Austausch MPG Schorndorf - Tulle (Frankreich) - Autor

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Austausch MPG Schorndorf - Tulle (Frankreich) - Autor
Austausch
MPG Schorndorf –
Tulle (Frankreich)

                 Autor
 Studiendirektor Dr. Erich Brauch

   © 2021 Max-Planck-Gymnasium Schorndorf
               1. Auflage 2021
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                                        Partnerschaft mit Tulle

    0. Einführung

         Die Geschichte einer nun mehr als 50 Jahren andauernden Partnerschaft auf wenigen Seiten nachzuzeichnen ist
         entweder eine Herkulesaufgabe oder gar ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ähnlich dem Sisyphos, den die Götter
         dazu verurteilt hatten, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, mache ich mich mutig an die
         Aufgabe. Aus fast 50 Jahren Artikeln aus den Schorndorfer Nachrichten, (herzlichen Dank an das Schorndorfer
         Stadtarchiv!), aus zwei Festschriften zum 25. und 50-jährigem Jubiläum dieser Partnerschaft, und aus dem ganz
         wenigen, was der eigene Computer noch aufzuweisen hatte, aus all dem das Richtige und Wichtige auszuwählen,
         war keine einfache Sache. Unternehmen und erledigen kann das eigentlich nur jemand, der keine
         Dienstverpflichtungen mehr hat. Wer aber 35 Jahre lang dem MPG leidenschaftlich gedient hat, der wälzt auch
         diesen Stein.1

    I.        Tulle und Schorndorf? Tulle et Schorndorf !

Herzlichen Glückwunsch dem Max-Planck- Gymnasium Schorndorf zum 50-jährigen Jubiläum, und
Herzlichen Glückwunsch der Stadt Schorndorf zum offiziellen 50-jährigem Bestehen der
Partnerschaft mit Tulle, ganz großen Dank auch an die zahlreichen Initiatoren und Organisatoren, die
alle vom Geist der Versöhnung und der Begegnung beseelt waren. Dieses Jubiläum wurde von
kompetentester und höchster französischer Seite, nämlich von einer Unterabteilung des
Französischen Kultusministeriums, der Direction Régionale des affaires culturelles de Nouvelle
Aquitaine, als eine Partnerschaft aus Gold bezeichnet wurde. Im Vorwort dazu schreibt Monsieur
Bernard Combes, Maire/Bürgermeister von Tulle und Abgeordneter im Regionalparlament,

         Niemals hätte man am Ende des Zweiten Weltkrieges vermuten können, dass eine deutsch-
         französische Freundschaft in Tulle entstehen würde. Mutig und kühn waren die, die dank
         ihres persönlichen Engagements für Menschlichkeit und Brüderlichkeit zu Verfechtern
         dieser schönen Idee, die von befreundeten Völkern in einem vereinten Europa, geworden
         sind.

Wer den französischen Zentralismus kennt, kann das nicht hoch genug einschätzen. Diese
Partnerschaft wiegt in Anbetracht aller vorausgegangenen Geschichte, in Anbetracht ihres
unglaublichen Zustandekommens und der ständigen Bemühungen, Maßnahmen und Begegnungen,
mehr als noch Gold. Man ist geneigt, mit Friedrich Schiller zu singen und zu sagen - Wem der große
Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu seyn; … wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel
ein!

1Dieser Text verzichtet bewusst auf die sogenannte „gendergerechte“ Sprache. Einem studierten Philologen ist das die groteske
Komödie eine*r Mannheim*er*innen Sprachtaliban*in der Redaktion*in des Duden oder der Dudin, die glaubt, fern jeglicher
sprachwissenschaftlicher Erkenntnis auf dem Markt der Schizophrenie sich zu verkaufen und anzubieten, sich quasi prostituieren zu
müssen. Der Respekt vor Menschen weiblichen Geschlechts bleibt davon unberührt.
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         Nebenbei bemerkt: dem Autor dieser Zeilen, Friedrich Schiller, wurde im August 1792 von der französischen
         Nationalversammlung wegen seiner Verdienste um Freiheit und Humanität die Ehrenbürgerschaft verliehen. Sein auf der
         Urkunde ausgeschriebener Name lautet Gillé, mit G als erstem Buchstaben und è mit accent aigu als letztem. Die Urkunde
         selbst brauchte viel Zeit, um ihren Empfänger zu erreichen. Schiller erhielt sie erst 1798. Er überließ sie der Weimarer
         Bibliothek und besaß lediglich eine beglaubigte Kopie. Die mit der Ehrenbürgerschaft verbundenen Privilegien nahm er gerne
         an und wollte sie an seine Kinder weiterreichen. Seine Haltung zur Revolution hatte sich inzwischen geändert. Mit der
         Jakobinerdiktatur war er vom Anhänger zum Gegner geworden.

Diese Freundschaft war den beiden Städten nicht in die Wiege gelegt- im Gegenteil: sie musste
Hürden und Hindernisse überwinden. Das Unglaubliche daran ist, dass sie nicht von Schorndorf
ausging, sondern von Tulle, ville des martyrs, der Stadt der Märtyrer.
Um diese besser zu verstehen, ist ein Blick zurück in die Geschichte unerlässlich.

   II.        Was im Kleinen geschieht, muss im Großen vorbereitet sein:

   1. Das Große

                                                  Der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22.
                                                  Januar. 1963Im Bild (v.l.n.r.) am Tisch: Bundesminister des Auswärtigen,
                                                  Dr. Gerhard Schröder, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatspräsident
                                                  Charles de Gaulle, Premierminister Georges Pompidou und der
                                                  französische Außenminister Maurice Couve de Murville. Quelle:
                                                  Bundesarchiv, B 145 Bild-P106816 / Autor unbekannt / CC-BY-SA 3.0

Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle
unterzeichneten am 22.1.1963 im Pariser Elysée-Palast einen Vertrag über die deutsch-französische
Zusammenarbeit, der politische Konsultationen beider Regierungen und eine verstärkte
Zusammenarbeit in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie in Erziehungs- und Jugendfragen
festgelegt. Regelmäßige Treffen zwischen den Regierungschefs und den zuständigen
Ressortministern beider Länder sollen die praktische Durchführung des Vertrages gewährleisten.

Dem vorausgegangen war ein unglaublich wichtiger Schritt hinsichtlich der Annäherung zwischen
Frankreich und Deutschland: die Rede des damaligen Präsidenten der französischen Republik,
Charles de Gaulle im Innenhof des Schlosses Ludwigsburg am 9. September 1962.

         Der Verfasser dieser Zeilen hatte eben sein erstes Semester des Studiums der Romanistik und Anglistik in
         Tübingen hinter sich, war an diesem Tag in den Semesterferien mit einem Schulfreund im Freibad seiner zweiten
         Vaterstadt Heilbronn, und wusste genau, dass an diesem Tag in Ludwigsburg ein höchst wichtiges Ereignis
         stattfinden würde. Mit dem Fahrrad würde ich Ludwigsburg rechtzeitig nicht erreichen können, mit der
         Lambretta meines Freundes Jörg jedoch schon. Jörg war Student der Chemie und hatte mit Frankreich wenig und
         mit Französisch noch weniger im Sinn. Aber es gelang mir, ihn dazu zu bringen, dass wir mit seiner Lambretta
         nach Ludwigsburg fuhren, um uns die Rede De Gaulles anzuhören und anzusehen. Welch ein weltbewegendes
         Ereignis, diese begeisternde Rede an die deutsche Jugend als junger Mensch erleben zu können!
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       De Gaulle am 9. September 1962 im Innenhof des Schlosses Ludwigsburg.
       Einer unter diesen Zuhörern war der Verfasser.

Wie beflügelnd er redete, und vor allem, nach all dem Geschehenen, wie zukunftsweisend!
Hier ein Auszug aus deren Beginn:

       Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt, [Applaus] das heißt, Kinder eines großen Volkes.
       Jawohl, eines großen Volkes, das manchmal, im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das
       aber auch der Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Wellen gespendet hat, ein Volk
       [Applaus] ein Volk das über die Erzeugnisse ihrer Erkundigungskraft, ihrer Technik, seiner Technik und seiner
       Arbeit erreicht hat; ein Volk, das im friedlichen Werk wie auch in den Leiden des Krieges wahre Schätze an Mut,
       Disziplin und Organisation entfaltet hat. Das französische Volk weiß es voll zu würdigen, weil es auch weiß, was
       heißt, schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden. (…) Diese jetzt dann ganz natürliche Solidarität zwischen
       unseren beiden Völkern müssen wir selbstverständlich organisieren. Das ist die Aufgabe der Regierung. Vor allem
       müssen wir aber ihr einen lebenden Inhalt zu geben, und das ist insbesondere die Aufgabe der Jugend.

