AUFSATZ GEFANGEN IM ZWISCHENRAUM LITERARISCHE RÄUME IN HERTA MÜLLERS DER MENSCH IST EIN GROßER FASAN AUF DER WELT - DIVA-PORTAL

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Aufsatz
Gefangen im Zwischenraum

Literarische Räume in Herta Müllers Der Mensch ist ein
großer Fasan auf der Welt

Literary Spaces in Herta Müller’s Der Mensch ist ein großer Fasan auf
der Welt

Författare: Sofia Larsson
Handledare: Maren Eckart
Examinator: Anneli Fjordevik
Ämne/huvudområde: Tyska
Kurskod: GTY2N5
Poäng: 15
Ventilerings-/examinationsdatum: 04.02.2022
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                Högskolan Dalarna – SE-791 88 Falun – Tel 023-77 80 00
Abstract: This essay discusses Herta Müller’s 2009 novella Der Mensch ist ein
Großer Fasan auf der Welt from a spatial perspective. Drawing from ideas from the
Spatial Turn in the 1980s, the main characters of the novella are analysed and it is
found that while the women of the story are able to adapt to the changing of space,
the male protagonist is struggling being stuck in what can be seen as a state of
constant crisis, which renders him practically useless in the society he lives in.

Three main theories are used for the analysis; Michel Foucault’s concept of
heterotopias, Henri Lefebvre’s definitions of societal space and Edward Soja’s
ideas of Thirdspace. Further, Müller’s own ideas of Utopia are brought in for
reflection.

Nyckelord: Spatial turn, heterotopia, utopia, thirdspace.
Einleitung                                    2
   Methode                                    3
   Hintergrund                                3

Analyse                                       5
  Das Dorf als sozialpolitischer Raum         5
  Das Dorf und die Wirklichkeit               8
  Das Dorf als Heterotopie oder Thirdspace   11

Herta Müller und die Utopie                  16

Zusammenfassung                              18

Literaturverzeichnis                         20
    Primärliteratur                          20
    Sekundärliteratur                        20

                                              1
Einleitung

     Wir leben nicht in einem leeren, neutralen Raum. Wir leben, wir sterben und wir lieben
    nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem
         gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit
     unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit
                       weichen, leicht zu durchdringen, porösen Gebieten.1
                                        -Michel Foucault

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller beschreibt in ihrer 1986 erschienenen
Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt das Leben der
deutschsprachigen Bevölkerung eines kleinen Dorfes in Rumänien nach dem
zweiten Weltkrieg. Im Zentrum der Erzählung steht Windisch, ein bescheidener
Müller, der während des Kriegs in Russland gefangener war, und jetzt auf die
Ausreiseerlaubnis wartet, damit er und seine Familie das Dorf verlassen und nach
Deutschland auswandern können. Das unendliche Warten übernimmt Windischs
ganzes Dasein, und langsam verliert er nicht nur seinen Griff auf die Realität,
sondern auch seine Identität als Ehemann und Vater.
          Müllers fragmentierte Gestaltung der Wirklichkeit des rumänisch-deutschen
Dorfes, geprägt von Trauma, Alienation und Exil, hat deutliche Züge der
Postmoderne, eine literarische Epoche in deren Zusammenhang Müller oft erwähnt
wird. In diesem Aufsatz werde ich mithilfe postmodernen Begriffsvorstellungen von
anderen Räumen, das Dorf als Standort charakterisieren, um anhand der
Räumlichkeiten die Identität Windischs verständlich zu machen.

1
    Foucault, 1966 S. 10.
                                                                                                2
Methode

Ich werde Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt aus
einer textimmanenten Perspektive analysieren, mit Ausgangspunkt in den Theorien
des Raumes von Henri Lefebvre, Michel Foucault und Edward Soja.
       Der Fokus wird auf Windisch gelegt, weil er der Hauptcharakter der
Erzählung ist, und weitere Charaktere, die analysiert werden, sind Windischs Frau
Katharina2 und seine Tochter Amalie, weil sie als wichtige Nebencharaktere
dienen. Andere Dorfbewohner haben erheblich kleinere Rollen in der Erzählung
und werden deswegen nicht eingehend analysiert.
       Ich werde die folgende Raumtypen analysieren: der Sozialpolitischen Raum
(nach Lefebvre), der reale Raum (die objektive Wirklichkeit) und der “dritte Raum”
oder “andere Raum” (nach Foucault und Soja). Ich werde mit der Hypothese
arbeiten, dass Windisch, seine Frau und Amalie auf verschiedenen Ebenen leben,
genauer gesagt, dass Katharina und Amalie sich vor allem im gelebten Raum
bewegen, während sich Windisch oft in einem, nach Definitionen der Raumtheorie,
dritten Raum befindet. Obwohl sie sich auf einer sozialpolitischen Ebene, was als
zweiter Raum bezeichnet werden kann, begegnen, ist das Ungleichgewicht groß
genug, um zu Problemen in den Beziehungen zu führen, und das Leben der
Familie zu erschweren.

