I Wie die Krise die Ungleichheit verschärft - Beigewum
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Über den BEIGEWUM Impressum Der Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpoli- Herausgeber tische Alternativen (BEIGEWUM) ist ein Verein von Sozi- BEIGEWUM alwissenschafterInnen aus unterschiedlichen Disziplinen, der Schottengasse 3a/1/59 das Ziel verfolgt, Ergebnisse kritischer Forschungstätigkeit in 1010 Wien die laufende politische Debatte einzubringen. Design & Layout Der Verein, dessen Tätigkeit nicht auf Gewinn gerichtet ist, Maximilian Jäger bezweckt die Erstellung, Diskussion und Verbreitung von Konzeptionen der österreichischen Wirtschafts- und Sozial- Zeichnung (S.16) politik und die Entwicklung gesellschafts-, wirtschafts- und Karl Berger umweltpolitischer Alternativen unter besonderer Berücksich- www.zeichenware.at tigung der Interessen von Frauen. Gegründet 1985, liegen die inhaltlichen Tätigkeitsschwer- punkte in Arbeiten zur Budget- und Verteilungspolitik und zu Fragen der europäischen Integration. Der BEIGEWUM gibt die vierteljährliche Zeitschrift Kurswechsel heraus (erscheint im Sonderzahl Verlag). Zudem veröffentlicht der Verein zahl- reiche Publikationen (etwa das Buch „Umkämpfte Technolo- gien. Arbeit im digitalen Wandel” und das „Schwarzblaubuch“) sowie Factsheets zu Themen, unter anderem in Bereichen der Budget-, der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik und organi- siert Diskussionsveranstaltungen.
Inhaltsverzeichnis AutorInnen und InterviewpartnerInnen Editorial ‚‚Bestehende Ungleichheiten werden verschärft“ Julia Hofman im Interview 8 Die ungleichen Auswirkungen der COVID-Krise auf den Arbeitsmarkt Simon Theurl 11 Odysseus im Supermarkt. Die HeldInnen der COVID-Krise 15 Atypische Beschäftigung im Ausnahmezustand Bettina Haidinger 17 ‚‚Das Virus unterscheidet nicht, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse“ – Migrantische Beschäftigung in der COVID-Krise Peter Birke im Interview 20 Und dann waren wir HeldInnen … für einmal Klatschen Markus Bina, Axel Magnus 24 Geschlechtsspezifische Mehrfachbelastungen während der COVID-Krise Judith Derndorfer, Franziska Disslbacher, Vanessa Lechinger, Katharina Mader, Eva Six 28 COVID-19 und die Wohnungsfrage Selim Banabak, Justin Kadi 31 Energiearmut in Zeiten der COVID-Pandemie: Eine Schieflage spitzt sich zu Sandra Matzinger 33 Zurück in die Klimakrise? Jana Schultheiss, Max Mayerhofer, Ernest Aigner 34 3
Inhaltsverzeichnis Menschen mit Behinderungen, COVID und Selbstbestimmt Leben Magdalena Scharl 36 Was bedeutet COVID für Geflüchtete weltweit? Ulrike Krause 38 Social Distancing in der Massenunterkunft? – COVID in österreichischen Geflüchtetenlagern Hannah Kentouche, Marlene Radl 40 Kinder im Lockdown – Ein Widerspruch in sich? Johanna Neuhauser, Jana Schultheiß 44 Drei Schritte zurück: Bildungsungleichheit und COVID Veronika Wöhrer 47 Homeschooling als Katalysator von Bildungsungleichheit Elke Larcher 50 Entschleunigt oder abgehängt? Hochschulpolitik in der Corona-Krise Teresa Petrik 53 Und wie war das mit der Kultur? Katerina Vrtikapa sowie Sabine Hilpert im Interview 57 Das Einkommen der Vielen zur Rettung der Wenigen Martin Schürz im Interview 59 Ersparnisse in der Arbeitslosigkeit: Wo wirkt der Wohlfahrtsstaat? Stefan Humer, Severin Rapp 62 4 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
AutorInnen und InterviewpartnerInnen Ernest Aigner ist Doktorand am Department für Sozioöko- Hannah Kentouche forscht zum Migrations- und Grenzre- nomie forscht zu Pluraler Ökonomik, Nachhaltiger Arbeit gime und engagiert sich bei antirassistischen Initiativen. und Gesellschaften ohne Geld. Ulrike Krause ist Juniorprofessorin für Flucht- und Flücht- Selim Banabak ist Ökonom und arbeitet an der Technischen lingsforschung an der Universität Osnabrück. Sie forscht zu Universität Wien u.a. zu den Themen Mietpreisentwicklung den Themen Konflikt-Flucht-Nexus, humanitärer Flücht- und Leistbarkeit von Wohnen. lingsschutz, Resilienz, Gender und genderbasierte Gewalt mit dem Schwerpunkt auf den Globalen Süden, insbesondere Markus Bina ist Diplomierter Gesundheits- und Kranken- Ostafrika. pfleger und Betriebsrat bei der Volkshilfe Niederösterreich. Elke Larcher ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet in der Peter Birke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Abteilung für Lehrausbildung und Bildungspolitik der Arbei- für Soziologie der Universität Göttingen und Mitglied des terkammer Wien. Forschungsprojekts „Refugees@work. Perspektiven der betrieblichen Integration von Flüchtlingen in Niedersachsen“. Vanessa Lechinger arbeitet als Ökonomin am Forschungs- institut Economics of Inequality der Wirtschaftsuniversität Judith Derndorfer arbeitet als Ökonomin am Forschungs- Wien. institut Economics of Inequality der Wirtschaftsuniversität Wien. Katharina Mader arbeitet als Ökonomin am Institut für Heterodoxe Ökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Franziska Disslbacher arbeitet als Ökonomin in der Abtei- lung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiter- Axel Magnus ist Sozialwissenschafter, Betriebsratsvorsit- kammer Wien. zender bei der Sucht- und Drogenkoordination Wien und Mitglied des großen Verhandlungsteams bei den Kollek- Bettina Haidinger ist Sozialwissenschafterin und Vorstands- tivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft Österreich mitglied im BEIGEWUM. (SWÖ). Sabine Hilpert ist ehemalige Tänzerin und derzeit Ballett Sandra Matzinger ist Sozioökonomin in der Abteilung Wirt- pädagogin und Choreografin in Wien. schaftspolitik der Arbeiterkammer Wien. Zu ihren Arbeits- schwerpunkten zählen verteilungspolitische Aspekte der Julia Hofmann ist Soziologin und Redakteurin der Zeitschrift Klima- und Energiewende, Energiearmut sowie nationale „Kurswechsel“. und internationale Energiepolitik. Stefan Humer ist Ökonom am Forschungsinstitut Economics Max Mayerhofer ist Ökonom in der Abteilung Wirtschaft, of Inequality der Wirtschaftsuniversität Wien. Arbeit und Statistik der Stadt Wien und Vorstandsmitglied des BEIGEWUM. Justin Kadi ist Sozialwissenschafter an der Technischen Universität Wien und forscht u.a. zu Wohnungspolitik und Johanna Neuhauser ist Soziologin an der Universität Wien, sozial-räumlichen Ungleichheiten. forscht und lehrt zu Arbeit & Migration, Gender Studies und Globaler Ungleichheit und ist Vorstandsmitglied des BEIGEWUM AutorInnen und InterviewpartnerInnen 5
