Argentinien nach der Krise
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Beiträge zum demokratischen Frieden © 2003 Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Peace Research Institute Frankfurt Nr. 5/2003 Argentinien nach der Krise Zur erstaunlichen Stabilität der real-existierenden Demokratie E D I T O R I A L In fast regelmäßigen Abständen gerät Lateinamerika durch Krisen in die Schlagzeilen. Erst vor wenigen Wochen musste der gewählte Präsident Boliviens dem Druck anhaltender Massenproteste weichen, in Venezuela nimmt die Polari- sierung zwischen Anhängern und Geg- nern des Präsidenten Chávez kein Ende und auch in Ecuador spitzen sich die Konflikte erneut zu. Auch Argentinien bestätigte das Image der ewig instabilen Region: Im Dezember 2001 eskalierte eine schwere Wirtschaftskrise in landeswei- ten Massendemonstrationen, Staatschef De la Rúa floh per Hubschrauber aus dem Präsidentenpalast. Im Jahr 2002 folgte die Abwertung der Im Dezember 2001 entlud sich die Wut der Argentinier in den cacerolazas, den so genannten „Kochtopfdemonstrationen“. Die Wirtschafts- Landeswährung und der fast komplette krise trieb Arme, Arbeitslose, mittelständische Sparer und Kleinunternehmer gleichermaßen gegen die Regierung auf die Straßen. Bild: Nicolas Pousthomis Zusammenbruch der Wirtschaft. Mit katastrophalen sozialen Folgen: Über die Hälfte der Bevölkerung sank unter die gangspräsidenten folgten De la Rúa nach und offizielle Armutsgrenze, Arbeitslosigkeit Jonas Wolff gaben ihrerseits auf – getreu dem Motto der und soziale Ungleichheit erreichten histo- protestierenden Massen: „Que se vayan to- rische Rekordmarken. Kaum zwei Jahre ist es her, da gelangten dos!“ („Alle sollen sie abhauen“). Erst der Nach nur zwei Jahren jedoch ist Ar- Bilder aus Argentinien auch hierzulande vierte Interims-Präsident innerhalb von zehn gentinien zu erstaunlicher Stabilität zu- unter die Topmeldungen der Nachrich- Tagen, Eduardo Duhalde, konnte sich im Amt rück gekehrt. Der im Mai 2003 gewählte tensendungen. Mitten in der Weihnachts- halten. Aber die Krise spitzte sich weiter zu. Präsident Kirchner erfreut sich breiter zeit des Jahres 2001 war die Krise am Río Nachdem Duhalde die zehn Jahre währen- Zustimmung in der Bevölkerung, die De- de la Plata eskaliert. Töpfe schlagende de Bindung des argentinischen Peso an den mokratie scheint heute gefestigter denn Demonstranten drängten sich in den Stra- US-Dollar aufgekündigt hatte, trat der Peso je. Und das obwohl sich die sozialen In- ßen der Hauptstadt, massenhafte Plün- den freien Fall an. Auch die offizielle Erklä- dikatoren kaum verbessert haben. derungen von Supermärkten und Stra- rung der Zahlungsunfähigkeit des Landes Die Tiefe der wirtschaftlichen und so- ßensperren im ganzen Land vermittelten gehörte zu Duhaldes ersten Amtshandlun- zialen Krise steht mithin in deutlicher den Eindruck anarchischer Zustände. gen. Und der corralito, das staatlich verord- Spannung zur schnellen Überwindung Schließlich – vier Tage vor Weihnachten – nete Einfrieren der Bankkonten, das im De- der politischen Krise. Jonas Wolff un- floh der gewählte Präsident Fernando De zember 2001 das Fass der allgemeinen tersucht diese unerwartete Entwicklung la Rúa per Hubschrauber. Der Versuch Unzufriedenheit zum Überlaufen gebracht und die dahinter stehenden Kräfte und einer repressiven Niederschlagung der Un- hatte, blieb in Kraft. Entsprechend nahmen Prozesse. Dabei gelangt er zu einem ruhen hatte etwa 30 Tote und mehrere die Proteste denn auch kein Ende: Offizielle überraschenden Ergebnis. hundert Verletzte gefordert, die Proteste Quellen verzeichnen alleine für Januar 2002 Marlar Kin aber lediglich weiter angeheizt. Drei Über- landesweit über 2500 Protestaktionen. HSFK Standpunkte5/2003 1
Kaum zwei Jahre später erscheint das alles gesamten „verlorenen Dekade“ der 1980er sondern auch ihrer Resultate (Output-Legi- weit weg. Der seit Mai 2003 amtierende Prä- Jahre nie die 10%-Marke überschritt, liegt timität). In diesem Sinne wird die Wirt- sident Néstor Kirchner erfreut sich nach nun über 20%, während der Reallohn 2002 schaftskrise zur zentralen Bedrohung der Umfragen einer einmaligen Zustimmung den Tiefpunkt der Hyperinflationskrise von Demokratie und die Stabilität der argentini- von gut 80 Prozent. Schon bei seiner Wahl 1989 noch unterbot. Und auch die Ein- schen Demokratie trotz schwerster Krise zu schraubte die weit verbreitete Angst vor ei- kommensschere zwischen Arm und Reich, einem erklärungsbedürftigen Phänomen. nem erneuten Sieg des Ex-Präsidenten Car- die sich in den 1990er Jahre ohnehin konti- Um diesem Phänomen auf die Spur zu los Menem das Phänomen der Protestwahl nuierlich öffnete, verschärft sich durch Ab- kommen, werden im Folgenden zunächst die (voto bronca) wieder auf Normalmaß zu- wertung und Inflation im Jahre 2002 weiter. Prozesse von Krise, De- und Restabilisierung rück – bei den Parlamentswahlen im Herbst Der Trend wachsender sozialer Ungleichheit nachgezeichnet. Daraus entwickelt der vor- 2001 hatten noch bei weitem mehr Wähler spiegelt dabei insbesondere die Verarmung liegende Standpunkt einen Erklärungsansatz, nicht oder ungültig abgestimmt als für eine der großen Parteien. In den Medien ist nun viel vom „K-Effekt“ die Rede, das wunder- same Ergebnis umschreibend, das mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Kirchner die soziopolitische Krise des Landes, die sich in einer generellen Ablehnung der politischen Klasse wie der demokratischen Institutionen (Parteien, Parlament, Justiz, Regierung) durch weite Teile der Bevölkerung ausdrückte, fast vergessen scheint. Der alleinige Verweis auf die strategischen Qualitäten des neuen Präsidenten übersieht allerdings, dass es bereits im Verlauf des Jah- res 2002 zu einem kontinuierlichen Rückgang sozialer Proteste kam. Und die Umfragen des Latinobarómetros zeigen Erstaunliches: Nicht nur stieg die Zufriedenheit der Argentinier mit der Funktionsweise ihrer Demokratie, die im Frühjahr 2002 mit 8% mehr oder „Que se vayan todos“ , zu deutsch in etwa „alle sollen sie abhauen“, lautete eine zentrale Forderung der Protestierenden - hier auf einem weniger Zufriedenen einen historischen Tief- Transparent vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires. Bild: Nicolas Pousthomis punkt erreicht hatte, schnell wieder an (auf 34% für 2003). Die generelle Unterstützung weiter Teile der – traditionell breiten – Mit- der sich in vier Stränge gliedert. Erstens ge- der Demokratie, die in den vergangenen Jah- telschichten. lingt dem politischen System eine partielle ren spürbar gesunken war, wuchs bereits Die Übersetzung von Wirtschaftskrise und Rückgewinnung von Output-Legitimität: während der offene Krise: auf 65% (2002) materieller Not breiter Gesellschaftsschich- Eine allmähliche makroökonomische Stabi- bzw. 68% (2003) (siehe Tabelle auf Seite 3). ten in eine Gefährdung des politischen Sy- lisierung sowie soziale Nothilfeprogramme Diese erstaunliche Restabilisierung der ar- stems ist ein gängiges Thema nicht nur der lindern die schlimmsten Krisenfolgen. Da- gentinischen Demokratie gilt es, mit dem Lateinamerikaforschung. Auch