Hintergrund

Der spatial turn, oder die räumliche Wende, ist einen Paradigmenwechsel in der
Raumtheorie, der zu einer Vertiefung des Verständnisses von Raum als Konzept in
den Kultur - und Sozialwissenschaften geführt hat. Wo früher Zeit, in der Form der
Geschichte, hervorgehoben wurde, wurde das 20. Jahrhundert von Philosophen

2
 Obwohl sie in der Erzählung fast immer “Windischs Frau” gennant wird, nenne ich sie in diesem
Aufsatz “Katharina”.
                                                                                                 3
wie Michel Foucault (1926-1984) als “Zeitalter des Raumes”3 bezeichnet. Foucault
veröffentlichte im Jahre 1967 sein Konzept der Heterotopie4, einen Raum zwischen
dem Alltagsleben und der Utopie, zum ersten Mal, und diese Idee inspirierte viele
Philosophen, Soziologen und Geographen in den folgenden Jahren, wie David
Harvey, Edward Soja, Mary Franklin-Brown, und Hye Jean Chung. Foucault war
der Meinung, es gäbe ein ideologischer Konflikt zwischen Zeit und Raum in den
zeitgenössischen kulturellen Debatten, aber die genaue Beziehung zwischen Zeit
und Raum als Konzept war umstritten.
       Der Philosoph und Professor für Soziologie an der Universität Strasbourg,
Henri Lefebvre (1901-1991), schrieb auch vieles über Räume und deren
Bedeutung in der Gesellschaft. Er widmete einen großen Teil von seinem
Philosophischen Schreiben der Produktion des Raumes in einer ungleichen
Gesellschaft. Lefebvre kritisierte 1974 die Konzeptualisierung des Raumes als
“Behälter” für historische Prozesse, und beschrieb Räume aus einer Marxistischer
Perspektive, mit Betonung auf Machtverhältnisse.5
       Die Konzepte den Heterotopien und der Produktion des Raumes wurde in
späteren Jahren von US-Amerikanischer Geograph und Stadtforscher Edward
Soja (1940-2015) weiterentwickelt. Soja wollte eine flexiblere kritische
Raumtheorie, und obwohl er genau wie Foucault und Lefebvre eine Veränderung
des Verständnisses von Zeit und Raum befürwortete, war er der Meinung, dass
Zeit und Raum nicht als getrennte Entitäten gesehen werden konnte.6 Er prägte
den Term spatial turn in den 1980er Jahren, und veröffentlichte 1996 Thirdspace -
Journeys to Los Angeles and Other Real-and-imagined Places, wo er seine
Theorie von einem “dritten Raum”, ein Raum außerhalb dem wirklichen und dem
sozio-politischen, vorstellte.7

3
  Hallet, Neumann, 2009 S. 57.
4
  Er hat den Term zum ersten Mal in einer Vorlesung erwähnt, die 1984 in der Zeitschrift
Architecture, Mouvement, Continuité herausgegeben wurde mit dem Titel “Des Espace Autres”.
5
  Hallet, Neumann, 2009 S. 58.
6
  Hallet, Neumann, 2009 S. 59.
7
  Hallet, Neumann, 2009 S. 59.
                                                                                             4
Analyse

Im Folgenden werde ich zeigen, wie in der Erzählung das Dorf auf drei
verschiedenen Ebenen analysiert werden kann, nämlich als sozialpolitischer
Raum, als “Wirklichkeit”, und als sogenannte “dritter Raum”. Die sozialpolitische
Situation von Windisch ist anders als die von seiner Frau und Tochter, und
Windisch ist selber teilweise daran Schuld. Unter “Wirklichkeit” wird die realistische
Lage verstanden, eine Wirklichkeit die für Windisch nicht eingängig ist, und
deswegen wird er seiner Familie immer ferner. Der dritter Raum, die Heterotopie,
wird zuletzt behandelt, und mit Hilfe Foucaults Prinzipien wird geprüft, ob das Dorf
als Heterotopie bezeichnet werden kann.

Das Dorf als sozialpolitischer Raum

Jeder Mensch befindet sich in seinem eigenen sozialen und politischen
Wirklichkeit. Wir werden in eine Gesellschaft geboren, in der Voraussetzungen
existieren, die uns zu Nutze sein, uns aber auch einschränken können. Die soziale
Rolle der Frau ist anders als die des Mannes, und deswegen sind die Erfahrungen
der verschiedenen Geschlechter unterschiedlich, auch wenn die Gesellschaft die
gleiche ist. Dasselbe Konzept gilt für die verschiedenen sozialen Klassen. Die
politische Wirklichkeit ist von einer Ideologie geprägt, zum Beispiel Kommunismus,
Sozialismus oder Kapitalismus.
       Die sozialpolitische Situation Windisch und seiner Familie ist von
Unterdrückung und Ausnutzung geprägt. Das Warten auf den Pass, der der einzige
Ausweg aus dem Dorf ist, zeigt Windischs Machtlosigkeit über das Schicksal
seiner Familie, ein Schicksal, das in den Händen des Bürgermeisters, des
Milizmannes und des Pfarrers liegt. Schon früh in der Erzählung wird es deutlich,
dass der Prozess der Bewilligung des Passes nicht gerecht ist, als Windisch

