AUSGABE 61 | APRIL 2022 PUBLIKATIONSORGAN DES VEREINS PRO IGEL
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AUSGABE 61 | APRIL 2022 PUBLIKATIONSORGAN DES VEREINS PRO IGEL B U L L E T I N Wem gehört die Nacht?
2 Ausgabe 61 | April 2022 Editorial INHALT 3 Wem gehört die Nacht? 7 Auswirkungen von Strassen ruchssinn und ein besseres Gehör, dann beleuchtung auf lokale stellte ich mit Freude fest, dass meine Insektenpopulationen Nachtblindheit verschwunden ist. 11 Aktiv Lichtverschmutzung vermeiden Ich bin aber auch sehr empfindlich ge- worden auf die Lichtverschmutzung. 12 Artgerechte Igelhilfe Wir sehen hier am Rand der Agglome- ration Zürich zwar noch einige Sterne, 13 Freakshow unter dem die Milchstrasse, dieses wunderbare Blumentopf Liebe Igelfreundin, leuchtende Band über den Nachthim- lieber Igelfreund mel, lässt sich hier aber nicht mehr er- kennen. Sichtbar ist dafür dieses ganze Seit einigen Jahren bin ich begeister- ungenutzte Licht, die hell erleuchteten IMPRESSUM ter Nachtspaziergänger. Vielleicht ist Wege und Vorplätze – allesamt men- das die Folge meiner Beschäftigung schenleer. Richtig ärgerlich wird es in mit einem nachtaktiven Tier, sicher ist der Zeit zwischen zwei und fünf Uhr am «Igel Bulletin», offizielle Publikation des aber, dass es meinen Blick auf unsere frühen Morgen: Kein Mensch weit und Vereins pro Igel. Erscheint in der Regel Umwelt verändert und erweitert hat. Zu breit und trotzdem hat es alle hundert halbjährlich und wird kostenlos abgegeben. Beginn war es das Exotische, das Frem- Meter eine Neonreklame, ein Schau- Redaktion de direkt vor der Haustüre, das mich fenster und immer wieder ein Hausein- pro Igel angezogen hat. Die Nacht nimmt der gang mit Dauerbeleuchtung. Energie Layout Welt die Eindeutigkeit, es eröffnen sich und Geld werden verschwendet. Wofür? Freiraum Werbeagentur AG neue Interpretationsräume. Ein Traktor Druck auf dem freien Feld ist bei Tageslicht Lichtverschmutzung ist ein wenig be- Mattenbach AG nichts Spektakuläres, bei Nacht ist es achtetes und unterschätztes Problem Adresse und Kontakte zuerst eine grosse schwarze Silhouette, für alle Lebewesen, auch für uns Men- pro Igel die beim Näherkommen alles mögliche schen. Mit ein bisschen Achtsamkeit Kirchgasse 16 sein kann – bis sie sich dann als profa- und viel mehr Dunkelheit würde der 8332 Russikon Telefon 044 767 07 90 nes Fahrzeug entpuppt. Nachtspazier- Verbrauch an Schlafmitteln drastisch E-Mail info@pro-igel.ch gänge regen nicht nur die Phantasie an, zurückgehen. Website www.pro-igel.ch sie trainieren auch die Sinnesorgane. Postkonto Zuerst bemerkte ich einen feineren Ge- Bernhard Bader 80-68208-7 Auflage 16‘400 Exemplare © by pro Igel Für alle Texte und Bilder, wo nichts anderes vermerkt, Nachdruck nach Rücksprache mit Generalversammlung 2022 der Redaktion willkommen. Wir wagen es, dieses Jahr wieder eine GV ein gemeinsames Mittagessen und Generalversammlung in physischer anschliessend eine Führung durch die Form durchzuführen und hoffen, dass Auenlandschaft. Pro Igel offeriert Ih- uns keine Viren einen Strich durch die nen Kaffee und Gipfeli vor der GV und Rechnung machen. die Führung. Das Mittagessen geht zu PERFORM ANCE Die Generalversammlung findet am Lasten des Teilnehmers. Bitte melden neutral Drucksache 4. Juni um 10.30 Uhr im Naturzentrum Sie sich mit dem ausgefüllten Begleit- No. 01-13-303973 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership Thurauen statt. Wie üblich folgt auf die brief bis am 29. Mai an.
Ausgabe 61 | April 2022 Rubriktitel 3 Wem gehört die Nacht? In der Schweiz gibt es kaum noch einen Ort, wo nachts natürliche Dunkelheit herrscht und die Milchstrasse in ihrer funkelnden Pracht zu sehen ist. Die Lichtverschmutzung schreitet seit Jahren voran – mit Folgen für das ganze Ökosystem. Auch für den Igel. Text Lukas Tobler Bild iStock Im Schutz der Nacht flattern Fleder- auch immer mehr Menschen. Städte viele Tiere, eigentlich nicht speziali- mäuse um Kirchtürme, gehen Insek- schlafen nie, und auch in weniger dicht siert wäre. ten auf Nahrungssuche und streunen besiedelten Gebieten machen wir die Dass uns diese Möglichkeit offensteht, nachtaktive Säugetiere durch Wälder Nacht zum Tag. Mit Strassenlaternen, birgt grosse Vorteile. Licht bietet Si- und Städte. Unzählige Tierarten leben Leuchtreklamen oder mit erhellten cherheit. Auch unser Verkehrssystem überwiegend in der Nacht. Dazu zäh- Schaufenstern trotzen wir der Dunkel- wäre ohne künstliche Beleuchtung wohl len nicht nur die Igel – dank Kunstlicht heit, auf die der Mensch, anders als nicht aufrechtzuerhalten. Aber sie hat
