser was ihnen behagte. Nachher sah es in den Zim- Wohnung zu schlafen, sondern sind immer abends mern aus wie in Schweineställen. Wir waren ca. hinüber gegangen in unseren alten Keller und ha- 10 Tage und 10 Nächte ununterbrochen und ohne ben dort die Nacht zugebracht. aus den Kleidern zu kommen im Keller. Ich selbst In der Weihnachtswoche sind wir übergesiedelt sass auf einem kleinen Fass und konnte mich nur nach der Eyachmühle. […] an einem anderen Fass notdürftig anlehnen. Dass ich das bei meinem vorgeschrittenen Alter ertra- 9 StadtA PF, N196-1, Erinnerungsschreiben, S. 20–21. gen konnte, ist ein Wunder. Eine Nacht waren wir 18 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe im ‚Lehmannshof‘ und schliefen auf dem Boden Das hier beschriebene Schicksal des Verlusts von auf Heu. Häusern, Wohnungen, Hab und Gut, von Arbeits- Wir hielten uns auf der Eyachmühle bis Mitte Juli plätzen und nicht zuletzt von Angehörigen – dies 1945 auf und siedelten dann über nach Wildbad war im Zweiten Weltkrieg in vielen Städten, nicht auf die Uhlandshöhe. […] nur in Pforzheim, allgegenwärtig. Hierzu zähl- Die Lebensmittel waren oft so knapp, dass man te aber auch die notdürftige Unterbringung von manche Woche nur von Kartoffeln und Gelber- „Ausgebombten“ bei Nachbarn, Verwandten oder üben lebte. Das Heizmaterial holten wir im Walde „fremden“ Menschen. und von den Schutthaufen, den die Franzosen an- gelegt hatten […].“10 Nachlass Wilhelm Reble Auch das Anwesen Hohenstaufenstraße 70, wel- Beeindruckend im Zusammenhang mit diesem ches Eugen Fessler im Jahr 1922 gekauft hatte und Thema sind die im Nachlass Wilhelm Reble er- wo sich sein Sohn eine Wohnung eingerichtet hat- haltenen Feldpostbriefe und Zeichnungen.13 Der te, „wurde am 23. Februar 1945 bei dem Total-An- Grafiker Wilhelm Reble wurde im Jahr 1905 in griff zerstört und dem Erdboden gleichgemacht.“11 Pforzheim geboren. Er wohnte zusammen mit den Eltern und Geschwistern in der Südstadt, in Nach dem Krieg wurde das Geschäft im Haus Ho- der Waldstraße (heute Irmengardstraße), und war henzollernstraße 27 wiederaufgebaut. Bis dieses nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule und fertig war, wohnte Eugen Fessler außerhalb der einem Aufenthalt in Paris, wo er die Académie de Stadt. Über dieser Zeit schrieb er u. a.: „[…] Ich bin la Grande Chaumiѐre besuchte, als Schmuckdesig- des öfteren nach Pforzheim gefahren und muss- ner tätig. Im Jahr 1940 wurde er als Soldat an die te dabei jedesmal um 4.00 Uhr morgens aufste- Westfront geschickt. hen. Ich beantragte eine Zuzugsgenehmigung und nach jahrelangem Kampf ist mir dieselbe endlich Wilhelm Reble erlebte die schwierige und gewalt- gewährt worden. Alle Gründe, die ich dabei an- tätige Kriegszeit weit weg von Pforzheim, das Ge- geführt habe, wurden nicht berücksichtigt. Zum schehen in Pforzheim und viele Alltagsereignisse Schluss endlich bin ich mit schwerem Geschütz waren ihm aber durch Briefe bekannt. Er selbst aufgefahren und habe erklärt, dass das Geschäft, schrieb in den Jahren von 1941 bis 1945 zahlrei- das schon 58 Jahre bestand wieder aufgebaut ist, che Briefe an seine Familie. Dort finden sich unter dass ich einer der ältesten Pforzheimer Einwohner anderem viele Informationen über die Luftangriffe bin, aus einer uralten Pforzheimer Familie stamme auf Pforzheim sowie auf andere Städte. Er schrieb und vielen Menschen Brot verschafft habe. Ferner, in diesen Briefen Informationen nieder, die er aus dass ich dem Staat und der Gemeinde ungeheure Geldsumme zufliessen liess. 13 Die Inhalte der Briefe zum Thema Kommunikation wur- Daraufhin habe ich dann eine Zuzugsgenehmi- den zum Teil bereits im Archivmagazin Nr. 39/März 2020 gung bekommen. […]“12 veröffentlicht. Einige davon sind noch bei der Ausstellung Die Geschichte der Firma endete mit der Abmel- „Wilhelm Reble. Kriegstage in Wort und Bild“ im Lesesaal dung am 31. Januar 1985. des Stadtarchivs bis Ende dieses Jahres zu sehen und im Rahmen einer Audiostation zu hören. In diesem Beitrag 10 StadtA PF, N196-1, Erinnerungsschreiben, S. 21–23. werden andere Ausschnitte zum Thema Fliegerangriffe ver- 11 StadtA PF, N196-1, Erinnerungsschreiben, S. 65. öffentlicht. Die nachgelassenen Zeichnungen werden zum 12 StadtA PF, N196-1, Erinnerungsschreiben, S. 28. Teil in der Kunstsammlung der Stadt Pforzheim verwahrt. Archivmagazin 2020/2 19