                                                                                       5
darüber reflektiert, wieso der Kürschner seinen Pass schon bekommen hat: “‘Der
Kürschner hat [den Antrag] später als uns eingereicht’, denkt er. ‘Er hat in der Stadt
bezahlt.’”8 Wer mehr Geld hat, kann also einfacher in die Freiheit gelingen, was als
ungerecht angesehen werden kann.
        Windisch selber versucht aber durch ehrliche Arbeit den Pass zu
bekommen. Er bringt dem Bürgermeister das Mehl von seiner Mühle, denn der
Bürgermeister hat ihm versprochen, dass er so den Pass bekommen wird: “‘Noch
fünf Transporte, Windisch’, sagte der Bürgermeister, ‘und zu Neujahr hast du den
Paß.’”9 Die Arbeit geht aber weiter und weiter, und der Pass kommt nicht, und
irgendwann hört Windisch auf nachzufragen: “‘Der zwölfte Transport seitdem, und
zehntausend Lei, und Ostern ist längst gewesen’, denkt Windisch. Er klopft schon
lange nicht mehr ans Fenster.”10 Windisch kann nichts anderes als weiterarbeiten,
bis der Bürgermeister sich entscheidet, dass es genug Arbeit ist. Die Zukunft
Windisch und seiner Familie hängt von den Einfällen der Machthaber ab, und
Windisch hat keine Macht, die Situation zu verändern. Die Machtlosigkeit führt zu
Tatenlosigkeit, und obwohl Windisch ständig an den Pass denkt, verringern sich
seine Ambitionen langsam, und Windisch gibt auf.
        Bestechungsgeld und Sklavenarbeit sind aber nicht die einzigen Wege, den
begehrten Pass zu erwerben: “Der Nachtwächter hat Windisch erzählt, daß der
Pfarrer in der Sakristei ein Eisenbett stehen hat. In diesem Bett sucht er mit den
Frauen die Taufscheine.”11 Darüber hinaus “verlegt” auch der Milizmann manchmal
die Gesuche und die Stempelmarken, und “sucht, mit den Frauen, die auswandern
wollen, im Lagerraum der Post, auf der Matratze.”12 Die Menschen in der
Unterklasse werden also nicht nur finanziell ausgenutzt, sondern auch sexuell.
        Henri Lefebvre argumentiert, dass der soziale Raum ein Produkt der
Gesellschaft ist.13 Er schreibt in The Production of Space, dass der soziale Raum

8
  Müller, 2009 S. 31.
9
  Müller, 2009 S. 16.
10
   Müller, 2009 S. 16.
11
   Müller, 2009 S. 51.
12
   Müller, 2009 S. 51.
13
   Lefebvre, 1991 S. 289.
                                                                                     6
eine eigene Wirklichkeit darstellt, über der physischen Wirklichkeit hinaus. Dieser
Raum dient als Werkzeug des Denkens und Handelns, und ist ein Mittel, um
Kontrolle auszuüben, und damit auch Herrschaft und Macht.14
          Das Dorf liegt in einem kommunistischen Land, Rumänien unter Nicolae
Ceaușescu, aber der soziale Raum ist mehr als nur das politische System. Die
Machthaber, repräsentiert durch den Bürgermeister, den Milizmann und den
Pfarrer, nutzen das System aus, um sexuelle Gratifikation und freie Arbeitskraft zu
bekommen. Dieser Machtmissbrauch produziert einen Raum, in dem Frauen keine
Menschen, sondern Objekte sind, und harte Arbeit zu nichts führt außer noch mehr
Arbeit. Wie Lefebvres Aussagen über soziale Räume als Produkte und Werkzeuge
der Macht andeuten, werden Windisch und seine Familie Opfer dieses
produzierten sozialen Raumes.
          Aber Windisch, auf der einen Seite Opfer, trägt auf der anderen Seite auch
dazu bei, einen sozialen Raum zu kreieren, in dem Macht ausgeübt werden kann,
obwohl er selber keine politische Macht besitzt. Die Verbitterung über seine Frau
Katarinas Vergangenheit als “Hure”15 in Russland und die bizarre Besessenheit
von seiner Tochter Amalies Jungfräulichkeit, oder deren Fehlen, trennt Windisch
von seinen Rollen als Ehemann und Vater, und trägt zu seiner
Handlungsunfähigkeit der Beschaffung des Passes bei. Dieselbe Beurteilung und
Sexualisierung, die Katharina und Amalie von der Gesellschaft bekommen, wird
auch im eigenen Haus von Windisch aufrechterhalten. Obwohl die Frauen
scheinbar keine Probleme mit ihrer Sexualität und Vergangenheit haben, wird von
Windisch ein Raum mitproduziert, wo die Schande den beiden Frauen so groß ist,
dass er unfähig wird, Beziehungen aufrechtzuhalten und in seinem eigenen Leben
normal zu funktionieren.
          Lefebvre erklärt das Mitspielen kleineren Akteure wie Windisch in einem
produzierten Raum auf folgende Weise:

14
     Lefebvre, 1991 S. 289.
15
     Müller, 2009 S. 74.
                                                                                       7
Every space is already in place before the appearance in it of actors; these
         actors are collective as well as individual subjects inasmuch as the individuals
         are always members of groups or classes seeking to appropriate the space in
         question. This pre-existence of space conditions the subject’s presence,
         action and discourse, his competence and performance: yet the subject’s
         presence, action and discourse, at the same time as they presuppose this
         space, also negate it.16

Der soziale Raum des Dorfes, in dem Frauen erst ausgenutzt werden, ist nicht von
Windisch als Individuum kreiert; er ist bloß ein Mitspieler in einer Welt mit
vorbestimmten Voraussetzungen und ist selber ein Produkt des produzierten
Raumes.