4 Wem gehört die Nacht? Ausgabe 61 | April 2022 auch ihre Schattenseiten. Der natürli- weniger oft von Bestäubern besucht «Jetzt untersuchen wir, worauf dieser che Taktgeber für die Aktivitäts- und Ru- werden. Die Anzahl der Insektenbesu- Rückgang zurückzuführen ist», sagt hephasen aller Lebewesen funktioniert che nimmt dann um über 60 Prozent die Wissenschaftlerin. Infrage kommen nicht mehr richtig – mit gravierenden ab. Das weltweit renommierte Wissen- verschiedene Erklärungen. Möglich sei Auswirkungen auf alles Leben. schaftsmagazin «Nature» widmete die- etwa, dass Pflanzen wegen des Lichts sem Ergebnis seine Titelseite. Letztes früher blühen und dadurch an Attrakti- Vögel, Fliegen, Igel Jahr hat das Forschungsteam noch vität einbüssen oder dass sie zu ande- Die Entdeckungen der Ökologin Eva einmal nachgedoppelt. Knop konnte in ren Zeiten Lockdüfte emittieren. «Die Knop von der Universität Zürich haben einer neuen Studie nachweisen, dass natürlichen Mechanismen der Bestäu- über die Fachwelt hinaus Aufsehen er- Pflanzen, die nachts Kunstlicht aus- bung sind alle strikt aufeinander abge- regt. In Zusammenarbeit mit der Bun- gesetzt sind, sogar auch tagsüber von stimmt», sagt Knop. Wenn zur falschen desforschungsanstalt Agroscope konn- deutlich weniger Insekten besucht wer- Zeit der falsche Duft ausgeströmt wer- te Knop 2017 erstmals nachweisen, den. «Wir konnten einen Rückgang bei de, könne das etwa dazu führen, dass dass Pflanzen, die künstlichem Licht 20 Prozent der Pflanzen feststellen», anstelle von nützlichen Bestäubern ge- ausgesetzt sind, in der Nacht deutlich erzählt Knop. fährliche Schädlinge angelockt werden. Der Zeitplan der Pflanzen orientiere sich unter anderem an der Tageslänge. Das Kunstlicht bringt diesen Plan durchein- ander. Während die Gründe für den Rückgang am Tag derzeit noch nicht restlos ge- klärt sind, ist der Grund für den noch viel grösseren Bestäuber-Einbruch in der Nacht weitgehend sicher. Er liegt weniger an einer Verhaltensänderung der Pflanzen selbst als am Verhalten der sie bestäubenden Insekten. Sie sind besonders stark von der Lichtver- schmutzung betroffen. Schätzungen zufolge sterben in der Schweiz in jeder Sommernacht rund zehn Millionen In- sekten wegen Aussenbeleuchtungen. Viele Arten orientieren sich anhand des Lichts des Monds und der Sterne. Sie werden von Lampen angezogen und schwirren um sie herum bis zum Er- schöpfungstod. In Deutschland ist ge- mäss einer Studie die Anzahl fliegender Insekten seit 1990 um rund 75 Prozent eingebrochen. Der Insektenschwund ist freilich nicht nur auf die Lichtverschmutzung zurück- zuführen. Aber sie leistet einen Beitrag dazu. Und wenn die Insekten verschwin- den, hat das verheerende Konsequen- zen für die gesamte Pflanzen- und Tier- welt. Besonders stark betroffen sind die Tiere, die sich von Insekten ernähren. Einige Spinnenarten profitieren von der Das zeigt sich zum Beispiel an der Ent- Lichtverschmutzung Bild Imago wicklung hiesiger Vogelpopulationen, wie der Biologe Livio Rey von der Vogel-
Ausgabe 61 | April 2022 Wem gehört die Nacht? 5 Lichtverschmutzung beeinflusst wird. Ein Forschungsteam hat über mehrere Jahre hinweg die Laufwege dreier Po- pulationen in verschiedenen Berliner Parks nachverfolgt. Diese Laufwege wurden mit den Standorten von Licht- quellen abgeglichen. Die Forscherinnen und Forscher konnten so nachweisen, dass sich die untersuchten Exemplare vorzugsweise im Dunkeln aufhalten. Und dass sie den stärker erhellten Ge- genden in ihren jeweiligen Parks eher aus dem Weg zu gehen versuchen. Die Studie schlägt deshalb vor, die Idee von «dunklen Korridoren» zu prüfen. Solche Korridore würden so wenig wie möglich beleuchtet und durch Hecken geschützt. Weil Dunkelheit laut der Stu- die von Igeln bevorzugt werde, könnten ihnen so sichere Fortbewegungsrouten zur Verfügung gestellt werden – als Massnahme gegen den starken Rück- gang der Populationen in vielen europä- Die Gammaeule ist ein verbreiteter Nachtfalter Bild O. Leillinger ischen Städten. Weniger und besseres Licht In den letzten Jahren sei das Bewusst- warte Sempach weiss. «Wenn Insekten erklärt Livio Rey. Gefährlich wird es ins- sein für das Thema Lichtverschmutzung verschwinden, dann betrifft das auch besondere bei Nebel. «Dann halten sich in der Gesellschaft gewachsen, sagt die Vögel», sagt er. «Derzeit stellen wir die Vögel an den hellsten Punkt, den Lukas Schuler vom Verein Dark Sky. Und einen Rückgang der Populationen von sie sehen, um sicherzustellen, dass sie damit auch dafür, dass es wichtig ist, Insektenfressern fest.» Im Fokus ste- nicht in Richtung Boden fliegen», so Rey. etwas dagegen zu unternehmen. Hand- hen vor allem Zugvögel: «Vogelarten, Eigentlich wäre das der Mond. Stattdes- lungsbedarf und -möglichkeiten gibt die in Afrika überwintern, werden selte- sen verlieren viele Zugvögel, die in neb- es viel. Wichtig ist etwa die Wahl des ner», sagt der Biologe. Sie sind darauf ligen Nächten unterwegs sind, über hell Leuchtmittels und der Lichtart: Nicht angewiesen, sich während ihres Aufent- leuchtenden Städten ihre Orientierung. jedes Licht ist gleich. Entscheidend ist haltes in der Schweiz hinreichend für Manche fallen als Folge von Stress und unter anderem die Lichtfarbe. Licht ist die Weiterreise stärken zu können. Ihr Erschöpfung tot vom Himmel. Andere Strahlung. Und je nach Wellenlänge und Rückgang verteile sich allerdings nicht werden von hell beleuchteten Gebäu- Frequenz dieser Strahlung, nehmen wir gleichmässig auf das ganze Gebiet der den, Scheinwerfern oder Leuchtfeuern sie anders wahr. Je kürzer die Wellen- Schweiz. Im Wald seien die Populatio- angezogen, bis sie mit ihnen kollidieren. länge und höher die Frequenz, desto nen stabil oder sogar zunehmend – im Ob auch die in der Schweiz ansässi- blauer erscheint das Licht. Und desto