Welche Worte aus dem Munde des französischen Staatspräsidenten, dessen Land lange nur als der
Erbfeind bezeichnet wurde! Und ich konnte sagen, wie einst Goethe vermutlich bei der Schlacht von
Valmy am 20. September 1792, - Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus,
und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.
Um sich der Bedeutung dieser Rede De Gaulles bewusst zu werden, muss man wissen, dass er bereits
im Ersten Weltkrieg als Capitaine gegen Deutschland gekämpft hatte, dort schwer verwundet
geworden und in deutsche Gefangenschaft geraten war. Er hat mehrere Fluchtversuche
unternommen, wurde aber wegen seiner Körpergröße von 1.95m immer wieder gefangen. Nach dem
Waffenstillstand vom November 1918 kehrte er heim mit der bitteren Erinnerung, seinem Land nichts
genützt zu haben.

Nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich wurde De Gaulle im Juni 1940
zum Unterstaatssekretär für Nationale Verteidigung und zum Verantwortlichen für die Koordination
mit Großbritannien ernannt. Er lehnte er den Waffenstillstand ab, verlässt Frankreich am 15. Juni
1940 und setzt nach Großbritannien über. Dort gründete er die FFL (Forces Françaises Libres; dt.
sinngemäß: Streitkräfte für ein freies Frankreich). Von dort aus richtete er über die BBC seinen
berühmten Aufruf vom 18. Juni 1940 an alle Franzosen: Deshalb fordere ich alle Franzosen, wo
immer sie sich befinden, dazu auf, sich mir anzuschließen im Kampf, im Opfergeist, in der Zuversicht.
Unser Land ist in Lebensgefahr.
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Lasst uns gemeinsam kämpfen, um es zu retten. Die Niederlage sei nicht endgültig („Was auch immer
geschehen mag, die Flamme des französischen Widerstandes darf nicht erlöschen und wird auch nicht
erlöschen“). In Frankreich konnte man den Appell zuerst am 18. Juni 1940 um 19 Uhr hören. Er wurde
in den Zeitungen des noch unbesetzten Südfrankreich abgedruckt und in den folgenden Tagen von
der BBC wiederholt ausgestrahlt. Der Appell gilt als de Gaulles größte Rede. Régis Debray, ein
linksorientierter Philosoph und Politiker und ganz und gar nicht von der Couleur des konservativen
De Gaulles, schrieb dazu, -Auch wenn de Gaulles Appell „das Gesicht der Welt nicht verändert habe,
so habe dank ihm immerhin Frankreich das seine gewahrt.“

De Gaulle am Mikro der BBC am 18. Juni 1940

                                                           Aufruf von Charles de Gaulle an die Franzosen, die Besatzer
                                                           zu kämpfen, 1940. In der Abi-Klasse 1962 lernten wir Moi,
                                                           Général de Gaulle, actuellement à Londres, freiwillig
                                                           auswendig.

Weshalb dieser Appell?

Juni 1940: Reiter der Wehrmacht defilieren auf der Champs-Elysees im verlassenen Paris. © CORBIS.
Die Gesichter sind sprechende Bilder.

Man schaue sich nur diese beiden Bilder an, und man versteht alles. Wer jemals nach Paris kommt
und die Champs-Elysees rauf- oder runtermarschiert, der möge diese Bilder nie vergessen. Und wer
den Eiffelturm besteigt, möge auch an dieses Bild sich erinnern:
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                                                                       NS-Hakenkreuz Flagge auf dem Triumphbogen
                                                                       nach der deutschen Besetzung von Paris
                                                                       im Juni 1940

                                                                       Nach der Besetzung Frankreichs
                                                                       durch die faschistische deutsche Wehrmacht
                                                                       im Juni 1940 besucht Adolf Hitler Paris

            2. Vom Großen zum Einzelnen: die Tuller Troubadours
Mit der durch mehrere Wunder erfolgreichen Invasion der Alliierten am 6. Juni 1944 war der Krieg
noch lange nicht beendet. Was sich kurz vor dessen Ende noch ereignet hat, entnehmen wir der u.
a. der offiziellen Seite der Stadt. Wissen muss man dies:
Während des Zweiten Weltkrieges war Tulle, Hauptstadt des Départements Corrèze, wegen seiner
Waffenfabriken bekannt. Die Stadt lag in der Zone libre [das Gebiet, das nicht von den Deutschen
besetzt, sondern von dem hitlertreuen Maréchal Pétain regiert wurde.] Tulle wurde ab November
1942 von deutschen Truppen besetzt. In dieser Zeit hat sich der Widerstand in der Stadt und in der
Umgebung formiert. Die deutsche Garnison wurde exakt zum Zeitpunkt der Invasion der Alliierten ab
dem 6. Juni 1944 zwei Tage lang zu deren Unterstützung von der Résistance angegriffen; am Abend
des 8. Juni näherte sich die SS-Panzer-Division „Das Reich“ unter SS-Gruppenführer Heinz
Lammerding. Sie sollte zur Bekämpfung der Résistance eingesetzt werden. Was danach geschah, ist
in wenigen Worten nicht zu beschreiben; wer sich intensiv damit beschäftigen möchte, fange an mit
dem Studium dazu über Wikipedia 2 mit vielen weiteren Hinweisen. En peu de mots, in wenigen
Worten dies:

Am 9. Juni übte die Division „Das Reich“ massive Vergeltung an der Einwohnerschaft der Stadt für
den militärischen Erfolg des französischen Widerstandes. Als erstes verhafteten sie am Morgen alle
männlichen Einwohner zwischen 18 und 45 Jahren. Diese, etwa 2000 Mann, wurden in dem Innenhof
der Waffenfabrik MAT versammelt. Dann wurde den Einwohnern verkündet, dass aus ihren Reihen
120 Männer aufgehängt werden sollten. Die Auswahl nahm der SD-Mann Walter Schmald vor. [SD =
Sicherheitsdienst-Angehörige; diese waren gleichzeitig Mitarbeiter der Sicherheitspolizei (Kripo oder
Gestapo). Dabei berieten ihn hohe Vichy-treue Beamte [Vichy im Département Allier, eine
wunderschöne Kurstadt, war der Sitz des hitlertreuen Regimes unter Maréchal Pétain; Interessantes
dazu unter3. Hier der Schlüssel dazu:

2   https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Tulle
3   https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy
3Auch wer des Französischen nicht mächtig ist, mag sich die Bilder der Reportage unter “Le massacre de Tulle, 9 juin 1944” 52’
France 5 (teaser) on Vimeo anschauen
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        Durch Interventionen dieser Kollaborateure sank die Anzahl auf 99. Dann erhängten die
        Soldaten der Panzerdivision diese willkürlich zusammengesuchten Geiseln mitten in der Stadt
        an Balkonen und Laternen und zwangen Gruppen von Einwohnern, dem zuzuschauen. Dazu
        war unter anderem eine Gruppe von 600 zum Arbeitsdienst gehörenden Jugendlichen beordert
        worden. Während der Erhängungen hielten sich bei einem Teil des Geschehens zahlreiche SS-
        Leute auf der Terrasse eines Cafés auf. Sie tranken und vergnügten sich, wobei sie ein
        Grammophon spielen ließen, was die zum Zuschauen befohlenen Einwohner und zur
        Hinrichtung Bestimmten hörten. Danach, auch das darf nicht vergessen werden, werden 149
        Männer nach Dachau deportiert. 101 von ihnen verlieren dort ihr Leben. Tulle hat also
        insgesamt 218 Ziviltote zu beklagen.

Dieses Kriegsverbrechen, das dem Massaker von Oradour vorausging, kann man nach Meinung des
Militärhistorikers Peter Lieb noch in gewisser Weise als Kriegsrepressalie ansehen, wenn auch seiner
Meinung nach die deutschen Reaktionen übertrieben und zum Teil völkerrechtswidrig waren. Das
trifft für das einen Tag später begangene Massaker von Oradour nicht zu.