Das Dorf und die Wirklichkeit

Der sozio-politische Raum hat, wie oben erklärt, viele Nachteile für die Frauen in
Windischs Leben, aber Amalie und Katharina haben beide etwas, was Windisch
nicht hat. Sie haben einen Überlebensinstinkt und einen Trieb, Lösungen zu finden
und ihr Leben zu verbessern, wohingegen Windisch im Leerlauf lebt. Man könnte
behaupten, Amalie und Katharina befinden sich in einer anderen Wirklichkeit als
Windisch, der sich in einer Phantasiewelt befindet. Katharina besteht richtigerweise
darauf, dass Windischs Arbeit und Warten nicht genug sind, um den Pass zu
bekommen: “‘Ich hab’s gewusst’, sagt sie, ‘mit deinem Mehl kommst du nicht weit.’”
17
     Als Windisch aber eine Chance bekommt, den Pass in der Stadt zu kaufen,
schafft er nicht einmal die einfache Aufgabe, keine Aufmerksamkeit auf sich zu
erregen, und scheitert schon wieder, anscheinend ohne Grund. Damit lässt er
Amalie keine Wahl, außer die Situation in ihre eigenen Hände zu nehmen, und die
Familie zu retten. Windisch schafft es nicht, einfache Aufgaben auszuführen, denn

16
     Lefebvre, 1991 S. 293.
17
     Müller, 2009 S. 74.
                                                                                            8
die Wirklichkeit und die Konsequenzen seines Handelns sind ihm fremd. Er
befindet sich nicht in der echten, physischen Wirklichkeit, und kann nicht realistisch
sein.
        Die Handlungsfähigkeit von Amalie und Katharina steht in großem Kontrast
zu Windisch. Katharina hat Erfahrung von sexueller Ausnutzung aus ihrer Zeit in
Russland, lässt sich aber nicht davon ermutigen, sondern tut das, was getan
werden muss. “Jetzt geht’s nicht um die Schande”, sagt Katharina, “jetzt geht’s um
den Pass.”18 Katharina und Windisch haben als Ehepaar keine intime Beziehung
mehr: “‘Der Arzt hat es verboten’, sagt sie, ‘ich laß mir nicht die Harnblase
Schinden, weil es dir so paßt.’”19 Als er sie denn bei der Selbstbefriedigung
erwischt, empfindet er das als einen Treuebruch, und in jeder Begegnung mit
seiner Frau, kann er an nichts anders denken. Letztendlich führt das zu einem
Streit, wenn Katharina genug von Windischs Nichtstun hat: “‘Du bist ein Schwein’,
schreit Windischs Frau”20 und “Alle kümmern sich um den Pass. Nur du nicht, weil
du so gescheit und ehrlich bist”.21
        Windisch kommt damit nicht zurecht, dass die Frauen in seinem Leben nicht
tun, was er will. Er will nicht, dass Amalie sich prostituiert: “Er kriegt Mehl, aber
meine Tochter kriegt er nicht.”22 Das wäre für ihn eine Schande, aber schon
seitdem Amalie klein war, hat Windisch sie für Ereignisse beschuldigt, über denen
sie keine Kontrolle hat. Als Amalie sieben Jahre alt war, und Rudi ihr beim Spielen
in den Brustwarzen gebissen hat, hat Windisch schon vorhergesagt, was später in
ihrem Leben passieren würde: “Amalie wird uns noch Schande machen.”23 Genau
wie er seine Frau nicht als Mensch mit eigenen Gefühlen sieht, ist Amalie für ihn
auch nichts anders als eine Quelle der Schande, und egal was sie tut, kann
Windisch nur ihre Füße sehen, die sie seitlich auf dem Boden setzt, was für ihn
heißt, dass sie nicht mehr Jungfrau ist: “‘Schau deiner Tochter zu, wie sie geht’,

18
   Müller, 2009 S. 74.
19
   Müller, 2009 S. 16.
20
   Müller, 2009 S. 74.
21
   Müller, 2009 S. 75.
22
   Müller, 2009 S. 51.
23
   Müller, 2009 S. 40.
                                                                                        9
sagt er. ‘Wenn sie die Schuhspitzen beim Gehen seitlich auf die Erde stellt, dann
ist’s passiert.’”24 Diese Wahnvorstellungen von Windisch sind alle auf die
Sexualitäten seiner Frau und Tochter bezogen, und er kann sie nicht mehr als
Menschen wahrnehmen.
        Windisch hat also ganz andere Prioritäten als seine Frau und seine Tochter,
und ist nicht realistisch. Er befindet sich in einer eigenen Wirklichkeit, wo das
Einzige, was wichtig ist, Amalies Jungfräulichkeit ist. Dass Amalie inzwischen eine
kompetente Frau geworden ist, die aus dem Familienhaus ausgezogen ist, eine
gute Arbeit und einen Freund hat, und sich um ihr eigenes Sexualleben und um
ihre Verhütung sorgt, scheint keinen Unterschied für Windisch zu machen. Ein
Symbol für Amalies Emanzipation ist die Bodenvase, die sie sich kaufen will.
Windisch kann den Anreiz der Vase nicht verstehen, und ist von Anfang an
dagegen: “Eine Bodenvase kommt mit nicht ins Haus”25. Aber Amalie besorgt sie
trotzdem: “‘Dein Vater soll dir Geld für die Bodenvase geben’, sagt Windischs Frau.
‘Nein’, sagt Amalie. ‘Ich hab mir Geld gespart. Ich werd sie selbst bezahlen.’” 26
Amalie versteht, dass sie, wenn sie etwas will, es selber besorgen muss. Sie ist
erwachsen, versteht wie die Gesellschaft funktioniert und hat angemessene
Erwartungen und Hoffnungen. Windisch hingegen ist wirklichkeitsfern. Er will den
Pass haben, ohne irgendwas dafür ausgeben zu müssen. Er will Veränderung
haben, ohne irgendwas anders zu machen. Er kann und will nicht einsehen, was
getan werden muss, und wenn er irgendeine Chance bekommt, verdirbt er sie
gleich. Amalie und Windisch verstehen sich nicht, weil Windisch sich nicht in der
wirklichen Welt befindet, sondern in einer Welt, wo Amalie noch klein ist, und er
noch Macht über sie ausüben kann.
        Vieles deutet darauf hin, dass Windisch den Blick auf die Wirklichkeit
verloren hat, und langsam auch seinen Verstand verliert. Er redet mit sich selbst27,