Gegensatz zum Kulturland. gen Igel unter dem Verschwinden der störender ist es für die meisten Lebewe- Vögel sind nicht nur indirekt über Insek- Dunkelheit leiden, wurde bislang erst sen – auch für den Menschen. Dass wir ten von der Lichtverschmutzung betrof- wenig erforscht. Sicher ist, dass auch in der Dunkelheit besonders sensibel fen. Für die Vertreter mancher Arten ist sie vom massenhaften Insektenster- auf blaues Licht reagieren, ist eigent- sie auch ganz direkt eine Gefahr. Beson- ben betroffen sind: Ihre Nahrung wird lich sinnvoll. Gäbe es keine künstlichen ders für in der Nacht ziehende Vögel. knapper. Eine kürzlich veröffentlichte Lichtquellen, wären wir darauf angewie- «Sie orientieren sich nicht nur am Mag- Studie legt jetzt ausserdem erstmals sen, das bläuliche Licht der Himmels- netfeld, sondern auch an Landmarkern den Schluss nahe, dass das Verhalten gestirne besonders deutlich zu erfas- sowie an Sonne, Mond und Sternen», der Igel durchaus auch direkt von der sen. Aber die Leuchtkraft eines Sterns
6 Wem gehört die Nacht? Ausgabe 61 | April 2022 abgeschaltet werden. Verantwortet wird die Norm allerdings nicht von den Be- hörden, sondern vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA. Die Gerichte können solche SIA-Normen aber in ihre Entscheide einbeziehen – als massgebend für die Beurteilung des Gemeinwohls. Das Bundesgericht hat dies in einem Entscheid von 2017 be- reits getan. Lukas Schuler sagt deshalb: «Wir betrachten die Norm als rechtlich bindend». Die Rahmenbedingungen für ein längst überfälliges schweizweites Vorgehen gegen das Problem der Licht- verschmutzung wäre damit eigentlich gegeben. Sie müssen nur durchgesetzt werden. Verkehrte Welt: Fledermaus am Tag Bild Andy Reago & Chrissy McClarre Zu gewinnen gibt es viel. Die Frage der Lichtverschmutzung ist existenziell – gerade im Kontext der fortschreiten- den Klimaerhitzung. Auch in dieser Frage kann ein bewussterer Umgang ist nicht ansatzweise zu vergleichen intelligenten Beleuchtung, sodass sich mit künstlichem Licht einen wichtigen mit dem grellen Leuchten einer Stras- die Lampen nur dann einschalten, wenn Beitrag leisten. Was weniger leuchtet, senlaterne. Die meisten Strassenlater- es nötig ist. Schuler hat erst kürzlich braucht weniger Strom. Letztlich geht nen strahlen, so wie auch viele andere eine Studie zur Entwicklung der Licht- es dabei um einen bewussten Umgang künstliche Lichtquellen, überwiegend verschmutzung in Luxemburg publiziert. mit dem Lebensraum der Menschen, blaues Licht aus. Technisch wäre das Gemeinden, die aktiv Massnahmen wie aber auch dem der flatternden Fleder- nicht notwendig, und rötlicheres Licht die der intelligenten Beleuchtung ergrif- mäuse und streunenden Igel. Kaum mit tieferer Frequenz würde sowohl fen haben, konnten die Lichtverschmut- ein Thema macht die menschliche Menschen als auch die meisten Tierar- zung demnach innert kurzer Zeit um 40 Rücksichtslosigkeit so deutlich wie die ten deutlich weniger stark stören. Auch bis 80 Prozent reduzieren. Lichtverschmutzung, diese zumeist völ- die Ausrichtung der Leuchtmittel ist ent- In der Schweiz liegt das Licht-Manage- lig unnötige Verstrahlung der Umwelt, scheidend: Lampen, die in Richtung des ment grösstenteils in der Verantwortung deren Folgen den meisten Urheberinnen Himmels strahlen, sind schädlicher als der Gemeinden. Das sind über 2000 ver- und Urhebern wohl nicht bewusst sind. fokussierte Lichtkegel. schiedene Verwaltungseinheiten. Und Und die, wie ein Blick auf Satellitenbil- «Vor allem aber müssen wir dafür sor- vielen der Verantwortlichen sind die der der Erde zeigt, den ganzen Globus gen, dass grundsätzlich weniger Licht Auswirkungen ihrer Beleuchtung wohl umspannt. In der Wissenschaft wird ausgestrahlt wird», sagt Lukas Schuler. gar nicht bekannt. Dabei würde auf das Phänomen unter dem Begriff «An- Konkret: «Dass Lampen nur noch dann Bundesebene mittlerweile durchaus ein thropozän» diskutiert. Er bezeichnet das leuchten, wenn ihr Licht auch wirklich ge- Bewusstsein für das Problem bestehen, Zeitalter der Erde, in der diese mass- braucht wird.» Ein grosser Teil der Licht- sagt Schuler. Er verweist etwa auf die geblich durch die Plünderung durch verschmutzung liesse sich ohne gros- seit 2013 bestehende SIA Norm 491 «zur uns Menschen geprägt wird. Um dies sen Verlust vermeiden, ist er überzeugt. Vermeidung unnötiger Lichtemissionen zu stoppen, wäre mehr Bescheidenheit Er bezieht sich etwa auf Leuchtrekla- im Aussenraum». Die Norm unterschei- ein wichtiger Anfang: Vielleicht hin und men, erhellte Garageneinfahrten – und det zwischen sicherheitsrelevantem wieder ein nachdenklicher Blick in die auch auf viele Strassenlaternen. «Stras- Licht und solchem, das nur Werbe- und unendliche Weite des Sternenhimmels. sen, die nur von ein bis zwei Autos pro Gestaltungszwecken dient. Letzteres Mit der Erkenntnis, dass wir beängs- Nacht befahren werden, müssen nicht unterliegt gemäss der Norm den Be- tigend alleine sind auf unserer Reise durchgehend voll erhellt werden.» Statt- stimmungen der Nachtruhe und muss durchs All. Wir müssen der einzigen dessen bestünde die Möglichkeit der also zwischen 22.00 Uhr und 06.00 Uhr Erde, die wir haben, Sorge tragen.