Teresa Petrik arbeitet am Institut für Soziologie der Univer- Martin Schürz ist Ökonom und Psychotherapeut in Wien. sität Wien und studiert im Master Soziologie sowie Globalge- 2019 ist sein Buch „Überreichtum” im Campus Verlag schichte/Global Studies. Sie ist Redakteurin bei mosaik-blog. erschienen. Es wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das at und aktiv im Landesvorstand der Jungen Linken Wien, Politische Buch des Jahres 2019 ausgezeichnet. einer unabhängigen linken Jugendorganisation. Eva Six arbeitet als Ökonomin am Forschungsinstitut Econo- Marlene Radl ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet derzeit mics of Inequality der Wirtschaftsuniversität Wien. im Koordinationsbüro von SOS Mitmensch. Nikolai Soukup ist Politikwissenschafter, arbeitet als Refe- Severin Rapp ist Ökonom am Institut für Makroökonomie rent in der Abteilung Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien und dem Forschungsinstitut Economics of Inequality der und ist Vorstandsmitglied des BEIGEWUM. Wirtschaftsuniversität Wien. Simon Theurl ist kritischer Ökonom und Vorstandsmitglied Magdalena Scharl ist Peer-Beraterin von BIZEPS – Zentrum des BEIGEWUM. für Selbstbestimmtes Leben in Wien und Teil der öster- reichischen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Sie ist Katerina Vrtikapa ist Ökonomin in Wien mit dem Schwer- BIZEPS-Sprecherin für den Bereich Entwicklungszusam- punkt auf öffentliche Finanzen menarbeit und Mitglied der Arbeitsgruppe „Behinderung und Entwicklung“ der Globalen Verantwortung sowie des Veronika Wöhrer ist Soziologin und derzeit Universitätsas- Arbeitskreises „Menschen mit Behinderung in der Öster- sistentin am Institut für Soziologie der Universität Wien. Ihre reichischen Entwicklungszusammenarbeit“ der Austrian Schwerunkte sind Bildungssoziologie, Gender Studies sowie Development Agency. Sie benützt einen Elektrorollstuhl und qualitative und partizipative Methoden. lebt mit Persönlicher Assistenz. Jana Schultheiss ist Ökonomin in der Abteilung Wirtschafts- wissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien und Vorstandsmitglied des BEIGEWUM. 6 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
Editorial Liebe LeserInnen! Die Covid-Krise hatte massive soziale und wirtschaftliche zu fortschrittlichen Strategien für eine Zukunft nach der Krise Auswirkungen zur Folge – und weitere zeichnen sich bereits anstellen, wobei insbesondere die möglichen Perspektiven für ab. Was ist passiert und wie wird es weitergehen? Mit diesen progressive Veränderungen thematisiert werden sollen. Fragen setzt sich der BEIGEWUM in einer neuen Publika- tionsreihe, dem COVID-Kaleidoskop, auseinander. Vor euch Wir setzen in dieser Publikationsreihe auf sehr unterschied- liegt der Auftakt einer neuen Reihe, in der wir die Covid-Fol- liche Formate von Beiträgen. Neben politischen und wissen- gekrisen einordnen und analysieren. schaftlichen Kommentaren sowie Kurzanalysen findet ihr Interviews mit ExpertInnen sowie Grafiken, Comics und Der Lockdown hat in Österreich zum tiefsten Wirtschafts- Bilder: ein Kaleidoskop von Perspektiven auf die Covid-Fol- einbruch und zur höchsten Arbeitslosigkeit seit dem Zweiten gekrisen. Im Gegensatz zu umfangreichen Analysen soll dieses Weltkrieg geführt. Schnell wurde deutlich, welch bedeutende Format auch der Tatsache Rechnung tragen, dass es sich bei Rolle dem Sozialstaat bei der Bewältigung der Krise zukommt. den aktuellen Einschätzungen nur um Momentaufnahmen Es zeigte sich aber auch, dass die Krise verschiedene Bevöl- handeln kann. Der vorliegende Einblick in gesellschaftliche kerungsgruppen unterschiedlich hart trifft. Sie wirkt sich Schieflagen und ihre Verschärfungen verfolgt auch nicht besonders für jene spürbar negativ aus, die sich bereits vor der den Anspruch auf Vollständigkeit. Wenngleich eine große Covid-Krise in prekären Lebenslagen befanden. Bestehende Bandbreite relevanter Aspekte der Krise behandelt wird, sind soziale Ungleichheiten, wie etwa im Zusammenhang mit der gewiss nicht sämtliche Themenfelder in dem Heft erfasst und Verteilung von Lohn- und Sorgearbeit, Bildungschancen und viele bedeutende Fragestellungen nicht oder nicht ausrei- Zukunftsperspektiven, verschärfen sich. Während vielen chend gestellt. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Krise Menschen im Zuge der Krise der Verlust ihrer Existenzgrund- wird erst nach und nach erfolgen können. Dennoch ist es uns lage und ein Abrutschen in die Armut droht, sind Vermögen wichtig, bereits jetzt einen kritischen Beitrag zur politischen mehr denn je ungleich verteilt. Auseinandersetzung zu liefern. Manches werden wir in ein paar Monaten besser beurteilen können, manches werden wir Hier setzen unsere Diskussionsbeiträge an. Als Verein kriti- vielleicht auch anders bewerten. Wichtig bleibt jedenfalls die scher SozialwissenschafterInnen stehen für uns nicht die medi- gemeinsame Diskussion! zinischen Aspekte des Virus im Zentrum unserer Analysen, sondern die sozioökonomischen Dimensionen der aktuellen An dieser Stelle möchten wir uns bei allen AutorInnen herz- Krise. Das vorliegende Heft beleuchtet in diesem Zusam- lich für ihre Bereitschaft bedanken, uns ihre Expertise so menhang bestehende gesellschaftliche Schieflagen und ihre kurzfristig zur Verfügung gestellt zu haben, und für die vielen Verschärfungen in der Covid-Krise. Es soll der Beginn einer spannenden Beiträge, die dadurch entstanden sind! mehrteiligen Publikationsreihe sein. Folgen werden Analysen der Covid-Krisenpolitik, indem etwa die Frage aufgeworfen Wir wünschen eine erkenntnisreiche Lektüre und freuen uns wird, wie gerecht die getroffenen Maßnahmen sind und wer auf weitere Diskussionen! letztendlich dafür zahlt. Des Weiteren wollen wir Überlegungen Der BEIGEWUM Editorial 7
„Bestehende Ungleichheiten werden verschärft“ Julia Hofman im Interview Die Covid-Krise schlug mit voller Wucht auf den Arbeits- bußen oder Arbeitslosigkeitserfahrungen hatten, sondern markt ein und veränderte das Alltagsleben schlagartig. Was Menschen, die gesagt haben: „Ich hab Angst, dass meine bedeutet das für Ängste und Verunsicherung in der Gesell- Kinder mal keinen Job kriegen. Ich hab Angst, was in 20 schaft? Ein Gespräch mit Soziologin Julia Hofmann über den Jahren mit meinem Lebensstandard ist.“ Also in die Zukunft Widerspruch zwischen generell hoher Lebenszufrieden- gerichtete Projektionen, die sich natürlich aus einer gewissen heit und gleichzeitig verbreiteter sozialer Verunsicherung Gesellschaft der Angst nähren, die teilweise eine polit-ökono- in Österreich sowie mögliche Auswirkungen der Krise auf mische Grundlage haben, teilweise aber auch rechte Diskurse gesellschaftliche Unsicherheit und das Alltagsverhalten. sind; Angstdiskurse, die vorangetrieben werden, die dann übernommen und in die Zukunft gerichtet werden. Und das Ein Interview von Nikolai Soukup mit Julia Hofmann Nikolai Soukup: In Bezug auf die Auswirkungen der Coro- na-Krise auf den Arbeitsmarkt spielen materielle Verän- ‚‚In einem Land mit ohnehin hoher sozi- derungen eine große Rolle. Darüber hinaus gibt es aber auch eine emotionale Ebene, die Dimension von Angst und aler Verunsicherung macht eine Pandemie Verunsicherung. Du hast dich ja bereits vor Jahren mit auch emotional etwas mit den Leuten.