Argentinien nach der Krise

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Beiträge zum demokratischen Frieden

© 2003 Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Peace Research Institute Frankfurt                                                                             Nr. 5/2003

 Argentinien nach der Krise
  Zur erstaunlichen Stabilität der real-existierenden Demokratie

    E    D    I   T    O    R    I    A    L

    In fast regelmäßigen Abständen gerät
    Lateinamerika durch Krisen in die
    Schlagzeilen. Erst vor wenigen Wochen
    musste der gewählte Präsident Boliviens
    dem Druck anhaltender Massenproteste
    weichen, in Venezuela nimmt die Polari-
    sierung zwischen Anhängern und Geg-
    nern des Präsidenten Chávez kein Ende
    und auch in Ecuador spitzen sich die
    Konflikte erneut zu. Auch Argentinien
    bestätigte das Image der ewig instabilen
    Region: Im Dezember 2001 eskalierte eine
    schwere Wirtschaftskrise in landeswei-
    ten Massendemonstrationen, Staatschef
    De la Rúa floh per Hubschrauber aus
    dem Präsidentenpalast.
       Im Jahr 2002 folgte die Abwertung der     Im Dezember 2001 entlud sich die Wut der Argentinier in den cacerolazas, den so genannten „Kochtopfdemonstrationen“. Die Wirtschafts-
    Landeswährung und der fast komplette         krise trieb Arme, Arbeitslose, mittelständische Sparer und Kleinunternehmer gleichermaßen gegen die Regierung auf die Straßen.
                                                                                                                                                           Bild: Nicolas Pousthomis
    Zusammenbruch der Wirtschaft. Mit
    katastrophalen sozialen Folgen: Über die
    Hälfte der Bevölkerung sank unter die                                                                            gangspräsidenten folgten De la Rúa nach und
    offizielle Armutsgrenze, Arbeitslosigkeit                            Jonas Wolff                                 gaben ihrerseits auf – getreu dem Motto der
    und soziale Ungleichheit erreichten histo-                                                                       protestierenden Massen: „Que se vayan to-
    rische Rekordmarken.                             Kaum zwei Jahre ist es her, da gelangten                        dos!“ („Alle sollen sie abhauen“). Erst der
       Nach nur zwei Jahren jedoch ist Ar-           Bilder aus Argentinien auch hierzulande                         vierte Interims-Präsident innerhalb von zehn
    gentinien zu erstaunlicher Stabilität zu-        unter die Topmeldungen der Nachrich-                            Tagen, Eduardo Duhalde, konnte sich im Amt
    rück gekehrt. Der im Mai 2003 gewählte           tensendungen. Mitten in der Weihnachts-                         halten. Aber die Krise spitzte sich weiter zu.
    Präsident Kirchner erfreut sich breiter          zeit des Jahres 2001 war die Krise am Río                         Nachdem Duhalde die zehn Jahre währen-
    Zustimmung in der Bevölkerung, die De-           de la Plata eskaliert. Töpfe schlagende                         de Bindung des argentinischen Peso an den
    mokratie scheint heute gefestigter denn          Demonstranten drängten sich in den Stra-                        US-Dollar aufgekündigt hatte, trat der Peso
    je. Und das obwohl sich die sozialen In-         ßen der Hauptstadt, massenhafte Plün-                           den freien Fall an. Auch die offizielle Erklä-
    dikatoren kaum verbessert haben.                 derungen von Supermärkten und Stra-                             rung der Zahlungsunfähigkeit des Landes
       Die Tiefe der wirtschaftlichen und so-        ßensperren im ganzen Land vermittelten                          gehörte zu Duhaldes ersten Amtshandlun-
    zialen Krise steht mithin in deutlicher          den Eindruck anarchischer Zustände.                             gen. Und der corralito, das staatlich verord-
    Spannung zur schnellen Überwindung               Schließlich – vier Tage vor Weihnachten –                       nete Einfrieren der Bankkonten, das im De-
    der politischen Krise. Jonas Wolff un-           floh der gewählte Präsident Fernando De                         zember 2001 das Fass der allgemeinen
    tersucht diese unerwartete Entwicklung           la Rúa per Hubschrauber. Der Versuch                            Unzufriedenheit zum Überlaufen gebracht
    und die dahinter stehenden Kräfte und            einer repressiven Niederschlagung der Un-                       hatte, blieb in Kraft. Entsprechend nahmen
    Prozesse. Dabei gelangt er zu einem              ruhen hatte etwa 30 Tote und mehrere                            die Proteste denn auch kein Ende: Offizielle
    überraschenden Ergebnis.                         hundert Verletzte gefordert, die Proteste                       Quellen verzeichnen alleine für Januar 2002
                                   Marlar Kin        aber lediglich weiter angeheizt. Drei Über-                     landesweit über 2500 Protestaktionen.

                                                                                                                                                    HSFK Standpunkte5/2003         1
Kaum zwei Jahre später erscheint das alles     gesamten „verlorenen Dekade“ der 1980er                               sondern auch ihrer Resultate (Output-Legi-
weit weg. Der seit Mai 2003 amtierende Prä-       Jahre nie die 10%-Marke überschritt, liegt                            timität). In diesem Sinne wird die Wirt-
sident Néstor Kirchner erfreut sich nach          nun über 20%, während der Reallohn 2002                               schaftskrise zur zentralen Bedrohung der
Umfragen einer einmaligen Zustimmung              den Tiefpunkt der Hyperinflationskrise von                            Demokratie und die Stabilität der argentini-
von gut 80 Prozent. Schon bei seiner Wahl         1989 noch unterbot. Und auch die Ein-                                 schen Demokratie trotz schwerster Krise zu
schraubte die weit verbreitete Angst vor ei-      kommensschere zwischen Arm und Reich,                                 einem erklärungsbedürftigen Phänomen.
nem erneuten Sieg des Ex-Präsidenten Car-         die sich in den 1990er Jahre ohnehin konti-                              Um diesem Phänomen auf die Spur zu
los Menem das Phänomen der Protestwahl            nuierlich öffnete, verschärft sich durch Ab-                          kommen, werden im Folgenden zunächst die
(voto bronca) wieder auf Normalmaß zu-            wertung und Inflation im Jahre 2002 weiter.                           Prozesse von Krise, De- und Restabilisierung
rück – bei den Parlamentswahlen im Herbst         Der Trend wachsender sozialer Ungleichheit                            nachgezeichnet. Daraus entwickelt der vor-
2001 hatten noch bei weitem mehr Wähler           spiegelt dabei insbesondere die Verarmung                             liegende Standpunkt einen Erklärungsansatz,
nicht oder ungültig abgestimmt als für eine
der großen Parteien. In den Medien ist nun
viel vom „K-Effekt“ die Rede, das wunder-
same Ergebnis umschreibend, das mit dem
Amtsantritt des neuen Präsidenten Kirchner
die soziopolitische Krise des Landes, die sich
in einer generellen Ablehnung der politischen
Klasse wie der demokratischen Institutionen
(Parteien, Parlament, Justiz, Regierung)
durch weite Teile der Bevölkerung ausdrückte,
fast vergessen scheint.
   Der alleinige Verweis auf die strategischen
Qualitäten des neuen Präsidenten übersieht
allerdings, dass es bereits im Verlauf des Jah-
res 2002 zu einem kontinuierlichen Rückgang
sozialer Proteste kam. Und die Umfragen des
Latinobarómetros zeigen Erstaunliches: Nicht
nur stieg die Zufriedenheit der Argentinier
mit der Funktionsweise ihrer Demokratie,
die im Frühjahr 2002 mit 8% mehr oder             „Que se vayan todos“ , zu deutsch in etwa „alle sollen sie abhauen“, lautete eine zentrale Forderung der Protestierenden - hier auf einem
weniger Zufriedenen einen historischen Tief-      Transparent vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires.                                                            Bild: Nicolas Pousthomis