Ausgabe 61 | April 2022 Auswirkungen von Strassenbeleuchtung auf lokale Insektenpopulationen 7 Auswirkungen von Strassenbeleuchtung auf lokale Insektenpopulationen Unsere Strassenlampen sind Todesfallen für viele nachtaktive Fluginsekten. Wie sieht es bei den Bodenbewohnern aus – hat das Kunstlicht auch Einfluss auf die Entwicklung der Raupen? Dieser Frage sind Wissenschaftler der Newcastle University nachgegangen. Wir veröffentlichen hier die Ergebnisse dieser Studie in gekürzter Form, die genauen Resultate und angewandten Methoden finden Sie im Original auf der Webpage von Science Advances. Der Bergmolch – ein gefährdeter Insektenjäger Bild Adobe Stock
8 Auswirkungen von Strassenbeleuchtung auf lokale Insektenpopulationen Ausgabe 61 | April 2022 Zusammenfassung cheren Insektengruppen sind Falter am trale Zusammensetzung der Aussen- Der gemeldete Rückgang der Insekten- besten erforscht, wobei in Teilen Euro- beleuchtung rasant, wobei LEDs auf- populationen hat weltweit Besorgnis pas ein signifikanter Populationsrück- grund ihrer höheren Energieeffizienz ausgelöst, wobei künstliches Licht in gang zu verzeichnen ist. Falter sind zunehmend bevorzugt werden. Die Fol- der Nacht als potenzieller Grund iden- funktionell wichtig für unsere Ökosys- gen dieser Verschiebung sind nicht be- tifiziert wurde. Trotz eindeutiger Hin- teme, u. a. als Bestäuber, Beute- und kannt, aber es wird prognostiziert, dass weise darauf, dass Beleuchtung das Wirtstiere für Parasitoiden. weisse Breitband-LEDs ein grösseres Insektenverhalten stört, ist der empiri- Künstliches Licht in der Nacht ist eine Potenzial für die Störung von Ökosys- sche Nachweis, dass künstliches Licht zunehmend anerkannte Bedrohung für temen haben, inklusive nachtaktiver die Menge von Wildinsekten verringert, Biodiversität und Ökosystemprozesse. Insekten. Die gleichen Studien legen begrenzt. Sie hat weitreichende negative Auswir- nahe, dass z. B. Natriumdampflam- Wir konnten in unse- pen, die meist gelbes rer Studie feststellen, Licht emittieren, we- dass Strassenbe- niger schädlich für leuchtung die Anzahl biologische Prozes- von Falterraupen im se sein könnten. Vergleich zu unbe- Wir untersuchten leuchteten Plätzen die Auswirkungen stark reduzierte (47 % der nächtlichen Be- weniger in Hecken leuchtung auf wild- und 33 % weniger an lebende Raupen in Grasrändern) und ihre Südengland mit ei- Entwicklung beein- nem Matched-Pair- trächtigte. Ein sepa- Design. Dabei wur- rates Experiment in de ein schon lange normalerweise unbe- durch Strassenlam- leuchteten Lebens- pen direkt beleuch- räumen ergab, dass teter Lebensraum künstliches Licht das mit einem sorgfältig Fressverhalten der abgestimmten unbe- nachtaktiven Rau- Igel leiden heute schon unter Nahrungsmangel Bild Silvia Zuber leuchteten Lebens- pen gestört hat. Bei raum in der Nähe Strassenlampen mit (≥60 m) verglichen. weisser Leuchtdiode Wir haben diesen (LED) waren die negativen Auswirkun- kungen auf Insekten während ihres ge- Ansatz gewählt, weil er Einblicke in gen stärker ausgeprägt als bei her- samten Lebenszyklus, einschliesslich die Langzeitwirkungen nächtlicher Be- kömmlichen gelben Natriumdampflam- Hemmung der Aktivität von Erwachse- leuchtung auf wildlebende Insektenpo- pen (LPS). Dies deutet darauf hin, dass nen, verstärkter Aktivität von Fressfein- pulationen gibt. künstliche Beleuchtung und die fort- den und gestörter Fortpflanzung. Meh- Wir haben Nachtfalter stellvertretend schreitende Verschiebung hin zu weis- rere hochkarätige Studien haben die für nachtaktive Insekten beobachtet sen LEDs erhebliche Auswirkungen auf Auswirkungen von nächtlicher Beleuch- und uns auf ein relativ ortsgebunde- Insektenpopulationen und Ökosystem- tung auf die Bestäubung durch Insekten nes Lebensstadium (Raupen) und prozesse haben werden. hervorgehoben. Unklar bleibt jedoch, ob nicht auf ausgewachsene Exemplare diese nur das Verhalten von einzelnen konzentriert. Mit der Konzentration auf Einführung Individuen stören oder ob die Effekte so das Raupenstadium wollen wir den Ef- Es gibt immer mehr Hinweise darauf, stark sind, dass damit aktiv Insektenpo- fekt auf Insekten zeigen, die dem Licht dass einige Insektenpopulationen in pulationen reduziert werden. dauerhaft ausgesetzt sind. Es wurden den letzten Jahrzehnten zurückge- Die Lichtverschmutzung nimmt welt- Standorte mit LED-, HPS- und solche gangen sind, was Anlass zur Sorge weit zu und beeinträchtigt zunehmend mit LPS-Strassenlampen gesondert be- über das zukünftige Funktionieren von verbleibende Orte hoher Biodiversität. trachtet. Auf diese Weise konnten wir Ökosystemen gibt. Von den artenrei- Gleichzeitig verändert sich die spek sowohl den Effekt von Beleuchtung ge-
Ausgabe 61 | April 2022 Auswirkungen von Strassenbeleuchtung auf lokale Insektenpopulationen 9 Die Blindschleiche ist ein Vertreter der Reptilien Bild Holger Krisp nerell, als auch mögliche Unterschiede Raupenvorkommen deutlich geringer, an erwachsenen Faltern (Veränderung zwischen verschiedenen Lampentypen sowohl in beleuchteten Hecken als −14 % nach 5 Jahren), die allerdings testen. auch an beleuchteten Wiesenrändern. nicht mit bereits vorhandener Stras- Wir haben Raupen entlang von beleuch- In der Regel waren die Raupen an be- senbeleuchtung durchgeführt wurde. teten und unbeleuchteten Standorten leuchteten Standorten schwerer, wahr- Unsere Ergebnisse zeigen, dass ganze gesammelt, um den Effekt nächtlicher scheinlich weil künstliches Licht ihr Lebenszyklen und nicht nur einzelne Beleuchtung auf die Menge und Rau- Fressverhalten