Der Ort Oradour-sur-Glane liegt etwas mehr als 100 km nordwestlich von Tulle. Dort kam die SS-
Division einen Tag später, am 10. Juni, an. Der Offizier Adolf Diekmann ließ die Bewohner auf dem
Marktplatz zusammentreiben. Die Männer wurden in fünf Gruppen unterteilt und in Scheunen
eingesperrt. Dort eröffneten SS-Angehörige das Feuer auf sie, danach wurden die Scheunen in Brand
gesetzt. Frauen und Kinder wurden in die Dorfkirche gesperrt. Die Soldaten zündeten eine
Rauchbombe am Altar. Als einige der Eingeschlossenen versuchten, sich vor dem beißenden Qualm in
Sicherheit zu bringen, wurden sie erschossen. Anschließend wurde das Kirchengebäude in Brand
gesteckt. Die über 400 Frauen und Kinder wurden in der kleinen Kirche eingepfercht. Nach etwa
eineinhalb Stunden zündeten SS-Leute eine in einer Kiste vor dem Altar befindliche Rauchbombe mit
Stickgasen, was beißenden Qualm und Panik erzeugte. Als die Fenster der Kirche barsten, wurden die
Eingeschlossenen beschossen und mit Handgranaten beworfen. Auch Fluchtversuche wurden durch
heftigen Beschuss verhindert. Schließlich wurde Feuer in der Kirche gelegt; der hölzerne Dachstuhl des
Kirchturms ging in Flammen auf und schlug schließlich durch das Dach des Kirchenschiffs auf die
eingeschlossene Menge.

Nur wenige Einwohner von Oradour überlebten. Nach dem Massaker plünderten die SS-Soldaten die
Wohnhäuser und steckten das Dorf in Brand. Die Überreste des alten Dorfes wurden nach dem Krieg
als Mahnmal erhalten. Der Ort wurde in den 1950er-Jahren in direkter Nähe neu aufgebaut.

                                                                              Ohne Worte.

                                                                              Einer der 99 am
                                                                              9. Juni 1944
                                                                              von der SS in
                                                                              Tulle Gehängten.

                                                                              Mehr Versöhnung
                                                                              ist wohl kaum
                                                                              möglich.

Oradour – sur Glane, nach dem 10. Juni 1944.
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Man mag es kaum glauben, dass einer der wenigen Überlebenden, Robert Hébras, für seine
Bemühungen um die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bekannt wurde. Hébras
wurde vielfach geehrt; unter anderem wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Genau hier nun beginnt die unglaubliche Geschichte der Aussöhnung zwischen Frankreich und
Deutschland.
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Anlass nun, vom Großen zum großen Kleinen zu kommen:

            3. Tulle und Schorndorf

Erinnern wir uns der Worte Charles de Gaulles in Ludwigsburg vom 9. September 1962:

            Diese jetzt dann ganz natürliche Solidarität zwischen unseren beiden Völkern müssen wir
            selbstverständlich organisieren. Das ist die Aufgabe der Regierung. Vor allem müssen wir aber
            ihr einen lebenden Inhalt zu geben, und das ist insbesondere die Aufgabe der Jugend.

Hier nun beginnt das unglaubliche Wunder der Entstehung der Partnerschaft zwischen Tulle und
Schorndorf. Es bedurfte keiner Organisation und keiner Regierung zur Geburt dieser Erstbegegnung.
Auf der Seite des Albvereins Schorndorf lesen wir:

            Im Jahre 1964 – also vor mehr als 50 Jahren – besuchte eine Gruppe junger Franzosen aus
            Tulle im Departement Corrèze über die Arbeitsgemeinschaft der Sing-, Tanz- und Spielkreise
            in Baden-Württemberg erstmalig Deutschland.4

Der Name dieser Truppe war Troubadours de Tulle.

            Dazu muss man wissen, dass es in der französischen Literatur des ausgehenden Mittelalters eine Richtung gab,
            die als Troubadour-Dichtung gekennzeichnet wird. Es handelt sich um eine Art Liebeslyrik, in der okzitanische
            Minnesänger etwas Neus finden [frz. trouver – finden, entdecken] oder erfinden möchten. Einer der wichtigsten
            von ihnen ist Bernard de Ventadour, † um 1200. Dessen eindrucksvolles Schloss liegt etwa 30 km außerhalb von
            Tulle.

                                                    Das Schloss Ventadour auf einer Spornlage hoch über dem
                                                    Zusammenfluss der Flüsse Ardèche und Fontaulière.

Die Troubadours de Tulle haben ihrem Ruf folgend Süddeutschland bereist und sind am 21. August
1964 auf Einladung der Albvereinsjugend am 24. August 1964 in Schorndorf in der Schlachthaus-
Gaststätte aufgetreten. Begrüßt wurden sie von dem damaligen Beigeordneten der Stadt, Herrn
Briegel.

4
    https://schorndorf.albverein.eu/unsere-treffen-mit-den-troubadours-de-tulle/
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Die Troubadours in Schorndorf anlässlich ihrer               Der Sing- und Tanzkreis des Schwäbischen Albvereins
Deutschland-Tournee im August 1964. Sie sind der             Schorndorf mit Lucien Lacombe im Vordergrund
Ursprung der Partnerschaft zwischen den Gemeinden.           Sammlung: privat 1965.
Foto: Privat

                                                                                              Das Symbol der
                                                                                              Städtepartnerschaft
                                                                                              zwischen Schorndorf
                                                                                              und Tulle im Projekt
                                                                                              «Stadt Land Rems
                                                                                              2019», ein Ross-
                                                                                              Kastanie
                                                                                              für Tulle, der im
                                                                                              Partnerschaftswäldch
                                                                                              en des
                                                                                              Remssportparks
                                                                                              gepflanzt wurde.
                                                                                              (Foto Pierre
                                                                                              COURTEIX, 2019).

Eine Geschichte ohne Ende: ein französischer Abend 2019 im
Internationalen Flüchtlingszentrum (ZIB) in Schorndorf mit der
Tanzgruppe Les Falots (Foto Thomas RÖDER, 2019).

 Und eine späte Ehrung dazu: im Juni 2019 wurden die Troubadours als Pioniere der Partnerschaft mit Tulle im Rahmen
 eines Wochenendes der Freundschaft und des Friedens mit der Daimler-Medaille der Stadt Schorndorf ausgezeichnet.
                                                Bild: BEBOP MEDIA
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Er führte die Gäste durch die Stadt, wies hin auf die vorausgegangenen Verbindungen zwischen –
Schorndorf und Frankreich, vor allem auf Karl Friedrich Reinhard hin, der unter ganz
unterschiedlichen Regierungen Frankreich diente und zuletzt zum Pair de France ernannt wurde.
Auch drückte Herr Briegel den Wunsch aus, dass nach der Öffnung der deutsch-französischen Grenze
vielleicht auch an eine Freundschaft zu denken sei. Am Abend wurde auf dem Marktplatz getanzt und
gesungen, und in der Gaststätte danach noch lange in die Nacht hinein gefeiert. Dabei muss es so
herzlich zugegangen sein, dass im Jahr danach ein Gegenbesuch stattfinden konnte mit Brief und
Geschenk des damaligen Bürgermeisters Bayler [erst ab dem 1. Januar 1967, nach der Ernennung zur
Großen Kreisstadt, erhielt der gewählte Chef der Verwaltung den Titel Oberbürgermeister]. Empfang
und Aufnahme in Tulle waren überaus herzlich, und zukunftsweisend der Empfang auf dem Rathaus
in Anwesenheit sämtlicher Honoratioren der Stadt. Es war ein geschichtlicher Tag, denn solch ein
Empfang hatte in Tulle zuvor noch nie stattgefunden. Herr Nübel wurde von Bürgermeister Cane zu
einem Privatbesuch eingeladen, und dort entstand der Gedanke an eine Städtepartnerschaft.
Wesentlichen Anteil dabei muss Lucien Lacombe gehabt haben; der damals nicht nur Präsident der
Tuller Troubadours, 5 sondern auch Vorsitzender der Anciens Combattants war (Vereinigung der
ehemaligen Kriegsteilnehmer; diese hatten in der Nachkriegszeit einen hohen politischen
Stellenwert).