“ Angst und Verunsicherung in Bezug auf Arbeitsmarktver- änderungen auseinandergesetzt. Julia Hofmann: Ja, meine Arbeit an dem Verunsicherungs- Interessante oder vielleicht sogar Widersprüchliche war, dass thema war vor allem durch die Frage motiviert, warum Öster- es gleichzeitig trotzdem eine extrem hohe Lebenszufrieden- reich politisch so rechts steht. Man könnte ja sagen, wenn das heit gab. In der Corona-Zeit hat sich das ein wenig verschoben: etwas mit den sozialen Verhältnissen zu tun hat, sollte es so Die Verunsicherung ist hoch geblieben, aber gleichzeitig ist etwas in einem Land, in dem es einen eher gut ausgebauten auch die Lebenszufriedenheit, zumindest kurzfristig, drastisch Sozialstaat und 98 Prozent Kollektivvertragsabdeckung gibt, gesunken. Noch kann man nicht wirklich valide einschätzen, eher nicht geben. Wenn man dennoch versucht, politisch was die langfristigen Folgen hiervon sind. Aber wenn sich im autoritäre oder rechte Einstellungen über soziale Verände- Sozialen wirklich rapide etwas verschlechtert, dann kann das rungen zu erklären, ist man relativ schnell in diesem Verunsi- in so einem Land, in dem die Verunsicherung ohnehin schon cherungsdiskurs. Es gibt Veränderungen im Sozialsystem und hoch ist und die gesellschaftlichen Zukunftserwartungen auf dem Arbeitsmarkt, die vielleicht nicht unmittelbar fühlbar ohnehin schon relativ pessimistisch oder zumindest abwar- sind, die aber wahrgenommen werden und Ängste erzeugen. tend sind – nämlich gerade in der Mitte der Gesellschaft –, Zudem ist der Blick meistens auf die Zukunft gerichtet. Meine langfristig etwas mit den Leuten machen. Es stellt sich ja die Forschung dazu hat gezeigt: Ängste in diese Richtung hatten Frage, wie lange das alles dauert und ob es die zweite Welle weniger Menschen, die prekär angestellt waren, Lohnein- gibt. Wenn das nicht nur ein, zwei Monate der schieren Panik 8 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
waren, die wir alle nächstes Jahr wieder vergessen haben, das, was früher selbstverständlich war – zum Beispiel glaube ich, dass das die Verunsicherung weiter in die Höhe spazieren zu gehen oder in welcher Weise man in Super- treiben wird. markt einkaufen geht – plötzlich ungewiss war. Inwiefern glaubst du – soziologisch gesprochen – verändert das die Nikolai Soukup: Im Bereich der Angst und Verunsiche- Gesellschaft, nicht nur unmittelbar? rung, die sich auf materielle Lebensbedingungen bezieht, kann man also zum einen die Ängste identifizieren, die etwas mit tatsächlichen prekären Lebenslagen zu tun haben, und zum anderen Abstiegsängste. ‚‚Die einen reagieren auf die Umbrüche einer Krise mit Hass und Ablehnung, Julia Hofmann: Ja genau, wir unterscheiden in der Forschung zwischen objektiver und subjektiver Unsicherheit. Subjek- die anderen mit Solidarität. Aber es gibt tive Unsicherheit bezieht sich eben auf diese Abstiegsängste, immer beides.“ die man haben kann, egal ob man tatsächlich von sozialem Abstieg bedroht ist oder nicht. Objektive Unsicherheit meint demgegenüber ein Leben unter widrigen sozialen Bedin- gungen. . Die objektive Unsicherheit wird natürlich auch Julia Hofmann: Eine ehemalige Uni-Kollegin von mir, zunehmen, wenn es hohe Arbeitslosen- und vielleicht auch Barbara Rothmüller, hat eine Studie über Liebe und Sex Langzeitarbeitslosenraten gibt, wenn junge Leute nicht leicht in Zeiten von Corona gemacht und zeigt, dass sich dieses in den Arbeitsmarkt hineinfinden etc. Social Distancing teilweise schon im Habitus der Menschen eingeschrieben hat. Es hat eben auch Folgen für das Mitei- Nikolai Soukup: Diejenigen, die wesentlich von Krisen- nander, wenn man Freunde und Freundinnen nicht mehr maßnahmen, Arbeitsplatzverlust oder Prekarisierung umarmt oder dass man, wenn man jemanden sieht, schon betroffen sind, sind ja zu einem großen Teil diejenigen, die mal drei Schritte zurückgeht, und dass sich das nicht nur schon vorher in einer schlechten Lage gewesen sind. Da ist im Kopf, sondern auch im Körper niederschlägt. Es geht bestimmt eine Verschärfung und Zuspitzung zu erwarten, dabei ja nicht nur um Sex an sich, sondern allgemeiner um oder? zwischenmenschliche Beziehungen. Gleichzeitig gibt es aber auch andere Forschungsergebnisse: So finden Menschen Julia Hofmann: Genau, da schreibt sich ein Trend fort, würde auch zunehmend andere Lösungen für das zwischenmensch- ich sagen. Noch ist nicht ganz klar, ob auch die „gesellschaft- liche Miteinander, etwa über Online-Treffen etc. Corona liche Mitte“ jetzt weiter abrutscht oder ob es jetzt nicht einfach trifft aber prinzipiell auf einen Nährboden der Angst, den es denen, denen es ohnehin schon vor Corona schlecht gegangen in Österreich schon immer gegeben hat, und verschärft die ist, noch schlechter geht, die bestehende Ungleichheit also wie Bruchlinien in der Gesellschaft weiter. Was die Corona-Krise unter einem Brennglas stärker sichtbar wird. uns bislang zeigt, sind nicht unbedingt gesellschaftliche Kipp- punkte, sondern dass sich Verunsicherungen, die schon da waren, bei bestimmten Leuten verschärfen; aber nicht unbe- dingt, dass plötzlich alle voll in Panik verfallen. ‚‚Noch ist nicht ganz klar, ob die ‚gesell- Nikolai Soukup: Aber glaubst du, dass die Krise dazu führen schaftliche Mitte‘ abrutscht oder die könnte, dass sich verschiedene Teile der Gesellschaft noch Ungleichheit einfach wie unter einem schlechter miteinander verständigen und ihre Lebens- welten verstehen können? Denn zum einen Teil gibt es Brennglas stärker sichtbar wird. Die diejenigen, die gesagt haben: „Ich bin jetzt mehr zu Hause, Krise zeigt uns nicht unbedingt gesell- sehe meine Familie viel öfter und habe mehr Entschleuni- gung.“ Und zum anderen gibt es andere, deren komplette schaftliche Kipppunkte, aber Verunsi- Lebensexistenzgrundlage weggebrochen ist. cherungen, die schon vorher da waren und sich bei einigen verschärfen.“ Julia Hofmann: Das glaube ich schon auch, und dass man dann eben noch mehr soziale Schließungen wahrnehmen kann und dass Leute stärker nur noch unter ihresgleichen bleiben. Manchmal wird ja bereits vom Coronavirus als „konserva- Nikolai Soukup: Eine der primären Ängste im Zusammen- tivem Virus“ geschrieben und in der Tat treten in den letzten hang mit Corona hat klarerweise mit der Angst zu tun, Monaten wieder zahlreiche konservative Phänomene auf krank zu werden oder dass sich jemand aus der Familie die Bildfläche: Frauen, die sich vermehrt um Care-Arbeit mit dem Virus anstecken könnte. Zugleich gibt es auch kümmern müssen, sozialer Kontakt vermehrt innerhalb der Angst und Verunsicherung dahingehend, dass im Prinzip (Kern-)Familie etc. so gut wie alle Alltagsgewissheiten weggefallen sind, weil „Bestehende Ungleichheiten werden verschärft“ 9