beeinflusst. Dabei waren Stadien (z. B. mobile erwachsene Indi- pendichte zu untersuchen. Dabei ha- die Effekte unter LED-Licht am stärks- viduen) berücksichtigt werden sollten, ben wir zwei Probeentnahmeverfahren ten, unter HPS-Licht weniger stark, un- um die Effekte auf Insektenpopulatio- verwendet: Tagsüber das Schlagen auf ter LPS-Licht am schwächsten. Bei der nen besser zu verstehen. Hecken (13 Standorte) und nachts das Beleuchtung von zuvor unbeleuchteten Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass Durchkämmen von Wiesenrändern mit Wiesenrändern wurden unter LED an- die Anzahl der adulten Insekten, die einem Kehrnetz (15 Standorte). Wir schliessend weniger Raupen gefunden, von unterschiedlichen Beleuchtungs- nahmen an, dass die Anzahl Raupen an bei HPS-Licht konnte kein Unterschied technologien angelockt werden, mög- beleuchteten Standorten geringer ist. festgestellt werden. licherweise kein geeigneter Indikator Um unsere Hypothese zu testen, dass für die ökologischen Auswirkungen künstliches Licht das nächtliche Fress- Diskussion der Resultate ist. So hat eine aktuelle Meta-Analyse verhalten von Raupen stört, haben wir Wir haben uns auf eine relativ ortsge- gezeigt, dass LEDs tendenziell ähnlich an bisher unbeleuchteten Orten LEDs bundene Lebensphase der Falter kon- viele (oder etwas weniger) Falter an- und HPS-Lampen aufgestellt. Wir pro- zentriert und unsere Ergebnisse liefern ziehen wie HPS-Lampen. Daraus wur- gnostizierten, dass der Effekt von LEDs eindeutige Hinweise darauf, dass Stras- de geschlossen, dass LEDs weniger auf die biologischen Prozesse am stö- senbeleuchtung sich negativ auf die schädlich für Falterpopulationen sind. rendsten ist. lokale Fülle von wildlebenden Insekten- Dennoch stellten wir fest, dass LEDs an populationen auswirkt. Die beobachte- unseren Aussenstandorten grössere Resultate in aller Kürze ten Effekte von −47 % bei Hecken und Auswirkungen hatten als HPS-Lampen. In Lebensräumen, die von Strassenla- −33 % bei Grasrändern waren weitaus Dies deutet darauf hin, dass das Flug- ternen beleuchtet wurden, waren die grösser als bei einer früheren Studie zu-Licht-Verhalten nicht der Hauptme-
10 Auswirkungen von Strassenbeleuchtung auf lokale Insektenpopulationen Ausgabe 61 | April 2022 chanismus ist, durch den Falterpopu- lationen durch nächtliche Beleuchtung negativ beeinflusst werden. Es lässt sich vermuten, dass eine ver- minderte Eiablage in beleuchteten Arealen zu einer Abnahme der Raupen- häufigkeit führt. Wahrscheinlich weil das Verhalten der Falter gestört wird. Indirekt könnte auch eine längere Akti- vität von tagfressenden Feinden, zum Beispiel Parasiten, oder Effekte auf die Wirtspflanze einen Einfluss haben. HPS-Beleuchtung wirkt sich zum Bei- spiel negativ auf die Entwicklung des Nachtfalters Apamea sordens aus, weil das Licht die beleuchteten Gräser zäher macht. Raupen, die in Hecken leben, scheinen von künstlichem Licht stärker betroffen zu sein als ihre Artgenossen an Wie- senrändern. Die höheren Lux-Werte in Hecken (die Raupen sind näher an der Lichtquelle) könnten ein Grund sein. Ein anderer Faktor könnte die gerin- gere Mobilität der erwachsenen Tiere sein, da in Hecken winteraktive Arten mit flugunfähigen Weibchen leben. Zu- sätzlich werden verschiedene Falterfa- Rotkopfwürger sind auf Grossinsekten spezialisiert Bild iStock milien verschieden stark von Licht an- gezogen, was ebenfalls Auswirkungen haben kann. Der Befund von generell schwereren Raupen in beleuchteten Bereichen eine frühere Verpuppung kann die Un- derlich sind, um die relative Bedeutung stimmt mit Laboruntersuchungen an terschiede in der beobachteten Rau- der Lichtverschmutzung für den Rück- zwei Nachtfalterarten überein, die penhäufigkeit nicht allein erklären. gang der Insektenpopulationen zu ent- zeigten, dass gestresste Individuen Selbst lokal begrenzte Verringerungen schlüsseln (vor allem im Vergleich zu unter künstlichem Licht eine erhöhte der Insektenzahlen können erhebliche allgegenwärtigen Bedrohungen wie Ha- Entwicklungsrate zeigten. Die Nah- kaskadierende Folgen für Ökosystem- bitatverlust und Klimawandel), zeigen rungsaufnahme wurde an den Orten funktionen und andere Arten haben. So unsere Ergebnisse, dass künstliches mit Strassenlaternen offenbar nicht sind zum Beispiel die im Frühjahr in He- Licht in der Nacht erhebliche Auswir- unterbunden, im Gegenteil haben sich cken lebenden Raupen fester Bestand- kungen auf Falterpopulationen auf loka- schwerere Raupen durch intensivier- teil der Nahrung einiger Singvogelküken ler Ebene und auf Ökosystemprozesse te Nahrungsaufnahme zu atypischen (z. B. Meisen). Diese Vogelarten haben wie Bestäubung hat. Die beobachteten Tageszeiten entwickelt. Dass Raupen ein kleines Nahrungsspektrum und Auswirkungen waren bei weissen LEDs in beleuchteten Bereichen schwerer werden daher wahrscheinlich schon ausgeprägter als bei herkömmlichen sind, weist auf eine schneller ablaufen- durch das Zurückgehen um bis zu 50 % Natriumdampflampen. Dies ist ange- de Entwicklung unter Stress und eine ihrer Beute geschädigt. sichts der derzeitigen Verschiebun- frühzeitige Verpuppung hin. Man kann Insgesamt zeigt unsere Studie, wie sich gen bei der Aussenbeleuchtung hin zu davon ausgehen, dass dies schädli- etablierte Strassenlaternen nachteilig weissen LEDs besorgniserregend. Aller- che Auswirkungen auf die Fitness der auf lokale Raupenpopulationen auswir- dings lässt sich das Licht der LEDs in erwachsenen Tiere haben wird. Doch ken. Während weitere Arbeiten erfor- Intensität und Farbe leicht anpassen.