die Demo- bei verstärkt die Verteilung staatlicher Gel- Ausmaß der Krise zu kontrastieren, die aus kratietheorie im Allgemeinen und Arbeiten der über Patronagenetzwerke deren Wirkung „nördlicher“ Perspektive nur mehr mit den zum demokratischen innerstaatlichen Frie- im Sinne der gezielten Wiederanbindung von Erfahrungen der Großen Depression zu ver- den (democratic civil peace) im Besonderen Protestgruppen an das politische System. gleichen ist. In drei Jahren der Rezession betonen, dass die Stabilisierungs- und Zweitens zeigt sich ein mehrstufiges Einge- (1999-2001) und einem vierten des freien Zivilisierungsleistung der Demokratie der hen der Politik auf die Protestforderungen ökonomischen Falls (2002) sank das Brutto- sozioökonomischen Unterfütterung bedarf. (Input-Dimension): Regierung und Parla- inlandsprodukt Argentiniens um über ein Zwar sind die liberal-demokratischen Insti- ment reagieren mit personellen Konsequen- Viertel, das durchschnittliche Pro-Kopf-Ein- tutionen, die die gewaltfreie Artikulation zen (Rücktritten), mit Verhandlungs- und kommen verfiel gar um knapp zwei Drittel – gesellschaftlicher Interessen und Ideen er- Dialogangeboten, mit der Vorverlegung von von über 8.000 US-Dollar (1998) auf unter möglichen sowie Regeln der friedlichen Be- Wahlen sowie mit der Übernahme konkre- 3.000 US-Dollar (2002). In einem Land, das arbeitung politischer Konflikte bereitstellen, ter gesellschaftlicher Forderungen in Rheto- sich in Sachen Armut, Arbeitslosigkeit und unzweifelhaft der zentrale Baustein des in- rik und Politik. Der genannte „K-Effekt“ ist Ungleichheit positiv von lateinamerikani- nerstaatlichen Friedens. Aber dieser bedarf zu einem Großteil hier zu verorten. Er basiert schen Standards abzusetzen pflegte, leben der grundsätzlichen gesellschaftlichen Aner- darauf, dass Präsident Kirchner die zentra- nun über die Hälfte der Bevölkerung offiziell kennung und Akzeptanz nicht nur der de- len, in den Protesten artikulierten Kritik- in Armut. Die Arbeitslosenrate, die in der mokratischen Prozesse (Input-Legitimität), punkte an der real-existierenden argentini- 2 HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise schen Demokratie aufnimmt (wirtschafts- der organisierten Arbeiterschaft, durch politische Fremdbestimmung durch IWF Informalisierung und Prekarisierung von und USA, Korruption, demokratische „De- Arbeit, durch die Verbreitung von „alter“ und fekte“ in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und „neuer“ Armut, durch soziale Fragmen- Menschenrechte). tierung und Individualisierung charakteri- Diese doppelte, aber gleichwohl recht be- siert ist, begrenzt systematisch die Möglich- grenzte Restaurierung von demokratischer keiten sozialer Organisation und kollektiver Legitimität spiegelt sich in der genannten all- Mobilisierung breiter gesellschaftlicher mählichen Erholung der Zustimmungsraten Schichten. In diesem Kontext, so die zentrale zur Funktionsweise der Demokratie. Die re- These des vorliegenden Standpunktes, kann lative Stabilität der Demokratie auch auf dem nun in der Tat ein relativ begrenztes Maß an Höhepunkt der Krise kann so allerdings nicht Input-, Output- und negativer Legitimität ausreichend erklärt werden. Hier greift drit- der real-existierenden Demokratie genügen, tens eine Form „negativer“ Legitimation: das um die Stabilität des innerstaatlichen Frie- Fehlen jeglicher Alternativen. Dabei war die dens zu sichern. Ob so allerdings gesellschaft- – aus historischer bzw. lateinamerikanischer licher Zusammenhalt langfristig gewährlei- Kleines Wörterbuch Perspektive naheliegende – Option eines Mi- stet werden kann, muss hier – ganz abgesehen zur Argentinienkrise litärputsches aus mehreren Gründen ver- von der Frage der normativ begründeten asambleas populares schlossen (Erfahrungen mit der jüngsten Kritik an dieser Form „neoliberaler Demo- Volksversammlungen; lokale Form der gesell- Militärdiktatur, internationaler Kontext). kratie“ – eine offene Frage bleiben. schaftlichen Selbstorganisation, auf Stadtteil- Vor allem aber fehlte jeglicher Anreiz für ein und Nachbarschaftsebene (deshalb auch asambleas barriales bzw. asambleas vecinales), traditionelles Eliten-Bündnis mit dem Mili- die im Nachgang der Proteste Ende 2001 ent- tär, denn von den Protestbewegungen ging Die 1990er Jahre: Vom Erfolgs- steht ihrerseits keinerlei Systemgefährdung – etwa modell zum Zusammenbruch cacerolazo in Form eines alternativen Gesellschafts- Demonstrationsform, insbesondere der Mittel- projektes, einer linkspopulistischen Wende à schichten, die die Demonstrationen Ende 2001 la Venezuela oder außer Kontrolle geraten- Die Wirtschaftskrise Argentiniens in ihren und Anfang 2002 prägt und deren Kennzei- diversen Ursachen und Dimensionen ist viel- chen das massenhafte Schlagen von Kochtöp- der anarchischer Zustände – aus. Auch die fen (cacerolas) und Pfannen ist konkrete Forderung nach Auflösung von fach analysiert und bewertet worden. Hier Parlament, Regierung und Oberstem Gericht soll deshalb nur ein kursorischer Überblick corralito durch eine verfassunggebende Versamm- gegeben werden. wörtlich: Gehege, Laufstall, Zwinger; Begriff für das weitgehende Einfrieren der Bankgutha- lung, die 2002 durchaus breite gesellschaftli- Die gesetzlich festgeschriebene Bindung ben (Beschränkung von Bargeldabhebungen che Unterstützung fand, verschwand mit der argentinischen Währung, des Peso, an auf 1.000 Peso pro Monat). Der corralito wurde dem Auseinanderbrechen der dahinter ste- den US-Dollar im Verhältnis 1-zu-1 bildete Ende 2001 per Notdekret verordnet, ab Herbst 2002 nach und nach aufgehoben, nachdem henden Protestkoalition schnell von der po- den Kern des wirtschaftspolitischen Modells allerdings die Dollarguthaben in argentinische litischen Agenda. der 1990er Jahre. Carlos Menem von der in Pesos umgewandelt worden waren Die Formen der sozialen Proteste selbst der Tradition Peróns stehenden „Gerech- tigkeitspartei“ (Partido Justicialista, PJ) war fábricas recuperadas zeigen sich somit viertens als zentraler Schlüs- von insolventen Unternehmen verlassene sel zur Erklärung von De- wie Restabilisie- 1989 mit weitgehend traditionell pero- Fabriken, die von den Arbeitern übernommen rung. Hochgradig fragmentierte, heterogene, nistischen, d.h. auf die organisierte Arbei- und in Eigenregie weitergeführt werden; einer- spontan alliierte und primär lokal organi- terschaft und die unteren Schichten abzie- seits führen diese Übernahmen zu teils harten Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern sierte Protestgruppen prägen das Auf und lenden, Parolen gewählt worden (siehe und der Polizei, andererseits werden einzelne Ab der Protestkonjunktur. Eine programma- Übersicht zum Peronismus auf Seite 7). Zur Fabriken auch offiziell enteignet und den tische Plattform, auf der sich größere gesell- Bekämpfung der von der Vorgängerregierung Beschäftigten überlassen schaftliche Allianzen bilden könnten, fehlt pesificación völlig. Und die konkreten „sozialen Innova- in etwa: „Pesifizierung“; Begriff für den tionen“ (Tauschringe, Übernahmen verlas- Prozess der Entdollarisierung, mit dem im Laufe des Jahres 2002 alle auf US-Dollar lau- sener Fabriken, lokale Volksversammlungen) tenden Forderungen und Verbindlichkeiten bedeuten de facto einen Beitrag der Proteste sowie private Verträge wie Mieten u.ä. auf zur Stabilisierung sozioökonomisch prekä- argentinische Pesos umgestellt wurden rer Verhältnisse. Diese Formen der Proteste piqueteros lassen sich auf den soziostrukturellen Wan- Bezeichnung der organisierten Arbeitslosen, del zurückführen, der mit der neoliberalen die ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Restrukturierung Argentiniens einherging. massive, oft tagelange Straßenblockaden (piquetes) als zentrale Protestform etablieren Die gegenwärtige gesellschaftliche Konstel- lation, die durch eine markante Schwäche Fortsetzung auf Seite 5 HSFK Standpunkte5/2003 3