Die Schorndorfer Nachrichten vom 18. 8. 1965 zitieren aus der Tuller Rede Lucien Lacombes:

         Nicht nur der Mund darf sprechen, sondern das Herz aller muss mitreden, um die
         zurückliegenden schwarzen Jahre durch den brüderlichen Händedruck deutscher und
         französischer Jugend zu überdecken.

Welche Worte nach so dunkler Vergangenheit! Monsieur Lacombe schloss mit den Worten – Vive
l’amitié franco-allemande – Es lebe die deutsch-französische Freundschaft.
Bereits 1972 kam Lucien Lacombe zusammen mit vier weiteren Mitgliedern ehemaliger Kämpfer,
Deportierten und Widerständler - Charles MONTAGNAC, Robert LORNAC und Albert THOMAS) nach
Schorndorf. Dieser Besuch war quasi die Absegnung von höchster Stelle für einen weiteren Ausbau
der Partnerschaft. Entsprechend fand einen Monat später der Gegenbesuch des Verbandes der
Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands statt.

Als meine Frau Dorothea Brauch –Horch und ich die Erste Musik- und Tanzvereinigung im Sommer
1977 als Dolmetscher nach Tulle begleitet haben, da konnten wir bei einem von 13 - 17 Uhr

5Laut einer Nachricht in den Schorndorfer Nachrichten vom 8. Mai 1989 trat die Gruppe noch einmal in alter Besetzung in Schorndorf
auf. Das Alter war an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen, die Kostüme mussten in der Taille erweitert werden. Leider hat sie sich in
der Zwischenzeit aufgelöst.
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dauernden Mittag(!)essen hoch oben über Tulle den Charme, den Kenntnisreichtum und die brillante
Rhetorik von Lucien Lacombe erleben. Es war ein ganzes Semester in französischer Geschichte,
Rhetorik, Gestik und unglaublicher Menschlichkeit in nur vier Stunden. Leider wussten wir damals
nichts um seine historische Rolle; hätte er sie auch nur mit einer Silbe erwähnt, hätte das Gespräch
bestimmt lange in die Nacht hinein gedauert. Er war vornehm und zurückhaltend genug, um nicht
neue Wunden aufzureißen.

Mit Fug und Recht können diese Worte eines geschichtserfahrenen, hell- und weitsichtigen Mannes
als der Beginn der Bande zwischen Tulle und Schorndorf betrachtet werden. Die Volkstanzgruppe
erhielt in Abwesenheit von Bürgermeister Montalat einen Brief von dessen Stellvertreter Gane einen
Brief an den Bürgermeister der Stadt Schorndorf, der nach vielen Worten des Dankes auch eine
Einladung an Herrn BM Bayler nach Tulle enthielt. Auch der Gemeinderat der Stadt von diesem
bedeutenden Besuch unterrichtet. Soweit die Schorndorfer Nachrichten vom 18. August 1965.

Gut Ding will Weile haben, sicher auch in Schorndorf, aber wenn es brennt, dann kommt die Feuer-
wehr zu Hilfe. Bevor diese aber das Feuer einmal nicht löscht, sondern so recht entfacht, ein kleiner
Blick zurück in die Geschichte, um diese Partnerschaft aus Gold noch besser zu verstehen und
einschätzen zu können.

       3. Historisches zu Tulle und Schorndorf

Eingangs wurden die Worte Charles de Gaulles aus dem Londoner Exil erwähnt. Er war Teil der
französischen Résistance, die keine Einheit bildete, sondern in sehr viele, auch lokal sehr verteilten
Untergruppen ganz unterschiedlicher politischer Couleur organisiert und in drei verschiedenen
Dachorganisationen unterteilt war. All diese muss man nicht kennen; gut zu wissen aber ist es, dass
es nach dem Krieg Nachfolgeorganisationen gab, die auch in Tulle ihren Sitz hatten. Es waren dies der
Verband der Deportierten, die der Alten Kämpfer und der Ehemaligen Widerstandskämpfer. Sehr
wichtig zu wissen ist es, dass vier Vertreter dieser Organisationen der Stadt Schorndorf im Oktober
1972 einen Besuch abstatteten, in dem sie sich bei einem Empfang auf dem Rathaus durch OB Bayler
für freundschaftliche Bande und Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen einsetzten. Wer
auch immer nach Tulle fährt und wer für die Partnerschaften Schorndorfs sich interessiert, der sollte
sich dessen bewusst sein. Wann je in der Geschichte ist es vorgekommen, dass das Opfer nach so
viel Leid und so unglaublichen Verbrechen seine Hand zu Versöhnung ausgestreckt hat? Lucien
Lacombe hat es auf den Punkt gebracht: die Generation des Feuers werde dieses Ziel erreichen
(Schorndorfer Nachrichten vom Di 17. Oktober 1972).

Nun zurück aber zur Feuerwehr. Feuerwehrkommandant Wilhelm Dobler hat bei einem
internationalen Wehr-Treffen in Frankreich bereits im Jahre 1961- also schon VOR der Rede De
Gaulles in Ludwigsburg – mit einem Wehrkameraden aus dem Limousin Bekanntschaft gemacht.
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Walter Tinsel, Wilhelm Dobler, Raymond Guignard. © Schorndorfer Nachrichten.

Im Mai 1966 besuchte er den Commandant Guignard in Tulle, und auch aus dieser Begegnung
entstand echte Freundschaft zwischen den Wehren. Zum Kreisfeuerwehrtag 1966 kam eine Tuller
Delegation unter Leitung des StV Tuller Bürgermeisters Marouby und eben auch des Kommandanten
Guignard. Auch hier wurde bei einem offiziellen Empfang auf dem Schorndorfer Rathaus der Wunsch
nach einer offiziellen Basis dieser Beziehungen bekundet. Sie ließ nicht lange auf sich warten: nach
einem Gegenbesuch der Wehr im Oktober 1967 in Tulle mit einem offiziellen Empfang unter
Bürgermeister Montalat, der zugleich, französischer Tradition entsprechend, Bürgermeister und
Abgeordneter in der Französischen Nationalversammlung und als solcher gleichzeitig Vizepräsident
der Französischen Nationalversammlung war, traf sich 1968 OB Bayler mit Jean Montalat im Palais
Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung in Paris. Welche Ehre!

Oberbürgermeister Bayler und Député-Maire Montalat mit Begleitungen
am 22. März 1968 im Palais Bourbon. © Schorndorfer Nachrichten.

Bis dahin war es die Auffassung der Stadtverwaltung gewesen, eine Partnerschaft sollte die
Angelegenheit der gesamten Bevölkerung und der Vereine und nicht nur behördlich angeordnet und
von oben organisiert sein; die Zeit war reif, der Schorndorfer Gemeinderat beschloss, eine
Städtepartnerschaft mit Tulle einzugehen, und am 28. Juni 1969 unterzeichneten Bürgermeister
Jean Montalat und Oberbürgermeister Rudolf Bayler auf dem Schorndorfer Marktplatz unter großer
Anteilnahme der Schorndorfer Bevölkerung die Partnerschaftsurkunden zwischen den beiden
Städten.
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                                                                          Was die wohl für mich machen?

  Stuttgarter Zeitung vom 30. 6. 1969. Deren Kommentar bringt es auf den Punkt:
  Eine schönere Kulisse als von den Fachwerkhäusern eingefassten Markplatzes konnte man sich für die
  Partnerschaftsfeiermit der französischen Stadt Tulle kaum denken. © Schorndorfer Nachrichten.

Hier wurde endlich wahr, was von Tulle aus schon lange erwünscht worden, auch von Schorndorfer
Vereinen, von der Feuerwehr und Privatpersonen ersehnt worden war:

III. Die Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags.

    Jean Montalat und Rudolf Bayler tauschen die    Ein kleiner Gedenkstein erinnert an diese Unterzeichnung. Der
    Urkunden aus.                                   Platz vor dem Kindergarten Aichenbach heißt nun Tuller Platz.

    Beide Bilder © Schorndorfer Nachrichten.

       1. Wegbereiter

Der Weg war nun gebahnt, das von den Troubadours gelegte Korn war aufgegangen und das Tor
offen für Versöhnung und Begegnungen aller Art. Waren Musik, Tanz und Folklore Auslöser einer
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keimenden Freundschaft, so zog die Unterzeichnung dieses Vertrages gleich einem großen schweren
ins Wasser geworfenen Steines viele weitere Kreise. Zehn Jahre sind schnell vergangen, und zu
diesem Zehnjährigen Jubiläum erinnern die Schorndorfer Nachrichten an wichtige Stationen und
neue Begegnungen.