Ausgabe 61 | April 2022 Aktiv Lichtverschmutzung vermeiden 11 Aktiv Lichtverschmutzung vermeiden Es ist eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam lösen können. Weil fast jede Person Kunstlicht nutzt, ist es so wichtig, dass sich möglichst alle ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre Beleuchtung auf Sinnhaftigkeit überprüfen. Jedes ausgeschaltete Licht ist ein wichtiger Beitrag zur Lösung eines unterschätzten Problems. hier gilt: je wärmer und schwächer das Licht, desto besser. Unnötiges Licht in der Nachbarschaft Die Rechtslage ist eigentlich klar und eindeutig: Dekorative Beleuchtungen wie Schaufenster, Lichtreklamen und Fassadenbeleuchtungen müssen wäh- rend der Nachtruhe von 22.00 bis 06.00 Uhr abgeschaltet werden. Ausnahmen gelten nur für Beleuchtungen, die der Sicherheit dienen. Gemäss Bundesgerichtspraxis sind be- helligte Anwohner klageberechtigt, so- fern sie im Umkreis von 100 m zur Licht- In einem dunklen Garten hat es viel mehr Nahrung für die Igel als in einem quelle von Immissionen betroffen sind. beleuchteten Bei starken Lichtquellen kann sich der Umkreis erweitern. Der Gang vor Gericht sollte aber das letzte Mittel der Wahl sein, es ist mit viel Aufwand verbunden Es ist keine Hexerei, es ist nur ein Griff Aussenbeleuchtung und kann ganz schön ins Geld gehen. zum Lichtschalter. Er sollte beim Ver- Richtig Wirkung erzielen Sie aber, Wer Wert auf gute nachbarschaftliche lassen des Raums ebenso automatisch wenn Sie Ihre Aussenbeleuchtung Beziehungen legt, sucht deshalb das Ge- erfolgen wie beim Betreten. Grosses überprüfen. Hell erleuchtete Gehwege, spräch mit der verantwortlichen Person. Verbesserungspotenzial hat häufig die Carports und Vorplätze gehören ne- In den meisten Fällen ist nicht böser Wil- Lichtfarbe und -intensität: Helles, kal- ben der Strassenbeleuchtung zu den le, sondern Fahrlässigkeit und Nichtwis- tes Licht passt gut in eine Zahnarztpra- Hauptverursachern der Lichtpest. Die sen die Ursache für das Problem. xis – für den entspannten Lebensge- einfachste Lösung ist die Montage Sofern Sie keinen Erfolg haben, wen- nuss am Abend empfehlen wir warmes von Bewegungsmeldern. Diese sollten den Sie sich an die Behörden. Bei Licht Licht mit möglichst kleiner Wattzahl. so programmiert werden, dass sie das emissionen sind die Gemeinden und Ein wichtiger Punkt ist auch, wie viel Licht auch zügig wieder ausschalten. Kantone verpflichtet, die geltenden Ge- Licht durch die Fenster nach aussen Achten Sie sorgfältig darauf, dass die setze und Verordnungen zu vollziehen. fällt. Vorhänge und Storen halten das Lichtquellen gegen oben und seitwärts Im Zweifelsfall wenden Sie sich bitte an Licht im Innern und neugierige Blicke abgeschirmt sind und wirklich nur das pro Igel oder Dark Sky, wir beraten Sie von aussen fern. Notwendigste beleuchtet wird. Auch gerne.
12 Artgerechte Igelhilfe Ausgabe 61 | April 2022 Artgerechte Igelhilfe Der Igel ist ein ganz spezielles Wildtier: Er lebt in unseren Gärten, Parks und Industrie- gebieten, er hat wenig Angst vor Menschen und er ist ausserordentlich beliebt. Viele Gartenbesitzer möchten gerne Igel im Garten haben und richten deshalb Schlaf- häuschen und F utterplätze ein. Ist das aus Sicht des Artenschutzes sinnvoll? Igel sind Einzelgänger und sie gehen sich, wo immer möglich, aus dem Weg. Auch die Paarung sieht wie bei den Katzen eher unerfreulich aus. Zu den Ausnahmen gehören Geschwistertiere, die manchmal auch als Erwachsene Kontakt pflegen. Schlafhäuschen Igelhäuschen und -kuppeln gehören zum Standardsortiment jedes Garten- centers. Die handelsüblichen Modelle haben aber alle den gleichen Konstruk- tionsfehler: Sie sind zu luftdicht. Weil im Innern ein feuchtmuffiges Klima entsteht, können diese Unterkünfte nicht als artgerecht bezeichnet wer- den. Igel sind keine Höhlenbewohner, aber sie sind immer dankbar für einen trockenen Platz. Ein geschickt platzier- tes Brett kann da schon genügen. Da- Igel verbringen nur die Kindheit gemeinsam, danach gehen sie alleine mit die Igel sich nicht stören, sollte pro auf die Pirsch Bild Dieter Kummer Garten nur ein Unterschlupf zur Verfü- gung gestellt werden. Futterstellen Weil sie ihren Kot ungeordnet verteilen, platz wird natürlich alles an Insekten Es ist sinnvoll, einem abgemagerten auch im Fressnapf, werden Krankheiten gefressen und je näher der Futterplatz Igel im Frühjahr den Start ins neue Igel- und Parasiten ungehindert weitergege- kommt, desto weniger Insekten hat es. jahr mit einigen Portionen Katzenfut- ben. Es werden zudem auch eher uner- Darunter leiden alle anderen Insekten- ter zu erleichtern. Das Einrichten einer wünschte Gäste angelockt wie Füchse, jäger wie Amseln, Eidechsen und Blind- permanenten Futterstelle ist aber ein Marder und Katzen. schleichen, Kröten und Frösche. schwerwiegender Eingriff in die Le- Durch die Konzentration an Igeln wird Es braucht nicht viele Igel an einem bensweise der Igel und in das biologi- das biologische Gleichgewicht mas- Platz, es braucht an vielen Plätzen ei- sche Gleichgewicht. siv gestört. Permanente Futterstellen nen Igel. An permanenten Futterstellen besam- ziehen Igel aus der ganzen Umgebung Die einzige sinnvolle Unterstützung für meln sich Tiere, die sich nicht mögen, an, bei günstigen Windverhältnissen die Igel ist und bleibt der möglichst na- und es kommt immer wieder zu Kon- kann das einen Kilometer und mehr turnahe Garten. flikten zwischen den Igeln. betragen. Auf dem Weg zum Futter-