Thema: Nachlässe den Wehrmachts-Berichten, von Eltern, Bekann- In dem Brief vom 1. Juli 1943 beschrieb er seine ten, aus Zeitungen oder dem Radio erfuhr. Bei Sorgen um einen seiner Kameraden: „[…] Mein seinen Schreiben geht es nicht nur um eine reine Kamerad aus Wuppertal der beim zweiten An- Erzählung oder Aufzählung, sondern viel mehr um griff auch wieder betroffen wurde u. einen kurzen Mitgefühl, Nachdenken über das Leid der Men- Urlaub erhielt, ist seither nicht mehr zurückge- schen sowie um Überlegungen, wohin dies alles kommen, er ließ nichts mehr von sich hören u. führen werde. Außerdem finden sich Empfehlun- ist seitdem verschollen. Wir befürchten, daß er gen und Ratschläge an die Familie. seine Frau u. seine Mutter verloren hat, nachdem ihm schon beim ersten Angriff alles verbrannt ist. Ich mache mir schwere Sorge um unser Aller Zu- kunft, wenn dies noch Monate oder gar Jahre so weitergeht. […]“15 Zwei Wochen später schrieb er: „[…] Inzwischen haben sie auch die alte ehrwürdi- ge Stadt Aachen so furchtbar zugerichtet u. auch in Italien zerstören sie eine Stadt um die andere, wie wird dies noch enden? […]“16 Und im Brief vom 14. August: „[…] In dieser Woche werdet Ihr wohl auch im Keller gewesen sein bei den Angrif- fen auf Mannheim u. Nürnberg, bei Uns kommen sie schon am hellen Tag in großen Scharen, vor- Abb. 11: Selbstporträt, 1942, Zeichnung von Wilhelm Reble (Signatur: N197-9) Abb. 12: Ausgebombt (Zeichnung von Wilhelm Reble, Kunst- Einen Fliegerangriff auf Köln im Sommer 1943 sammlung Stadt Pforzheim, Nr. 486) hatte Wilhelm Reble selbst erlebt. Er beschrieb diesen sehr anschaulich in einem Brief an seine Briefes wurde bereits im Archivmagazin, Nr. 39/März 2020 Eltern vom 11. Juli 1943.14 veröffentlicht. 15 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 01.7.1943. 14 StadtA PF, N196-1, Brief vom 11.7.1943. Der Inhalt des 16 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 16.7.1943. 20 Archivmagazin 2020/2
Thema: Nachlässe gestern morgen waren sie direct bei Uns 37 Stück Ereignisse im Elsaß ist ja unserer Heimat auch Ge- wurden abgeschossen. […]“17 fahrenzone geworden.[…]“18 Einige Tage später erfuhr er vom Vater über neue Angriffe: „[…] Aus Am 1. April 1944 wurde bei einem Luftangriff auf Deinen Zeilen habe ich ersehen, daß im Laufe des Pforzheim auch sein Elternhaus getroffen. Seine Oktober die feindl. Flieger recht viel Unheil in der Mutter und Schwester kamen dabei ums Leben. Stadt angerichtet haben u. ich nehme an, daß in Sein Vater, der Küfer und Weinhändler war, über- der folgenden Zeit auch noch mancherlei passiert lebte. Er befand sich in dieser Zeit im Nebenge- ist, denn durch den Einbruch nach Straßburg ist bäude, in welchem er seine Tätigkeit ausübte. die Front ja zieml. nahe an unser heimatliches Ge- biet herangerückt, u. wie man im Wehrm. Bericht Das Haus war nicht mehr bewohnbar und der Va- der letzten Tage erfuhr, wurden besond. Karlsru- ter wohnte daraufhin bei Bekannten in der Kreuz- he, Freiburg u. Offenburg schwer heimgesucht, da straße 14. mußte ich gleich an Euch denken, denn wenn sie mal so nahe heran sind, dann bombardieren sie besonders die Bahnhöfe in den frontnahen Städ- ten u. da gehört Pforzheim jetzt ja auch dazu, ich dachte sogar schon daran, ob die Stadt nicht even- tuell geräumt werden muß!? Wie Du mir schreibst wurde das ganze Unheil immer nur von wenigen Flugzeugen angerichtet, da kann man sich einen Begriff machen, wie es erst wäre wenn ein ganzer Verband die Stadt angriffe!! Der einzige Ausweg aus dieser drohenden Gefahr wäre, wenn man ir- gendwohin auf’s Land flüchten könnte! […]“19 Über den Angriff auf die Nordstadt im Oktober 1944 hat er auch von der Familie Bohlinger Infor- mationen bekommen, wie er dem Vater im Brief vom 26. Dezember 1944 erzählt: „[…] auch von Bohlingers erhielt ich zu Weihnachten nach sehr langer Zeit mal wieder einen längeren Brief, in dem sie mir auch über die Angriffe auf die Nord- stadt im Oktober ausführlicher berichteten. Dabei erfuhr ich auch, daß dabei ein guter Bekannter noch von der Kunst=Gew.