geerbten Hyperinflationskrise setzte Menem die trotz der harten Beschränkungen des porte bleibt dem Staat nur mehr die Alter- nach seiner Wahl allerdings auf einen harten currency board Wirtschaftswachstum er- native zwischen einer Sparpolitik, die Rezes- Kurs der wechselkursorientierten Stabilisie- möglichten. sion und Deflation vertieft, und dem Gegen- rung des Geldwertes: Mit der festen Bindung In den Erfolgsbedingungen dieses argen- steuern durch Auslandsverschuldung. des Peso an den Dollar 1991 ging die Ein- tinischen Modells finden sich zugleich die Die Folgen waren so vorhersehbar wie bit- richtung eines so genannten currency board Gründe seines Scheiterns. Nach der erfolg- ter. Die Kombination aus Handelslibera- einher – ihrer geld- und währungspolitischen reichen monetären Stabilisierung werden lisierung und Überbewertung resultierte in Funktionen weitestgehend beraubt, durfte die Wechselkursbindung und currency board zur De-Industrialisierung und Arbeitslosigkeit, Zentralbank Pesos nur mehr dann ausge- ökonomischen Zwangsjacke: Die Wirt- da auch begrenzte Produktivitätssteigerun- ben, wenn diese durch harte Devisen gedeckt schaftspolitik ist nicht mehr in der Lage, auf gen und Maßnahmen zur „Flexibilisierung waren. ökonomische Schocks zu reagieren. Und sol- der Arbeit“ den Verlust an Wettbewerbsfä- Ein solches currency board-System be- che Schocks kommen unvermeidlich. Im ar- higkeit argentinischer Unternehmen nicht kämpft die Inflation auf doppelte Weise. Zum gentinischen Fall trat nicht nur die oben an- aufhalten konnten. Die Kombination aus Ersten koppelt es die Steigerung der natio- gesprochene reale Aufwertung gegenüber den sinkenden Kapitalimporten und wachsen- nalen Geldmenge an den Zufluss internatio- USA ein. Vor allem wuchs die Überbewer- den Finanzabflüssen verursachte (aufgrund naler Devisen. Damit einher geht ein relativ tung des Peso gegenüber Drittwährungen, die der Devisenknappheit) steigende Zinsen und hohes Zinsniveau, um die Attraktivität der im Zuge von Währungskrisen ihrerseits ge- einen schrumpfenden Binnenmarkt, die nationalen Währung zu steigern. Zum Zwei- genüber dem US-Dollar abwerteten. Die Fi- Kombination aus Überbewertung und ten drückt die Wechselkursbindung auf das nanzkrisen in Mexiko (1994/1995), Asien Hochzins führte direkt in Deflation und Re- interne Preisniveau: Mit jeder Erhöhung der (1997/1998) und insbesondere Brasilien zession. Und als mit der massiven Abwer- Binnenpreise werden ausländische Import- (1999) bedeuteten für Argentinien aber nicht tung des brasilianischen Real Anfang 1999 güter billiger, die eigenen Exporte dagegen nur einen massiven Verlust an Wettbewerbs- das Scheitern des currency board absehbar teurer. Eine solche reale Aufwertung senkt – fähigkeit. Sie führten auch zu einer generel- wurde, setzte der bekannte Kreislauf der Fi- da die Importe steigen, während die Exporte len Abkehr internationaler Investoren und nanzkrise ein. Zweifel an der Dauerhaftigkeit zurückgehen – nun ihrerseits den Zufluss Kreditgeber von den Schwellenländern. der Dollarparität wie an der Zahlungsfähig- ausländischer Devisen, begrenzt somit das Gleichzeitig flossen mit der zunehmenden Re- keit Argentiniens bewirkten auf den interna- interne Geldmengenwachstum. patriierung der Gewinne ausländischer Un- tionalen Finanzmärkten ein massiv steigen- Tatsächlich war die argentinische Strate- ternehmen – direkte Folge der vorher- des „Länderrisiko“, d.h. einen wachsenden gie der Inflationsbekämpfung außerordent- gegangenen Kapitalimporte – harte Dollars Zinsaufschlag auf argentinische Staatsanlei- lich erfolgreich. Und nicht nur das: Mit wei- ab, während nach dem Ausverkauf der staat- hen. Der externe Schuldendienst wuchs also teren neoliberalen Reformen aus dem lichen Unternehmen die Privatisierung als weiter, während das „mitwachsende“ inter- Katalog des Internationalen Währungsfonds Devisenquelle versiegte. Hinzu kamen die stei- ne Zinsniveau sowie die überbewertungs- (IWF) gelang der Regierung Menem kurz- genden Zins- und Tilgungszahlen ans Aus- induzierte Deflation private Schuldner (In- zeitig eine eindrückliche Wachstumspolitik. land, die mit der in der zweiten Hälfte der dividuen wie Unternehmen) im Inland in den Durch eine radikale Außenöffnung der na- 1990er Jahre stark anwachsenden, vor allem Ruin trieb. Die Wirtschaft versank immer tionalen Ökonomie, vor allem gegenüber den öffentlichen Verschuldung einhergingen. Die tiefer in der seit August 1998 andauernden internationalen Finanzmärkten, konnte sich Auslandsverschuldung stellt dabei gewisser- Rezession. Argentinien als erfolgreicher emerging market maßen die Kehrseite des currency board-Sy- Obwohl das Ende des argentinischen etablieren und von den zu Beginn der 1990er stems dar: Erstens macht gerade die fixe Bin- Wirtschaftsmodells mithin seit 1999 nur Jahre weltweit nach Anlagemöglichkeiten dung des Peso eine Verschuldung in Dollar mehr als eine Frage der Zeit gelten konnte, suchenden Kapitalströmen profitieren. Vor besonders attraktiv. Zweitens ist es das hielt Präsident Fernando De la Rúa stur an allem die umfassende Privatisierung staatli- currency board selbst, dass die Binnen- der Dollarparität fest – vom IWF darin kräf- cher Unternehmen führte zu ansehnlichen dynamik der Wirtschaft de facto an das tig unterstützt.1 In den Wahlen 1999 hatte ausländischen Direktinvestitionen – und Wachstum der Auslandsverschuldung kop- De la Rúa von der „Radikalen Bürgerunion“ damit auch zu den nötigen Dollarzuflüssen, pelt – als Mittel gegen sinkende Kapitalim- (Unión Cívica Radical, UCR), der neben den 4 HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise Peronisten zweiten, „liberalen“ Traditions- blockaden, bei denen in der Regel staatliche Fortsetzung von Seite 3 partei Argentiniens, an der Spitze einer Ko- Sozialprogramme gefordert wurden, lässt alition (Alianza) mit dem neuen Mitte- sich die Eskalation der sozialen Krise able- ¡Que se vayan todos! Links-Bündnis FREPASO (Frente País sen: Nach ersten Straßenblockaden 1996 in etwa: „Alle sollen sie abhauen!