1971 kommt der Tuller Bürgermeister Jean Montalat durch einen Unfall um sein Leben. Zur
Trauerfeier fährt eine Schorndorfer Delegation nach Tulle. Im Januar 1972 wird in Schorndorf ein
Partnerschaftskomitee gegründet, und der neue Tuller Bürgermeister Georges Mouly lädt ein zu
einer Partnerschaftsrückfeier im selben Jahr. Georges Mouly selbst kommt im Juli 1973 nach
Schorndorf. Im September 1977 feiern der Tuller Bischof Brunon und der Weihbischof Kuhnle eine
gemeinsame Messe in Schorndorf. 1979 wird in Tulle gemeinsam gefeiert, und drei Jahre später,
1981, wird die Gegenzeichnung des Vertrags in Schorndorf begangen. 1985 besucht der neu gewählte
Schorndorfer OB Reinhard Hanke Tulle und legt am Grabmal der Märtyrer einen Kranz nieder. (Es sei
hier ins Gedächtnis gerufen, dass der Gang dorthin für alle Schorndorfer nicht als Pflichtveranstaltung,
sondern als Bekenntnis zur Geschichte und als Ehrerbietung an die Märtyrer betrachtet werden soll).
1987 wird die Stadt Schorndorf vom Europarat ausgezeichnet für das große Engagement für die
deutsch – französische Freundschaft. Die Stadt erhält die Ehrenfahne des Europarats.

                                                              Links der Kopf eines hochinteressanten
                                                              Dokuments, das im Internet unter
                                                              https://rm.coe.int/09000016807abcd4
                                                              eingesehen werden kann.

                                                              Darin werden schon anno 1982 die
                                                              zahlreichen Schorndorfer
                                                              Begegnungsmaßnahmen aufgezählt, die der
                                                              Stadt für diese Auszeichnung würdig machen.

                                                              Darin werden auch die Aktivitäten des Club
                                                              Euro 80 aufgezählt. Ihm wird ein besonders
                                                              Kapitel gewidmet.

Nun werden die Sportler aktiv: 1989 findet in Tulle eine Pfingstolympiade statt, und zwei Monate
später organisiert der Tulle-Athletik-Club einen Partnerschaftslauf Tulle – Schorndorf. Im Mai
desselben Jahres erneuern die Stadtoberhäupter Jean Combasteil und Reinhard Hanke den Bund der
Freundschaft zwischen den beiden Städten. BM Combasteil kommt im Dezember nach Schorndorf,
um das 20-jährige Jubiläum vorzubereiten und auch, um den Schorndorfer Weibern seine Reverenz
zu erweisen. Er vergleicht, leicht übertrieben, sie mit der Nationalheldin Jeanne d’Arc und hofiert sie
mit dem Gedanken, ihrem Charme erliegen zu können.
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 Mit ihrer Unterschrift erneuerten 1989 Oberbürgermeister
 Reinhard Hanke und das Tuller Stadtoberhaupt Jean
 Combasteil (im Vordergrund links) den Freundschaftsvertrag.
 Beim Festakt in der Stadthalle „Impasse Latreille“
                                                               Sie herzten und sie küssten sich. Schiller und
 waren auch offizielle Vertreter der beiden Städte anwesend.
                                                               Beethoven freuen sich: Seid umschlungen
 Eine Delegation von 200 Einwohnern aus Tulle kam vom 4. bis
                                                               Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!
 8. Mai 1989 nach Deutschland. © Schorndorfer Nachrichten.

Bevor wir offizielle Begegnungen vorläufig verlassen, muss unbedingt ein Ereignis erwähnt werden,
über das die Schorndorfer Nachrichten am 17. Oktober 1972 berichten. Das war, zur Erinnerung,
schon drei Jahre nach der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags.

       Um dies besser verstehen zu können, sei daran erinnert, dass Ressentiments gegen Deutsche
       nicht von heute auf morgen per Vertrag oder Dekret ausgelöscht werden konnten. Menschen
       und Familien haben ihr eigenes unauslöschliches Gedächtnis. Ein Beispiel: meine Frau und
       ich durften auf Einladung der Familie Inge und Wolfgang Beck die heute unter dem Namen
       bekannte Erste Schorndorfer Musik- & Tanzvereinigung e.V. vom 23. – 31. Juli 1977 als
       Dolmetscher begleiten. 32 junge Musiker und Tänzerinnen machten sich mit Begleitpersonal
       nach vielen Vorbereitungen mit Hoffnungen und kleinen Ängsten auf den Weg nach Tulle. Sie
       wurden herzlichst empfangen und hatten viele Auftritte in Tulle und um Tulle herum. Bei einem
       der Auftritte auf einem der umliegenden Dörfer rief ein mit Unterhemd bekleideter
       Mann laut aus dem Fenster heraus – A bas les boches (dt. ‚Nieder mit den Deutschen‘, wobei
       ‚boche‘ als eine diffamierende Bezeichnung gesehen werden muss).

„Hass durch Freundschaft ersetzen“ war einer der Titel eines Berichtes der Schorndorfer Nachrichten
vom 17. Oktober 1972 über den bemerkenswerten Besuch der Verbände der Ehemaligen
Deportierten und der Alten Kämpfer aus der Widerstandsbewegung. Wieder dabei war der großartige
Lucien Lacombe, gleichzeitig Präsident der Widerstandskämpfer und Vorsitzender der Troubadours.
Sie seien gekommen, um zur Völkerverständigung, zur Versöhnung zwischen Deutschen und
Franzosen und zur Vertiefung der freundschaftlichen Bande zwischen beiden Völkern sich
einzusetzen. Die Generation des Feuers, so Lacombe, werde dieses Ziel erreichen.
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   2. Weitere Wegbereiter

Neben den bereits Genannten sollen hier einige weitere Wegbereiter erwähnt werden, die dazu
beigetragen haben, aus dieser ganz ungewöhnlichen Partnerschaft eine Jumelage d’Or – eine
Goldene Partnerschaft zu machen.

       1. Dr. Hans Scheerer - Schulleiter des MPGs von 1955-1976

                                                                Dr. Scherer 1972 in Tulle anlässlich einer
                                                                Fahrt mit einer Schülergruppe zusammen
                                                                mit Ferdi Bucher †, Walter Stößer und Klaus
                                                                Bergmann †.
                                                                Ganz rechts vermutlich Burghild Reble.

Herrn Dr. Scheerer kommt das große Verdienst zu, als einer der ganz Ersten den Ausgleich und die
Versöhnung mit Frankreich gesucht zu haben. Schon nach seinem Dienstantritt 1955 am damaligen
Gymnasium Schorndorf hatte er versucht, über den Rat der Gemeinden Europas einen geeigneten
Partner zu finden. Die Zeit war noch nicht ganz reif dazu, und so musste er warten auf den glücklichen
Besuch der Troubadours, die alles in Gang gebracht und den Grundstein gelegt hatten. Einen anderen
Grundstein hat er im Lehrplan seiner Schule gelegt: das Fach Französisch war privilegiert insofern, als
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es doppelt angeboten wurde, ab Klasse sieben als Zweite Fremdsprache und auch nach Klasse neun
als Dritte Fremdsprache. Für Romanisten waren das wahre Eliteklassen, die durch ihren
Lateinunterricht die Grundlage des Französischen schon in sich hatten und die sich nun auf das
Abenteuer einer freiwilligen Dritten Fremdsprache einließen. In den späten 90er Jahren wurde dies
zugunsten von Spanisch als Dritter Fremdsprache aufgegeben. Als Französischlehrer mag man, als
Romanist darf man nicht darüber heulen.
In Monsieur de Miceli als dem Leiter des Lycée Edmond – Perrier in Tulle fand er einen gleichgesinnten
Partner. Die Fahrt 1974 – gut Ding will Weile haben, aber steter Tropfen und zähes Bemühen höhlen
den Stein - mit einer großen Gruppe des Orchesters unter Leitung von Gymnasialprofessor G. Weitzel
und einer starken Turnerinnengruppe unter der Leitung von Frau Else Scheerer war ein voller Erfolg
und für Dr. Hans Scheerer sicher der Höhepunkt all seiner Bemühungen.
Seither gehört der Austausch mit Tulle zum Schulleben des Max-Plank-Gymnasiums. Frau Brigitte
Cajar wird Näheres darüber berichten.