punkt erreicht hatte, schnell wieder an (auf
34% für 2003). Die generelle Unterstützung        weiter Teile der – traditionell breiten – Mit-                        der sich in vier Stränge gliedert. Erstens ge-
der Demokratie, die in den vergangenen Jah-       telschichten.                                                         lingt dem politischen System eine partielle
ren spürbar gesunken war, wuchs bereits              Die Übersetzung von Wirtschaftskrise und                           Rückgewinnung von Output-Legitimität:
während der offene Krise: auf 65% (2002)          materieller Not breiter Gesellschaftsschich-                          Eine allmähliche makroökonomische Stabi-
bzw. 68% (2003) (siehe Tabelle auf Seite 3).      ten in eine Gefährdung des politischen Sy-                            lisierung sowie soziale Nothilfeprogramme
   Diese erstaunliche Restabilisierung der ar-    stems ist ein gängiges Thema nicht nur der                            lindern die schlimmsten Krisenfolgen. Da-
gentinischen Demokratie gilt es, mit dem          Lateinamerikaforschung. Auch die Demo-                                bei verstärkt die Verteilung staatlicher Gel-
Ausmaß der Krise zu kontrastieren, die aus        kratietheorie im Allgemeinen und Arbeiten                             der über Patronagenetzwerke deren Wirkung
„nördlicher“ Perspektive nur mehr mit den         zum demokratischen innerstaatlichen Frie-                             im Sinne der gezielten Wiederanbindung von
Erfahrungen der Großen Depression zu ver-         den (democratic civil peace) im Besonderen                            Protestgruppen an das politische System.
gleichen ist. In drei Jahren der Rezession        betonen, dass die Stabilisierungs- und                                Zweitens zeigt sich ein mehrstufiges Einge-
(1999-2001) und einem vierten des freien          Zivilisierungsleistung der Demokratie der                             hen der Politik auf die Protestforderungen
ökonomischen Falls (2002) sank das Brutto-        sozioökonomischen Unterfütterung bedarf.                              (Input-Dimension): Regierung und Parla-
inlandsprodukt Argentiniens um über ein           Zwar sind die liberal-demokratischen Insti-                           ment reagieren mit personellen Konsequen-
Viertel, das durchschnittliche Pro-Kopf-Ein-      tutionen, die die gewaltfreie Artikulation                            zen (Rücktritten), mit Verhandlungs- und
kommen verfiel gar um knapp zwei Drittel –        gesellschaftlicher Interessen und Ideen er-                           Dialogangeboten, mit der Vorverlegung von
von über 8.000 US-Dollar (1998) auf unter         möglichen sowie Regeln der friedlichen Be-                            Wahlen sowie mit der Übernahme konkre-
3.000 US-Dollar (2002). In einem Land, das        arbeitung politischer Konflikte bereitstellen,                        ter gesellschaftlicher Forderungen in Rheto-
sich in Sachen Armut, Arbeitslosigkeit und        unzweifelhaft der zentrale Baustein des in-                           rik und Politik. Der genannte „K-Effekt“ ist
Ungleichheit positiv von lateinamerikani-         nerstaatlichen Friedens. Aber dieser bedarf                           zu einem Großteil hier zu verorten. Er basiert
schen Standards abzusetzen pflegte, leben         der grundsätzlichen gesellschaftlichen Aner-                          darauf, dass Präsident Kirchner die zentra-
nun über die Hälfte der Bevölkerung offiziell     kennung und Akzeptanz nicht nur der de-                               len, in den Protesten artikulierten Kritik-
in Armut. Die Arbeitslosenrate, die in der        mokratischen Prozesse (Input-Legitimität),                            punkte an der real-existierenden argentini-

2   HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise

schen Demokratie aufnimmt (wirtschafts-            der organisierten Arbeiterschaft, durch
politische Fremdbestimmung durch IWF               Informalisierung und Prekarisierung von
und USA, Korruption, demokratische „De-            Arbeit, durch die Verbreitung von „alter“ und
fekte“ in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und        „neuer“ Armut, durch soziale Fragmen-
Menschenrechte).                                   tierung und Individualisierung charakteri-
   Diese doppelte, aber gleichwohl recht be-       siert ist, begrenzt systematisch die Möglich-
grenzte Restaurierung von demokratischer           keiten sozialer Organisation und kollektiver
Legitimität spiegelt sich in der genannten all-    Mobilisierung breiter gesellschaftlicher
mählichen Erholung der Zustimmungsraten            Schichten. In diesem Kontext, so die zentrale
zur Funktionsweise der Demokratie. Die re-         These des vorliegenden Standpunktes, kann
lative Stabilität der Demokratie auch auf dem      nun in der Tat ein relativ begrenztes Maß an
Höhepunkt der Krise kann so allerdings nicht       Input-, Output- und negativer Legitimität
ausreichend erklärt werden. Hier greift drit-      der real-existierenden Demokratie genügen,
tens eine Form „negativer“ Legitimation: das       um die Stabilität des innerstaatlichen Frie-
Fehlen jeglicher Alternativen. Dabei war die       dens zu sichern. Ob so allerdings gesellschaft-
– aus historischer bzw. lateinamerikanischer       licher Zusammenhalt langfristig gewährlei-
                                                                                                     Kleines Wörterbuch
Perspektive naheliegende – Option eines Mi-        stet werden kann, muss hier – ganz abgesehen      zur Argentinienkrise
litärputsches aus mehreren Gründen ver-            von der Frage der normativ begründeten
                                                                                                     asambleas populares
schlossen (Erfahrungen mit der jüngsten            Kritik an dieser Form „neoliberaler Demo-         Volksversammlungen; lokale Form der gesell-
Militärdiktatur, internationaler Kontext).         kratie“ – eine offene Frage bleiben.              schaftlichen Selbstorganisation, auf Stadtteil-
Vor allem aber fehlte jeglicher Anreiz für ein                                                       und Nachbarschaftsebene (deshalb auch
                                                                                                     asambleas barriales bzw. asambleas vecinales),
traditionelles Eliten-Bündnis mit dem Mili-                                                          die im Nachgang der Proteste Ende 2001 ent-
tär, denn von den Protestbewegungen ging             Die 1990er Jahre: Vom Erfolgs-                  steht
ihrerseits keinerlei Systemgefährdung – etwa         modell zum Zusammenbruch
                                                                                                     cacerolazo
in Form eines alternativen Gesellschafts-                                                            Demonstrationsform, insbesondere der Mittel-
projektes, einer linkspopulistischen Wende à                                                         schichten, die die Demonstrationen Ende 2001
la Venezuela oder außer Kontrolle geraten-         Die Wirtschaftskrise Argentiniens in ihren        und Anfang 2002 prägt und deren Kennzei-
                                                   diversen Ursachen und Dimensionen ist viel-       chen das massenhafte Schlagen von Kochtöp-
der anarchischer Zustände – aus. Auch die
                                                                                                     fen (cacerolas) und Pfannen ist
konkrete Forderung nach Auflösung von              fach analysiert und bewertet worden. Hier
Parlament, Regierung und Oberstem Gericht          soll deshalb nur ein kursorischer Überblick       corralito
durch eine verfassunggebende Versamm-              gegeben werden.                                   wörtlich: Gehege, Laufstall, Zwinger; Begriff
                                                                                                     für das weitgehende Einfrieren der Bankgutha-
lung, die 2002 durchaus breite gesellschaftli-        Die gesetzlich festgeschriebene Bindung        ben (Beschränkung von Bargeldabhebungen
che Unterstützung fand, verschwand mit             der argentinischen Währung, des Peso, an          auf 1.000 Peso pro Monat). Der corralito wurde
dem Auseinanderbrechen der dahinter ste-           den US-Dollar im Verhältnis 1-zu-1 bildete        Ende 2001 per Notdekret verordnet, ab Herbst
                                                                                                     2002 nach und nach aufgehoben, nachdem
henden Protestkoalition schnell von der po-        den Kern des wirtschaftspolitischen Modells
                                                                                                     allerdings die Dollarguthaben in argentinische
litischen Agenda.                                  der 1990er Jahre. Carlos Menem von der in         Pesos umgewandelt worden waren
   Die Formen der sozialen Proteste selbst         der Tradition Peróns stehenden „Gerech-
                                                   tigkeitspartei“ (Partido Justicialista, PJ) war   fábricas recuperadas
zeigen sich somit viertens als zentraler Schlüs-
                                                                                                     von insolventen Unternehmen verlassene
sel zur Erklärung von De- wie Restabilisie-        1989 mit weitgehend traditionell pero-            Fabriken, die von den Arbeitern übernommen
rung. Hochgradig fragmentierte, heterogene,        nistischen, d.h. auf die organisierte Arbei-      und in Eigenregie weitergeführt werden; einer-
spontan alliierte und primär lokal organi-         terschaft und die unteren Schichten abzie-        seits führen diese Übernahmen zu teils harten
                                                                                                     Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern
sierte Protestgruppen prägen das Auf und           lenden, Parolen gewählt worden (siehe             und der Polizei, andererseits werden einzelne
Ab der Protestkonjunktur. Eine programma-          Übersicht zum Peronismus auf Seite 7). Zur        Fabriken auch offiziell enteignet und den
tische Plattform, auf der sich größere gesell-     Bekämpfung der von der Vorgängerregierung         Beschäftigten überlassen
schaftliche Allianzen bilden könnten, fehlt                                                          pesificación
völlig. Und die konkreten „sozialen Innova-                                                          in etwa: „Pesifizierung“; Begriff für den
tionen“ (Tauschringe, Übernahmen verlas-                                                             Prozess der Entdollarisierung, mit dem im
                                                                                                     Laufe des Jahres 2002 alle auf US-Dollar lau-
sener Fabriken, lokale Volksversammlungen)
                                                                                                     tenden Forderungen und Verbindlichkeiten
bedeuten de facto einen Beitrag der Proteste                                                         sowie private Verträge wie Mieten u.ä. auf
zur Stabilisierung sozioökonomisch prekä-                                                            argentinische Pesos umgestellt wurden
rer Verhältnisse. Diese Formen der Proteste
                                                                                                     piqueteros
lassen sich auf den soziostrukturellen Wan-                                                          Bezeichnung der organisierten Arbeitslosen,
del zurückführen, der mit der neoliberalen                                                           die ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
Restrukturierung Argentiniens einherging.                                                            massive, oft tagelange Straßenblockaden
                                                                                                     (piquetes) als zentrale Protestform etablieren
Die gegenwärtige gesellschaftliche Konstel-
lation, die durch eine markante Schwäche                                                             Fortsetzung auf Seite 5