Ausgabe 61 | April 2022 Freakshow unter dem Blumentopf 13 Kellerasseln sind äusserst lichtscheue Tiere Bild Hans Hillewaert Freakshow unter dem Blumentopf Wer je einen Blumentopf im Garten angehoben hat, kennt das Bild: Vom plötzlichen Lichteinfall aufgeschreckt, ergreifen viele kleine Tierchen die Flucht. Das Gewusel sieht zwar nicht sehr einladend aus, trotzdem lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Zu entdecken gibt es neben anderen skurrilen Vielbeinern die einzigen landlebenden Krebse: die Asseln. Text Shirine Bockhorn
14 Freakshow unter dem Blumentopf Ausgabe 61 | April 2022 Auf den ersten Blick sieht man ihnen denn auch an, dass sie etwas Beson- deres sind. Sie haben sehr viel mehr Beine als Insekten und Spinnen. Unse- re Keller- und Mauerasseln bewegen sich auf 14 Füssen durch das Leben. Eine weitere Besonderheit ist, dass viele Landasseln wie ihre im Wasser lebenden Verwandten nach wie vor ausschliesslich durch Kiemen atmen. Damit diese nicht austrocknen, sind sie auf eine feuchte Umgebung ange- wiesen. Dabei haben die Tierchen ein ausgeklügeltes System von Rinnen und Furchen in ihrem Panzer entwi- ckelt, das jedes Wassertröpfchen zu den Kiemen leitet. Bei anderen Arten, zum Beispiel Mauerasseln, die auch Mauerassel Bild Adobe Stock in trockener Umgebung leben, hat sich zusätzlich eine Art Lungen aus- gebildet und Kellerasseln haben so- gar Tracheenlungen entwickelt, wie sie Insekten und Spinnen haben. Ihre Kiemen sind soweit verkümmert, dass Eine Art Beuteltier Die geschlüpften Jungtiere wachsen sie ihren Sauerstoffbedarf damit nicht Schon erwachsene Landasseln sind durch Häutung. Da die abgestreifte mehr alleine decken können. Mit die- auf Feuchtigkeit angewiesen, noch Haut viele Nährstoffe enthält, wird sie sen körperlichen Adaptionen haben es empfindlicher sind aber die Eier. Da- anschliessend jeweils gefressen. Der die Landasseln geschafft, sämtliche für haben die kleinen Tierchen eine Panzer der Asseln, der nicht nur aus Lebensräume dieser Erde zu erobern. elegante Lösung gefunden. Wenn das Chitin, sondern zu einem guten Teil Sogar an die Wüste angepasste Arten Männchen die Eier des Weibchens be- auch aus Kalzium besteht, stellt für gibt es. fruchtet hat, häutet sich dieses und viele Fressfeinde einen speziellen Le- Auch wenn Asseln fast überall zu fin- bildet dabei einen Brustbeutel, den ckerbissen dar. Dazu gehören Kröten, den sind, haben sie doch ganz klar be- es stetig mit Feuchtigkeit versorgt. Maulwürfe, Vögel, aber auch Igel und vorzugte Habitate. So sind küstennahe Die befruchteten Eier wandern nun in Spinnen. Gebiete am dichtesten besiedelt. Auch diesen Schutzbeutel. Dort verbleiben feuchte Wälder sind als Lebensraum sie gut geschützt bis zum Schlüpfen. Wichtiger Abfallverwerter sehr beliebt. Man findet sie auf offe- Das kann einige Wochen dauern. Die Asseln ernähren sich zumeist von nem Gelände, in lichten Wäldern oder bei uns weit verbreiteten Kellerasseln verrottendem Pflanzenmaterial, wie als Kulturfolger in der Nähe mensch- werden ungefähr im Alter von drei Mo- Laub oder Holzresten. Da sie auch licher Siedlungen. Je kalkhaltiger der naten geschlechtsreif. Andere Arten Mineralien über Sandkörner oder Erd- Boden desto beliebter ist er bei Asseln, sind erst nach einem bis drei Jahren krümel aufnehmen, vermischen sie da diese für den Aufbau ihres Skeletts ausgewachsen. Auch die Anzahl der die Bestandteile zu feinstem Humus, auf Kalzium, der in Kalk vorkommt, Eier schwankt stark von Art zu Art. Bei den sie anschliessend ausscheiden. angewiesen sind. Kaum besiedelt wer- den Kellerasseln sind es 20 bis 90 Eier Offensichtlich ist die Bedeutung von den landwirtschaftlich genutzte Böden und die Tragezeit im Beutel beträgt 40 Landasseln für die Bodenqualität in und dichte Wiesen. bis 50 Tage. unseren Breitengraden höher als die
Ausgabe 61 | April 2022 Freakshow unter dem Blumentopf 15 gewonnen Sauerstoff direkt an die Zellen weiterleiten. Ein Blutkreislauf ist bei dieser Art der Atmung nicht nö- tig. Sie mögen es auch kühl, tagsüber oder bei Hitze oder grosser Kälte zie- hen sie sich unter Steine oder in tiefere Erdschichten zurück. Aktiv werden sie des Nachts, dann halten sie sich gerne an der Erdoberfläche auf und erledigen ihre wertvolle Arbeit für ein gesundes Ökosystem. Im Allgemeinen bekommt man die kleinen Tierchen also kaum zu Gesicht. Mit einigen, doch eher unan- genehmen Ausnahmen. Es kann vorkommen, dass sich Tau- sendfüssler zur Plage entwickeln. Dann nehmen sie Keller in Beschlag Der Gemeine Steinläufer als Vertreter der Hundertfüsser Bild Darkone und kriechen des Nachts zu tausenden Hausfassaden hoch. Die Gründe für dieses Massenauftreten von Tausend- füsslern an bestimmten Orten sind bisher noch ungeklärt und dement- sprechend ist es schwierig der Plage von Regenwürmern, die bei kundigen arten bekannt. Keine hat genau 1000 Herr zu werden. Im Grunde genommen Gärtnern immer gerne gesehen sind. Beine, korrekterweise werden sie des- bleibt nur das Einsammeln und sich im Asseln sind also keine Schädlinge, halb auch Doppelfüsser genannt, weil Haus verbarrikadieren. sondern Nützlinge. Und auch wenn sie auf jedem Körpersegment zwei Gehört man aber zur grossen Mehrheit sie wohl nicht zu