Mit Dr. Scherer anno 1974 auf dem Weg nach Tulle.      Else Scherer, Dr. Hans Scherer, Proviseur de Miceli,
Bilder: Dr. Erich Brauch                               unbekannt

        2. Abbé Sierra (1936 – 2014)

                                     soll hier an erster Stelle erwähnt werden. Er war es, der den
                                     wagemutigen Jugendlichen des Clubs Euro 80 anno 1973 geholfen
                                     und der auch die Partnerschaft zwischen dem Burg-Gymnasium und
                                     der katholischen Privatschule Sainte-Marie auf den Weg geholfen
                                     hat. Abbé Sierra handelte aus Überzeugung: Er war 1936 mitten im
                                     Spanischen Bürgerkrieg im Süden Madrids geboren, musste mit
                                     seiner Familie im Alter von zehn Jahren fliehen und landete in Tulle.
                                     Er fühlte sich berufen und wurde 1961 zum Priester geweiht. Nach
                                     Studien in Clermont-Ferrant, Toulouse und Paris kam er wieder
                                     nach Tulle und wird sozial aktiv. Er gründete ein Jugendzentrum und
                                     kümmerte sich um die damaligen Immigranten aus Portugal und
                                     Algerien. 2011 konnte er sein 50-jähriges Priesterjubiläum feiern.
                                     2014 ist er im Alter von 78 Jahren in Bayonne verstorben.
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        3. Abbé Espinasse (1906 – 1993)

Abbé Espinasse ist ein weiterer Leuchtturm in den Beziehungen zwischen Tulle und Schorndorf mit
noch tieferen lokalen und historischen Bezügen. Er war Priester in verschiedenen Gemeinden des
Départements Corrèze und schließlich in Tulle. Am Tag der Erhängungen wurde er gegen 9:30 Uhr in
seinem Haus festgenommen und gebeten, den Opfern geistlich beizustehen. Er hat danach darüber
mehrere Bücher geschrieben und wurde 1970 für seine Verdienste von Präsident Jacques Chirac mit
dem Band der Légion d’honneur ausgezeichnet.

                                          Bild auf dem Titelblatt des Buchs Tulle 9 Juni 1944. Zeugnisse.
                                          Der Priester der Gehängten ISBN 978-2-87316-031-9

                                                                          Eintrag auf der Grabesplatte

Hier wird im Mai 1970 Jean Espinasse von Jaques Chirac mit dem Band der Légion d’honneur ausgezeichnet.
Foto http://pec9juin.free.fr/Tribune/Images/karheuser/Tull%20kapitel_ok.pdf
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Eine ganz andere Version lesen wir bei Bruno Kartheuser in dessen Buch WALTER, AGENT DU SD À
TULLE Tome 4 LES PENDAISONS DE TULLE, ISBN 978-2-87316-031-9 © Edition KRAUTGARTEN.
Neundorf 2008. Kartheuser bestreitet vehement die positive Rolle des Abbé Espinasse. Wer sich
dafür interessiert, mag weiterlesen unter TULLE ED-KAPITEL-FR: Layout 1 07.01.2009 15:15 Uhr Seite
196. Im November 2014 hielt er in Schorndorf einen Vortrag.6

           4. Walter Tinsel

Ohne irgendjemand anderem unrecht zu tun, der sich um diesen Austausch bemüht und ihn
gefördert hat, muss an dieser Stelle an Walter Tinsel, damals leitender Geschäftsführer der
Schorndorfer Firma Mingori, erinnert werden. Er war von Anfang an ein glühender Förderer und
Befürworter der Partnerschaft mit Tulle.

Meist fein im Nadelstreifenanzug: Walter Tinsel (ganz rechts) m Gespräch mit den Bürgermeistern
Georges Mouly und Rudolf Bayler.

Sehr gut kann ich mich an seinen Pausenauftritt im Lehrerzimmer des MPGs erinnern, als er im
Kollegium und vor allem bei uns Romanisten mit glühenden und eifrigen Worten, teilweise in
exzellentem Französisch, für die Aufnahme eines Austausches mit dem Lycée Edmond- Perrier warb.
Ebenso warb er im Burg –Gymnasium und an der Gottlieb-Daimler-Realschule Schorndorf –
erfolgreich, wie das Bild unten lebhaft belegt.

6
    nachzulesen unter http://www.krautgarten.be/kg65/schondorf_21nov14.pdf.
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 Wieder hat Walter Tinsel den Weg erfolgreich bereitet – hier den zum Austausch zwischen dem Burg-Gymnasium und
 dem Lycée Sainte-Marie Jeanne d’Arc in Tulle. Dies ist eine wahrlich historische Aufnahme aus dem Lehrerzimmer
 des Burg-Gymnasiums im März 1977. Walter Tinsel steht am Fenster als Zweiter von links. Manche Leser werden alte
 Gesichter erkennen; in der Reihenfolge von links nach rechts den Kunstlehrer Hans-Martin Maier (†), Schulleiter OStD
 Lothar Freudenberg, Frau Brauch-Horch, der Schulleiter des Lycée Sainte – Marie, Daniel Watremez, sitzend Rüdiger
 Lenz† und Frau Jeserich, Kollegin und Kollege aus Tulle mit Ulrich Theurer und Peter Gröger (†) dahinter, sitzend Frau
 Ingeborg Stark, und ganz rechts Martin Ebinger (†).Ganz vorne links sitzend Frau Helga Bucher. Zu beachten auch der
 Übergang der Mode: Der Schulleiter aus gegebenem Anlass mit Krawatte, ebenso der ältere Herr ganz links, und der
 Rest dieses ziemlich jungen Kollegiums einer kurz zuvor gegründeten Schule ganz leger. Ubi sunt qui ante nos…?

Walter Tinsel war nicht nur Motivator, Organisator und Vorsitzendes Partnerschaftsvereins, sondern
hat auch selbst hat als Chef der Firma Mingori GmbH einer Studentin der Universität von Limoges
einen Platz als Praktikantin angeboten. Françoise Racle aus Tulle war im Frühjahr 1977 Praktikantin
in seiner Firma. Dabei ging es wahrlich ans Eingemachte: wer meistert schon schwierige
Übersetzungen technischer Abhandlungen über elektronisch gesteuerte Rohrbiegemaschinen? Im
Studium der Romanistik lernt man das nicht; dazu muss man nach Schorndorf zu Herrn Tinsel mit
dessen ausgezeichneten Sprachkenntnissen kommen.
Was hat Walter Tinsel bewegt, sich derart leidenschaftlich für Versöhnung und Austausch
einzusetzen? In einem Gespräch mit seiner Tochter, Frau Cornelia Dieterle, kam folgendes zutage: er
war im Grenzland des Elsass zweisprachig aufgewachsen, sprach Französisch fast wie eine zweite
Muttersprache, war von Stuttgart nach Schorndorf zur Firma Mingori aufgrund eben dieser seiner
Sprachkenntnisse berufen worden, war tätig für die Städte Fellbach und Winnenden bei deren
Vorbereitung der Partnerschaften zwischen Tain l’Hermitage im Rhônetal und Albertville in Savoyen.
In Schorndorf war er bestens liiert, kannte wichtige Persönlichkeiten wie den Sozialdemokraten
Gottlob Kamm und auch die Christdemokraten Johann Philipp Palm wie auch den ehemaligen
Oberbürgermeister von Fellbach und späteren Landtagsabgeordneten Guntram Palm. Wenn
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irgendjemand unangemeldet von Tulle nach Schorndorf kam, hat er sie bewirtet und beherbergt und
hatte dabei immer auch den finanziellen Rückhalt seiner Firma. Er hat sich für Versöhnung und
Austausch verausgabt und erhielt in den 70er –Jahren dafür die Daimlermedaille der Stadt
Schorndorf.
Ein Tropfen Wermut ist leider auch dabei: der wurde Herrn Tinsel in das Glas seiner philanthropischen
Bemühungen gegossen. Die Schorndorfer Nachrichten vom 21. 9. 1977 berichten darüber. Nichts
Genaues weiß man darüber nicht; es ging um den Besuch einer Schorndorfer Delegation zur Feier
des zehnjährigen Jubiläums in Tulle, bei dem verschiedene Schorndorfer Gruppen auf
unterschiedlichen Wegen nach Tulle gelangen wollten. Leiter der Delegation war OB Bayler, aber der
war zum offiziellen Termin unauffindbar. Er sei im Café Globe, dem üblichen Treffpunkt in Tulle,
hängen geblieben. Walter Tinsel hat das in der Zeitung veröffentlicht, wurde prompt danach vom OB
vorgeladen und – undiplomatisch und sicher völlig ungerechtfertigt - mit Vorwürfen abgestempelt
und heruntergeputzt. Walter Tinsel stellte dann ab sofort sein Amt als Präsident des
Partnerschaftskomitees zur Verfügung (SN, 21.9.1977). Er fühlte sich sicher zu recht allertiefst
beleidigt und wollte das Theater mit dem Oberbürgermeister nicht mehr länger mitmachen.