                                                                                                                         HSFK Standpunkte5/2003   3
geerbten Hyperinflationskrise setzte Menem      die trotz der harten Beschränkungen des          porte bleibt dem Staat nur mehr die Alter-
nach seiner Wahl allerdings auf einen harten    currency board Wirtschaftswachstum er-           native zwischen einer Sparpolitik, die Rezes-
Kurs der wechselkursorientierten Stabilisie-    möglichten.                                      sion und Deflation vertieft, und dem Gegen-
rung des Geldwertes: Mit der festen Bindung        In den Erfolgsbedingungen dieses argen-       steuern durch Auslandsverschuldung.
des Peso an den Dollar 1991 ging die Ein-       tinischen Modells finden sich zugleich die          Die Folgen waren so vorhersehbar wie bit-
richtung eines so genannten currency board      Gründe seines Scheiterns. Nach der erfolg-       ter. Die Kombination aus Handelslibera-
einher – ihrer geld- und währungspolitischen    reichen monetären Stabilisierung werden          lisierung und Überbewertung resultierte in
Funktionen weitestgehend beraubt, durfte die    Wechselkursbindung und currency board zur        De-Industrialisierung und Arbeitslosigkeit,
Zentralbank Pesos nur mehr dann ausge-          ökonomischen Zwangsjacke: Die Wirt-              da auch begrenzte Produktivitätssteigerun-
ben, wenn diese durch harte Devisen gedeckt     schaftspolitik ist nicht mehr in der Lage, auf   gen und Maßnahmen zur „Flexibilisierung
waren.                                          ökonomische Schocks zu reagieren. Und sol-       der Arbeit“ den Verlust an Wettbewerbsfä-
   Ein solches currency board-System be-        che Schocks kommen unvermeidlich. Im ar-         higkeit argentinischer Unternehmen nicht
kämpft die Inflation auf doppelte Weise. Zum    gentinischen Fall trat nicht nur die oben an-    aufhalten konnten. Die Kombination aus
Ersten koppelt es die Steigerung der natio-     gesprochene reale Aufwertung gegenüber den       sinkenden Kapitalimporten und wachsen-
nalen Geldmenge an den Zufluss internatio-      USA ein. Vor allem wuchs die Überbewer-          den Finanzabflüssen verursachte (aufgrund
naler Devisen. Damit einher geht ein relativ    tung des Peso gegenüber Drittwährungen, die      der Devisenknappheit) steigende Zinsen und
hohes Zinsniveau, um die Attraktivität der      im Zuge von Währungskrisen ihrerseits ge-        einen schrumpfenden Binnenmarkt, die
nationalen Währung zu steigern. Zum Zwei-       genüber dem US-Dollar abwerteten. Die Fi-        Kombination aus Überbewertung und
ten drückt die Wechselkursbindung auf das       nanzkrisen in Mexiko (1994/1995), Asien          Hochzins führte direkt in Deflation und Re-
interne Preisniveau: Mit jeder Erhöhung der     (1997/1998) und insbesondere Brasilien           zession. Und als mit der massiven Abwer-
Binnenpreise werden ausländische Import-        (1999) bedeuteten für Argentinien aber nicht     tung des brasilianischen Real Anfang 1999
güter billiger, die eigenen Exporte dagegen     nur einen massiven Verlust an Wettbewerbs-       das Scheitern des currency board absehbar
teurer. Eine solche reale Aufwertung senkt –    fähigkeit. Sie führten auch zu einer generel-    wurde, setzte der bekannte Kreislauf der Fi-
da die Importe steigen, während die Exporte     len Abkehr internationaler Investoren und        nanzkrise ein. Zweifel an der Dauerhaftigkeit
zurückgehen – nun ihrerseits den Zufluss        Kreditgeber von den Schwellenländern.            der Dollarparität wie an der Zahlungsfähig-
ausländischer Devisen, begrenzt somit das       Gleichzeitig flossen mit der zunehmenden Re-     keit Argentiniens bewirkten auf den interna-
interne Geldmengenwachstum.                     patriierung der Gewinne ausländischer Un-        tionalen Finanzmärkten ein massiv steigen-
   Tatsächlich war die argentinische Strate-    ternehmen – direkte Folge der vorher-            des „Länderrisiko“, d.h. einen wachsenden
gie der Inflationsbekämpfung außerordent-       gegangenen Kapitalimporte – harte Dollars        Zinsaufschlag auf argentinische Staatsanlei-
lich erfolgreich. Und nicht nur das: Mit wei-   ab, während nach dem Ausverkauf der staat-       hen. Der externe Schuldendienst wuchs also
teren neoliberalen Reformen aus dem             lichen Unternehmen die Privatisierung als        weiter, während das „mitwachsende“ inter-
Katalog des Internationalen Währungsfonds       Devisenquelle versiegte. Hinzu kamen die stei-   ne Zinsniveau sowie die überbewertungs-
(IWF) gelang der Regierung Menem kurz-          genden Zins- und Tilgungszahlen ans Aus-         induzierte Deflation private Schuldner (In-
zeitig eine eindrückliche Wachstumspolitik.     land, die mit der in der zweiten Hälfte der      dividuen wie Unternehmen) im Inland in den
Durch eine radikale Außenöffnung der na-        1990er Jahre stark anwachsenden, vor allem       Ruin trieb. Die Wirtschaft versank immer
tionalen Ökonomie, vor allem gegenüber den      öffentlichen Verschuldung einhergingen. Die      tiefer in der seit August 1998 andauernden
internationalen Finanzmärkten, konnte sich      Auslandsverschuldung stellt dabei gewisser-      Rezession.
Argentinien als erfolgreicher emerging market   maßen die Kehrseite des currency board-Sy-          Obwohl das Ende des argentinischen
etablieren und von den zu Beginn der 1990er     stems dar: Erstens macht gerade die fixe Bin-    Wirtschaftsmodells mithin seit 1999 nur
Jahre weltweit nach Anlagemöglichkeiten         dung des Peso eine Verschuldung in Dollar        mehr als eine Frage der Zeit gelten konnte,
suchenden Kapitalströmen profitieren. Vor       besonders attraktiv. Zweitens ist es das         hielt Präsident Fernando De la Rúa stur an
allem die umfassende Privatisierung staatli-    currency board selbst, dass die Binnen-          der Dollarparität fest – vom IWF darin kräf-
cher Unternehmen führte zu ansehnlichen         dynamik der Wirtschaft de facto an das           tig unterstützt.1 In den Wahlen 1999 hatte
ausländischen Direktinvestitionen – und         Wachstum der Auslandsverschuldung kop-           De la Rúa von der „Radikalen Bürgerunion“
damit auch zu den nötigen Dollarzuflüssen,      pelt – als Mittel gegen sinkende Kapitalim-      (Unión Cívica Radical, UCR), der neben den