“; zentrale Solidario) die Peronisten geschlagen. Eine stieg die Anzahl der piquetes schnell an, über „Forderung“ der Proteste, die sich gegen die gesamte politische Klasse Argentiniens richtet Abkehr von currency board und Dollar- eine Blockadeaktion alle anderthalb Tage bindung war allerdings nach den anfängli- (1999), tägliche Blockaden (2000) auf vier saqueos chen wirtschaftspolitischen Erfolgen der bis fünf Blockaden pro Tag (2001). So wur- Bezeichnung für die Plünderungen von Le- bensmittelgeschäften Strategie – insbesondere dem Sieg über die den die sich auch landesweit organisieren- Hyperinflation – zu einem parteiübergrei- den Arbeitslosenorganisationen zu einem clubes de trueque fenden Tabu geworden. Diesem Tabu lag ein bedeutenden, wenn auch keineswegs einheit- Tauschringe; Einrichtungen auf lokaler Ebe- reales Dilemma zu Grunde. Im Zuge der lichen nationalen Akteur der argentinischen ne, in denen Bürger Güter und Dienstleistun- gen direkt (bzw. über eigene Quasi-Währun- Hyperinflation wie der Reformen der 1990er Protestlandschaft (s.u.). gen, créditos, vermittelt) austauschen; seit Jahre war der Dollarisierungsgrad des ar- Die Kehrseite des Aufstiegs der piqueteros 1995 breiteten sich die Tauschringe im Zuge gentinischen Finanzsystems massiv angestie- war die massive Schwächung der Gewerk- der Krise über das ganze Land aus, brechen nach einem enormen Wachstum 2002 aber gen. Und bei größtenteils auf Dollar lauten- schaften. Dabei traf die „Neoliberalisierung“ schließlich überlastet zusammen den Einlagen und Verbindlichkeiten würde (Ricardo Gutiérrez) der peronistischen Par- eine starke Abwertung nicht nur die öffentli- tei die organisierte Arbeiterschaft auf dop- voto bronca in etwa: Protestwahl; Sammelbezeichnung für che Hand, sondern auch Banken, Unterneh- pelte Weise. Zum einen – in Form des An- votos en blanco (Abgabe leerer Stimmzettel), men und Privatleute in den Ruin treiben. Es stiegs von Arbeitslosigkeit, informeller und votos en nulo (ungültig) und Wahlabstinenz bedurfte deshalb erst der umfassenden Es- prekärer Arbeit – unmittelbar. Zum ande- (trotz Wahlpflicht) kalation der Krise in der sozialen „Explosi- ren führte die umstrittene Haltung zur Re- on“ vom Dezember 2001, um die Abkehr gierung Menem zu einer Spaltung in drei vom argentinischen Modell zu erzwingen. konkurrierende Dachverbände: Da die ar- gentinischen Gewerkschaften traditionell eng mit dem Peronismus verwoben sind, blie- Dezember 2001: Die soziale ben viele Gewerkschaften der Regierung „Explosion“ der Krise Menem trotz deren programmatischer Wen- de weitgehend treu. Erst mit dem Wechsel der peronistischen Partei in die Opposition Im Unterschied zum ökonomischen Zusam- nach dem Wahlsieg De la Rúas gelang es den menbruch kam die soziale „Explosion“ Gewerkschaften wieder zunehmend ge- (estallido social) vom Dezember 2001 für vie- schlossen aufzutreten. Auch in der Kumula- le Beobachter überraschend. Gleichwohl ent- tion landesweiter Generalstreiks in Reaktion stand auch die soziopolitische Krise selbst- auf die immer neuen Sparpakete der Alianza- verständlich alles andere als aus dem Nichts. Regierung 2000/2001 deutete sich die Zuspit- Im Folgenden sollen zunächst knapp die zung der Lage an. Die insgesamt 13 General- wichtigsten Ursprünge der Dezember- streiks des damals noch vereinigten unruhen dargestellt werden, um dann eben- Gewerkschaftsdachverbandes hatten in den so kurz die konkrete Eskalation der Ereig- 1980er Jahren immerhin zum Scheitern der nisse nachzuzeichnen. ebenfalls UCR-geführten Regierung Ab Mitte der 1990er Jahre hatte ein neuer Alfonsín beigetragen. gesellschaftlicher Akteur die politische Are- Am Ende sollten es aber weder die Gewerk- na betreten: die Bewegung der piqueteros – schaften noch die Arbeitslosenorganisatio- Arbeitslosenorganisationen, die mit Blocka- nen sein, die die Ereignisse vom Dezember den wichtiger Straßen (piquetes) auf sich 2001 prägten. Bestimmend wurde vielmehr aufmerksam machten. Nicht nur die Arbeits- die unorganisierte, aber in ihrer Ablehnung losigkeit hatte im Zuge der neoliberalen Re- des Status quo sich einige Bevölkerung „als formen der Regierung Menem (Privatisie- solche“. Zehn Jahre neoliberaler Reformen rung, Außenöffnung, Deregulierung) und und drei Jahre der Rezession hatten dafür der Nebenwirkungen des currency board die Grundlagen gelegt: Nach Berechnungen (De-Industrialisierung, Rezession) histori- des argentinischen Ökonomen Bernardo sche Ausmaße erreicht, auch die Indikatoren Kliksberg waren bereits im Verlauf der für Armut und soziale Ungleichheit ver- 1990er Jahren insgesamt sieben Millionen schlechterten sich zusehends (siehe Tabelle Menschen – ein Fünftel der Gesamtbevöl- auf Seite 4). Am Anstieg der Straßen- kerung – von der Mittelklasse in die Armut HSFK Standpunkte5/2003 5
abgestiegen. Mit Beginn des neuen Jahrtau- Regierung wird zum Epi- sends gewann der Anstieg von Armut und zentrum regelrechter Stra- extremer Armut noch einmal an Fahrt, so- ßenschlachten. De la Rúa dass nicht-staatliche Berechnungen von bis ruft den nationalen Not- zu 80% verarmten Argentiniern sprechen. stand aus, die Bevölkerung Ein deutliches Alarmsignal der allgemeinen reagiert mit einem großen Unzufriedenheit ging von den Parlaments- cacerolazo. Nachdem sein wahlen im Oktober 2001 aus, bei denen rund gesamtes Kabinett zurück- vier Millionen Argentinier (etwa ein Viertel tritt – darunter Domingo der Wähler) ungültige Wahlzettel abgaben – Cavallo, der Architekt des und das bei trotz Wahlpflicht lediglich 74% currency board, den De la Wahlbeteiligung. Rúa zuletzt als „Super- Im Dezember 2001 überschlugen sich die minister“ in die Regierung Ereignisse. Nach einem Massenansturm auf aufgenommen hatte –, der die Banken und einer gigantischen Kapital- Versuch zur Bildung einer flucht im November zog die Regierung am Notstandsregierung am Widerstand der über eine starke peronistische Hausmacht 1. Dezember die Notbremse: Bargeldab- Peronisten scheitert und sich die Proteste verfügt (Duhaldismo), gleichzeitig aber als hebungen wurden auf 1.000 Peso pro Mo- weiter zuspitzen, flieht De la Rúa am 20. De- Gegenspieler Menems schon frühzeitig mehr nat begrenzt, Auslandsüberweisungen waren zember an Bord eines Hubschraubers aus soziale Gerechtigkeit eingefordert hatte, bil- ab sofort genehmigungspflichtig. Dieser so dem Präsidentenpalast. Die zweitägigen Un- det eine „Regierung der nationalen Einheit“, genannte corralito brachte das Fass gesell- ruhen haben rund 30 Tote und viele Hun- die auf die Unterstützung von PJ, UCR und schaftlicher Unzufriedenheit – das von Spar- dert Verletzte gefordert. FREPASO zählen kann. In der Folge räumt paket zu Sparpaket randvoll angelaufen war Mit dem Rücktritt des gewählten Präsiden- das Parlament der Regierung auf ein Jahr – zum Überlaufen. Das weitgehende Einfrie- ten stürzt das politische System in eine ern- befristete Sondervollmachten ein, die Dollar- ren der Bankguthaben trocknete die noch ste Krise. Den politischen Akteuren gelingt bindung des Peso wird zunächst teilweise verbliebenen formellen Wirtschaftsaktivitä- es aber, das mit dem Rücktritt der komplet- aufgehoben, später der Wechselkurs kom- ten aus und machte die Situation insbeson- ten Regierung entstandene politische Vaku- plett freigegeben. In seiner Antrittsrede be- dere für Kleinsparer, Kleinhandel und gene- um durch