24
   Müller, 2009 S. 10.
25
   Müller, 2009 S. 53.
26
   Müller, 2009 S. 93.
27
   Müller, 2009 S. 81.
                                                                                     10
zerschlägt einen Spiegel mit der Faust28, erbricht sich in seinem Essen29 und er
schlägt seiner Frau ins Gesicht.30 Außerdem halluziniert er: “Er hört den weißen
Fleck der Wanduhr ticken und sieht das Zifferblatt aus schwarzen Flecken. Ohne
Zeiger ist die Zeit. Nur die schwarzen Flecken drehen sich. Sie drängen sich.”31
Windisch befindet sich in einer anderen Welt, weit entfernt von der konkreten,
physischen und praktischen Wirklichkeit, in der sich seine Frau und Amalie
befinden.

Das Dorf als Heterotopie oder Thirdspace

In der Raumtheorie gibt es außer dem physischen, konkreten und dem
sozialpolitischen Raum auch dem dritten Raum, von Foucault Heterotopie und von
Soja Thirdspace genannt. Foucault hat den Begriff heterotopia 1971 geprägt, und
definiert eine Heterotopie als einen Zwischenraum zwischen einer Dystopie und
einer Utopie, einen Raum, der nicht schlecht und nicht gut ist, sondern anders.32
Als Beispiele nimmt Foucault Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle und
Gefängnisse, und er nennt diese Räume “reale Orte jenseits aller Orte”.33
       Obwohl das Dorf im buchstäblichen Sinn kein Gefängnis ist, lebt Windisch
wie ein Gefangener in seiner Situation, und das Dorf ähnelt dem, was Foucault als
eine Krisenheterotopie bezeichnet, eine Ausnahmesituation 34. Obwohl eine
Voraussetzung für die Bezeichnung Krisenheterotopie ist, dass dieser Raum
außerhalb des “normalen” Lebens liegt, ist es trotzdem möglich, das Dorf mithilfe
der Grundsätzen der Heterotopie eine Ausnahmesituation zu nennen.

28
   Müller, 2009 S. 85.
29
   Müller, 2009 S. 86.
30
   Müller, 2009 S. 49.
31
   Müller, 2009 S. 19.
32
   Foucault, Michel (1971). The Order of Things. New York: Vintage Books.
33
   Foucault, 1966 S. 11.
34
   Foucault, 1966 S. 12.
                                                                                    11
Foucault beschreibt eine Heterotopie als einen Ort, der nicht konstant bleibt,
sondern vielfältige Formen annimmt und ausgelöscht werden kann, wenn er nicht
mehr den Interessen der Gesellschaft dient.35 Auf ähnliche Weise ist das Dorf, wie
Windisch und seine Familie es kennen, nicht gleichbleibend, sondern war ein ganz
anderer Ort vor dem Krieg. Windisch und seine Frau hatten beide Geliebte vor dem
Krieg, die in der Kriegsgefangenschaft gestorben sind: “Das Dorf war wund von
den vielen Toten und Vermißten gewesen. Barbara war in Russland gestorben.
Katharina was aus Rußland zurückgekehrt. Sie wollte Josef heiraten. Josef war im
Krieg gestorben.”36 Das Dorf und das Leben Windisch und seiner Familie bleiben
nicht konstant, sondern verändern sich.
        Die Gesellschaft unter Ceausescu kann nach dem Krieg das Dorf
ausnutzen, da die Machthaber durch Unterdrückung Reichtümer von den
Einwohnern eintreiben kann. Eines Tages, als Windisch nach Hause kommt,
erzählt ihm seine Frau, dass zwei Männer dort gewesen seien: “Sie haben die
Hühner gezählt und aufgeschrieben. Sie haben acht Hühner gefangen und
mitgenommen.”37 Außerdem nehmen die Männer vierhundert Kilo Mais und
hundert Kilo Kartoffeln, und sagen Katharina, dass die Familie nächstes Jahr
Zuckerrüben anbauen müssen.38 Es wird deutlich, dass die Familie keine Wahl hat,
außer das zu machen, was von den Machthabern entscheidet wird. Das in
Kombination mit der Ausnutzung der Frauen zeigt, dass die Gesellschaft, oder auf
jeden Fall ein Teil der Gesellschaft, das Dorf als verwendbar sieht. Diese Situation
erinnert an einer Beispiel von Foucault, als er Heterotopien als Kolonien
beschreibt:

        Hier stoßen wir zweifellos auf das eigentliche Wesen der Heterotopien. Sie stellen
        anderen Räume in Frage, und zwar [...] indem sie ganz real einen anderen realen
        Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine

35
   Foucault, 1966 S. 11-13.
36
   Müller, 2009 S. 46-47.
37
   Müller, 2009 S. 68.
38
   Müller, 2009 S. 69.
                                                                                             12
vollkommene Ordnung aufweist. Diese Funktion hatten zumindest dem Plan nach zu
        bestimmten Zeiten, vor allem im 18. Jahrhundert, die Kolonien. Natürlich brachten
        die Kolonien großen wirtschaftlichen Nutzen, doch man verband auch imaginäre
        Werte mit ihnen, und ohne Zweifel verdankten diese Werte sich mit dem Ansehen
        der Heterotopien. So versuchten die puritanischen Gemeinschaften Englands im 17.
        und 18. Jahrhundert, in Amerika absolut vollkommene Gesellschaften zu gründen.
        [...] In der Kolonie haben wir eine Heterotopie, die gleichsam naiv genug ist, eine
        Illusion verwirklichen zu wollen.39