           5. Guy Jean-Pierre PLAS
                                          (*Brive1955 - † 2018 in Tulle) für Tulle. Ein viel zu früh
                                          Verstorbener, der die Früchte seiner Arbeit nicht mehr voll
                                          genießen konnte. In der Broschüre zum 50-jährigem
                                          Jubiläum lesen wir über ihn u.a., dass er der Vorsitzendes
                                          des Tuller Partnerschaftsvereins war, dass sein erster
                                          Aufenthalt in Schorndorf 1981 stattgefunden hat und das er
                                          danach in ganzen 37 Jahren seine zweite Heimat, seine
                                          Zwillingsschwester Schorndorf 36mal besucht hat, um
                                          anderen den Weg dorthin zu bereiten. Er war Gelehrter und
                                          Kulturfan, in dessen Augen Kunst, Geschichte, Alltag und
                                          Reisen eng zusammenhingen. Wie wahr, möchte man da
                                          wohl sagen! Seine zahlreichen Schorndorfer Freunde traf er
zum letzten Mal im Mai 2018. Die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum konnte er nicht mehr
miterleben. Bereits 1994 hatte er die Partnerschaftsmedaille, später auch die Daimlermedaille der
Stadt Schorndorf erhalten. Im Jahre 2015 wurde er vom deutschen Konsul in Bordeaux für seine
Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft ausgezeichnet. Er sprach sehr gut Deutsch und
war ein wichtiger Ansprechpartner für die hiesige Stadtverwaltung und den Partnerschaftsverein
unter anderem im Zusammenhang mit der Planung für die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum
der Städtepartnerschaft die schon in vollem Gange waren. Seine Aufgeschlossenheit, seine gute
Laune, seine Kenntnisse in der deutschen Geschichte haben die Geschichte des Partnerschaftsvereins
geprägt. Er wird immer ein beispielhafter Verfechter für die europäische Idee für alle, die sich für diese
Idee begeistern, bleiben.7

7
    PV Schorndorf e.V. - Partnerschaftsverein Schorndorf e.V. - Home (pv-schorndorf.de)
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   IV.      1994: 25 Jahre Städtepartnerschaft Schorndorf Tulle

       1. Erreicht

         In der Broschüre gleichnamigen Titels berichten u.a. OB Winfried Kübler, BM Jean Combasteil,
         Georges Delord (Vorsitzender des Partnerschaftskomitees Tulle – Schorndorf), Thomas Röder
         (heute 1. Vorsitzender des Vereins zur Förderung der internationalen Partnerschaften
         Schorndorfs e. V. und einst Vorsitzender des Clubs Euro 80). Später mehr zu ihm.

                                                             Auszug aus der Broschüre der von der
                                                             Stadt Schorndorf herausgegebenen
                                                             Broschüre zum 25- jährigen Jubiläum
                                                             der Partnerschaft und des
                                                             Freundschaftsvertrags mit Tulle.

Er hatte sich nach der spontanen Fahrt von 17 Jugendlichen des Club Euro 80 nach Tulle um die
Fortsetzung des Austausches gekümmert und in Tulle selbst anno 1973 den Tuller Euro 80 gegründet.
Gleich im Juli dieses Jahres kamen 40 Tuller Jugendliche nach Schorndorf.

Heute (Stand Anfang 2021) hat es einen Austausch zwischen dem Burg-Gymnasium und dem Collège
Janson de Sailly in Paris im vornehmen 16. Arrondissement gegeben. Die Gewerblichen
Berufsschulen Schorndorfs informieren sich 1979 bei den Kollegen der Staatlichen Berufsschulen
über das Berufsschulwesen in Frankreich. Im selben Jahr kann bereits das Zehnjährige Jubiläum
dieses Austausches begangen werden. Gefeiert wird vielfältig sowohl in Tulle als auch in Schorndorf.
Ca. 50 Mitglieder der Stadtverwaltung, des (damaligen) VfL Schorndorf und – wie immer –der
Feuerwehr erlebten in französischen Familien Gastfreundschaft am eigenen Leib. Im Schorndorfer
Rathaus gab es am Sonntag den 16. September 1979 eine schlichte Feier dazu. Sicher neu und
unerwartet für Schorndorf war der 1977 zum Bürgermeister von Tulle gewählte Jean Combasteil. Er
war Kommunist.
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                                                                      Bürgermeister Jean Combasteil und
                                                                      OB Reinhard Hanke bei der
                                                                      Erneuerung des Freundschafts-
                                                                      vertrages in der Stadthalle von Tulle.

Dazu muss man wissen, dass die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) in der Nachkriegszeit einen
anderen Stellenwert als die damalige Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte; die PCF war
am Widerstand gegen die deutsche Besatzung zwischen 1939 und 1944 beteiligt gewesen, während
die westdeutsche KPD auf Betreiben der Regierung Adenauer im August 1956 vom
Bundesverfassungsgericht verboten wurde. Hinsichtlich des sicher gewöhnungsbedürftigen
Umgangs mit Kommunisten im eher bürgerlichen Schorndorf gab es hinsichtlich der Versöhnung und
der Freundschaft keine Grenzen.

In den Schorndorfer Nachrichten vom 14. Juni 1982 lesen wir die Überschrift „Bayler und BM
Combasteil küssten und herzten sich“. Dabei war auch der neu gewählte OB Reinhard Hanke, der
sich bei dieser Zeremonie vornehm zurückhielt. Er selbst empfing im November 1983 eine Delegation
der kommunistischen Rathausfraktion von Tulle. Deren Leiter war der Stellvertretende
Bürgermeister Tulles, Jacques Fraysse. Das war der Herbst 1983, als in der alten BRD mehr als eine
Million Menschen gegen den Doppelbeschluss der NATO protestierten. Auf der nahen Mutlanger
Heide demonstrierten Walter Jens und Heinrich Böll, und dass im nahen Schorndorf auch darüber
diskutiert wurde – wen wundert es? Einig in Schorndorf war man sich darüber, dass Faschismus nicht
ein zweites Mal entstehen solle, dass aber, so OB Hanke, die Wege und Standpunkte verschieden
seien.8 Mit dabei bei dieser Diskussion war das DKP – Mitglied Lothar Letsche, der wegen seiner
Mitgliedschaft nicht als Lehrer in Baden-Württemberg aufgrund des damals herrschenden
Radikalenerlasses unterrichten durfte. Wer sich für diesen Themenkreis interessiert, möge
nachschauen unter9. Ebenso locker sah dies OB Hankes Nachfolger OB Winfried Kübler.

8
    Schorndorfer Nachrichten vom 2. November 1983
,

9
    http://www.berufsverbote.de/tl_files/docs/F-Letsche-Website.pdf
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        2. Wer hat sich noch am Austausch sich beteiligt?

Nachdem die gewählten Häupter beider Städte dem Gedanken des Austausches den äußeren
Rahmen gegeben hatten, erfüllte volles Leben rasch Raum und Zeit. Erwähnt werden sollen alle
Bürgermeister und Oberbürgermeister, die dies ermöglicht haben. In Tulle waren es Jean Montalat
(1959 bis zum Unfalltod 1971), dann Georges Mouly (1971 – 1977), danach Jean Combasteil (1977 –
1995), danach Raymond-Max Aubert (1995 – 2001), es folgte François Hollande von 2001 – 2008,
später Präsident der Republik von 2012 – 2017, und dann kam Bernard Combes im Jahre 2008. Er
sitzt noch heute (Stand November 2020) auf seinem Sessel.