parteipolitische Aushandlungs- tont der neue Präsident zudem, es gelte, das rell für die städtischen Mittelschichten end- prozesse im Rahmen der Verfassung von Wirtschaftsmodell zu beenden, das der gro- gültig untragbar. Gleichzeitig legte die 1994 zu füllen. Senatspräsident Ramon ßen Mehrheit des Volkes nur Verzweiflung Regierung einen Haushaltsentwurf für 2002 Puerta (PJ) übernimmt kommissarisch die gebracht habe. vor, der weitere drastische Einsparungen Amtsgeschäfte, bis der Kongress am 22. De- Unterdessen nehmen die Massenproteste vorsah und auf den die Gewerkschaftsver- zember – entsprechend der peronistischen kein Ende. Schließlich ist es wiederum die bände mit einem gemeinsamen Generalstreik Mehrheiten in beiden Häusern – Adolfo breite Bevölkerung, die durch die massive reagierten. Rodríguez Saá (PJ) zum Interims-Präsiden- Abwertung des Peso um mehr als 70% so- Ab dem 12. Dezember spitzte sich die Situa- ten wählt. Rodríguez Saá gibt bekannt, Ar- wie die anziehende Inflation an Kaufkraft tion landesweit zu, zunehmend gewaltsame gentinien werde die Bedienung der Auslands- verliert, während die Bankguthaben unver- Unruhen griffen auch auf die Hauptstadt schulden einstellen, betont aber, an der mindert eingefroren bleiben. Neben auf über. Dabei bestimmen zwei Phänomene die bisherigen Währungs- und Finanzpolitik fest- Buenos Aires konzentrierten Demonstratio- Protestlandschaft: Plünderungen von Super- halten zu wollen. Nachdem er zentrale Figu- nen gegen den corralito kommt es auch zwi- märkten (saqueos), die das Ergebnis hetero- ren der Menem-Ära in sein Kabinett holt und schen piqueteros und der Polizei weiterhin zu gener und spontaner Allianzen mittelloser einen mehrtägigen Bankfeiertag ausruft, schweren Zusammenstößen. Nicht nur das: Unterschichten sind, sowie cacerolazos, kommt es allerdings erneut zu schweren Mit Volksversammlungen auf Stadtteil- und „Kochtopf-Demonstrationen“, die geprägt Unruhen im ganzen Land sowie zu einem Nachbarschaftsebene (asambleas populares) sind von der Wut der (ehemaligen) städti- weiteren großen cacerolazo in Buenos Aires. entwickelt sich, im Anschluss an die Proteste schen Mittelschichten. Die politischen Reak- Am 30. Dezember gibt Rodríguez Saá den vom Dezember 2001, eine neue Form der tionen – Repression durch die Exekutive, andauernden Protesten nach und tritt eben- gesellschaftlichen Selbstorganisation. Auch Passivität auf Seiten der Parteien – verschär- falls zurück. Senatschef Puerta weigert sich, erlebt mit der Einführung des corralito die fen die Stimmung. Die Rechnung der Regie- erneut einzuspringen; das Amt fällt deshalb Parallelökonomie der Tauschringe (clubes de rung, mit der gewaltsamen Wiederherstel- an den Präsidenten des Abgeordnetenhau- trueque), über die Bürger seit 1995 einen lung der Ordnung die plündernden Unter- ses. In einer gemeinsamen Sondersitzung am Austausch von Gütern und Dienstleistungen schichten und die „friedlichen Nachbarn der Neujahrstag bestimmt der Kongress schließ- organisiert hatten, ein explosionsartiges Hauptstadt“ zu spalten, geht nicht auf. Am lich Eduardo Duhalde (PJ) zum Präsiden- Wachstum. Und im Zuge der fortgesetzten 19. Dezember herrscht in Buenos Aires ein ten, der das Amt bis zu Direktwahlen Ende Firmenpleiten übernehmen immer mehr „Klima des zivilen Aufstands“ (Àngel 2003 ausüben soll. Duhalde, der als langjäh- Beschäftigte in Eigenregie von insolventen Jozami), die Plaza de Mayo mit dem Sitz der riger Gouverneur der Provinz Buenos Aires Unternehmen verlassene Fabriken (fábricas 6 HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise Auch im Frühjahr 2002 hielten die Proteste im ganzen Land an. Während Arbeitslose mit Straßen- sperren für staatliche Unterstützung kämpften, forderte der städtische Mittelstand vor allem Zugang zu seinen Konten. Die heterogene Zusammen- Kleines Wörterbuch setzung der Protestierenden und ihr geringer Grad an zum Peronismus Organisiertheit kann als ein Grund dafür gelten, dass die Peronismo Unruhen allmählich im Laufe Nach Juan Domingo Perón, zweifacher Präsi- des Jahres 2002 verebbten. dent (1946-1955, 1974); Peronismus und pero- nistische Partei (Partido Justicialista, PJ, Bilder: Nicolas Pousthomis Gerechtigkeitspartei) stehen traditionell für eine populistische, linksnationalistische Bewe- gung, die Programmatik kombiniert Sozialpo- recuperadas). Währenddessen erreichen Ar- Gas, Wasser, Telefon u.a.) trotz Inflation und litik und Autoritarismus, staatlich induzierte Industrialisierung und Binnenmarktorientie- beitslosigkeit, Armut und soziale Ungleich- Abwertung eine im Zuge von Finanzkrisen rung, begrenzte Umverteilung und Stärkung heit stets neue Höchstwerte. „übliche“ Quelle sozialer Unruhen. Und den der Arbeiterschaft; soziale Basis sind die eng endgültigen Ruin in den Reihen der Mittel- an Staat und Partei gebundenen Gewerkschaf- schicht und der binnenmarktorientierten Un- ten sowie die Unterschichten; zentrale Gegner sind die traditionelle Oligarchie sowie die 2002/2003: Von der ternehmen, den die Aufwertung von Dollar- nicht-peronistische Linke. Die Auseinanderset- Restabilisierung zum „K-Effekt” Schulden im Zuge der Peso-Abwertung zung zwischen Peronismus und Anti-Peronis- bedeutet hätte, verhindert eine asymmetri- mus bestimmt die argentinische Politik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; 1955 und sche Entdollarisierung (pesificación) des 1976 werden peronistische Regierungen in Zentral für die allmähliche Abkühlung der Finanzsystems: Während Dollar-Schulden Militärputschen gestürzt. Proteste im Laufe des Jahres 2002 ist un- zum alten Kurs von 1-zu-1 umgewandelt Menemismo zweifelhaft eine gewisse materielle Linderung werden, werden sämtliche Einlagen auf 1,40 Nach Präsident Carlos Menem (1989-1998); der Krisenfolgen. Die Regierung Duhalde legt Peso/Dollar umgestellt. Das bedeutet eine steht für die Transformation des Peronismus im verschiedene Nothilfeprogramme für Ar- direkte Entlastung für verschuldete Unter- Sinne von „Neoliberalisierung“ und „Ent- beitslose und arme Familien auf, die weitere nehmen wie Haushalte, während die Wechsel- Vergewerkschaftlichung“ (desindicalización); die fortgesetzte Anbindung der unteren Wellen von Plünderungen verhindern. So kursdifferenz einerseits von den Banken ge- Schichten an den PJ basiert neben der erhalten mit dem im April aufgenommenen tragen wird, andererseits aber vor allem von personalistisch-populistischen Ansprache und Plan Jefes y Jefas de Hogar etwa zwei Millio- den Sparern, deren 1,40 Peso nach der Frei- dem Sieg über die Hyperinflation vor allem auf Patronagenetzwerken (siehe Duhaldismo). nen arbeitslose Haushalte monatliche Zah- gabe des Wechselkurses weniger als einen Korruption – besonders auch bei der Privati- lungen von circa 50 Euro. Die Aufnahme so- halben Dollar wert sind. Die Sparer werden sierung der Staatsunternehmen – wird zum zialer Hilfsprogramme bedeutet aber nicht ihrerseits mit der schrittweisen Freigabe der zentralen Merkmal des von Menem geprägten „argentinischen Neoliberalismus“. Aktuell „nur“ die Bekämpfung materieller Not. Ei- Bankguthaben ab Herbst 2002 besänftigt. steht