4   HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise

Peronisten zweiten, „liberalen“ Traditions-     blockaden, bei denen in der Regel staatliche     Fortsetzung von Seite 3
partei Argentiniens, an der Spitze einer Ko-    Sozialprogramme gefordert wurden, lässt
alition (Alianza) mit dem neuen Mitte-          sich die Eskalation der sozialen Krise able-     ¡Que se vayan todos!
Links-Bündnis FREPASO (Frente País              sen: Nach ersten Straßenblockaden 1996           in etwa: „Alle sollen sie abhauen!“; zentrale
Solidario) die Peronisten geschlagen. Eine      stieg die Anzahl der piquetes schnell an, über   „Forderung“ der Proteste, die sich gegen die
                                                                                                 gesamte politische Klasse Argentiniens richtet
Abkehr von currency board und Dollar-           eine Blockadeaktion alle anderthalb Tage
bindung war allerdings nach den anfängli-       (1999), tägliche Blockaden (2000) auf vier       saqueos
chen wirtschaftspolitischen Erfolgen der        bis fünf Blockaden pro Tag (2001). So wur-       Bezeichnung für die Plünderungen von Le-
                                                                                                 bensmittelgeschäften
Strategie – insbesondere dem Sieg über die      den die sich auch landesweit organisieren-
Hyperinflation – zu einem parteiübergrei-       den Arbeitslosenorganisationen zu einem          clubes de trueque
fenden Tabu geworden. Diesem Tabu lag ein       bedeutenden, wenn auch keineswegs einheit-       Tauschringe; Einrichtungen auf lokaler Ebe-
reales Dilemma zu Grunde. Im Zuge der           lichen nationalen Akteur der argentinischen      ne, in denen Bürger Güter und Dienstleistun-
                                                                                                 gen direkt (bzw. über eigene Quasi-Währun-
Hyperinflation wie der Reformen der 1990er      Protestlandschaft (s.u.).                        gen, créditos, vermittelt) austauschen; seit
Jahre war der Dollarisierungsgrad des ar-          Die Kehrseite des Aufstiegs der piqueteros    1995 breiteten sich die Tauschringe im Zuge
gentinischen Finanzsystems massiv angestie-     war die massive Schwächung der Gewerk-           der Krise über das ganze Land aus, brechen
                                                                                                 nach einem enormen Wachstum 2002 aber
gen. Und bei größtenteils auf Dollar lauten-    schaften. Dabei traf die „Neoliberalisierung“    schließlich überlastet zusammen
den Einlagen und Verbindlichkeiten würde        (Ricardo Gutiérrez) der peronistischen Par-
eine starke Abwertung nicht nur die öffentli-   tei die organisierte Arbeiterschaft auf dop-     voto bronca
                                                                                                 in etwa: Protestwahl; Sammelbezeichnung für
che Hand, sondern auch Banken, Unterneh-        pelte Weise. Zum einen – in Form des An-
                                                                                                 votos en blanco (Abgabe leerer Stimmzettel),
men und Privatleute in den Ruin treiben. Es     stiegs von Arbeitslosigkeit, informeller und     votos en nulo (ungültig) und Wahlabstinenz
bedurfte deshalb erst der umfassenden Es-       prekärer Arbeit – unmittelbar. Zum ande-         (trotz Wahlpflicht)
kalation der Krise in der sozialen „Explosi-    ren führte die umstrittene Haltung zur Re-
on“ vom Dezember 2001, um die Abkehr            gierung Menem zu einer Spaltung in drei
vom argentinischen Modell zu erzwingen.         konkurrierende Dachverbände: Da die ar-
                                                gentinischen Gewerkschaften traditionell eng
                                                mit dem Peronismus verwoben sind, blie-
  Dezember 2001: Die soziale                    ben viele Gewerkschaften der Regierung
  „Explosion“ der Krise                         Menem trotz deren programmatischer Wen-
                                                de weitgehend treu. Erst mit dem Wechsel
                                                der peronistischen Partei in die Opposition
Im Unterschied zum ökonomischen Zusam-          nach dem Wahlsieg De la Rúas gelang es den
menbruch kam die soziale „Explosion“            Gewerkschaften wieder zunehmend ge-
(estallido social) vom Dezember 2001 für vie-   schlossen aufzutreten. Auch in der Kumula-
le Beobachter überraschend. Gleichwohl ent-     tion landesweiter Generalstreiks in Reaktion
stand auch die soziopolitische Krise selbst-    auf die immer neuen Sparpakete der Alianza-
verständlich alles andere als aus dem Nichts.   Regierung 2000/2001 deutete sich die Zuspit-
Im Folgenden sollen zunächst knapp die          zung der Lage an. Die insgesamt 13 General-
wichtigsten Ursprünge der Dezember-             streiks des damals noch vereinigten
unruhen dargestellt werden, um dann eben-       Gewerkschaftsdachverbandes hatten in den
so kurz die konkrete Eskalation der Ereig-      1980er Jahren immerhin zum Scheitern der
nisse nachzuzeichnen.                           ebenfalls UCR-geführten Regierung
   Ab Mitte der 1990er Jahre hatte ein neuer    Alfonsín beigetragen.
gesellschaftlicher Akteur die politische Are-      Am Ende sollten es aber weder die Gewerk-
na betreten: die Bewegung der piqueteros –      schaften noch die Arbeitslosenorganisatio-
Arbeitslosenorganisationen, die mit Blocka-     nen sein, die die Ereignisse vom Dezember
den wichtiger Straßen (piquetes) auf sich       2001 prägten. Bestimmend wurde vielmehr
aufmerksam machten. Nicht nur die Arbeits-      die unorganisierte, aber in ihrer Ablehnung
losigkeit hatte im Zuge der neoliberalen Re-    des Status quo sich einige Bevölkerung „als
formen der Regierung Menem (Privatisie-         solche“. Zehn Jahre neoliberaler Reformen
rung, Außenöffnung, Deregulierung) und          und drei Jahre der Rezession hatten dafür
der Nebenwirkungen des currency board           die Grundlagen gelegt: Nach Berechnungen
(De-Industrialisierung, Rezession) histori-     des argentinischen Ökonomen Bernardo
sche Ausmaße erreicht, auch die Indikatoren     Kliksberg waren bereits im Verlauf der
für Armut und soziale Ungleichheit ver-         1990er Jahren insgesamt sieben Millionen
schlechterten sich zusehends (siehe Tabelle     Menschen – ein Fünftel der Gesamtbevöl-
auf Seite 4). Am Anstieg der Straßen-           kerung – von der Mittelklasse in die Armut