Alter Charmeur: Frankreichs neuer Präsident Hollande          Beim Gedenkmarsch in Tulle: Schorndorfs OB Klopfer war
war im Jahr 2003 im Schorndorfer Stadtmuseum.                 am 13. Juni 2016 dabei, als Staats-präsident Fr. Hollande
                                                              mit BM Bernard Combes und Tausenden von Tuller Bürgern
Foto: AP
                                                              beim Gang durch die Stadt der Erhängungen vom 9. Juni
                                                              1944 gedachte. © Jamuna Siehler

Ein wahrhaft historischer Augenblick: Schorndorfer Ausstellungsmesse 2003. François HOLLANDE, Bürgermeister von
Tulle, machte die Reise mit einer Tuller Delegation, sie besuchten zusammen den Tuller Info-Stand. (Foto Frank BARRAT-
ARNAL, 2003) Links OB Kübler, in der Mitte BM Hollande, rechts Frau Heiderich. Sie war als Dolmetscherin immer zur Stelle
und hat in den Schorndorfer Nachrichten über Neues aus Tulle immer berichtet.
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                                                                   Im Schorndorfer Heimatmuseum zeigen die
                                                                   Schorndorfer Weiber Politikern ganz
                                                                   unterschiedlicher Couleur, wo’s lang geht: dem
                                                                   Sozialisten François Hollande, dem Konservativen
                                                                   Winfried Kübler und dem Kommunisten Jean
                                                                   Combasteil. Und wie gefügig sie dastehen!
                                                                   Barbara Künkelin hätte ihre wahre Freude an
                                                                   ihnen.

                                                                   So funktioniert gute Partnerschaft über alle
                                                                   Grenzen hinweg!

Bild: Broschüre Tulle – Schorndorf. 50 ans d’amitié.
Online Einsehbar unter ww.schorndorf.de › stadtnachrichten › stadtnachrichten

         3. Der Club Euro 80

Der Name dieses heute nicht mehr existierenden Clubs wurde bereits erwähnt. In der Broschüre der
Stadt Schorndorf zum 25-jährigen Jubiläum des Austausches berichtet Thomas Röder selbst. Hören
wir ihm sinngemäß zu:
In Fortführung und Konkretisierung des Appels De Gaulles an die Deutsche Jugend fuhren im Juni
1972 17 Schorndorfer Jugendliche auf eigene Faust während der offiziellen Feierlichkeiten zur
Gegenzeichnung des Partnerschaftsvertrages nach Tulle. Sie wurden integriert in das offizielle
Rahmenprogramm und waren sich rasch darüber einig, dass dieser Besuch keine Eintagsfliege bleiben
könne. Der Club Euro 80 wurde spontan gegründet, und ein Jahr später erfolgte unter der Ägide des
Abbé Sierra (1936 – 2014) die Gründung des Euro 80 in Tulle. 1974 begannen die Begegnungen: 40
Tuller kamen nach Schorndorf, 15 Schorndorfer fuhren nach Tulle. 1975 war der Ausgleich geschaffen
– je 40 Teilnehmer fuhren hin und her. In unterschiedlicher Weise ging dies so weiter. 1978 konnte
ein eigener Clubraum in der alten Manufaktur in der Gmünder Straße erworben und hergerichtet
werden. Viel wurde dort referiert, diskutiert, musiziert und kulinarisch gegessen und sicher auch
getrunken. 1981 erhielt der Club für seine nicht nur auf Tulle, sondern auf ganz Europa
ausgerichteten Aktivitäten den Europapreis des Landkreises Rems – Murr 10 . Die Schorndorfer
Nachrichten vom 19. 2. 1987 berichten über eine von EURO 80 gestaltete Fotoausstellung im
Schorndorfer Rathaus zum Thema Tour de Tulle – Reiseimpressionen von der Partnerstadt. OB Hanke
lobte die Mitglieder des Clubs mit den Worten – Sie haben während der letzten 15 Jahre mit viel
Einsatz daran mitgewirkt, dass auch die nachfolgenden jüngeren Generationen in die Partnerschaft
unserer beiden Städte hineingewachsen sind. Der Vorsitzende des Euro 80 Andreas Spätgens – ein
Ehemaliger des MPGs – kommentierte dies sinngemäß damit, dass Euro 80 einen Beitrag zum Frieden
in Europa geleistet habe. Zehn offizielle Fahrten seien unternommen worden, an denen über 500
Teilnehmer mitgewirkt hätten. Das hat wahrlich den Europapreis des Landkreises verdient. Aber

10
 https://rm.coe.int/09000016807abcd4 Prix de l'Europe : Supplément d'information concernant la candidature de Schorndorf (Bade-
Wurtemberg) République Fédérale d'Allemagne (coe.int)
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schon an Ostern 1979 hatte es sich abgezeichnet, dass der Tuller Euro 80 dem Ende nah war: die der
Jugend geschuldete Abwanderung und fehlender Nachwuchs führten dazu, dass der Verein aufgelöst
wurde. Der Euro 80 Schorndorf wandte sich anderen Zielen zu, gab aber 1984 den Raum in der
Manufaktur auf.11 Aber Euro 80 Schorndorfer machte weiter. 1985 wurde wieder eine Fahrt nach
Tulle unternommen mit dem Ziel, der Aufarbeitung der Ereignisse in Tulle kurz vor Kriegsende. Der
Abbé Espinasse, ein Zeuge des Massakers von Tulle, war in Schorndorf gewesen.

Infos
In unregelmäßigen Abständen berichtet Frau Annemarie Heiderich über Tulle in den Schorndorfer
Nachrichten unter der Rubrik Neues aus Tulle. Für Tulle und Umgebung ist dafür zuständig das
Journal Nouvelles des Jumelages. Unter https://www.agglo-tulle.fr/ ist es einfach zu erreichen.

       V.        Austausch konkret

                 1. MPG Schorndorf

Wie fühlt es sich an, wenn junge Menschen zum ersten Mal in einem fremden Haushalt
untergebracht werden, mit Gleichaltrigen, deren Sprache sie nur wenig kennen? Auf der Homepage
des MPGs lesen wir dies:

            Beim ersten Austausch war es so: Die Deutschen standen nach dem Aussteigen auf der einen Seite, die Franzosen
            mit ihren Eltern auf der andern Seite. Die französische Deutschlehrerin, Mme Delmas, las nacheinander die
            Namen auf ihrer Liste vor: die französischen und deutschen Partner/innen traten in die Mitte, und nach Küsschen
            rechts und links wurde das Gepäck ins Auto geladen, dann starteten unsere Schüler/innen ins Unbekannte:
            Verstehe ich überhaupt irgendetwas? Ist mein „corres“ „sympa“? Finde ich ein ordentliches Bett mit Kissen und
            Decke vor? Wird mir das Essen schmecken? Wohnt die Gastfamilie weit draußen auf dem Land?
            Bemerkenswert, dass es mit ganz wenigen Ausnahmen immer gut ging. Manchmal sind Freundschaften übers
            Abitur hinaus entstanden; etliche Schüler/innen haben sich für den längeren Brigitte-Sauzay-Austausch mit
            Aufenthalt und Schulbesuch von mehreren Wochen in der Partnerstadt entschieden.
            So steif wie beim ersten Mal ist es nachher nie wieder zugegangen, denn schon ab der sechsten Klasse beginnen
            die Schüler/innen mit Brieffreundschaften, übers Internet werden Interessen und Fotos ausgetauscht, und jetzt
            bildet sich bei der Ankunft immer ein dicker Knäuel, aus dem dann die Familien mit ihren Gästen selbst erfolgreich
            herausfinden. Der Austausch ist eine Erfolgsgeschichte…

Wie wahr! Mehr dazu im Bericht von Frau Brigitte Cajar.
Hier soll nun exemplarisch über einen Austausch berichtet werden, an dem der Autor und dessen
Frau im Juli 1977 als Dolmetscher beteiligt waren. Es handelt sich um den ersten Besuch in Tulle mit
einer bemerkenswerten Vereinigung.

11
     Die Ikone alternativer Kultur wurde 1992 abgerissen.
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