menemismo für die Strömung innerhalb nerseits reaktiviert die peronistische Partei Basis der sich hier zeigenden begrenzten des PJ, die gegen Duhalde und Kirchner wei- dabei auch etablierte Patronagestrukturen staatlichen Handlungsspielräume ist das terhin auf das Wirtschaftsmodell der 1990er auf lokaler und provinzieller Ebene, die mit Schuldenmoratorium. Die weitgehende Aus- Jahre setzt. der „Neoliberalisierung“ der peronistischen setzung des Schuldendiensts bildet den größ- Duhaldismo Partei zum primären Mechanismus zur Bin- ten Posten der Sparpolitik, auf die auch die Nach Präsident Eduardo Duhalde, der als dung der unteren Schichten an Partei und Regierung Duhalde unvermindert setzt. Denn langjähriger PJ-Gouverneur der Provinz Buenos Aires (1991-1999) zum Symbol Staat geworden waren, mit der Finanzkrise schließlich zielt Duhalde weiterhin auf die patronage-basierter Führung wird: Die gezielte der öffentlichen Hand aber zuletzt weitge- Unterstützung des IWF, der 2002 zunächst Vergabe von staatlichen Ressourcen (Infra- hend „ausgetrocknet“ waren. Andererseits einen Aufschub für die Rückzahlung fälliger struktur- und Sozialprogramme, öffentliche Stellen) für und durch „duhaldistische“ Politi- dient beispielsweise die Vergabe von Teilkredite und im Januar 2003 auch wieder ker auf allen Ebenen ermöglicht einerseits die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über die „frisches Geld“ bewilligt. Kredite von Inter- Kontrolle des Parteiapparats durch loyale lokalen piquetero-Verbände der politischen amerikanischer Entwicklungsbank und Welt- Politiker, andererseits die lokale Anbindung Re-Integration konkreter Protestgruppen. bank tragen ihrerseits zur Finanzierung so- nicht-organisierter „Klienten“ (Arme, Arbeits- lose, informeller Sektor) an die Partei- Der Peronismus kann so seine alte sozial- zialer Hilfsprogramme bei. Außerdem gelingt strukturen. Aktuell steht duhaldismo für die integrative Kraft zumindest teilweise wieder im Laufe des Jahres 2002 – im Kontext eines Strömung innerhalb des PJ, die gegen Menem erlangen. real um 11% fallenden Bruttoinlandpro- und das Modell der 1990er Jahre auf Duhalde und Kirchner setzt; jüngst zeigen sich aller- Gleichzeitig unterbindet die Regierung dukts, sinkender Reallöhne und steigender dings zunehmende Spannungen zwischen durch das Einfrieren der Tarife der privati- Armut – eine gewisse makroökonomische duhaldismo und Kirchner-treuen Peronisten sierten Versorgungsunternehmen (Strom, Stabilisierung. Mit den einbrechenden Im- (kirchnerismo). HSFK Standpunkte5/2003 7
porten verbessert sich Argentiniens Handels- die Auflösung von Parlament, Regierung und dass Menem seine Kandidatur vor der Ent- bilanz deutlich, die Leistungsbilanz wird erst- Oberstem Gericht durch eine verfassungge- scheidung zurückzieht, obwohl er die erste mals seit 1990 wieder positiv. Auch der be- bende Versammlung ein und ruft für die Runde knapp für sich entscheiden konnte fürchtete Inflationsschub kann in Grenzen Präsidentschaftswahl zur Abgabe ungültiger (24% gegenüber 22% für Kirchner). gehalten werden, und der Wechselkurs sta- Stimmzettel auf. Andererseits entbrennen Obwohl die demokratische Legitimation bilisiert sich bei etwa 3 Peso/Dollar. Generell innerhalb der etablierten Parteien harte des neuen Präsidenten mit einem knappen führt das niedrige Niveau von Währung und Machtkämpfe. Nachdem die UCR bereits Fünftel der Wählerstimmen somit äußerst Reallohn zu einer Erholung der Rentabilität mit dem Scheitern De la Rúas den Weg in die gering ist, und viele bereits eine erneute Zu- argentinischer Unternehmen. Vor allem ar- Bedeutungslosigkeit angetreten hatte, scheint spitzung der politisch-institutionellen Krise beitsintensive Branchen der Textil- und Me- die peronistische Partei zeitweise den Radi- erwarten, gelingt Kirchner die durchaus er- tallindustrie beginnen infolge der Import- kalen nachzufolgen. Nach heftigen internen staunliche Leistung, auch nach Amtsantritt substitution wieder zu wachsen; bei den Querelen treten im April 2003 schließlich mit die breite Zustimmung zu sichern, die zu- Exporten profitieren allerdings vor allem Pri- dem Altpräsidenten Menem, dem Kandida- nächst allein auf seinem Status als dem ge- mär- sowie landwirtschaftsnahe Manu- ten Duhaldes Néstor Kirchner sowie dem genüber Menem geringeren Übel beruht hat- fakturgüter (Getreide, Soja, Fleisch, Öl). glücklosen Interims-Präsidenten Rodríguez te. Ohne in die Tagespolitik einzusteigen, soll Diese materielle Linderung der Krisenfol- Saá gleich drei PJ-Politiker zur Wahl an. hier nur knapp die Wirkungsweise des „K- gen bleibt allerdings insgesamt – wie u.a. die Letztlich ist es aber gerade diese Zersplit- Effekts“ skizziert werden: Rhetorik und kon- nur geringfügig sinkenden Armuts- und terung des Parteiensystems, die den Wäh- krete Maßnahmen, die Kirchner eine bis Arbeitslosenraten zeigen – klar begrenzt. Die lern eine Entscheidung zwischen fünf eini- dato ungebrochene Zustimmung bescheren, Öffnung der Politik gegenüber den prote- germaßen aussichtsreichen Kandidaten, die gehen unmittelbar auf die Kritik der Prote- stierenden Gruppen ist daher als zweite zen- zumindest programmatisch für sehr ver- ste ein, indem sie in Richtung einer „De- trale Dimension der Krisenbearbeitung an- schiedene Wege stehen, ermöglicht: für die Menemisierung“ 2 des Landes weisen. Dies zusehen. So empfangen Präsident Duhalde schlichte Rückkehr in die Vergangenheit gilt erstens für wirtschaftspolitische Äuße- wie dessen Nachfolger Kirchner u.a. die di- (Menem), für einen klaren, um den Faktor rungen, die die Eigenständigkeit Argentini- versen Arbeitslosenorganisationen und ge- Korruption bereinigten Neoliberalismus ens gegenüber IWF und USA sowie in neo- hen einerseits rhetorisch, andererseits in (Ricardo López Murphy, Ex-UCR), für ei- keynesianischer Manier Binnenmarkt und Form konkreter Zugeständnisse auf Kritik nen an Duhaldes Stabilisierungspolitik an- aktiven Staat hervorheben. Wie schon und Forderungen ein. Bereits bei seinem knüpfenden, neo-keynesianisch gewendeten Duhalde setzt Kirchner außerdem auf gezielte Amtsantritt greift Duhalde außerdem eine Peronismus (Kirchner), für einen popu- sozialpolitische Zugeständnisse. Eine gewis- Initiative der Katholischen Kirche und des listisch auftretenden, traditionellen Peronis- se wirtschaftspolitische Neujustierung im In- United Nations Development Programme mus (Rodríguez Saá) sowie für eine gegen teresse des Binnenmarktes wird dabei auch (UNDP) auf: In einem landesweiten Prozess von weiten Teilen der nationalen Wirtschaft Runder Tische (Diálogo Argentino) beginnen akzeptiert, die letztendlich mit zu den Op- breite gesellschaftliche Diskussionen über fern des argentinischen Modells der 1990er Auswege aus der Krise. Diese Dialog- und Jahre gehörten. Kompromissstrategie funktioniert im Sinne Konkret überzeugen kann Kirchner bisher sowohl einer politischen Re-Integration der aber vor allem auf einem anderen Feld: Di- „moderaten“, als auch einer Marginalisierung rekt nach seinem Amtsantritt wendet er sich der „radikaleren“ Fraktionen. Die teils bruta- den vielseitig