                                                                                                                     HSFK Standpunkte5/2003   5
abgestiegen. Mit Beginn des neuen Jahrtau-       Regierung wird zum Epi-
sends gewann der Anstieg von Armut und           zentrum regelrechter Stra-
extremer Armut noch einmal an Fahrt, so-         ßenschlachten. De la Rúa
dass nicht-staatliche Berechnungen von bis       ruft den nationalen Not-
zu 80% verarmten Argentiniern sprechen.          stand aus, die Bevölkerung
Ein deutliches Alarmsignal der allgemeinen       reagiert mit einem großen
Unzufriedenheit ging von den Parlaments-         cacerolazo. Nachdem sein
wahlen im Oktober 2001 aus, bei denen rund       gesamtes Kabinett zurück-
vier Millionen Argentinier (etwa ein Viertel     tritt – darunter Domingo
der Wähler) ungültige Wahlzettel abgaben –       Cavallo, der Architekt des
und das bei trotz Wahlpflicht lediglich 74%      currency board, den De la
Wahlbeteiligung.                                 Rúa zuletzt als „Super-
   Im Dezember 2001 überschlugen sich die        minister“ in die Regierung
Ereignisse. Nach einem Massenansturm auf         aufgenommen hatte –, der
die Banken und einer gigantischen Kapital-       Versuch zur Bildung einer
flucht im November zog die Regierung am          Notstandsregierung am Widerstand der            über eine starke peronistische Hausmacht
1. Dezember die Notbremse: Bargeldab-            Peronisten scheitert und sich die Proteste      verfügt (Duhaldismo), gleichzeitig aber als
hebungen wurden auf 1.000 Peso pro Mo-           weiter zuspitzen, flieht De la Rúa am 20. De-   Gegenspieler Menems schon frühzeitig mehr
nat begrenzt, Auslandsüberweisungen waren        zember an Bord eines Hubschraubers aus          soziale Gerechtigkeit eingefordert hatte, bil-
ab sofort genehmigungspflichtig. Dieser so       dem Präsidentenpalast. Die zweitägigen Un-      det eine „Regierung der nationalen Einheit“,
genannte corralito brachte das Fass gesell-      ruhen haben rund 30 Tote und viele Hun-         die auf die Unterstützung von PJ, UCR und
schaftlicher Unzufriedenheit – das von Spar-     dert Verletzte gefordert.                       FREPASO zählen kann. In der Folge räumt
paket zu Sparpaket randvoll angelaufen war          Mit dem Rücktritt des gewählten Präsiden-    das Parlament der Regierung auf ein Jahr
– zum Überlaufen. Das weitgehende Einfrie-       ten stürzt das politische System in eine ern-   befristete Sondervollmachten ein, die Dollar-
ren der Bankguthaben trocknete die noch          ste Krise. Den politischen Akteuren gelingt     bindung des Peso wird zunächst teilweise
verbliebenen formellen Wirtschaftsaktivitä-      es aber, das mit dem Rücktritt der komplet-     aufgehoben, später der Wechselkurs kom-
ten aus und machte die Situation insbeson-       ten Regierung entstandene politische Vaku-      plett freigegeben. In seiner Antrittsrede be-
dere für Kleinsparer, Kleinhandel und gene-      um durch parteipolitische Aushandlungs-         tont der neue Präsident zudem, es gelte, das
rell für die städtischen Mittelschichten end-    prozesse im Rahmen der Verfassung von           Wirtschaftsmodell zu beenden, das der gro-
gültig untragbar. Gleichzeitig legte die         1994 zu füllen. Senatspräsident Ramon           ßen Mehrheit des Volkes nur Verzweiflung
Regierung einen Haushaltsentwurf für 2002        Puerta (PJ) übernimmt kommissarisch die         gebracht habe.
vor, der weitere drastische Einsparungen         Amtsgeschäfte, bis der Kongress am 22. De-        Unterdessen nehmen die Massenproteste
vorsah und auf den die Gewerkschaftsver-         zember – entsprechend der peronistischen        kein Ende. Schließlich ist es wiederum die
bände mit einem gemeinsamen Generalstreik        Mehrheiten in beiden Häusern – Adolfo           breite Bevölkerung, die durch die massive
reagierten.                                      Rodríguez Saá (PJ) zum Interims-Präsiden-       Abwertung des Peso um mehr als 70% so-
   Ab dem 12. Dezember spitzte sich die Situa-   ten wählt. Rodríguez Saá gibt bekannt, Ar-      wie die anziehende Inflation an Kaufkraft
tion landesweit zu, zunehmend gewaltsame         gentinien werde die Bedienung der Auslands-     verliert, während die Bankguthaben unver-
Unruhen griffen auch auf die Hauptstadt          schulden einstellen, betont aber, an der        mindert eingefroren bleiben. Neben auf
über. Dabei bestimmen zwei Phänomene die         bisherigen Währungs- und Finanzpolitik fest-    Buenos Aires konzentrierten Demonstratio-
Protestlandschaft: Plünderungen von Super-       halten zu wollen. Nachdem er zentrale Figu-     nen gegen den corralito kommt es auch zwi-
märkten (saqueos), die das Ergebnis hetero-      ren der Menem-Ära in sein Kabinett holt und     schen piqueteros und der Polizei weiterhin zu
gener und spontaner Allianzen mittelloser        einen mehrtägigen Bankfeiertag ausruft,         schweren Zusammenstößen. Nicht nur das:
Unterschichten sind, sowie cacerolazos,          kommt es allerdings erneut zu schweren          Mit Volksversammlungen auf Stadtteil- und
„Kochtopf-Demonstrationen“, die geprägt          Unruhen im ganzen Land sowie zu einem           Nachbarschaftsebene (asambleas populares)
sind von der Wut der (ehemaligen) städti-        weiteren großen cacerolazo in Buenos Aires.     entwickelt sich, im Anschluss an die Proteste
schen Mittelschichten. Die politischen Reak-        Am 30. Dezember gibt Rodríguez Saá den       vom Dezember 2001, eine neue Form der
tionen – Repression durch die Exekutive,         andauernden Protesten nach und tritt eben-      gesellschaftlichen Selbstorganisation. Auch
Passivität auf Seiten der Parteien – verschär-   falls zurück. Senatschef Puerta weigert sich,   erlebt mit der Einführung des corralito die
fen die Stimmung. Die Rechnung der Regie-        erneut einzuspringen; das Amt fällt deshalb     Parallelökonomie der Tauschringe (clubes de
rung, mit der gewaltsamen Wiederherstel-         an den Präsidenten des Abgeordnetenhau-         trueque), über die Bürger seit 1995 einen
lung der Ordnung die plündernden Unter-          ses. In einer gemeinsamen Sondersitzung am      Austausch von Gütern und Dienstleistungen
schichten und die „friedlichen Nachbarn der      Neujahrstag bestimmt der Kongress schließ-      organisiert hatten, ein explosionsartiges
Hauptstadt“ zu spalten, geht nicht auf. Am       lich Eduardo Duhalde (PJ) zum Präsiden-         Wachstum. Und im Zuge der fortgesetzten
19. Dezember herrscht in Buenos Aires ein        ten, der das Amt bis zu Direktwahlen Ende       Firmenpleiten übernehmen immer mehr
„Klima des zivilen Aufstands“ (Àngel             2003 ausüben soll. Duhalde, der als langjäh-    Beschäftigte in Eigenregie von insolventen
Jozami), die Plaza de Mayo mit dem Sitz der      riger Gouverneur der Provinz Buenos Aires       Unternehmen verlassene Fabriken (fábricas

6   HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise

Auch im Frühjahr 2002
hielten die Proteste im ganzen
Land an. Während
Arbeitslose mit Straßen-
sperren für staatliche
Unterstützung kämpften,
forderte der städtische
Mittelstand vor allem Zugang
zu seinen Konten.
Die heterogene Zusammen-                                                                         Kleines Wörterbuch
setzung der Protestierenden
und ihr geringer Grad an                                                                         zum Peronismus
Organisiertheit kann als ein
Grund dafür gelten, dass die                                                                     Peronismo
Unruhen allmählich im Laufe                                                                      Nach Juan Domingo Perón, zweifacher Präsi-
des Jahres 2002 verebbten.                                                                       dent (1946-1955, 1974); Peronismus und pero-
                                                                                                 nistische Partei (Partido Justicialista, PJ,
Bilder: Nicolas Pousthomis                                                                       Gerechtigkeitspartei) stehen traditionell für
                                                                                                 eine populistische, linksnationalistische Bewe-
                                                                                                 gung, die Programmatik kombiniert Sozialpo-
recuperadas). Währenddessen erreichen Ar-       Gas, Wasser, Telefon u.a.) trotz Inflation und   litik und Autoritarismus, staatlich induzierte
                                                                                                 Industrialisierung und Binnenmarktorientie-
beitslosigkeit, Armut und soziale Ungleich-     Abwertung eine im Zuge von Finanzkrisen
                                                                                                 rung, begrenzte Umverteilung und Stärkung
heit stets neue Höchstwerte.                    „übliche“ Quelle sozialer Unruhen. Und den       der Arbeiterschaft; soziale Basis sind die eng
                                                endgültigen Ruin in den Reihen der Mittel-       an Staat und Partei gebundenen Gewerkschaf-
                                                schicht und der binnenmarktorientierten Un-      ten sowie die Unterschichten; zentrale Gegner
                                                                                                 sind die traditionelle Oligarchie sowie die
  2002/2003: Von der                            ternehmen, den die Aufwertung von Dollar-        nicht-peronistische Linke. Die Auseinanderset-
  Restabilisierung zum „K-Effekt”               Schulden im Zuge der Peso-Abwertung              zung zwischen Peronismus und Anti-Peronis-
                                                bedeutet hätte, verhindert eine asymmetri-       mus bestimmt die argentinische Politik der
                                                                                                 zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; 1955 und
                                                sche Entdollarisierung (pesificación) des        1976 werden peronistische Regierungen in
Zentral für die allmähliche Abkühlung der       Finanzsystems: Während Dollar-Schulden           Militärputschen gestürzt.
Proteste im Laufe des Jahres 2002 ist un-       zum alten Kurs von 1-zu-1 umgewandelt
                                                                                                 Menemismo
zweifelhaft eine gewisse materielle Linderung   werden, werden sämtliche Einlagen auf 1,40
                                                                                                 Nach Präsident Carlos Menem (1989-1998);
der Krisenfolgen. Die Regierung Duhalde legt    Peso/Dollar umgestellt. Das bedeutet eine        steht für die Transformation des Peronismus im
verschiedene Nothilfeprogramme für Ar-          direkte Entlastung für verschuldete Unter-       Sinne von „Neoliberalisierung“ und „Ent-
beitslose und arme Familien auf, die weitere    nehmen wie Haushalte, während die Wechsel-       Vergewerkschaftlichung“ (desindicalización);
                                                                                                 die fortgesetzte Anbindung der unteren
Wellen von Plünderungen verhindern. So          kursdifferenz einerseits von den Banken ge-      Schichten an den PJ basiert neben der
erhalten mit dem im April aufgenommenen         tragen wird, andererseits aber vor allem von     personalistisch-populistischen Ansprache und
Plan Jefes y Jefas de Hogar etwa zwei Millio-   den Sparern, deren 1,40 Peso nach der Frei-      dem Sieg über die Hyperinflation vor allem
                                                                                                 auf Patronagenetzwerken (siehe Duhaldismo).
nen arbeitslose Haushalte monatliche Zah-       gabe des Wechselkurses weniger als einen         Korruption – besonders auch bei der Privati-
lungen von circa 50 Euro. Die Aufnahme so-      halben Dollar wert sind. Die Sparer werden       sierung der Staatsunternehmen – wird zum
zialer Hilfsprogramme bedeutet aber nicht       ihrerseits mit der schrittweisen Freigabe der    zentralen Merkmal des von Menem geprägten
                                                                                                 „argentinischen Neoliberalismus“. Aktuell
„nur“ die Bekämpfung materieller Not. Ei-       Bankguthaben ab Herbst 2002 besänftigt.
                                                                                                 steht menemismo für die Strömung innerhalb
nerseits reaktiviert die peronistische Partei      Basis der sich hier zeigenden begrenzten      des PJ, die gegen Duhalde und Kirchner wei-
dabei auch etablierte Patronagestrukturen       staatlichen Handlungsspielräume ist das          terhin auf das Wirtschaftsmodell der 1990er
auf lokaler und provinzieller Ebene, die mit    Schuldenmoratorium. Die weitgehende Aus-         Jahre setzt.