Die politische Lage des Dorfes erinnert an eine Kolonie, wo die Machthaber
versuchen, eine besondere Gesellschaft zu schaffen, und damit das Volk zu
unterdrücken. Das ist laut Foucault eine Art Heterotopie.
        Ein weiterer Grundsatz der Heterotopien ist, dass sie mit besonderen
zeitlichen Brüchen in Verbindung stehen, damit sind: “zeitweilige Heterotopien”40
gemeint. Foucault erwähnt auch eine Art von Heterotopien, die mit dem Übergang
und der Verwandlung verbunden sind: “Andere Heterotopien sind [...] mit dem
Übergang, der Verwandlung, den Mühen der Fortpflanzung [verbunden].”41 Für
Windisch beginnt dieser zeitliche Bruch, als er den Pass beantragt, und ist am
Ende der Erzählung vorbei, als er den Pass erhalten hat. Inzwischen zählt er die
Tage: “Windisch zählt jeden Morgen [...] den Tag. Vor dem Kriegerdenkmal zählt er
die Jahre.”42 Das Warten, ähnlich wie das Warten in einem Gefängnis, ist ein
besonderer zeitlicher Bruch. Auch ähnlich wie ein Gefängnis gibt es laut Foucault
in der Heterotopie ein System der Öffnung und Abschließung: “Als fünften und
letzten Grundsatz der Heterotopologie möchte ich die Tatsache anführen, dass
Heterotopien stets ein System der Öffnung und Abschließung besitzen.” 43 Dieses
System wird im Dorf durch den Pass repräsentiert, denn ohne den Pass gibt es
keinen Weg aus dem Land.

39
   Foucault, 1966 S. 20-21.
40
   Foucault, 1966 S. 16.
41
   Foucault, 1966 S. 17.
42
   Müller, 1966 S. 5.
43
   Foucault, 1966 S. 18.
                                                                                              13
Sojas Theorie von Thirdspace hat Ähnlichkeiten mit Foucaults Heterotopie,
aber auch Unterschiede. Soja will eine dritte Aspekte, außer den materialistischen
Räumen, wie Gebäude, und den mentalen Räumen, wie die soziale Zugehörigkeit,
hinzufügen: “Soja’s idea of ‘thirdspace’, [...]combines aspects of the ‘real’ and the
‘represented’ spaces while also going beyond them” 44. Genauer gesagt versucht er
einen Raum zu beschreiben, der gleichzeitig metaphorisch und konkret ist, so dass
die materiellen und konkreten Räume simultan sind.45 Wo Lefebvre von conceived,
perceived und lived space und Foucault von Utopie, Dystopie und Heterotopie
schreiben, spricht Soja von einem kombinierten Raum, wo die verschiedene
Räume nicht als einzelne Teile gesehen werden, sondern als Ganzes.46 Sojas
Worte erinnern an Lefebvres, als er folgendes schreibt:

         That the lived, conceived and perceived realms should be interconnected,
         so that the subject, the individual member of a given social group, may
         move from one to another without confusion - so much is a logical
         necessity. Whether they constitute a coherent whole is another matter.
         They probably do so only in favourable circumstances, when a common
         language, a consensus and a code can be established.47

Windisch kann sich nicht von einem Raum zu einem anderen bewegen, so wie
Lefebvre und Soja es beschreiben. Er ist abgekoppelt von der praktischen
Wirklichkeit, der wahrgenommenen Welt, und das führt zu dem Verfall seiner
Beziehungen, seines Verstandes und seines Körpers. Windisch, mit seiner
Besessenheit von Jungfräulichkeit und Schande, und seinem Unvermögen
einfache Aufgaben zu erledigen, befindet sich konstant in einer Krisenheterotopie;
in einem Ausnahmezustand, der anders ist als das Leben seiner Frau und Tochter.

44
   Tally, 2012 S. 119.
45
   Tally, 2012 S. 119.
46
   Soja, 1997, 1:24:00.
47
   Lefebvre, 1991 S. 292.
                                                                                    14
Windisch kommt aber am Ende der Geschichte aus seiner Situation raus. Die
Familie bekommt ihre Pässe, und können endlich nach Deutschland ziehen. Als
Windisch das Dorf wieder besuchen kommt, scheint er in einer anderen Stimmung
zu sein, und er hat eine andere Einstellung. In der Zeit zwischen seinem Rückkehr
aus Russland und seinem Weiterfahrt nach Deutschland könnte man sagen, dass
Windisch, und seine Familie, sich in einer Art Übergangsheterotopie befinden. Ein
sogenannter Grenzraum, oder liminal space, was man auch Heterotopie nennen
könnte.
          In Heterotopia: Alternative Pathways to Social Justice 48 werden solche
Grenzräume als ein Weg hervorgehoben, soziale Gerechtigkeit zu erlangen.
Heterotopien sind nicht-hegemonisch, und dort können Alternative zum Normalen
Leben beachtet werden und das, was man als “common sense” versteht kann in
Frage gestellt werden.49 Deswegen können Heterotopien zu großen
Veränderungen führen, weil die Gesellschaft, wie sie normalerweise aussieht,
pausiert.
          Für Windisch und seine Familie ist das Leben im Dorf, wie in der Erzählung
beschrieben wird, eine Übergangsperiode. Es ist die Zeit zwischen Russland und
Deutschland. Die Zeit, in der sich harte Arbeit nicht lohnt, alles, was man besitzt
einem auf einmal weggenommen werden kann, und in der sexuelle Ausnutzung für
die Frauen keine Schande ist. Amalie und Katharina schämen sich nicht, und
deswegen können sie auch weiterleben. Das neue System, die Heterotopie, in der
sie gerade leben, hat andere Regeln als das Leben davor. Nur Windisch kann
damit nicht klarkommen, und kann selber nichts machen, um sein Leben zu
verbessern.
          Sein Zustand wird auch von Baillie, Kabo und Reader beschrieben:

            Liminality is a space of uncertainty and flux which different learners will
            navigate in different ways and with different success, some might for

48
     Caroline Baillie, Jens Kabo and John Reader, 2012 S. 7.
49
     Baillie, Kabo and Reader, 2012 S. 7.
                                                                                          15
example get stuck, unable to move forward, while others will oscillate back
            and forth between different states of knowing and being.50

Es ist deutlich, dass Windisch zu diesen Menschen gehört, die “feststecken” und
nicht vorankommen können. Seine Tochter und seine Frau aber nicht. Sie nehmen
sich das neue an, vielleicht weil das alte System für sie als Frauen auch nicht
vorteilhaft war, und alles, was Veränderung bedeutet, ist für sie eine positive
Entwicklung.
          Bauer beschreibt die Einstellung der Frauen wie folgt:

          The female figures [...] concur with the role Müller ascribes to women, which
          is not one of sovereign authority, but a very pragmatic and self-assured
          approach to everyday life [...]. The pragmatism of both Katharina and Amalie
          stands in contrast to Windisch’s and the night watchman’s moralizing
          pretention. Amalie understands the exchange value of her body and derives,
          [...] self-confidence from her sexual subjugation.51

Amalie ist sich bewusst, dass ihr Körper mehr Wert hat als das Mehl ihres Vaters,
und obwohl es in der Gesellschaft als Schande angesehen wird, sich zu
prostituieren, ist es in der Heterotopie nicht nur notwendig, sondern auch gut und
richtig. Die anderen Frauen im Dorf haben es auch gemacht, und Katharina,
Amalies eigene Mutter, spornt Amalie an. Nur Windisch und der Nachtwächter
haben etwas dagegen. Der Nachtwächter ist auch einer der wenigen, die das Dorf
nicht verlassen. Wäre es nicht für Amalie, wäre Windisch auch im Dorf stecken
geblieben, denn ihm ist es nicht möglich, aus der Heterotopie herauszutreten.

Herta Müller und die Utopie

50
     Baillie, Kabo and Reader, 2012 S. 7.
51
     Bauer, K. 2013, S. 158.
                                                                                          16
Der amerikanische Feuilletonist Walter Russell Mead schrieb: “Utopia is a place
where everything is good; dystopia is a place where everything is bad; heterotopia
is where things are different.”52 Heterotopien sind keine Utopien, aber Utopien
können möglicherweise Heterotopien sein. Foucault schreibt folgendes über das
Thema:

        Dennoch glaube ich, dass es - in allen Gesellschaften - Utopien gibt, die
        einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen
        und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen
        Kalender festlegen und messen lässt.53

Frühe sozialistische Theorien werden utopische Sozialismus genannt, da sie nach
einem utopischen Idealstaat strebten54. Obwohl diese Frühzeit des Sozialismus
schon mit der Französische Revolution endete, wird immer noch von der Utopie als
sozialistisches Konzept gesprochen55.
          In ihrer Prosasammlung Hunger und Seide schreibt Müller über ihre
Beziehung zu dem Wort “Utopie”. Sie beschreibt ein Leben, in dem die Utopie als
Instrument der Unterdrückung gedient hat. Wie Müller die Utopie beschreibt,
erinnert es an Heterotopien: “Der Glaube an Gott ist die erste Utopie, vor der ich
versagt habe.”56 Religiöse Institutionen, wie die Kirche, und der Glauben können
als Heterotopie verstanden werden. Müller spricht von einer “angewandten Utopie”
57
     , wenn sie ihre Erziehung in Rumänien unter Ceausescu beschreibt. So Müller:

        Utopie ist ein Bedürfnis für jene, die noch nicht in einer Situation gelebt haben,
        in der man nicht weiß, wie man den nächsten Schritt tut oder das nächste

52
   Mead, Walter R. "Trains, Planes, and Automobiles: The End of the Postmodern Moment." 1995.
53
   Foucault, 1966 S. 9.
54
   Albert S. Lindemann, 1983 S. 38.
55
   Albert S. Lindemann, 1983 S. 38.
56
   Müller, H. Hunger und Seide, 1995.
57
   Müller, 1995, S. 54.
                                                                                             17
Wort sagt. Die noch nie Todesangst haben mussten, nur weil sie einer
      angewandten Utopie nicht entsprachen.58

In diesem Absatz wird es deutlich, dass das Wort “Utopie” für Müller eine
besondere Bedeutung hat, die nicht die gewöhnliche Definition des Wortes
entspricht. Die übliche Definition ist dreifach: “1: a place of ideal perfection
especially in laws, government, and social conditions; 2: an impractical scheme for
social improvement; 3: an imaginary and indefinitely remote place.”59 Man könnte
behaupten, dass das was Müller als Utopie beschreibt, weil die Machthaber es so
genannt haben, eigentlich eine Krisenheterotopie darstellt.