Nikolai Soukup: In Bezug auf die Frage, inwiefern Angst Zum Weiterlesen und Verunsicherung in politische Stimmungslagen über- gehen, gibt es einerseits durchaus Tendenzen, dass auto- Hofmann, Julia (2015) Abstiegsangst und Tritt nach unten? Die ritäre Stimmungslagen gestärkt werden. Zum anderen Verbreitung von Vorurteilen und die Rolle sozialer Unsi- gibt es auch neue Formen der Solidarität, die in der Krise cherheiten bei der Entstehung dieser. In: Aschauer, Wolfgang entstanden sind, mit Nachbarschaftshilfen zum Beispiel. / Donat, Lisa / Hofmann, Julia (Hg.) Solidaritätsbrüche in Wie würdest du diese widerstreitenden Stimmungslagen Europa. Konzeptuelle Überlegungen und empirische Befunde. einschätzen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 237-262. Julia Hofmann: Ein Team rund um den Uni-Professor Jörg Hofmann, Julia / Nachtwey, Oliver (2017) Fear and Loathing in der Flecker hat vor ein paar Jahren am Beispiel der Flüchtlings- sozialen Frage. In: Kurswechsel 3/2017, 95–99, LINK krise ein Forschungsprojekt (SOCRIS) durchgeführt, das sich ähnliche Fragen gestellt hat: Warum reagieren in einer Situ- Rothmüller, Barbara (2020) Intimität und soziale Beziehungen in ation, in der es so massive Umbrüche in der Gesellschaft gibt, der Zeit physischer Distanzierung. Ausgewählte Zwischener- die einen mit Hass und Ablehnung und die anderen mit Solida- gebnisse zur COVID-19-Pandemie. Wien, LINK rität? Das könnte man jetzt auch auf Corona umlegen. Damals ist in dem Projekt u.a. herausgekommen, dass wie Leute Schönauer, Annika / Schindler, Saskja / Papouschek, Ulrike / reagieren, eben sehr stark mit Einstellungen und Erfahrungen, Flecker, Jörg / Altreiter, Carina (Hg.) (2019) Umkämpfte Soli- die man davor gemacht hat, zu tun hat, mit Werten, Soziali- daritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft. Wien: sation und so weiter. Das ist kein besonders überraschendes Promedia. Ergebnis. Ich finde aber, das ist ein zurzeit eher beruhigender Befund, weil es gibt immer beides gibt: Ich würde schon argu- mentieren, dass Ungleichheiten und Unsicherheiten verstärkt werden. Zugleich glaube ich, es kippt nicht immer das ganze System. Es gibt immer auch Gegentendenzen. Der Text ist eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung des Gesprächs. 10 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
Die ungleichen Auswirkungen der COVID-Krise auf den Arbeitsmarkt Simon Theurl Am 15. März 2020 beschloss die österreichische Bundesre- bisherigen Einkommens. Die vollen Sozialversicherungsbei- gierung das erste Covid-Krisengesetz, mit dem Maßnahmen träge – in derselben Höhe wie vor der Arbeitszeitreduktion – gesetzt wurden, die darauf abzielten, ein Ausbreiten der werden ebenso weiterbezahlt. Die Unternehmen bekommen Pandemie zu bremsen und die negativen wirtschaftlichen die vollen Kosten für die Ausfallstunden (Entgelt inklusive Auswirkungen abzufedern. Schon nach kurzer Zeit war klar der SV-Beiträge) vom AMS rückerstattet. So konnte bereits geworden, dass die Krise dramatische Auswirkungen auf in der letzten Maiwoche für rund 1,3 Millionen Menschen den Arbeitsmarkt haben würde. Steigende Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit angemeldet und damit der Anstieg der Arbeitslo- steigender Druck auf Arbeitssuchende und Beschäftigte und sigkeit verringert werden. Wie viele Menschen für welchen die Gefahr, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbe- Stunden entfall Kurzarbeit tatsächlich beansprucht haben, dingungen akzeptieren zu müssen, sind dabei asymmetrisch wird sich erst nach den Abrechnungen klar herausstellen. verteilt. In nur wenigen Tagen stieg die Arbeitslosigkeit drama- Ungleiche Verteilung der tisch an. Im April 2020 waren 599.202 Personen beim AMS Betroffenheit arbeitslos gemeldet, rund 200.000 Personen mehr als im April 2019 (AMS / BMASGK 2020). Die von der Bundesregierung Die Krise sowie die Maßnahmen zur Krisenbewältigung gesetzten Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-Pandemie wirken asymmetrisch entlang unterschiedlichster Arbeits- führten zu den höchsten Beschäftigungseinbußen seit fast 70 und Lebensrealitäten (siehe u.a. die Beiträge zu atypischer Jahren (Bock-Schappelwein et al. 2020). Um Schlimmeres zu oder migrantischer Beschäftigung, Pflege oder den HeldInnen verhindern, entwickelten die Sozialpartner ein Covid-Kurz- der Covid-Krise in diesem Heft). Gruppen, die es schon vor arbeit-Modell. Dieses ermöglicht es Unternehmen, die der Krise besonders schwer hatten – wie Niedrigqualifizierte, Arbeitszeit um bis zu 90 Prozent der vorherigen Normalar- Ältere, Frauen, Personen mit Migrationshintergrund oder beitszeit zu reduzieren, ohne dabei Arbeitskräfte zu entlassen Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen –, sind von (Schnetzer / Tamesberger / Theurl 2020). Die Arbeitneh- der Krise besonders betroffen. Im Folgenden wird die unter- merInnen bekommen weiterhin 80, 85 bzw. 90 Prozent des schiedliche Betroffenheit von Arbeitslosigkeit in der Krise vorherigen Bruttoeinkommens, gestaffelt nach der Höhe des entlang von Branchenzugehörigkeit, Einkommen und Alter aufgeschlüsselt. In der Gastronomie stieg die Arbeitslosigkeit besonders stark Im April 2020 waren rund 200.000 an, zugleich wurde in vergleichsweise geringem Ausmaß Personen mehr arbeitslos gemeldet Kurzarbeit angemeldet. Das ist wenig verwunderlich, denn in dieser Branche ist es üblich, saisonale Schwankungen des als im April 2019. Arbeitskräftebedarfs durch Kündigungen auszugleichen und die Kosten den BeitragszahlerInnen der Arbeitslosenversi- Die ungleichen Auswirkungen der C OVID-Krise auf den Arbeitsmarkt 11