der „Neoliberalisierung“ der peronistischen     setzung des Schuldendiensts bildet den größ-     Duhaldismo
Partei zum primären Mechanismus zur Bin-        ten Posten der Sparpolitik, auf die auch die     Nach Präsident Eduardo Duhalde, der als
dung der unteren Schichten an Partei und        Regierung Duhalde unvermindert setzt. Denn       langjähriger PJ-Gouverneur der Provinz
                                                                                                 Buenos Aires (1991-1999) zum Symbol
Staat geworden waren, mit der Finanzkrise       schließlich zielt Duhalde weiterhin auf die      patronage-basierter Führung wird: Die gezielte
der öffentlichen Hand aber zuletzt weitge-      Unterstützung des IWF, der 2002 zunächst         Vergabe von staatlichen Ressourcen (Infra-
hend „ausgetrocknet“ waren. Andererseits        einen Aufschub für die Rückzahlung fälliger      struktur- und Sozialprogramme, öffentliche
                                                                                                 Stellen) für und durch „duhaldistische“ Politi-
dient beispielsweise die Vergabe von            Teilkredite und im Januar 2003 auch wieder
                                                                                                 ker auf allen Ebenen ermöglicht einerseits die
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über die           „frisches Geld“ bewilligt. Kredite von Inter-    Kontrolle des Parteiapparats durch loyale
lokalen piquetero-Verbände der politischen      amerikanischer Entwicklungsbank und Welt-        Politiker, andererseits die lokale Anbindung
Re-Integration konkreter Protestgruppen.        bank tragen ihrerseits zur Finanzierung so-      nicht-organisierter „Klienten“ (Arme, Arbeits-
                                                                                                 lose, informeller Sektor) an die Partei-
Der Peronismus kann so seine alte sozial-       zialer Hilfsprogramme bei. Außerdem gelingt      strukturen. Aktuell steht duhaldismo für die
integrative Kraft zumindest teilweise wieder    im Laufe des Jahres 2002 – im Kontext eines      Strömung innerhalb des PJ, die gegen Menem
erlangen.                                       real um 11% fallenden Bruttoinlandpro-           und das Modell der 1990er Jahre auf Duhalde
                                                                                                 und Kirchner setzt; jüngst zeigen sich aller-
   Gleichzeitig unterbindet die Regierung       dukts, sinkender Reallöhne und steigender        dings zunehmende Spannungen zwischen
durch das Einfrieren der Tarife der privati-    Armut – eine gewisse makroökonomische            duhaldismo und Kirchner-treuen Peronisten
sierten Versorgungsunternehmen (Strom,          Stabilisierung. Mit den einbrechenden Im-        (kirchnerismo).

                                                                                                                     HSFK Standpunkte5/2003   7
porten verbessert sich Argentiniens Handels-        die Auflösung von Parlament, Regierung und        dass Menem seine Kandidatur vor der Ent-
bilanz deutlich, die Leistungsbilanz wird erst-     Oberstem Gericht durch eine verfassungge-         scheidung zurückzieht, obwohl er die erste
mals seit 1990 wieder positiv. Auch der be-         bende Versammlung ein und ruft für die            Runde knapp für sich entscheiden konnte
fürchtete Inflationsschub kann in Grenzen           Präsidentschaftswahl zur Abgabe ungültiger        (24% gegenüber 22% für Kirchner).
gehalten werden, und der Wechselkurs sta-           Stimmzettel auf. Andererseits entbrennen             Obwohl die demokratische Legitimation
bilisiert sich bei etwa 3 Peso/Dollar. Generell     innerhalb der etablierten Parteien harte          des neuen Präsidenten mit einem knappen
führt das niedrige Niveau von Währung und           Machtkämpfe. Nachdem die UCR bereits              Fünftel der Wählerstimmen somit äußerst
Reallohn zu einer Erholung der Rentabilität         mit dem Scheitern De la Rúas den Weg in die       gering ist, und viele bereits eine erneute Zu-
argentinischer Unternehmen. Vor allem ar-           Bedeutungslosigkeit angetreten hatte, scheint     spitzung der politisch-institutionellen Krise
beitsintensive Branchen der Textil- und Me-         die peronistische Partei zeitweise den Radi-      erwarten, gelingt Kirchner die durchaus er-
tallindustrie beginnen infolge der Import-          kalen nachzufolgen. Nach heftigen internen        staunliche Leistung, auch nach Amtsantritt
substitution wieder zu wachsen; bei den             Querelen treten im April 2003 schließlich mit     die breite Zustimmung zu sichern, die zu-
Exporten profitieren allerdings vor allem Pri-      dem Altpräsidenten Menem, dem Kandida-            nächst allein auf seinem Status als dem ge-
mär- sowie landwirtschaftsnahe Manu-                ten Duhaldes Néstor Kirchner sowie dem            genüber Menem geringeren Übel beruht hat-
fakturgüter (Getreide, Soja, Fleisch, Öl).          glücklosen Interims-Präsidenten Rodríguez         te. Ohne in die Tagespolitik einzusteigen, soll
   Diese materielle Linderung der Krisenfol-        Saá gleich drei PJ-Politiker zur Wahl an.         hier nur knapp die Wirkungsweise des „K-
gen bleibt allerdings insgesamt – wie u.a. die         Letztlich ist es aber gerade diese Zersplit-   Effekts“ skizziert werden: Rhetorik und kon-
nur geringfügig sinkenden Armuts- und               terung des Parteiensystems, die den Wäh-          krete Maßnahmen, die Kirchner eine bis
Arbeitslosenraten zeigen – klar begrenzt. Die       lern eine Entscheidung zwischen fünf eini-        dato ungebrochene Zustimmung bescheren,
Öffnung der Politik gegenüber den prote-            germaßen aussichtsreichen Kandidaten, die         gehen unmittelbar auf die Kritik der Prote-
stierenden Gruppen ist daher als zweite zen-        zumindest programmatisch für sehr ver-            ste ein, indem sie in Richtung einer „De-
trale Dimension der Krisenbearbeitung an-           schiedene Wege stehen, ermöglicht: für die        Menemisierung“ 2 des Landes weisen. Dies
zusehen. So empfangen Präsident Duhalde             schlichte Rückkehr in die Vergangenheit           gilt erstens für wirtschaftspolitische Äuße-
wie dessen Nachfolger Kirchner u.a. die di-         (Menem), für einen klaren, um den Faktor          rungen, die die Eigenständigkeit Argentini-
versen Arbeitslosenorganisationen und ge-           Korruption bereinigten Neoliberalismus            ens gegenüber IWF und USA sowie in neo-
hen einerseits rhetorisch, andererseits in          (Ricardo López Murphy, Ex-UCR), für ei-           keynesianischer Manier Binnenmarkt und
Form konkreter Zugeständnisse auf Kritik            nen an Duhaldes Stabilisierungspolitik an-        aktiven Staat hervorheben. Wie schon
und Forderungen ein. Bereits bei seinem             knüpfenden, neo-keynesianisch gewendeten          Duhalde setzt Kirchner außerdem auf gezielte
Amtsantritt greift Duhalde außerdem eine            Peronismus (Kirchner), für einen popu-            sozialpolitische Zugeständnisse. Eine gewis-
Initiative der Katholischen Kirche und des          listisch auftretenden, traditionellen Peronis-    se wirtschaftspolitische Neujustierung im In-
United Nations Development Programme                mus (Rodríguez Saá) sowie für eine gegen          teresse des Binnenmarktes wird dabei auch
(UNDP) auf: In einem landesweiten Prozess                                                             von weiten Teilen der nationalen Wirtschaft
Runder Tische (Diálogo Argentino) beginnen                                                            akzeptiert, die letztendlich mit zu den Op-
breite gesellschaftliche Diskussionen über                                                            fern des argentinischen Modells der 1990er
Auswege aus der Krise. Diese Dialog- und                                                              Jahre gehörten.
Kompromissstrategie funktioniert im Sinne                                                                Konkret überzeugen kann Kirchner bisher
sowohl einer politischen Re-Integration der                                                           aber vor allem auf einem anderen Feld: Di-
„moderaten“, als auch einer Marginalisierung                                                          rekt nach seinem Amtsantritt wendet er sich
der „radikaleren“ Fraktionen. Die teils bruta-                                                        den vielseitig diagnostizierten „Defekten“ der
le Repression von bestimmten, als „Gewalt-                                                            argentinischen Demokratie in den Bereichen
akteure“ kriminalisierten Gruppen stellt in-                                                          der Gewaltenteilung und der Rechtsstaat-
sofern die Kehrseite der politischen Öffnung                                                          lichkeit zu. So erreicht er nicht nur – und das
von Kanälen „zivilisierten“ Konfliktaustrags                                                          sehr wohl egoistisch motiviert – den Rück-
gegenüber dem Gros der Protestfront dar.                                                              tritt des Präsidenten des Obersten Gerichts-
   Als wichtiger Schritt im Prozess der sozia-                                                        hofes, der als Symbol für die berüchtigten,
len Beruhigung erweist sich die Vorverlegung        Neoliberalismus und Korruption stehende           Menem-treuen Urteile des Gerichts stand,
der Präsidentschaftswahlen auf das Früh-            Mitte-Links-Alternative zum herkömmli-            sondern reformiert zugleich den bislang
jahr 2003, die Duhalde in Reaktion auf die          chen Parteiensystem (Elisa Carrió, Ex-UCR).       durch Intransparenz und Dominanz des
andauernden Proteste im Juli 2002 ankün-            Und gerade die Kandidatur Menems – der            Präsidenten gekennzeichneten Prozess der
digt. Mit den bevorstehenden Wahlen verla-          Symbolfigur des politischen Systems der           Richterernennung. Auch in der Frage der ju-
gern sich die soziopolitischen Debatten wie-        1990er Jahre – ist es, die die überragende        ristischen Aufarbeitung der Verbrechen aus
der zunehmend von außerparlamentarischen            Mehrheit der potenziellen Protestwähler am        Zeiten der Militärdiktatur, im Umgang mit
Protest- und Verhandlungsforen in Richtung          Ende doch zur gültigen Wahl treibt. Dieser        dem Militär- und Polizeiapparat sowie im
der politischen Institutionen. Dies allerdings      „Anti-Menemismus“ bestätigt sich in den           Kampf gegen Korruption zeigt Kirchner bis-
in einer Weise, die neue Befürchtungen weckt:       Umfragen vor der Stichwahl, in denen Kirch-       her eine klare Linie, die wiederum der Stim-
Einerseits tritt eine breite Protestkoalition für   ner mit über 70% so klar in Führung liegt,        mung im Land entspricht.