diagnostizierten „Defekten“ der le Repression von bestimmten, als „Gewalt- argentinischen Demokratie in den Bereichen akteure“ kriminalisierten Gruppen stellt in- der Gewaltenteilung und der Rechtsstaat- sofern die Kehrseite der politischen Öffnung lichkeit zu. So erreicht er nicht nur – und das von Kanälen „zivilisierten“ Konfliktaustrags sehr wohl egoistisch motiviert – den Rück- gegenüber dem Gros der Protestfront dar. tritt des Präsidenten des Obersten Gerichts- Als wichtiger Schritt im Prozess der sozia- hofes, der als Symbol für die berüchtigten, len Beruhigung erweist sich die Vorverlegung Neoliberalismus und Korruption stehende Menem-treuen Urteile des Gerichts stand, der Präsidentschaftswahlen auf das Früh- Mitte-Links-Alternative zum herkömmli- sondern reformiert zugleich den bislang jahr 2003, die Duhalde in Reaktion auf die chen Parteiensystem (Elisa Carrió, Ex-UCR). durch Intransparenz und Dominanz des andauernden Proteste im Juli 2002 ankün- Und gerade die Kandidatur Menems – der Präsidenten gekennzeichneten Prozess der digt. Mit den bevorstehenden Wahlen verla- Symbolfigur des politischen Systems der Richterernennung. Auch in der Frage der ju- gern sich die soziopolitischen Debatten wie- 1990er Jahre – ist es, die die überragende ristischen Aufarbeitung der Verbrechen aus der zunehmend von außerparlamentarischen Mehrheit der potenziellen Protestwähler am Zeiten der Militärdiktatur, im Umgang mit Protest- und Verhandlungsforen in Richtung Ende doch zur gültigen Wahl treibt. Dieser dem Militär- und Polizeiapparat sowie im der politischen Institutionen. Dies allerdings „Anti-Menemismus“ bestätigt sich in den Kampf gegen Korruption zeigt Kirchner bis- in einer Weise, die neue Befürchtungen weckt: Umfragen vor der Stichwahl, in denen Kirch- her eine klare Linie, die wiederum der Stim- Einerseits tritt eine breite Protestkoalition für ner mit über 70% so klar in Führung liegt, mung im Land entspricht. 8 HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise Während die begrenzten bzw. angekündig- Erinnerung, und das Militär somit als poli- Weiterführende Literatur ten materiellen Leistungen einen ersten tischer Akteur weitestgehend disqualifiziert. Schritt zur Restaurierung der im Zuge der Entsprechend war das Militär in keiner Wei- Zur Wirtschaftskrise 1990er Jahre ruinierten „Output-Legitimität“ se in die Krise und ihre Bearbeitung einbe- des politischen Systems darstellen, sind es zogen, und der ehemalige argentinische Jan Joost Teunissen, Age Akkerman (Hg.), also andererseits insbesondere demokratisch- Heereschef Martin Balza betonte frühzeitig: The Crisis That Was Not Prevented. Lessons for Argentina, the IMF, and Globalisation, institutionelle Maßnahmen, die über eine „Die Krise der demokratischen Werte wird The Hague (FONDAD) 2003 gewisse Erhöhung der „Input-Legitimität“ mit mehr Demokratie gelöst.“ 4 Hierfür ist Susan M. Collins, Dani Rodrik (Hg.), zur soziopolitischen Restabilisierung beitra- allerdings auch nicht unerheblich, dass der Brookings Trade Forum 2002, Washington DC gen: die Eröffnung von Dialog- und Verhand- internationale Kontext eine Abkehr Argenti- (Brookings Institution Press) 2003 lungskanälen, die Ankündigung und Durch- niens von der Demokratie mit klaren Kosten Manuel Pastor, Carol Wise, From Poster Child führung von Wahlen, Maßnahmen zur belegt hätte: Die internationalen Finanzmärk- to Basket Case, in: Foreign Affairs, Jg. 80, Nr. 6 Stärkung der Demokratie. Hier ist bereits die te, IWF, Weltbank und die bilateralen Gläu- (Nov./Dez. 2001), S. 60-72 politische Bearbeitung der Staatskrise Ende biger wie die in der Organisation Amerika- „Argentinien – Ende eines Modells“, 2001 einzuordnen, bei der es gelingt, durch nischer Staaten (OAS) zusammengeschlos- Themenschwerpunkt in: Lateinamerika Analysen, Jg. 1, Nr. 2, Juni 2002, Hamburg zahlreiche Rücktritte auf die Forderung des sene westliche Hemisphäre dürften aller (Institut für Iberoamerika-Kunde), 2002 „Que se vayan todos“ einzugehen, dabei aber Voraussicht nach klar negativ auf jede Ab- gleichzeitig auf der Basis der existierenden kehr vom institutionellen Status quo reagiert Zu Protest und politischer Krise Institutionen (Kongress, Verfassung von haben. 1994, Parteiapparate) die Polarisierung und Zweitens stellt sich der globale Umbruch Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos!, Fragmentierung zwischen und in den Par- der 1980er und 1990er Jahre in Argentinien Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin (Assoziation A) 2003 teien zumindest temporär zu überbrücken. als spezifischer Wandel des Peronismus und Grundlage einer solchen Stabilisierung seiner traditionellen Verbündeten dar: Die Leonardo Filippini, The Popular Protest in Argentina. December 2001, 1.3.2002, Buenos durch ein (zugegebenermaßen vorsichtiges) Neoliberalisierung der peronistischen Partei Aires (Centro de Estudios Legales y Sociales), Mehr an Demokratie ist der generelle Cha- unter Menem, die Schwächung und Spaltung www.cels.org.ar (Zugriff am 30.9.03) rakter der Krise als demokratie-interner Aus- der organisierten Arbeiterschaft und das Àngel Jozami, Argentina. La destrucción de einandersetzung. So werden im gesamten Auftreten neuer, weitaus diffuserer Protest- una nación, Barcelona (Mondadori) 2003 Krisenverlauf – bei allen konkreten gewalt- koalitionen verhindern eine Polarisierung Hector E. Schamis, Argentina: Crisis and samen Verstößen nicht zuletzt auf Seiten des und damit Zuspitzung der Krise. Zentral ist Democratic Consolidation, in: Journal of Staates selbst – die demokratischen rules of hier der Wandel des PJ von einer de facto Democracy, Jg. 13, Nr. 2 (April 2002), S. 81-94. the game durch keinen relevanten Akteur in Arbeiterpartei zu einer Partei, die die Ablö- Frage gestellt. Dies zeigen nicht zuletzt die sung von den Gewerkschaften und die Über- Umfragedaten des Latinobarómetro, denen nahme neoliberaler Programmatik mit der zufolge es 2002 zwar zu einem dramatischen fortgesetzten Anbindung der Unterschichten Links Verfall der Zufriedenheit mit der Funktions- über Personalisierung und klientelistische weise aller demokratischen Institutionen, Patronagenetzwerke auf provinzieller und http://www.imf.org & http://www.worldbank.org gleichzeitig aber zu einer wachsenden gene- lokaler Ebene verbindet.3 Dies intensivierte Auf den jeweiligen Seiten zu Argentinien finden sich zahlreiche Berichte aus Sicht von rellen Zustimmung zur Demokratie kommt zum einen die genannte Schwächung der IWF und Weltbank. (siehe Tabelle auf Seite 8). Die „Explosion“ organisierten Arbeiterschaft. Zum anderen vom Dezember 2001 zeigt sich eben in keiner fanden die Regierungen Duhalde und http://www.stern.nyu.edu/~nroubini/asia Auf Nouriel Roubini’s „Global Macroeconomic Hinsicht als traditionelle Krise argentinischen Kirchner in den genannten Patronage- and Financial Policy Site“ finden sich zahlrei- Typs: Weder die organisierte Arbeiterschaft netzwerken etablierte Strukturen für die che Beiträge und Links zur Argentinienkrise. und ein populistischer Peronismus auf der Kanalisierung sozialer Kompensationen im einen, noch ein