Abbildung 1: Anzahl arbeitslos gemeldeter Personen nach Branche, Februar bis Juni 2020 Quelle: AMS /BMASGK 2020 (Bestand an Personen am Stichtag (jeweiliger Monatsletzter) mit dem Status arbeitslos; in Schulung; arbeitssuchend, sofort verfügbar; lehrstellensuchend, sofort verfügbar; oder Klärung der Arbeitsfähigkeit). cherung umzuhängen (Eppel et al. 2015). Für die betroffenen jene, die in niedrig entlohnten Tätigkeiten, die kaum spezielle Arbeitskräfte ist die Krise besonders dramatisch, denn in der Qualifizierung erfordern, arbeiten. Dort, wo es ein großes Gastronomie ist kaum eine Verbesserung in Sicht. „Übliche“ Angebot an Arbeitskräften gibt, ist es für Arbeitgeber*innen bzw. geplante Phasen der Arbeitslosigkeit werden vermutlich leicht, bei Bedarf Arbeitskräfte zu bekommen. Zugleich kann länger ausfallen und zu starken Einkommenseinbußen im Kurzarbeit vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit von Niedriglohnsektor führen. Unternehmer*innen leicht als „Entgegenkommen“ dargestellt werden. Im Gegenzug können Arbeitsleistungen verlangt Durch Kurzarbeit konnten viele Arbeitsplätze gesichert werden, die nicht entgolten werden, wie bereits bekannt werden. Für Menschen, die vor Covid nur ein geringes gewordene Missbrauchsfälle bei Kurzarbeit belegen (Wiener- Einkommen erhielten, kann der kurzarbeitsbedingte Einkom- Zeitung.at 2020). mensausfall von 10 Prozent jedoch eine gravierende Belas- tung darstellen. Das trifft umso stärker zu, je niedriger das Einkommen ist. In der Regel gilt: Je geringer das Einkommen, desto geringer sind auch die Ersparnisse, auf die im Notfall In einer Krise ist der Einstieg in den zurückgegriffen werden kann (siehe den Beitrag von Rapp / Arbeitsmarkt besonders schwierig. Humer in diesem Heft). Hinzu kommt, dass sich das Kurzar- beitsgeld an dem vertraglich vereinbarten Bruttoeinkommen Zudem haben Jugendliche häufig insta- bemisst. Überstundenentgelt oder Trinkgeld, die in vielen bilere Arbeitsverhältnisse und verlieren Bereichen einen wichtigen Teil des Nettoeinkommens ausma- diese leichter. chen, fallen weg. Auch hier sind Menschen in prekären und niedrig entlohnten Jobs stärker betroffen. Vor einem noch deutlich höheren Einkommensverlust stehen Den aktuellen Wirtschaftsprognosen des WIFO (WIFO 2020) jene Menschen, die im Zuge der Covid-Maßnahmen arbeitslos zufolge wird die Arbeitslosenquote (nationale Definition) geworden sind. Sofern sie sich für den Erhalt von Arbeitslo- im Jahr 2021 um 1,5 Prozentpunkte höher liegen als 2019. sengeld qualifizieren, bekommen Sie (ohne Zuschläge) 55 Besonders Menschen mit niedrigeren Chancen am Arbeits- Prozent des ursprünglichen Nettoeinkommens. Ob jemand markt werden langfristig von den Auswirkungen der Covid- Kurzarbeitsgeld oder das deutlich geringere Arbeitslosen- Krise betroffen sein. Zu befürchten ist, dass das insbesondere geld erhält, hängt von den Entscheidungen der Unterneh- ältere Arbeitssuchende sein werden. Bereits vor Covid zeigte mer*innen ab. Erheblich vom Risiko des Arbeitsplatzverlusts sich, dass die Zahl der über 45-jährigen Langzeitarbeitslosen betroffen sind betroffen sind Menschen, die am Arbeitsmarkt in Folge der Finanzkrise 2007/08 stark angestiegen ist. Im in einem besonders starken Konkurrenzverhältnis stehen, also Jahr 2019 lag sie bei rund 135.000 Menschen, etwa dreimal so 12 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
Abbildung 2: Anzahl arbeitsloser Jugendlicher, Februar bis Juni 2020 Quelle: AMS /BMASGK 2020 (Anzahl der Jugendlichen mit dem Status arbeitslos; in Schulung; arbeitssuchend, sofort verfügbar; oder lehrstellensuchend, sofort verfügbar). hoch wie vor der Finanzkrise. Im Juni 2020 lag die Zahl der hatte maximal einen Pflichtschulabschluss und ca. ein Drittel Arbeitssuchenden über 50 Jahre bereits um 42 Prozent höher eine Lehre oder mittlere Ausbildung abgeschlossen. als im Juni 2019 (AMS 2020b). Hier müssen Maßnahmen gesetzt werden: Eine staatliche Jobgarantie, in deren Rahmen Die Arbeitslosenquote der Jugendlichen (gemäß nationaler auf regionaler Ebene der Bedarf an Dienstleistungen und Definition) stieg bis Ende Juni auf 12 Prozent an (+ 6,2 Produkten basisdemokratisch erhoben wird, könnte Lang- Prozentpunkte). Der Anstieg fiel deutlich stärker als jener der zeitarbeitslosen eine Chance geben und allen zugutekommen allgemeinen Arbeitslosenquote aus. Die Anzahl unselbständig (Tamesberger / Theurl 2019). beschäftigter Jugendlicher ist Ende Mai um 7,2 Prozent geringer als vor einem Jahr (AMS 2020c). Gerade bei Jugend- lichen hat Arbeitslosigkeit langfristig negative Konsequenzen. Jugendarbeitslosigkeit Beispielsweise führt eine Arbeitslosigkeitsdauer von bereits sechs Monaten (im Alter von 22 Jahren) zu einem gerin- Für arbeitssuchende Jugendliche ist die Situation besonders geren Stundenlohn von 8 Prozent (Tamesberger 2014). Daher dramatisch. Erstens ist der Einstieg in den Arbeitsmarkt in müssen gerade jetzt Jugendliche stärker als bisher unterstützt einer Krise besonders schwer. Zweitens haben Jugendliche werden. Bislang wurde das Problem von der Bundesregierung häufig instabilere Arbeitsverhältnisse, wie zum Beispiel jedoch vernachlässigt. Ohne zusätzliche arbeitsmarkt- und Befristungen und eine kürzere Firmenzugehörigkeit, weshalb bildungspolitische Bemühungen besteht jedoch die Gefahr sie auch leichter ihre Arbeit verlieren. Im April 2020 waren einer „verlorenen Generation“ (Bacher / Tamesberger 2020). 98.907 Jugendliche arbeitslos (AMS / BMASGK 2020). Mit den Covid-Maßnahmen stieg im März die Jugendarbeitslosig- keit rasant an. Seither hat sich die Situation leicht verbessert. Was kann getan werden? Im Juni 2020 waren jedoch nach wie vor 84.133 Jugendliche arbeitslos registriert. Das waren rund 20.000 mehr als im Juni Die Krise am Arbeitsmarkt hat ein beispielloses Ausmaß 2019. Weit mehr als die Hälfte der arbeitslosen Jugendlichen angenommen. Um der steigenden Arbeitslosigkeit und dem Lohndruck nach unten entgegenzuwirken, braucht es schlag- kräftige Maßnahmen. Nachdem sich der starke Rückgang an Beschäftigung und Arbeitsstunden zu verfestigen droht, Es braucht eine breitere Verteilung der braucht es andere als die herkömmlichen arbeitsmarktpoli- Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung tischen Maßnahmen: zum Beispiel eine breitere Verteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung oder den Ausbau oder den Ausbau geförderter Beschäfti- geförderter Beschäftigung durch eine demokratisch orga- gung durch eine demokratisch organi- nisierte Jobgarantie (Tamesberger / Theurl 2019). Wird durch Arbeitszeitverkürzung die Arbeitslosigkeit gesenkt, so sierte Jobgarantie. können die Ausgaben, die ansonsten für die Finanzierung von Arbeitslosigkeit anfallen würden, für die Finanzierung der Die ungleichen Auswirkungen der C OVID-Krise auf den Arbeitsmarkt 13