8   HSFK Standpunkte 5/2003
Argentinien nach der Krise

   Während die begrenzten bzw. angekündig-        Erinnerung, und das Militär somit als poli-       Weiterführende Literatur
ten materiellen Leistungen einen ersten           tischer Akteur weitestgehend disqualifiziert.
Schritt zur Restaurierung der im Zuge der         Entsprechend war das Militär in keiner Wei-       Zur Wirtschaftskrise
1990er Jahre ruinierten „Output-Legitimität“      se in die Krise und ihre Bearbeitung einbe-
des politischen Systems darstellen, sind es       zogen, und der ehemalige argentinische            Jan Joost Teunissen, Age Akkerman (Hg.),
also andererseits insbesondere demokratisch-      Heereschef Martin Balza betonte frühzeitig:       The Crisis That Was Not Prevented. Lessons
                                                                                                    for Argentina, the IMF, and Globalisation,
institutionelle Maßnahmen, die über eine          „Die Krise der demokratischen Werte wird          The Hague (FONDAD) 2003
gewisse Erhöhung der „Input-Legitimität“          mit mehr Demokratie gelöst.“ 4 Hierfür ist
                                                                                                    Susan M. Collins, Dani Rodrik (Hg.),
zur soziopolitischen Restabilisierung beitra-     allerdings auch nicht unerheblich, dass der       Brookings Trade Forum 2002, Washington DC
gen: die Eröffnung von Dialog- und Verhand-       internationale Kontext eine Abkehr Argenti-       (Brookings Institution Press) 2003
lungskanälen, die Ankündigung und Durch-          niens von der Demokratie mit klaren Kosten        Manuel Pastor, Carol Wise, From Poster Child
führung von Wahlen, Maßnahmen zur                 belegt hätte: Die internationalen Finanzmärk-     to Basket Case, in: Foreign Affairs, Jg. 80, Nr. 6
Stärkung der Demokratie. Hier ist bereits die     te, IWF, Weltbank und die bilateralen Gläu-       (Nov./Dez. 2001), S. 60-72

politische Bearbeitung der Staatskrise Ende       biger wie die in der Organisation Amerika-        „Argentinien – Ende eines Modells“,
2001 einzuordnen, bei der es gelingt, durch       nischer Staaten (OAS) zusammengeschlos-           Themenschwerpunkt in: Lateinamerika
                                                                                                    Analysen, Jg. 1, Nr. 2, Juni 2002, Hamburg
zahlreiche Rücktritte auf die Forderung des       sene westliche Hemisphäre dürften aller           (Institut für Iberoamerika-Kunde), 2002
„Que se vayan todos“ einzugehen, dabei aber       Voraussicht nach klar negativ auf jede Ab-
gleichzeitig auf der Basis der existierenden      kehr vom institutionellen Status quo reagiert     Zu Protest und politischer Krise
Institutionen (Kongress, Verfassung von           haben.
1994, Parteiapparate) die Polarisierung und          Zweitens stellt sich der globale Umbruch       Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos!,
Fragmentierung zwischen und in den Par-           der 1980er und 1990er Jahre in Argentinien        Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin
                                                                                                    (Assoziation A) 2003
teien zumindest temporär zu überbrücken.          als spezifischer Wandel des Peronismus und
   Grundlage einer solchen Stabilisierung         seiner traditionellen Verbündeten dar: Die        Leonardo Filippini, The Popular Protest in
                                                                                                    Argentina. December 2001, 1.3.2002, Buenos
durch ein (zugegebenermaßen vorsichtiges)         Neoliberalisierung der peronistischen Partei      Aires (Centro de Estudios Legales y Sociales),
Mehr an Demokratie ist der generelle Cha-         unter Menem, die Schwächung und Spaltung          www.cels.org.ar (Zugriff am 30.9.03)
rakter der Krise als demokratie-interner Aus-     der organisierten Arbeiterschaft und das          Àngel Jozami, Argentina. La destrucción de
einandersetzung. So werden im gesamten            Auftreten neuer, weitaus diffuserer Protest-      una nación, Barcelona (Mondadori) 2003
Krisenverlauf – bei allen konkreten gewalt-       koalitionen verhindern eine Polarisierung         Hector E. Schamis, Argentina: Crisis and
samen Verstößen nicht zuletzt auf Seiten des      und damit Zuspitzung der Krise. Zentral ist       Democratic Consolidation, in: Journal of
Staates selbst – die demokratischen rules of      hier der Wandel des PJ von einer de facto         Democracy, Jg. 13, Nr. 2 (April 2002), S. 81-94.
the game durch keinen relevanten Akteur in        Arbeiterpartei zu einer Partei, die die Ablö-
Frage gestellt. Dies zeigen nicht zuletzt die     sung von den Gewerkschaften und die Über-
Umfragedaten des Latinobarómetro, denen           nahme neoliberaler Programmatik mit der
zufolge es 2002 zwar zu einem dramatischen        fortgesetzten Anbindung der Unterschichten
                                                                                                    Links
Verfall der Zufriedenheit mit der Funktions-      über Personalisierung und klientelistische
weise aller demokratischen Institutionen,         Patronagenetzwerke auf provinzieller und          http://www.imf.org & http://www.worldbank.org
gleichzeitig aber zu einer wachsenden gene-       lokaler Ebene verbindet.3 Dies intensivierte      Auf den jeweiligen Seiten zu Argentinien
                                                                                                    finden sich zahlreiche Berichte aus Sicht von
rellen Zustimmung zur Demokratie kommt            zum einen die genannte Schwächung der             IWF und Weltbank.
(siehe Tabelle auf Seite 8). Die „Explosion“      organisierten Arbeiterschaft. Zum anderen
vom Dezember 2001 zeigt sich eben in keiner       fanden die Regierungen Duhalde und                http://www.stern.nyu.edu/~nroubini/asia
                                                                                                    Auf Nouriel Roubini’s „Global Macroeconomic
Hinsicht als traditionelle Krise argentinischen   Kirchner in den genannten Patronage-
                                                                                                    and Financial Policy Site“ finden sich zahlrei-
Typs: Weder die organisierte Arbeiterschaft       netzwerken etablierte Strukturen für die          che Beiträge und Links zur Argentinienkrise.
und ein populistischer Peronismus auf der         Kanalisierung sozialer Kompensationen im
einen, noch ein Bündnis konservativer Eli-        Sinne einer parallelen Förderung von gesell-      http://argumentos.fsoc.uba.ar
                                                                                                    In der Internet-Zeitschrift „Argumentos“ des
ten mit dem Militär treten als zentrale Kräf-     schaftlicher Stabilität und (partei-) politi-     Instituto de Investigaciones Gino Germani
te in Erscheinung. Dies ist zum Teil durch die    schem Rückhalt. Dennoch stellt sich die pero-     finden sich Beiträge zu Politik, Gesellschaft,
Abwesenheit jeglicher großer Alternativen zu      nistische Partei nach der Neoliberalisierung      Krise und Protest in Argentinien.
erklären, die die gegenwärtige globale Kon-       unter Menem aber keineswegs als homoge-           http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/
stellation nach dem Ende des Ost-West-Kon-        ne Partei dar, sodass es dem PJ drittens ge-      free/imf/argentina/
flikts kennzeichnet, hat aber auch spezifisch     lingen konnte, die Auseinandersetzungen           Homepage „Struggles in Argentina“ mit Links
                                                                                                    zu zahlreichen Beiträgen aus Perspektive
argentinische Gründe.                             über den richtigen Ausweg aus der Krise letzt-
                                                                                                    sozialer Protestbewegungen.
   Erstens ist die jüngste Militärdiktatur        lich als Entscheidung zwischen peronistischen
(1976-1983) nicht „nur“ als besonders bru-        Kandidaten zu strukturieren. Die grundsätz-       http://www.iade.org.ar/iade/Dossiers/xq/
tal, sondern im Unterschied zu Chile unter        liche Kontinuität – sei es des politischeen Sy-   primera.html
                                                                                                    Dossier des Instituto Argentino para el Desarrollo
Pinochet auch als wirtschaftlich sowie au-        stems, der Stellung der politischen und öko-      Económico mit diversen „Interpretationen der
ßenpolitisch (Falklandkrieg) gescheitert in       nomischen Eliten oder der Grundparameter          Argentinienkrise“