den Naturschönhei- Beinpaare haben. Rekordhalter ist eine der Hausbesitzer, die einen Tausend- ten gehören, erfüllen sie innerhalb des Art, die unlängst in Australien entdeckt füssler höchstens beim Hochheben ei- Ökosystems einen wichtigen Zweck. wurde und die 1306 Beine hat. Wie die nes Steins zu sehen bekommen, sollte Asseln ernähren sie sich von Pflanzen- man sich über die Nützlinge im Garten Auf vielen Füssen resten, aber auch von totem tierischen freuen. Ähnlich verhält es sich mit einem wei- Material oder Kot und verwandeln so teren Bodenbewohner: dem Tausend- Abfälle in fruchtbaren Boden. Anfang auf drei Beinpaaren füssler. Bevor wir diese faszinierenden Auch wenn sie manchmal in Massen Tierchen genauer betrachten, eins vor- Des Nachts krabbelt es auftreten, Tausendfüssler sind eigent- weg: Mit Tausendfüsslern wird eigent- Tausendfüssler lieben eine feuchte lich Einzelgänger. Nur zur Paarungs- lich eine ganze Ordnung benannt, die Umgebung. Das hat aber nichts damit zeit machen sie wie alle Tierarten eine sich aus Doppel-, Hundert-, Zwerg- und zu tun, dass sie durch Kiemen atmen Ausnahme. Ihr Paarungsverhalten ist Wenigfüssern zusammensetzt. Öfter würden, sondern daran, dass sie nur dabei von Art zu Art verschieden. Man- wird der Begriff Tausendfüssler aber schlecht gegen Wasserverlust ge- che Männchen beklopfen den Rücken auch nur für die sogenannten Doppel- schützt sind. Sie haben wie Insekten der Wunschpartnerin, damit sie sich füsser gebraucht. Wir halten uns in die- Tracheenlungen. Diese bestehen aus ihm zuwendet, andere nutzen das letz- sem Artikel an die letztere Definition. unzähligen verästelten Röhrchen, die te Beinpaar, um sich an der Partnerin In der Schweiz sind über hundert und über Öffnungen am ganzen Körper mit festzuklammern. Es wurden schon weltweit über 12 000 Tausendfüssler- Luft versorgt werden und den daraus stundenlange Liebesspiele beobach-
tet. Nach erfolgter Befruchtung legt das Weibchen die Eier in vorbereitete Erdkammern ab. Manche Arten spin- nen auch einen schützenden Kokon für ihren Nachwuchs. Meist stirbt das Weibchen nach der Eiablage. Die Männchen mancher Arten überwin- tern und häuten sich zuerst in ein ge- schlechtsuntätiges Stadium und an- schliessend ein weiteres Mal für die nächste Paarung, ohne dabei an Grös- se zuzunehmen. Sind die Jungtiere geschlüpft, haben sie anfangs nur drei Beinpaare. Mit je- der Häutung bilden sich neue Segmen- Tausendfüssler Bild Gail Hampshire te und Beine, bis sie die Geschlechts- reife erreichen. Diese wird meist im Alter von ein bis drei Jahren erreicht und die unscheinbaren Tierchen kön- nen je nach Art bis zu sieben Jahre alt werden. eher zu den unauffälligen Tieren. Am chen führt sich diese anschliessend Wenn man einen Tausendfüssler auf- weitesten verbreitet ist der Gemeine in ihre Geschlechtsöffnung selbst ein. scheucht, versuchen die Tiere mög- Steinläufer. Er wird bis zu drei Zenti- Die befruchteten Eier legt sie einzeln lichst schnell in Deckung zu gehen. meter gross und ist somit die grösste am Boden ab. Aus den Eiern entwi- Als Abwehrstrategie können sie sich Hundertfüsserart in Mitteleuropa. Wie ckeln sich die Jungtiere, die sich durch aber auch zusammenrollen, so dass seine vegetarischen Verwandten ver- Häutung zu adulten Tieren entwickeln. die harten Panzerteile auf dem Rü- steckt er sich tagsüber an dunklen und Ihre Lebenserwartung beträgt bis zu cken den weicheren Bauch schützen. feuchten Stellen und wird gegen Abend sechs Jahre. Nützt dies nichts, sondern sie ein aktiv. Dann durchstreift er sein Revier übelriechendes Sekret ab, bei man- auf der Jagd nach kleinen Insekten, Ein faszinierender Mikrokosmos chen Arten ist dieses auch giftig, um Spinnen, Asseln oder Würmern. Dabei Normalerweise erfreut man sich im Fressfeinde abzuschrecken. So hal- ertastet er seine Beute und injiziert ihr Garten an blühenden Blumen oder ten sie sich Vögel, Igel oder Reptilien mit Klauen am Kopf ein Gift. Ein Biss reifenden Tomaten. Asseln, Tau- vom Hals. Tausendfüssler können sich des Gemeinen Steinläufers kann auch send- oder Hundertfüsser nimmt man zwar zur Wehr setzen, grundsätzlich für Menschen schmerzhaft sein. Im höchstens wahr, wenn man einen Topf sind sie aber friedliche Vegetarier, im Gegensatz zu den asiatischen Hun- hochhebt und es darunter kreucht und Gegensatz zu ihren Verwandten, den dertfüssern ist er aber nicht gefährlich. fleucht. Diese Tierchen sind aber zu- Hundertfüssern. Diese gehen jeweils Während Asseln und Tausendfüssler sammen mit Springschwänzen und nachts auf die Jagd. sich als Abfallverwerter nützlich ma- Regenwürmern massgeblich daran chen, sorgt der Gemeine Steinläufer beteiligt, dass sich überhaupt eine Blü- Unscheinbarer Räuber dafür, dass Schädlinge nicht überhand te entwickeln kann. Möchte man ihre Während es im asiatischen Raum Ex- nehmen. Anwesenheit etwas fördern kann man emplare gibt, die bis zu 25 Zentimeter Die Paarung der Gemeinen Steinläufer wie immer auf das einfachste Rezept lang werden und mit ihrem giftigen Biss läuft auf Distanz ab. Das Männchen im Garten zurückgreifen, das es gibt: ein Kaninchen töten können, gehören spinnt ein lockeres Nest und legt darin Beine hochlegen und der Natur beim die schweizerischen Hundertfüsser seine Spermatophoren ab. Das Weib- Aufräumen zusehen.
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