- Schule her dabei um‘s Leben gekommen ist, der Sohn von Metzger Wahl, Abb. 13: Sterbeurkunde von Luise Reble (Mutter von Wilhelm Du kennst seinen Vater jedenfalls auch, er war Reble), 1949 (Signatur: N197-4) schon Wirt auf dem Felsenkeller. Überhaupt muß Im Brief vom 3. Dezember 1944 schrieb er an sei- die Nordstadt u. auch die Östliche furchtbar zu- nen Vater: „[…] Ich denke gegenwärtig sehr viel gerichtet sein, hauptsächlich so scheint es durch an Dich und an Euch alle, denn durch die letzten 18 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 3.12.1944. 17 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 14.8.1943. 19 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 8.12.1944. Archivmagazin 2020/2 21
Thema: Nachlässe Luftminen, sonst könnten die Schäden nicht so Weihnachtabend Ihr erleben mußtet, daß Webers groß sein, wenn es nur einzelne Maschinen wa- Haus dabei so in Mitleidenschaft gezogen wurde, ren. Wie mir Bohlingers schrieben, sind die Ma- ist ganz besonders traurig, wenigstens hat es kein schinen oft schon vor dem Alarm über der Stadt, Opfer gekostet, wenn auch der Schaden heute darum werden auch so viele Todesopfer zu bekla- sehr schwer zu ersetzen ist, besonders jetzt bei gen sein. Seid nur vorsichtig u. wenn Ihr mal von der Kälte empfindet man den Mangel an Fenstern u. Türen besonders schmerzlich, konnten sie wenigstens das Notwendigste wieder herrichten? […]“21 Wilhelm Reble schrieb an Frau Weber: „[…] Durch einen Brief den mein Vater an Weihnachten schrieb u. der sehr rasch bei mir ankam, erfuhr ich, welchen Schrecken Ihr am Tage des heiligen Abend erleben mußtet, ausge- rechnet an diesem Tage musste die Stadt wieder so ein Unglück treffen; u. mein Va- ter ist nun mehr bei Euch untergeschlüpft, ich bin darüber sehr beruhigt u. bin Euch sehr dankbar. Was soll nun alles noch werden? Du kannst Dir denken, wie mich diese Gedanken unablässig bewegen, im Stillen hatte ich immer gehofft, daß die Stadt nicht mehr angegriffen würde u. daß man später evtl. wieder bald zu ei- nem Heim kommen könnte, diese Hoff- Abb. 14: Die Überlebenden (Zeichnung von Wilhelm Reble, nung muß man nun begraben, angesichts Kunstsammlung Stadt Pforzheim, Nr. 490) der neuen schweren Angriffe die die Stadt betrof- fen haben. […]“22 Der Vater zog bald nach Eutingen einem Angriff überrascht werdet u. seid gerade zu Verwandten. auf der Straße u. könnt keinen Schutzraum mehr erreichen, so presst Euch so gut es geht ganz flach Die Luftangriffe auf Pforzheim mehrten sich und an den Boden, denn die Gewalt des Luftdrucks am 24. Januar 1945 schrieb Wilhelm Reble: „[…] reisst sonst den Menschen oft mehr als 100 mtr inzwischen hat sich ja nun bei Euch wieder furcht- weit weg. […]“20 bares ereignet, ich war ganz entsetzt am Montag aus dem Wehrm.-Bericht zu hören daß Pforzheim Im Januar 1945 erfuhr er vom Vater, dass am Weih- am Sonntag den 21.1. einen Terror-Angriff erlebte, nachtsabend 1944 wieder ein Luftangriff auf Pforz- wenn dies mal schon im Wehrm.-Bericht genannt heim stattgefunden hatte, was ihn sehr betroffen wird, dann kann man sich schon denken, was da machte: „[…] aber was für schlimme Nachrichten alles passiert ist […].“23 Der Vater antwortete ihm enthielt er [der Brief, d. Verf.] wieder, ich war ganz bestürzt als ich erfuhr was für einen schlimmen 21 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 10.1.1945. 22 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 15.1.1945. 20 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 26.12.1944. 23 StadtA PF, N197-6-1, Brief vom 24.1.1945. 22 Archivmagazin 2020/2
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