                                                                                                                         HSFK Standpunkte5/2003    9
der Wirtschaftspolitik – erschien so zu kei-                       die neoliberal restrukturierte Gesellschaft                        Arbeit, Arbeitslosigkeit, De-Industrialisie-
nem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet. Weder                           erfolgreicher sozialer Mobilisierung in den                        rung und der Aufschwung des Dienstlei-
ein linkspopulistischer Weg à la Venezuela                         Weg stellt: Der konsumorientierte Mittel-                          stungssektor verändern die sozialen Mobi-
unter Chávez noch ein Weg zurück in Pro-                           schichtbürger, der nicht gewerkschaftlich or-                      lisierungs- und Protestpotenziale wie deren
tektionismus und Staatsinterventionismus                           ganisierte Beschäftigte des Dienstleistungs-                       Formen: saqueos, cacerolazos und piqueteros
standen zur Diskussion.                                            oder des informellen Sektors, der atomisier-                       statt Generalstreiks, lokale Nachbarschafts-
  Einen zentralen Schlüssel zur Erklärung ist                      te „neue Arme“ – alle können sie sich zum                          versammlungen statt parteigestützte Mas-
also in der Konstellation einer komplexen                          Lärm der Kochtöpfe individuell auf die Straße                      senmobilisierungen, instabile und durch die
Fragmentierung der politischen Landschaft                          bewegen und mit demonstrieren. Aber mit                            akute Krise angetriebene statt langfristig aus-
an Stelle einer klaren Polarisierung zu sehen.                     dem Protest hat sich das Organisations-                            gerichtete Organisation. Die soziale Beruhi-
Dies gilt einerseits für das politische und öko-                   potenzial offensichtlich erschöpft. Dies zeigt                     gung zeigt sich dementsprechend nicht ein-
nomische Establishment: Sowohl die                                 sich nicht zuletzt in der Forderung des „Que                       fach als neue Zufriedenheit der Bevölkerung,
                                                                                                                                      sondern auch als Akzeptanz der derzeitigen
                                                                                                                                      Grenzen kollektiver Handlungsmöglich-
                                                                                                                                      keiten, wie es die Analysen des argentinischen
                                                                                                                                      Colectivo Situaciones klar zum Ausdruck
                                                                                                                                      bringen (siehe weiterführende Literaturhin-
                                                                                                                                      weise). Es ist deshalb gerade nicht „erstaun-
                                                                                                                                      lich, dass ein Jahr später [d.h. nach den
                                                                                                                                      schweren Protesten, J.W.], von dieser ver-
                                                                                                                                      meintlichen politischen Mobilisierung der
                                                                                                                                      Argentinier so gut wie nichts mehr zu ver-
                                                                                                                                      spüren war. Apathie und Desinteresse wa-
                                                                                                                                      ren die herausragenden Merkmale des
                                                                                                                                      Bürgerverhaltens vor der Wahl [...].“5

                                                                                                                                        Bilanz: Demokratie und
                                                                                                                                        Stabilität in Argentinien

Präsident Néstor Kirchner beim „Bad in der Menge“. Er erfreut sich einer Zustimmung von über 80% der Argentinier. Seine Beliebtheit   Ausgangspunkt der Überlegungen war eine
dokumentiert er mit Bildern wie diesem auf seiner offiziellen Homepage.                       Quelle: http://www.presidencia.gov.ar   paradox anmutende Feststellung. Mit der
                                                                                                                                      schweren Wirtschaftskrise ging eine ernste
peronistische Partei als auch die Wirtschaft                       se vayan todos“, die nach einer hinreichen-                        Destabilisierung der argentinischen Demo-
zeigt sich gespalten zwischen „Menemisten“,                        den Anzahl von Rücktritten und Neubeset-                           kratie einher – der durch breite Teile der
die auf eine programmatische Kontinuität                           zungen zwangsläufig ins Leere läuft. Auch                          Gesellschaft gehende Aufstand gegen „die po-
zu den 1990er Jahren setzen, und denjeni-                          die in der Krise entstandenen „sozialen In-                        litische Klasse“ ist nicht als bloße Regierungs-
gen, die à la Duhalde und Kirchner auf eine                        novationen“ sind hier einzuordnen: Weder                           krise abzutun. Und trotzdem zeigt sich die
pragmatische Neujustierung des argentini-                          die Tauschringe noch die Volksversammlun-                          Einordnung als demokratie-interne Krise als
schen Wirtschaftsmodells zielen. Andererseits                      gen oder die von den Arbeitern übernom-                            zutreffend: Weder aus der Perspektive der
zeigt sich das Merkmal der Fragmentierung                          menen Fabriken stellen die demokratischen                          relevanten Akteure noch in Hinblick auf die
aber vor allem für die „Protestfront“, die                         Institutionen vor ernste Herausforderungen.                        politischen Prozesse sind Tendenzen erkenn-
denn auch nur sehr kurzzeitig als eine solche                      Im Gegenteil: Indem sie auf lokaler Ebene                          bar, die über das real-existierende demokra-
erscheint: Ihr Organisationsgrad bleibt ge-                        Handlungsmöglichkeiten, Kanäle zur Arti-                           tische Regime hinaus zielen. Die wichtigsten
nerell gering und instabil, eine programma-                        kulation von Unzufriedenheit und auch ganz                         Leitlinien der Erklärung für dieses Phäno-
tische Plattform, auf der sich größere gesell-                     konkrete materielle Linderung zur Verfü-                           men, die in den vorherigen Abschnitten ent-
schaftliche Allianzen bilden könnten, fehlt                        gung stellen, werden sie selbst Teil des                           wickelt wurde, sollen an dieser Stelle noch
völlig. Diffusität, Heterogenität und Unorga-                      Stabilisierungsprozesses.                                          einmal zugespitzt zusammengefasst werden.
nisierbarkeit gelten ohnehin für die durch                           Auf- wie Abschwung der Protestwelle ist                             Die Form der „sozialen Explosion“ selbst
konkrete Verzweiflung und die Gunst der                            damit nur vor dem Hintergrund des sozio-                           bildet dabei den zentralen Zugang. Denn der
Stunde angetriebenen Akteure der Plünde-                           strukturellen Wandels zu verstehen, der mit                        Protest ist nicht zufällig hochgradig frag-
rungen. Ähnlich lässt sich aber auch für die                       der sozioökonomischen Transformation                               mentiert, heterogen und schwach organi-
Mittelschicht-basierten cacerolazos argu-                          der 1990er Jahre einherging. Die bereits an-                       siert. Er ist nicht zufällig weitgehend unor-
mentieren. Denn der Typus der Kochtopf-                            gedeuteten Veränderungen in der Arbeits-                           ganisiert (saqueos, cacerolazos) oder primär
Demo überwindet zwar die Hindernisse, die                          welt, „neue Armut“, informelle und prekäre                         lokal verankert (piqueteros, asambleas). Und

10 HSFK Standpunkte 5/2003
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