Gruppen, die es schon vor der Krise Literatur besonders schwer hatten, sind von der AMS (2020a) Übersicht über den Arbeitsmarkt. April 2020. Wien: Krise besonders stark betroffen. Arbeitsmarktservice Österreich, LINK AMS (2020b) Übersicht über den Arbeitsmarkt. Juni 2020. Wien: Arbeitsmarktservice Österreich, LINK Reduktion der Arbeitszeit herangezogen werden. Idealerweise ist ein solches Modell so ausgestaltet, dass es zu einer breiteren AMS (2020c) Die Arbeitsmarktsituation von Jugendlichen in der Verteilung der Einkommen und Vermögen beiträgt, indem aktuellen Covid-19 Krise. Spezialthema zum Arbeitsmarkt Juni Einkommensverluste bei niedrigeren Einkommen stärker 2020. Wien: Arbeitsmarktservice Österreich, LINK subventioniert werden und die Subventionen auch über eine Besteuerung von Kapital statt Arbeit finanziert werden. AMS (2020d) Solidaritätspämien-Modell, LINK Sowohl eine Jobgarantie als auch eine geförderte Arbeitszeit- verkürzung in Anlehnung an das bereits existierende Solida- Bacher, Johann / Tamesberger, Dennis (2020) Corona: Wieder die ritätsprämienmodell (AMS 2020d) sind arbeitsmarktpoliti- Gefahr einer verlorenen Generation?. In: A&W Blog. 24.4.2020, sche Maßnahmen, von denen alle profitieren können, indem LINK Arbeit anstelle von Arbeitslosigkeit finanziert wird. Bock-Schappelwein, Julia / Huemer, Ulrike / Hyll, Walter (2020) COVID-19-Pandemie: Höchste Beschäftigungseinbußen in Österreich seit fast 70 Jahren. WIFO Research Briefs 2/2020, Wien: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, LINK AMS / BMASGK (2020) Portal der Arbeitsmarktdatenbank des Arbeitsmarktservice Österreich und des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, LINK Eppel, Rainer / Horvath, Thomas / Mahringer, Helmut / Zulehner, Christine (2015) Temporäre Layoffs – Das kurzfris- tige Aussetzen von Arbeitsverhältnissen und seine Bedeutung für die Arbeitslosigkeit. In: WIFO-Monatsberichte 88(12), 885-897. WIFO (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung) (2020) Prognose für 2020 und 2021: Tiefe, jedoch kurze Rezession in Österreich. Presseinformation. 26.6.2020, LINK Schnetzer, Matthias / Tamesberger, Dennis / Theurl, Simon (2020) Mitigating mass layoffs in the COVID-19 crisis: Austrian short- time work as international role model. In: VOX, CEPR Policy Portal. 7.4.2020, LINK Tamesberger, Dennis (2014) Jugendarbeitslosigkeit in Europa: Eine Beschreibung des Problemausmaßes und der Folgen. In: WISO 1/2014, 139–158, LINK Tamesberger, Dennis / Theurl, Simon (2019) Vorschlag für eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose in Österreich. In: Wirtschaft und Gesellschaft 45 (4), 471–495, LINK WienerZeitung.at (2020) Kurzarbeit-Kontrollen: 150 Anzeigen wegen Missbrauch. 29.6.2020, LINK WIFO (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung) (2020) Prognose für 2020 und 2021: Tiefe, jedoch kurze Rezession in Österreich. Presseinformation. 26.6.2020, LINK 14 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
Odysseus im Supermarkt. Die HeldInnen der COVID-Krise Können Sie erklären, was ein Held ist? Jemand, der sich „einer belastungen sind hoch: Laut Arbeiterkammer halten es 6 von schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt“, 10 über 45-jährigen ArbeiterInnen in der Pflege oder der meint der Duden. Historisch gesehen ist die Figur des Helden Reinigung für unwahrscheinlich, ihren Beruf bis zur Pension maßgeblich durch die Geschichten der griechischen Mytho- ausüben zu können. Mit besonders schlechten Arbeitsbedin- logie geformt: Herkules, Achilles oder Odysseus zum Beispiel. gungen sind zumeist MigrantInnen in der Erntehilfe oder in Auch die Covid-Krise hat ihre HeldInnen hervorgebracht: der 24-Stunden-Pflege konfrontiert. PflegerInnen, ÄrztInnen, BusfahrerInnen, Reinigungskräfte, RegalschlichterInnen und viele mehr − darunter nicht zuletzt die viel genannten SupermarktkassiererInnen. Wie ihre antiken Pendants in Theaterstücken wurden die Covid-Held Innen beklatscht. Aber die HeldInnen der Covid-Krise unter- Sie sind die wahren Leistungsträger scheiden sich in zwei essenziellen Punkten von ihren mytho- Innen, denn ihre Berufe sind nicht erst logischen Ebenbildern. seit Covid herausfordernd. Erstens haben sie keine außergewöhnlichen Taten im Sinne der griechischen Antike vollbracht – weder wurden Löwen noch einäugige Riesen bezwungen – sondern eher gewöhnlich Alltägliches: Sie haben etwa Medikamente ausgegeben, Regale Ein zweiter Unterschied zu den Helden der griechischen mit Lebensmitteln geschlichtet oder die Menschen mit dem Mythologie ist, dass die Covid-HeldInnen sehr oft Heldinnen Bus zur Arbeit oder zum Einkaufen gebracht. Außergewöhn- sind. Eine Heldin ist laut Duden eine „besonders tapfere, lich war hingegen, dass der Lockdown des Wirtschaftslebens opfermütige Frau, die sich für andere einsetzt“. So selbstlos deutlich gemacht hat, wie unverzichtbar diese Menschen und müssen die Helden im Duden nicht sein. In der Arbeits- ihre täglichen Arbeitsleistungen für das Leben und Überleben welt zeigt sich, dass gerade die Frauen es sind, die die wich- der gesamten Gesellschaft sind. Und so mussten sie auch tigste Arbeit leisten: In 8 von 11 systemerhaltenden Berufen ihrer Arbeit nachgehen, während viele andere zu Hause im arbeiten überwiegend Frauen. Wo der Frauenanteil beson- Homeoffice saßen. ders hoch ist, wird jedoch besonders schlecht bezahlt: Reini- gungskräfte, Kinderbetreuung, Regalbetreuung, Alten- und Sie sind die wahren LeistungsträgerInnen, denn ihre Berufe Behindertenbetreuung. Aber auch insgesamt schlägt sich der sind nicht erst seit Covid herausfordernd: Für die meisten Wert der Arbeit für die Gesellschaft nicht in der Bezahlung Handelsangestellten gehört der Samstag zur Arbeitswoche. nieder: ATX-Manager verdienen derzeit das 57-fache eines PflegerInnen, ÄrztInnen und BusfahrerInnen arbeiten auch mittleren Einkommens. am Wochenende und in der Nacht. Zeitdruck und Arbeits- Odysseus im Supermarkt. Die HeldInnen der COVID-Krise 15
Die HeldInnen der Covid-Krise sind also keine Helden im Literatur mythologischen Sinn. Sie sind die TrägerInnen des wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Als solche sollten Online Duden, LINK sie auch gewürdigt werden: Mit guten Arbeitsbedingungen, fairen Löhnen, von denen sie leben können, und einem guten AK (Portal der Arbeiterkammern) (2020), Gerechtigkeit für die sozialen Netz, das auffängt, wenn im Leben mal etwas schief wahren LeistungsträgerInnen, 29.5.2020, LINK läuft. Das wäre leicht möglich, denn der Wohlstand war noch nie so hoch wie in den letzten Jahren. Dafür muss man aber Arbeiterkammer Wien (2020), Broschüre: Vermögensverteilung, jene in die Pflicht nehmen, die in der Covid-Krise auffällig still LINK waren: die Reichen und Vermögenden. Quelle: Karl Berger 16 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