Mihaela Mihai schreibt in The Hero Silences: Vulnerability, Complicity, Ambivalence
über das Schweigen als Mitschuld und die Widerrede als Widerstand.60 Mihai
beschreibt die politische Lage in der Erzählung, und verknüpft das mit der
Situation, in der Herta Müller aufgewachsen ist:

      In a place and a time where the secret police often harassed, kidnapped and
      imprisoned the relatives of whoever they targeted, colluding with the regime –
      more or less directly – was a means of protecting loved ones. To support their
      families, feed their children and ensure their safety, many adjusted to
      constraints and limitations, engaging in various survival strategies, which, on
      the whole, reproduced the regime’s grip over everyone.61

Aus dieser Sicht können die Entscheidungen und Einstellungen von Amalie und
Katharina besser verstanden werden, da ihre Handlungen als
Überlebensstrategien gesehen werden können. Es verstärkt auch die Hypothese,

58
   Müller, 1995 S. 54.
59
   "utopia." Merriam-Webster.com. 2011. https://www.merriam-webster.com (Aufgerufen am
26.01.2022).
60
   Mihai, 2021 S. 346.
61
   Mihai, 2021 S. 360.

                                                                                         18
dass die Situation in der Dorf eine Krisenheterotopie darstellt, da es einfach andere
Regel gelten, als in der üblichen Gesellschaft.

Zusammenfassung

Laut den Raumtheorien des Postmodernismus existiert das Dorf in Herta Müllers
Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt auf drei verschiedene
Ebenen. Der sozialpolitische Raum ist von staatlicher Unterdrückung und
Ausnutzung geprägt, und die Menschen, besonders die Frauen, durchleben
Machtlosigkeit angesichts der politischen Situation. Einige Charaktere, Windischs
Frau Katharina und ihre gemeinsame Tochter Amalie, können trotzdem
weiterleben, indem sie Lösungen ihrer Probleme finden, sich über materielle
Dingen wie schöne Bodenvasen freuen können, und Verantwortung über ihre
Entscheidungen übernehmen. Sie befinden sich im Raum der praktischen
Wirklichkeit. Windischs Unvermögen, sich seiner Familie in diesem Raum
anzuschließen, führt dazu, dass er seine Rolle als Ehemann und Vater beinahe
verliert, mitsamt seiner Integrität als Arbeiter und seinen Verstand. Seine Existenz
in dem dritten Raum, in einem konstanten, wirklichkeitsfernen Krisenraum, und
seine Unfähigkeit da herauszukommen, erklärt, warum Windisch mit seinem Leben
nicht klarkommt.

Heterotopien können die Übergangsphase zwischen Gefangenschaft und Freiheit
sein. In einer Heterotopie gelten andere Regeln als in der normalen Gesellschaft,
und das kann zu neuen Perspektiven führen, und dadurch auch großen
gesellschaftlichen Veränderungen. Müllers eigene Meinung von Utopien, wie das
Wort während der Ceausescu-Regime benutzt wurde, erinnert sehr an die
Heterotopien im Sinne Foucaults.

                                                                                   19
Foucault meint, dass jede Gesellschaft Heterotopien hat. Er macht einen
Unterschied zwischen guten Heterotopien und sogenannte Krisen Heterotopien.
Eine Analyse von Heterotopien mithilfe Müllers Der Mensch ist ein großer Fasan
auf die Welt zeigt aber, dass obwohl Krisenheterotopien unangenehm sein können,
können sie vielleicht auch notwendig und letztendlich gut sein. Vielleicht können
neue Perspektiven und neue Gedanken in einem Ausnahmezustand besser
wachsen und florieren. Besonders unter jungen Menschen, wie Amalie, oder
Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, dies betrifft beispielsweise
Katharina. Eines ist sicher: Hoffnung gibt es immer.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Müller, Herta: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main, 2009.

Sekundärliteratur

Albert S. Lindemann: “A History of European Socialism”. Yale University Press,
New Haven / London 1983.

Baillie, Caroline, Kabo, Jens and Reader, John: Heterotopia - Alternative pathways
to social justice, Zero Books, 2012.

                                                                                    20
Bauer, Karin: “Gender and the Sexual Politics of Exchange in Herta Müller’s
Prose”. In: Haines, Brigid and Marven, Lynn: Herta Müller. Oxford University Press,
2013, S. 153 - 171.

Foucault, Michel: “Andere Räume”. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis.
Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Reclam, Leipzig
1992, S. 34 - 46.

Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge.
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2005.

Hallet, Wolfgang; Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Die
Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript Verlag, Bielefeld, 2009.

Lefebvre, Henri: “The Production of Space”. The People, Place and Space Reader,
Routledge, Oxfordshire, 2014.

Mead, Walter R. "Trains, Planes, and Automobiles: The End of the Postmodern
Moment." World Policy Journal, vol. 12, no. 4, 1995, S. 13-31.

Merriam-Webster.com. 2011. https://www.merriam-webster.com (Aufgerufen am
26.01.2022).

Mihai, Mihaela. "The Hero's Silences: Vulnerability, Complicity, Ambivalence."
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Soja, Edward: Southern California Institute of Architechture’s 1997 Spring Lecture
Series. SCI-Arc Media Archive, 1997.

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https://www.youtube.com/watch?v=mABB3v2_e_o&ab_channel=SCI-ArcMediaArc
hive Aufgerufen am 21.01.21

Tally Jr., Robert T: Spatiality. Routledge, Oxfordshire, 2012.
https://ebookcentral.proquest.com
Aufgerufen am 21.01.21

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