Bündnis konservativer Eli- Sinne einer parallelen Förderung von gesell- http://argumentos.fsoc.uba.ar In der Internet-Zeitschrift „Argumentos“ des ten mit dem Militär treten als zentrale Kräf- schaftlicher Stabilität und (partei-) politi- Instituto de Investigaciones Gino Germani te in Erscheinung. Dies ist zum Teil durch die schem Rückhalt. Dennoch stellt sich die pero- finden sich Beiträge zu Politik, Gesellschaft, Abwesenheit jeglicher großer Alternativen zu nistische Partei nach der Neoliberalisierung Krise und Protest in Argentinien. erklären, die die gegenwärtige globale Kon- unter Menem aber keineswegs als homoge- http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/ stellation nach dem Ende des Ost-West-Kon- ne Partei dar, sodass es dem PJ drittens ge- free/imf/argentina/ flikts kennzeichnet, hat aber auch spezifisch lingen konnte, die Auseinandersetzungen Homepage „Struggles in Argentina“ mit Links zu zahlreichen Beiträgen aus Perspektive argentinische Gründe. über den richtigen Ausweg aus der Krise letzt- sozialer Protestbewegungen. Erstens ist die jüngste Militärdiktatur lich als Entscheidung zwischen peronistischen (1976-1983) nicht „nur“ als besonders bru- Kandidaten zu strukturieren. Die grundsätz- http://www.iade.org.ar/iade/Dossiers/xq/ tal, sondern im Unterschied zu Chile unter liche Kontinuität – sei es des politischeen Sy- primera.html Dossier des Instituto Argentino para el Desarrollo Pinochet auch als wirtschaftlich sowie au- stems, der Stellung der politischen und öko- Económico mit diversen „Interpretationen der ßenpolitisch (Falklandkrieg) gescheitert in nomischen Eliten oder der Grundparameter Argentinienkrise“ HSFK Standpunkte5/2003 9
der Wirtschaftspolitik – erschien so zu kei- die neoliberal restrukturierte Gesellschaft Arbeit, Arbeitslosigkeit, De-Industrialisie- nem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet. Weder erfolgreicher sozialer Mobilisierung in den rung und der Aufschwung des Dienstlei- ein linkspopulistischer Weg à la Venezuela Weg stellt: Der konsumorientierte Mittel- stungssektor verändern die sozialen Mobi- unter Chávez noch ein Weg zurück in Pro- schichtbürger, der nicht gewerkschaftlich or- lisierungs- und Protestpotenziale wie deren tektionismus und Staatsinterventionismus ganisierte Beschäftigte des Dienstleistungs- Formen: saqueos, cacerolazos und piqueteros standen zur Diskussion. oder des informellen Sektors, der atomisier- statt Generalstreiks, lokale Nachbarschafts- Einen zentralen Schlüssel zur Erklärung ist te „neue Arme“ – alle können sie sich zum versammlungen statt parteigestützte Mas- also in der Konstellation einer komplexen Lärm der Kochtöpfe individuell auf die Straße senmobilisierungen, instabile und durch die Fragmentierung der politischen Landschaft bewegen und mit demonstrieren. Aber mit akute Krise angetriebene statt langfristig aus- an Stelle einer klaren Polarisierung zu sehen. dem Protest hat sich das Organisations- gerichtete Organisation. Die soziale Beruhi- Dies gilt einerseits für das politische und öko- potenzial offensichtlich erschöpft. Dies zeigt gung zeigt sich dementsprechend nicht ein- nomische Establishment: Sowohl die sich nicht zuletzt in der Forderung des „Que fach als neue Zufriedenheit der Bevölkerung, sondern auch als Akzeptanz der derzeitigen Grenzen kollektiver Handlungsmöglich- keiten, wie es die Analysen des argentinischen Colectivo Situaciones klar zum Ausdruck bringen (siehe weiterführende Literaturhin- weise). Es ist deshalb gerade nicht „erstaun- lich, dass ein Jahr später [d.h. nach den schweren Protesten, J.W.], von dieser ver- meintlichen politischen Mobilisierung der Argentinier so gut wie nichts mehr zu ver- spüren war. Apathie und Desinteresse wa- ren die herausragenden Merkmale des Bürgerverhaltens vor der Wahl [...].“5 Bilanz: Demokratie und Stabilität in Argentinien Präsident Néstor Kirchner beim „Bad in der Menge“. Er erfreut sich einer Zustimmung von über 80% der Argentinier. Seine Beliebtheit Ausgangspunkt der Überlegungen war eine dokumentiert er mit Bildern wie diesem auf seiner offiziellen Homepage. Quelle: http://www.presidencia.gov.ar paradox anmutende Feststellung. Mit der schweren Wirtschaftskrise ging eine ernste peronistische Partei als auch die Wirtschaft se vayan todos“, die nach einer hinreichen- Destabilisierung der argentinischen Demo- zeigt sich gespalten zwischen „Menemisten“, den Anzahl von Rücktritten und Neubeset- kratie einher – der durch breite Teile der die auf eine programmatische Kontinuität zungen zwangsläufig ins Leere läuft. Auch Gesellschaft gehende Aufstand gegen „die po- zu den 1990er Jahren setzen, und denjeni- die in der Krise entstandenen „sozialen In- litische Klasse“ ist nicht als bloße Regierungs- gen, die à la Duhalde und Kirchner auf eine novationen“ sind hier einzuordnen: Weder krise abzutun. Und trotzdem zeigt sich die pragmatische Neujustierung des argentini- die Tauschringe noch die Volksversammlun- Einordnung als demokratie-interne Krise als schen Wirtschaftsmodells zielen. Andererseits gen oder die von den Arbeitern übernom- zutreffend: Weder aus der Perspektive der zeigt sich das Merkmal der Fragmentierung menen Fabriken stellen die demokratischen relevanten Akteure noch in Hinblick auf die aber vor allem für die „Protestfront“, die Institutionen vor ernste Herausforderungen. politischen Prozesse sind Tendenzen erkenn- denn auch nur sehr kurzzeitig als eine solche Im Gegenteil: Indem sie auf lokaler Ebene bar, die über das real-existierende demokra- erscheint: Ihr Organisationsgrad bleibt ge- Handlungsmöglichkeiten, Kanäle zur Arti- tische Regime hinaus zielen. Die wichtigsten nerell gering und instabil, eine programma- kulation von Unzufriedenheit und auch ganz Leitlinien der Erklärung für dieses Phäno- tische Plattform, auf der sich größere gesell- konkrete materielle Linderung zur Verfü- men, die in den vorherigen Abschnitten ent- schaftliche Allianzen bilden könnten, fehlt gung stellen, werden sie selbst Teil des wickelt wurde, sollen an dieser Stelle noch völlig. Diffusität, Heterogenität und Unorga- Stabilisierungsprozesses. einmal zugespitzt zusammengefasst werden. nisierbarkeit gelten ohnehin für die durch Auf- wie Abschwung der Protestwelle ist Die Form der „sozialen Explosion“ selbst konkrete Verzweiflung und die Gunst der damit nur vor dem Hintergrund des sozio- bildet dabei den zentralen Zugang. Denn der Stunde angetriebenen Akteure der Plünde- strukturellen Wandels zu verstehen, der mit Protest ist nicht zufällig hochgradig frag- rungen. Ähnlich lässt sich aber auch für die der sozioökonomischen Transformation mentiert, heterogen und schwach organi- Mittelschicht-basierten cacerolazos argu- der 1990er Jahre einherging. Die bereits an- siert. Er ist nicht zufällig weitgehend unor- mentieren. Denn der Typus der Kochtopf- gedeuteten Veränderungen in der Arbeits- ganisiert (saqueos, cacerolazos) oder primär Demo überwindet zwar die Hindernisse, die welt, „neue Armut“, informelle und prekäre lokal verankert (piqueteros, asambleas). Und 10 HSFK Standpunkte 5/2003
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