Atypische Beschäftigung im Ausnahmezustand Bettina Haidinger Die Covid-19-Krise zieht unterschiedliche gesundheitliche, auch erhalten sie keine Unterstützung aus dem Familienhärte- soziale und ökonomische Folgen für Beschäftigte nach sich. fonds. Da aus ihrem Beschäftigungsverhältnis kein Anspruch Dabei ist der Status von Beschäftigten – ob sie über die Beschäf- aus der Arbeitslosenversicherung entsteht, stehen sie im Fall tigung sozialversichert, solo-selbständig bzw. in leicht künd- des Jobverlusts ohne Einkommen da. Genauso fielen im Shut- baren Beschäftigungsverhältnissen sind und ob sie etwa von zu down für viele Solo-Selbständige Umsätze und Einkommen Hause aus oder im Ausland arbeiten – ausschlaggebend dafür, weg und sie bleiben ohne staatliche Unterstützung. Nur wie sich die Krise auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen wenige nahmen die Möglichkeit, sich gegen Arbeitslosigkeit niederschlägt. Atypische Beschäftigte sind stärker von Arbeits- selbst zu versichern, in Anspruch und bis jetzt (Stand Anfang losigkeit betroffen als andere, sie werden im Schnitt um 25 Juni) sind kaum Zahlungen aus Corona-Fonds an Kleinst- Prozent schlechter entlohnt (Knittler 2016) und weniger von und Ein-Personen-Unternehmen (EPUs) geflossen. etablierten und neuen sozialen Sicherungsnetzen aufgefangen. ArbeiterInnen sind eher gesundheitlichen und Ansteckungsri- siken ausgesetzt als Angestellte. Dazu kommt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen eher in atypischen Beschäftigungsver- Der Status der Beschäftigten ist hältnissen zu finden sind als andere. Migrantinnen etwa sind in ausschlaggebend dafür, wie sich die der Reinigungsbranche überrepräsentiert, dort sind wiederum 14 Prozent der ArbeitnehmerInnen geringfügig beschäftigt Krise auf die Arbeits- und Lebens oder in Leiharbeit (8 Prozent) (Pirklbauer 2020). Autochthone bedingungen auswirkt. Männer sind hingegen unterrepräsentiert. Kaum Unterstützungsleistungen Homeoffice für geringfügig Beschäftigte und Solo-Selbständige Zwar gilt Homeoffice nicht per se als atypische Beschäftigung, aber als typisch ist sie wiederum auch nicht zu bezeichnen. Vor Mehr Frauen als Männer arbeiten in geringfügiger Beschäf- allem fehlt es bis dato an vernünftigen Vereinbarungen, die die tigung, gleichzeitig waren im April 2020 rund ein Viertel Risiken (Entgrenzung von Arbeit und Leben) und Kosten (für weniger Frauen und 17 Prozent weniger Männer in gering- Arbeitsmittel) der Arbeit von zu Hause regeln. Laut Arbeitskli- fügiger Beschäftigung als im Vergleichsmonat des Vorjahres. maindex (AK OÖ 2020) waren zwischen März und Mai 2020 Frauen sind damit viel stärker vom Rückgang der gering- 36 Prozent der Beschäftigten ganz oder teilweise im Homeof- fügigen Beschäftigung betroffen. Bei den unselbständigen fice Der Anteil variiert stark nach Ausbildung und Beschäfti- Beschäftigten lag der Rückgang sowohl bei Männern als auch gungsform: 10 Prozent der ArbeiterInnen und 56 Prozent der bei Frauen bei 5 Prozent (BMAFJ 2020). Geringfügig Beschäf- AkademikerInnen arbeiteten während des Shutdowns von zu tigte konnten keine Corona-Kurzarbeit in Anspruch nehmen, Hause aus. Natürlich waren jene im Homeoffice geringeren Atypische Beschäftigung im A usnahmezustand 17
Gesundheitsrisiken ausgesetzt, insofern profitierten besser Für Beschäftigte in befristeten Beschäftigungsverhältnissen Ausgebildete und Angestellte von dieser Arbeitsform. Muss(te) ergab sich aufgrund des schnellen Shutdowns für kurze Zeit man jedoch von zu Hause Kinderbetreuung (insgesamt mit sogar eher ein Vorteil, da eine Kündigung des Arbeitsver- den Ferien ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten!) und hältnisses vor dem arbeitsvertraglich festgelegten Ende durch Arbeit vereinbaren, relativiert sich die Feststellung bezüglich Zeitablauf grundsätzlich nicht möglich ist. Eine andere Gruppe der Gesundheitsrisiken wieder: Für jeden zweiten Elternteil zeitlich befristeter und flexibel eingesetzter Beschäftigter, bedeutet die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung nämlich LeiharbeiterInnen, zählte hingegen oftmals zu den jetzt deutlich mehr Stress als vor der Krise. ersten, die gekündigt wurden. Nur in manchen Branchen, z.B. den Postverteilungszentren, gab es eine erhöhte Nachfrage. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass die Arbeitsbedingungen Hochmobile Beschäftigte von Rand- und Kernbelegschaften zwar nicht offiziell, aber doch in der Praxis zweierlei Maß unterliegen. Unter hochmobile Beschäftigung fallen Personen, die entweder wegen ihres Berufs mobil sein müssen (z.B. LKW-FahrerInnen) oder Personen, die sich zur Ausübung ArbeitnehmerInnenschutz ihrer Arbeit für begrenzte Zeit weg von ihrem Wohnort bewegen (z.B. 24-Stunden-BetreuerInnen, ErntehelferInnen, Interessant ist, dass nun eine Dimension von Beschäftigungs- entsandte BauarbeiterInnen). Auch für diese Beschäftigten- bedingungen stärker in den Vordergrund rückt als früher: Der gruppe brachte die Covid-19-Krise nochmals eine Verschär- ArbeitnehmerInnenschutz. Vor Covid-19 als übertrieben, fung ihrer vorher schon misslichen Arbeitsbedingungen mit bürokratisch bis hin zu schikanös gegenüber den Arbeitge- sich (Rasnača 2020). ErntehelferInnen wohnten in gesund- berInnen diskreditiert, hängen nun in jedem Büro und jeder heitlich unzumutbaren und unwürdigen Gemeinschaftsunter- Fabrik Merkzettel mit Hinweisen, wie man sich zu verhalten künften; entsandte ArbeitnehmerInnen durften aufgrund der hat, um potenzielle Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz zu Grenzschließungen nicht nach Hause oder zurück an ihren minimieren. Gerade dort, wo viele Beschäftigte zusammen- Arbeitsplatz im Ausland. Für entsandte ArbeitnehmerInnen stehen und der Sicherheitsabstand schwieriger einzuhalten (vom Ausland nach Österreich) gilt die Kurzarbeitsregelung ist – am Fließband oder in den Distributionszentren der nicht. In fast allen EU-Ländern wurden die Lenkzeiten für Logistikunternehmen –, traten vermehrt Covid-19-Anste- LKW-FahrerInnen verlängert und Ruhezeiten reduziert, um ckungen auf. In diesen Bereichen sind die Beschäftigungsver- den Warenfluss aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig wurden hältnisse eher prekär, die ArbeitnehmerInnen unterliegen als Raststationen geschlossen oder FahrerInnen der Zugang aus ArbeiterInnen oder LeiharbeiterInnen schlechteren Kündi- Angst vor Ansteckung verwehrt. Das heißt, die LenkerInnen gungsbedingungen und hohen Produktivitätserfordernissen waren tage- bis wochenlang in ihrem LKW zum Essen, und haben am Arbeitsmarkt schlechtere Chancen, gleich Schlafen und Leben gefangen. ArbeiterInnen und Leiharbeiter Viele ArbeitgeberInnen nahmen es Innen mit der Fürsorgepflicht gegenüber den Neun von zehn der verloren gegangenen Jobs entfallen auf Beschäftigten nicht so genau. ArbeiterInnen (Szigetvari 2020). Das hängt auch mit den flexibleren Kündigungsbedingungen zusammen, die für ArbeiterInnen im Gegensatz zu Angestellten gelten: Arbeiter Innen können (außer der Kollektivvertrag regelt es anders) wieder einen Job zu finden. Insofern ist ihre Verhandlungs- mit einer Vorankündigungsfrist von zwei Wochen an jedem macht im Arbeitsverhältnis gering. Das zeigen auch einige beliebigen Wochentag gekündigt werden. Das Angestellten- ArbeiterInnen oder LeiharbeiterInnen betreffende Fälle, die gesetz sieht hingegen – abhängig von der Dauer des Arbeits- die Arbeiterkammer (AK 2020) vertritt oder die in Medien verhältnisses – eine mindestens sechswöchige Kündigungs- (Lehermayr 2020) kolportiert wurden. Viele Arbeitgebe- frist vor (diese Regelung gilt ab 2021 auch für ArbeiterInnen). rInnen nahmen es mit der Informations- und Fürsorgepflicht Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass der Kündigungsschutz gegenüber ihren Beschäftigten (keine Desinfektionsmittel, in Österreich für alle Beschäftigten im OECD-Vergleich kein Sicherheitsabstand, keine Schutzmasken, keine Informa- schwach ausgeprägt ist, in anderen Ländern wurde während tion über Covid-19-Fälle) nicht so genau und setzten sie somit der Corona-Krise sogar ein Kündigungsstopp verhängt. gesundheitlichen Gefährdungen aus. Umso mehr ist auf den ArbeitnehmerInnenschutz zu pochen, er ist eine der wich- tigsten Eingrenzungen, dem Zugriff auf die Ware Arbeitskraft Einhalt zu gebieten und die „Gesundheit sowie d[ie] Integrität LeiharbeiterInnen zählten oft zu den und Würde“ (§ 3 Abs. 1 ASchG) von ArbeitnehmerInnen zu schützen. Dabei sind zwei Aspekte in der Krise besonders ersten, die gekündigt wurden. wichtig: Der ArbeitnehmerInnenschutz gilt auch für Leihar- beitskräfte, und er liegt in der Verantwortung des Arbeitge- 18 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
LKW-FahrerInnen, 24-Stunden-Be- Literatur treuerInnen und ErntehelferInnen: Für AK (Portal der Arbeiterkammern) (2020) AK hilft: Fabrik entließ hochmobile Beschäftigte verschärften nach Corona-Fällen voreilig drei Arbeiter. 22.6.2020, LINK sich die schlechten Arbeitsbedingungen. AK OÖ (Arbeiterkammer Oberösterreich) (2020) Arbeitsklima Index 2020 - Nr. 2. 24.6.2020, LINK bers bzw. der Arbeitgeberin. Laut ArbeitnehmerInnenschutz- BMAFJ (Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend) gesetz (§ 3 Abs. 1) dürfen „[d]ie Kosten dafür […] auf keinen (2020) bali, LINK Fall zu Lasten der Arbeitnehmer[Innen] gehen“. Knittler, Käthe (2016) Atypische Beschäftigung im Jahr 2015 und im Verlauf der Wirtschaftskrise. In: Statistische Nachrichten Fazit: Corona verschärft die 6/2016, 416–422. Situation Lehermayr, Christoph (2020) Die Chronik der COVID-Krise bei Die Corona-Krise trifft Beschäftigte, die arbeitsrechtlich der Post. In: Addendum. 3.6.2020, LINK oder sozial schlechter abgesichert sind, härter als Angestellte oder die Kernbelegschaft von Unternehmen. Schon vor der Pirklbauer, Sybille (2020) Gerechtigkeit für die wahren Leistungs- Krise waren LeiharbeiterInnen, Solo-Selbständige, gering- träger*innen. In: A&W Blog. 29.5.2020, LINK fügig Beschäftigte oder entsandte ArbeitnehmerInnen von geringeren Verdienstmöglichkeiten, fehlender betrieblicher Rasnača, Zane (2020) Essential but unprotected: highly mobile Integration, einem höheren Risiko, arbeitslos zu werden, und workers in the EU during the Covid-19 pandemic. ETUI Policy oft unzureichendem Sozialschutz betroffen. Der schlagartige Brief European Economic, Employment and Social Policy Shutdown wird seine ökonomischen und sozialen Wunden 9/2020. Covid-19 impact series. Brüssel: ETUI, LINK hinterlassen. Jene, die als erste gehen mussten, werden die Auswirkungen am längsten spüren. In der Krise wird klar, Szigetvari, András (2020) In neun von zehn Fällen waren es in dass jene Beschäftigungsformen, die die Flexibilisierung des der Krise Arbeiter, die ihre Jobs verloren. In: derstandard.at. Arbeitsmarktes befeuern, sich negativ auf die kurzfristige und 14.6.2020, LINK langfristige soziale und ökonomische Situation der Beschäf- tigten auswirken. Dazu kommt eine Gesundheitskrise, die nicht vor den Fabrikstoren Halt macht. Einmal mehr wird die Notwendigkeit eines soliden ArbeitnehmerInnenschutzes deutlich, der dem Anspruch, die (gesundheitliche) Integrität und Würde von ArbeitnehmerInnen zu sichern, gerecht wird. Als abschließender Appell: 12 Stunden Arbeitszeit sind mit diesem Prinzip nicht vereinbar. Atypische Beschäftigung im A usnahmezustand 19
„Das Virus unterscheidet nicht, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse“ – Migrantische Beschäftigung in der COVID-Krise Peter Birke im Interview Ein Gespräch mit Peter Birke, Soziologisches Forschungs Hub der Fleischproduktion in Europa entwickelt. Seither institut Göttingen. fand eine enorme Ausdehnung der Schlachtzahlen statt und eine kaum fassbare Steigerung der Produktionsgeschwin- Johanna Neuhauser: Es heißt, vom Coronavirus sind alle digkeit, gleichzeitig eine Konzentration auf wenige Groß- gleichermaßen betroffen. Gleichzeitig wurde in der Krise betriebe wie Tönnies und Wiesenhof sowie Danish Crown deutlich, dass Schutzvorkehrungen am Arbeitsplatz wie und VION, die ihre Produktion aus Dänemark und den Homeoffice-Regelungen nur für bestimmte Arbeitneh- Niederlanden in das Billiglohnland BRD verlagert haben. In mer*innen getroffen werden, während andere auf der der Schlacht- und Zerlegekette, aber auch in der Verpackung Baustelle, im Schlachthaus, am Feld oder in der Pflege im und teilweise im Conveniance-Bereich sind fast alle Beschäf- Privathaushalt kaum Abstandsregeln einhalten können. tigten Migrant*innen, fast alle Vorarbeiter*innen ebenfalls. Diese Beschäftigten sind durch ihre Arbeitsbedingungen Menschen mit deutschem Pass gibt es oft nur im Management erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Nicht zufällig und in der Verwaltung. sind in diesen Arbeitsfeldern besonders häufig migranti- sche Arbeitnehmer*innen tätig. Die Schlacht- und Zerlege- betriebe in Deutschland sind in der Covid-19-Krise durch Masseninfektionen sehr stark in der öffentlichen Debatte ‚‚An der Zerlegekette ist Social Distan- aufgetaucht. Könntest du über eure Forschung in der Flei- cing einfach nicht möglich, genau so schindustrie erzählen? wenig wie in der Massenunterkunft.“ Peter Birke: Wir haben am SOFI seit Anfang 2017 Arbeits- bedingungen in Branchen wie Gebäudereinigung, Pflege, Einzelhandel, Online-Versandhandel und eben der Fleischin- dustrie dokumentiert, in denen sehr viele Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Schlacht- und Zerlegebetriebe waren Johanna Neuhauser: Im Mittelpunkt der Kritik steht einer der Schwerpunkte unserer Untersuchung, wobei wir aktuell das Werkvertragssystem. Wieso ist das in der Flei- vor allem in der Region zwischen Oldenburg und Osnabrück schindustrie in Deutschland so bedeutend? unterwegs waren. Dort hat sich seit den 2000ern der größte 20 COVID – Kaleidoskop | Teil 1
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